Es ist Freitag, Freitagabend. Normalerweise gehe ich abends mit den Kumpels noch ein Bier trinken. Aber seit dem ich mir überlegt habe, mich doch noch einmal einer geistigen Herausforderung zu stellen, hat sich doch einiges in meinem Umfeld geändert.
Vor zwanzig Jahren habe ich in Schweinfurt Maschinenbau studiert. Meinen für mich mäßigen Abschluss kann ich darin begründen, dass ich als Student gelebt habe, gut gelebt habe. Wir waren zufrieden nach den Prüfungen, wo Aufwand und Nutzen im rechten Gleichgewicht waren. In den Strümpfen Löcher und im Kopf neue Ideen. Alles passte. Die Diplomarbeit erwies sich doch „recht zäh“, weil die ewigen Messreihen kein Ende nehmen wollten. Entsprechend kam die Auswertung auch schwer in Gang. Mein Professor wirkte nach der letzten Konsultation etwas künstlich verwundert, wohl weil die erwarteten Auswertungen der Ergebnisse nicht den weltumgreifenden Neuerungen ähnelten, sondern lediglich den Erwartungen entsprachen. Im abschließenden Kolloquium berichtete ich, warum die geringen Abweichungen von den Standards bei diesem untersuchten Material normal wären. Das Material könne man sozusagen ohne Bedenken in der Automobilindustrie verwenden, wo es den dauerhaften Belastungen standhalten sollte. Das Auditorium war am Ende doch recht überzeugt von den Ergebnissen und entließ mich aus dem Studium mit einem „Gut“.
Aber wie es auch war. Zwischen den Semestern arbeitete ich bei Karl Zösel in Zwiga. Es war eine kleine Firma, drei Mitarbeiter, außerhalb der Stadt im Gewerbegebiet. Frau Müller, Zösels Sekretärin, eine kleine Hübsche, die sich immer freute, wenn ich im Büro vorbei kam. Es war schon fast ein familiäres Verhältnis. Karl Zösel hatte ein Metallprüf-Unternehmen mit allerhand Kunden aus der näheren und weiteren Region, die ihre metallischen Erzeugnisse auf die rechte Qualität überprüfen ließen. Ob Schrauben oder Unterlegscheiben – alles wurde durch das Mikroskop oder die Lupe geprüft und bei einem Fehlschliff entsprechend ausgesondert. Wichtig war, wenn die Teile einmal eingebaut waren, dass sie danach metall-lebenslang hielten. Für diese Garantie gab Zösel Zertifikate aus. Jeder Auftrag wurde ordnungsgemäß dokumentiert und man konnte immer nachverfolgen, wer wann welche Teile untersucht hat und wie der Prüfbefund aussah. Das verlieh Zösel Anerkennung. Und immer, wenn er einen neuen Auftrag hatte oder einer seiner Mitarbeiter krank oder im Urlaub war, rief er mich an, ob ich denn mithelfen könne.
Natürlich half ich gern, denn er zahlte bar und ich bekam weiterhin mein Bafög.
Nach meinem guten Abschluss bewarb ich mich vor zwanzig Jahren bei einigen Firmen, obwohl mich Karl Zösel gerne eingestellt hätte. Doch jetzt wusste ich, dass man einem Diplom-Ingenieur mehr zahlt, als nur dreihundert Deutsche Markt für zwei Wochen mikroskopische Untersuchungen und viele Protokolle.
Eine große automobilherstellende Firma stellte mich ein. Jung, voller Ideen, nicht nur mehr Messreihen, sondern innovative Weiterentwicklungen von korrosionsresistenten Bauteilen waren mein Anliegen. Und ich hielt mich wacker. Nach anfänglichen drei Schichten erhob man mich zum leitenden Ingenieur der Versuchsabteilung in den Normalschichtbetrieb.
Frau Müller vom Zösel besuchte ich immer noch und heute sind wir fast achtzehn Jahre verheiratet und haben zwei fast erwachsene Kinder. Vielleicht wollen die beiden auch mal studieren. Und wenn beide auch so „ökonomisch“ lernen und studieren wie ich, dann wird es ja noch richtig lustig werden. Gerade überlege ich, ob ich denn auch noch Vorbild bin, ob ich denn helfen kann – beim anstehenden Abi, bei der Berufsausbildung und vielleicht beim Studium. Bin ich nicht schon eine Weile aus dem Studiengeschehen raus? Kann ich überhaupt noch geistig mithalten? Oder ist mein Wissen schon verjährt und veraltet?
Es kribbelt in mir und ich überlege, was ich tun könne. Noch bin ich nicht zu alt, um etwas zu lernen. Nicht nur wegen der Kinder, auch wegen mir, dem Unternehmen und dem Job.
Jeder spricht in der heutigen Zeit von der Wirtschaft und fast jeder regt sich auf, dass nicht alles wirtschaftlich sei. Abends im Fernsehen zeigt man die Werbung, wo Menschen glücklich sind und Abschlüsse bekommen, die ihnen ihre Zukunft absichern sollen. Sicher hätte ich auch gerne mal wieder eine neue geistige Herausforderung. Mein Chef ist zwar zufrieden mit mir, aber die Entwicklungen in der Wirtschaft eilen voraus und es wird erwartet, dass man mithält. Das erfordert einen lebenslangen Lernprozess, den man, sofern man sich diesen Herausforderungen stellen will, nicht umgehen kann. Ich will mich nicht bis zur Rente mit dem zufrieden geben, wie es jetzt ist. Es wurmt mich, nicht mitreden zu können über Kostenträgerrechnungen und ERP-Modelle.
Ich suche etwas, weiß nur noch nicht so richtig was. Irgendeine Weiterbildung. Sogar mein Chef meint ab und zu, dass er das neumodische Zeug nicht immer versteht. Aber er muss es ja auch nicht verstehen, dafür hat er seine Mitarbeiter. Er hat mich als seine rechte Hand. Das ist schon ein Grund, doch einmal mehr über Weiterbildung nachzudenken.
Ich suche etwas, was mich als Ingenieur dem kaufmännischen Verständnis näher bringt und einen qualitativ hohen Anspruch hat. Mein Gehirn sagt seinen Zustand an – es wäre langsam eine Dürrpflaume, die man einlegen müsste. In Alkohol oder in Wissen? Ich entscheide mich für Letzteres.
Nach meinen samstäglichen Joggingrunden mit dem Hund gehe ich, wie immer, zum Bäcker und bringe Brötchen für unser gemeinsames Frühstück mit. Meine Frau hat schon alles vorbereitet, die Kinder schlafen noch - welch ein Segen. Es ist ruhig in der Küche, nur der Wasserkocher gibt noch ein abschließendes Stöhnen von sich. Wir warten auf das kochende Wasser und ich schlage die Lokalzeitschrift auf. Beim Durchblättern und dem Zubereiten des Tees lese ich, dass eine Hochschule im nahe gelegenen Sachsen einen Aufbaustudiengang Wirtschaftsingenieurwesen anbietet. Die Anzeige weckt mein Interesse und ich denke, warum eigentlich nicht?
Lange überlege ich, ob ich meiner Frau davon erzählen sollte und schneide erst einmal diskret die Anzeige aus, bevor die Zeitung im Papiercontainer landet.
Meine Frau ist nach dem Frühstück mit der Wäsche beschäftigt und die Kinder sind rüber zu unseren Nachbarn gegangen. Allein mit mir und meinen Wünschen nach geistiger Befruchtung meines Gehirnes und dem nicht laut geäußerten Wunsch meines Chefs, greife ich zum Telefon. Samstag gegen elf Uhr. Es klingelt kurz und eine freundliche Frauenstimme fragt, wie sie mir denn helfen könne. Hier wäre die Hochschule in Sachsen. Eigentlich habe ich einen Anrufbeantworter erwartet und bin verblüfft, dass sich jemand persönlich meldet. Mit Herzklopfen erzähle ich der sympathischen Stimme, was ich heute in der Zeitung gelesen habe. Etwas unsicher vor meiner eigenen Courage wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ihre Informationen mein derzeitiges Leben verändern sollten.
Was würden meine Frau und erst die Kinder dazu sagen, wenn ich voraussichtlich aller zwei Wochen nach Sachsen fahren sollte, um mich noch einmal, nach zwanzig Jahren, in altehrwürdige Vorlesungshörsäle setzen und mir die Geheimnisse der Wissenschaften anhören würde?
Ich nehme mir vor, baldmöglichst mit meiner Frau zu sprechen. Vielleicht sollten wir am Abend den Familienrat einberufen und das Szenario gemeinsam besprechen. Ganz wohl ist mir dabei nicht, denn ich habe schon jetzt ein schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber. Aber allein der Gedanke in einer Vorlesung zu sitzen, hinterlässt eine Gänsehaut und meine Dürrpflaume kommt in geistige Wehen.
Am Abend. Die versammelte Mannschaft sieht mich mit staunenden Augen an und die kollektive Stimme verkündet, „Ja“, wenn es mir denn damit gut ginge und ich das wolle, so solle ich es doch tun. Mit allen Konsequenzen. Was würde denn mein Chef dazu sagen? Nicht, dass die Gefahr bestünde und ich meine Arbeit vernachlässige. „Er hat mich ja sogar indirekt dazu ermutigt.“, berichte ich und bin schließlich froh, dass wir über mein zukünftiges Projekt, oder neues Hobby, gesprochen haben. Gleich am Montag, so nehme ich es mir vor, gehe ich zum Chef und berichte ihm von meiner Entdeckung in Sachsen.
Es ist Montag. Die Unterhaltung mit ihm hat etwas Befreiendes. Er fragt mich, welche Ausbildung und Einrichtung denn mein Interesse geweckt hat. Ich versuche sachlich zu berichten, von Zwickau und seiner Hochschule. Er weiß nicht gleich, wo dieses Zwickau geografisch einzuordnen ist. Erst als ich August Horch, den Trabant und Robert Schumann erwähne, kommt ihm die Erinnerung. Ja, es gibt da eine große Tradition im Kraftfahrzeug- und Maschinenbau – so weiß er zu erzählen. Chemnitz kennt er. Und die Technische Universität. Da arbeitet ein ehemaliger Studienkollege, den er noch gelegentlich auf Tagungen trifft.
Es ist, als fiele mir ein Stein vom Herzen. Gleichzeitig bin ich erleichtert, in freudigen Wallungen und es drängt die jugendliche Neugier in mir, auf alles, was jetzt kommen wird. Und die kommende Zeit wird sicherlich schön, vielleicht ein wenig stressig, aber schön. Geistige Horizonte werden sich öffnen und manche Geheimnisse sich lüften… so sinniere ich.
Von der Internetseite der Hochschule ziehe ich mir den Bewerbungsantrag auf meinen Laptop und schaue nach, was ich denn einreichen muss. Es ist wie bei meinem ersten Studium auch. Einige Fragen in dem Antrag sind zwar eher auf die Direktstudenten zugeschnitten, aber ich fülle den Bogen erst einmal aus und lasse mir morgen alle wichtigen Dokumente beglaubigen.