Lehrbücher aus dem Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) Band 1

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Der Autor:

Hans-Arved Willberg; Jahrgang 1955, Theologe M.Th. und Pastoraltherapeut. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbständig als Trainer, Coach und Berater mit den Schwerpunkten Burnoutprävention und Paarberatung sowie als Buchautor tätig.

E-Mail: willberg@isa-institut.de

ISBN: 978-3-7322-2934-5

© 2010 Institut für Seelsorgeausbildung (ISA), Leitung: H.A. Willberg

Hermann-Weick-Weg 1, 76229 Karlsruhe;

E-Mail: info@isa-institut.de; Website: www.isa-institut.de

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Hans-Arved Willberg

Grundlagen
der seelsorgerlichen
Gesprächsführung

Lehrbücher aus dem
Institut für Seelsorgeausbildung (ISA)

Band 1

Books on Demand

„Mach’s wie Gott, werde Mensch.“

Franz Kamphaus

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Man möge mir verzeihen, wenn ich insbesondere den ersten Teil mitunter etwas scharf mit Hinweisen auf negative Seelsorgeerfahrungen gewürzt habe. Bitte lassen Sie sich den Appetit dadurch nicht rauben. Sie müssen ja auch nicht alles schlucken, was ich Ihnen da auftische. Jeder nimmt subjektiv wahr und je nach seinen guten und schlechten Erfahrungen betont er das eine mehr und das andere weniger, warnt vor diesem und lädt werbend ein zu jenem. In diesem Buch sind 25 Jahre Erfahrung im Seelsorgedienst verarbeitet. Es trägt den Stempel meines persönliches Werdegangs. Gott hat mich Seelsorge durch einladende und abschreckende Erfahrungen gelehrt. Welcher Art sie waren, mag aus dem Text einigermaßen klar hervorgehen. Andere lehrt Gott anders und darum bezeugen sie auch anderes. So ergänzen wir uns. Und wenn wir einander annehmen, freut sich Gott darüber und segnet uns miteinander und füreinander.

Was stellen Sie sich wohl unter mir, dem Autor, vor, wenn Sie ein wenig in diesem Skript gelesen haben werden? Bin ich einer, der die Sünde nicht ernst genug nimmt? In der Tat, von der Sünde schreibe ich auffallend wenig. Wenn es um die seelischen Probleme von Menschen geht, gebrauche ich viel mehr psychologische Begriffe als theologische. Warum? Ist es Stärke? Etwas von dem, was Bonhoeffer mit seiner Forderung eines „religionslosen Christentums“ meinte?1 Oder ist es Schwäche? Veroberflächlichung? Oder Stärke und Schwäche zugleich? Ich tippe auf Letzteres. Wir müssen für die Seelsorge sowohl den Sündenbegriff in seinem Ernst, in seiner Tiefe, Breite und Schwere, wiedergewinnen, als auch mit präzisen Begriffen beschreiben, was konkret darunter zu verstehen ist und was nicht - und es müssen solche Begriffe sein, mit denen und auf die man sich heute sehr gut verständigen kann. Im Ersteren liegt eine Schwäche meines Skripts, Letzteres könnte eine Stärke sein. Aber darf ich mir doch auch, damit sich nicht Schwäche und Stärke neutralisieren und sich der Wert des Buches somit annullieren würde, einen bescheidenen Hinweis zu meinen Gunsten erlauben? Nämlich diesen: Ich lege hiermit keine Theologie der Seelsorge vor, sondern meine Einführung in die Grundlagen der seelsorgerlichen Gesprächsführung. Erstens darf die Einführung gern weitergeführt werden, ergänzt und vertieft durch das, was ihr zweifellos noch fehlt. Und zweitens sind die Grundlagen der seelsorgerlichen Gesprächsführung ganz sicher überwiegend psychologischer Natur. Das meiste, was explizit und grundsätzlich über das Führen von Gesprächen in der Seelsorge zu sagen ist, gilt für helfende Gespräche überhaupt, die heilsamen Wirkungen solcher Art zu hören und zu reden eingeschlossen. Darum enthält dieses Buch zwar viel Theologie, weil es ja von Seelsorge handelt, aber auch nicht allzuviel, weil es ja von Gesprächsführung handelt.

Und warum redet dieses Seelsorgeskript so viel von Psychologie und noch dazu von humanistischer? Weil ich es mit Dietrich Bonhoeffer halte, der in seiner Ethik schrieb: „Was an Menschlichem und Gutem in der gefallenen Welt gefunden wird, es gehört auf die Seite Jesu Christi“.2

So habe ich mit dieser Arbeit gern ein wenig dazu beigetragen, den großen schweren Schatz der Grundelemente helfender Gesprächsführung vom schwankenden Grund postmoderner Weltanschauung auf das sichere Fundament einer biblischen Theologie der Liebe und Wahrheit zu ziehen, in der tiefen Überzeugung, dass er dort auch hingehört. Er ist ja auf jenem brüchigen Terrain durchaus nicht wirklich gut geschützt. Manipulation, Profitgier, hemmungslose Machtausübung, Dehumanisierung allenthalben setzen ihm erheblich zu. Man soll die Perlen nicht den Säuen lassen.

Der Leser findet sehr viele Fußnoten im Text. Ihre Relevanz ist unterschiedlich. Bitte verstehen Sie die Anmerkungen nicht als Zumutung, sondern als Zugabe. Ich möchte dadurch möglichst hohe Transparenz erreichen. Der Text soll Ihnen durchsichtig sein, wie das gläserne Gehäuse eines technischen Produkts, das die Mechanik erkennen lässt, die dahinter steckt. Es entsteht bessere Nachvollziehbarkeit dadurch und die Quellenverweise laden zum eigenen Nachforschen ein.

Mein Dank gilt den SeminarteilnehmerInnen des Instituts für Seelsorgeausbildung (ISA), von denen und mit denen ich sehr viel über seelsorgerliche Gesprächsführung gelernt habe. Dank sei meiner Mitarbeiterin Petra Gebhardt mit ihrem Adlerauge, das jeden kleinen Fehler sieht. Dank auch an Steffi Eger und ihre Kommilitonen am IGW-Studiencenter Karlsruhe für die Anregungen aus ihren Seminararbeiten zum Fach „Seelsorge“.

Karlsruhe, September 2010

Hans-Arved Willberg


1 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Hg. E. Bethge , Lizenzausg. d. Chr. Kaiser Verlages, 13. Aufl. (Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn: Gütersloh, 1985), 132f.

2 Dietrich Bonhoeffer, Ethik, zusammengestellt u. hg. v. E. Bethge, 10. Aufl. (Christian Kaiser: München, 1984), 151.

1. Seelsorgerliche Basiskompetenz

Die Bibel ist kein Psychologielehrbuch, aber sie ist das Seelsorgelehrbuch! Wenn wir nach den Grundlagen der Seelsorge fragen, dann finden wir in biblischen Texten reichlich Antwort.

1.1. Sehen, was der andere braucht

„Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen. Seid geduldig gegen jedermann.“ 1Thess 5,14.

Dieser eine Satz des Apostels Paulus sagt viel über Seelsorge aus. Er macht deutlich, dass es in der Seelsorge kein schematisches Vorgehen geben darf. Ohne ein gewisses Maß an differenzierender Diagnose kann Seelsorge nicht auskommen. Was habe ich denn vor mir: Einen „Unordentlichen“, einen „Kleinmütigen“ oder einen „Schwachen“? Das entscheidet über meinen seelsorgerlichen Zugang.3

Bei einem engagierten Seelsorger kann man davon ausgehen, dass der gute Wille vorhanden ist. Natürlich hat er die Absicht, dem anderen wirklich zu helfen. So wertvoll und wichtig das ist, kommt es aber doch noch mehr darauf an, wie die Wirkung des seelsorgerlichen Verhaltens ist. Das nötigt uns dazu, genau darauf zu achten, was der andere tatsächlich von uns braucht. Hierfür gibt uns Paulus drei grundlegende Hinweise.

1.1.1. „Weist die Unordentlichen zurecht“ 4

Es geht um solche, die aus dem Gleis geraten sind. Durchgegangene Gäule sollte man einfangen. Natürlich ist die Frage, wie man das macht. Einem scheuen Pferd darf man nicht hinterherlaufen, dann fängt es erst recht zu rennen an. Zucker hilft da meist besser als die Peitsche. Der Vergleich hinkt natürlich - wir sind keine Pferde. Wir haben Verstand, und diesem kann auch mal ein Peitschenknall gut tun, damit er zu träumen aufhört und zu arbeiten anfängt. Aber nur zur rechten Zeit und am rechten Platz! Denn die Frage ist, was hilft. Das Pferd soll wieder in seine Koppel zurück. Wer einen aus dem Takt Geratenen wieder einfangen will, braucht besonders viel Taktgefühl. Und er muss sich fragen, wo denn eigentlich die Koppel des anderen ist. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen von der rechten Bahn. Die rechte Bahn eines Menschen ist immer nur dort, wo er selbst zurechtkommt mit dem Leben. Das kann niemand über einen anderen verfügen.5 Diese Weisung ist die seelsorgerlich leichteste, wenn sie falsch verstanden wird, und sie ist die schwerste, wenn sie richtig verstanden wird. Falsch verstanden meint sie:

Leider ist die Meinung, dass dies vor allem Seelsorge sei, sehr verbreitet. Unzählige Eltern verhalten sich ihren Kindern gegenüber so, unzählige Chefs ihren Mitarbeitern gegenüber, unzählige Gemeindeleiter eingeschlossen. Ohne es sich bewusst zu machen, definieren sie Seelsorge als Besserwisserei:

Treffend stellt der Verhaltensforscher Arnold Lazarus fest: „Die Arroganz jener Menschen, die darauf bestehen, ihre Sicht der Welt sei die einzig richtige, wird nur noch von der jener Zeitgenossen übertroffen, die sich berufen fühlen, diese Sichtweise auch noch anderen aufzuzwingen!“7

Erstaunlicherweise widmet die Bibel fast 40 Kapitel eines Buches, das mitten im Alten Testament steht, dem abschreckenden Beispiel einer Seelsorge nach dem Besserwisser-Muster. Der zermürbenden Diskussion der Freunde Hiobs mit dem überaus Leidgeplagten bis in die Details hinein folgen zu müssen, ist für den aufmerksamen Bibelleser nur schwer erträglich. Offensichtlich mutet Gott uns dieses Negativbeispiel in aller Ausführlichkeit zu, damit wir uns in unseren eigenen Seelsorgeambitionen wirklich aufhalten lassen und nachdenken, was da schief läuft. Hiobs Freunde halten ihn für einen „Unordentlichen“, der unbedingt zurechtgewiesen werden muss. Aber Hiob ist ein zutiefst „Kleinmütiger“, der nichts als Verständnis und Trost braucht!8

Warum stellt Paulus diese heikle Weisung ausgerechnet an den Anfang? Ich meine, weil sie die unangenehmste und schwerste ist. Bekanntlich verdrängen wir das Unangenehme und Schwere gern. Das zeigt sich an diesem Punkt darin, dass unser übliches Seelsorgeverständnis gefährliche Schlagseite hat:

Das ist auch Seelsorge. Was Paulus aber zuerst anspricht, ist nicht die Seelsorge an den hilfsbedürftigen Schwachen, sondern die Seelsorge an den Starken, die keine Hilfe zu brauchen scheinen. Diese Seelsorge ist schwer, weil sie viel Zivilcourage erfordert.

Die seelsorgerliche Zielgruppe der „Unordentlichen“ ist dem exegetischen Befund nach dadurch gekennzeichnet, dass sich diese Menschen sozial unangemessen verhalten,9 indem sie sich über bestehende Ordnungen hinwegsetzen, von denen sie wissen, dass sie Rechtsgültigkeit besitzen.10 Sie ignorieren ihre Pflichten11 und schaden durch ihre unverantwortliche Eigenmächtigkeit der Gemeinschaft und sich selbst.12 In den Thessalonicherbriefen sind es Christen, die sich einer Sonderlehre wegen der Mühe des Arbeitens für den eigenen Lebensunterhalt entziehen13 und dadurch für die Gemeinde zur Belastung und für die Gesellschaft ein Ärgernis werden.14 Die „Unordentlichen“ nehmen sich rücksichtslos Rechte heraus, die ihnen ganz einfach nicht zustehen. Ihr Problem ist nicht Schwäche, sondern Stärke, nicht überzogener Selbstzweifel, sondern überzogenes Selbstbewusstsein, nicht Ängstlichkeit und Schüchternheit, sondern Dreistigkeit und Respektlosigkeit, nicht Verzagtheit, sondern Skrupellosigkeit.15

Nicht von ungefähr gebraucht Paulus hier in V14 wie auch schon in V12 das seltene Verb „noutheteo“ anstelle des sonst in solchen Zusammenhängen üblichen „parakaleo“.16 Die deutsche Entsprechung „ermahnen“ beinhaltet etymologisch das Erinnern an bereits Bekanntes17 und auch in „noutheteo“ ist diese Bedeutungskomponente enthalten.18 Das meint ja auch unser deutsches „Zurechtweisen“: Da wird jemand zum Recht gewiesen. In jedem Fall gibt es dieses Recht bereits.19 Je nachdem, ob es der Person schon bekannt war oder nicht, erhält die Zurechtweisung mehr oder weniger streng fordernden oder freundlich erklärenden Charakter.20

1.1.2. „Tröstet die Kleinmütigen“ 21

Für „kleinmütig“ steht hier oligopsychos, und das heißt, genau genommen, „wenig Psyche“, „wenig Leben“ - in sich zusammengesunken, mutlos, ohne Perspektive. Die „Unordentlichen“ haben meist zuviel Mut und Selbstbewusstsein,22 die Kleinmütigen zu wenig. Im Blick auf Menschen, denen es so geht, gibt Paulus diese seelsorgerliche Anweisung: Legt ihnen keine Forderungen auf, konfrontiert sie nicht mit harten Brocken, die zu verarbeiten sie nicht im Stande sind. Es ist nicht eure Aufgabe, diese Menschen wieder ins Gleis zu bringen, denn die Entgleisung ist nicht ihr Problem. Sie brauchen neuen Mut! Sie müssen einen Lichtstrahl sehen können, der sie lockt, weiterzuleben. Sie müssen neu Vertrauen fassen. Hiobs Freunde waren schlechte Tröster. Sie verstanden ihn nicht. Sie meinten, er wäre entgleist. Aber tatsächlich war er entmutigt! Nimm den, der Trost braucht, am Zügel und versuche, ihn in eine Koppel zu zerren, die dir selbst vorschwebt, und du wirst ihn tief verletzen und seine Einsamkeit nur noch schlimmer machen. Er ist doch an seinem Platz! Aber er weiß nicht mehr, was er da soll. Er steht vielleicht auf der saftigen Wiese, aber der Appetit ist ihm vergangenen. Wirf ihm nicht Undank vor, sondern bemühe dich, seinen Appetit anzuregen. Mache nicht viele Worte, sondern sei ihm nah. Kann er an dir spüren, dass Leben doch etwas Lebenswertes ist?

Die Bibel kennt zwar kein Wort für „Seelsorge“, aber es gibt verschiedene Begriffe für das, was Seelsorge dem Wesen nach ist. Das neutestamentliche Wort, mit dem besonders häufig seelsorgerliches Geschehen zum Ausdruck gebracht wird, ist das dem hier verwendeten „paramytheomai“ inhaltlich sehr ähnliche23 „parakaleo“ = „trösten, ermahnen (vor allem im Sinn von ermutigen)“. Es gehört „zu den wichtigsten Begriffen des Sagens und Beeinflussens im NT“, auch was die Häufigkeit des Vorkommens angeht: über 100 mal als Verb, fast 30 mal als Substantiv.24

„Trost“ im biblischen Sinn ist vor allem Ermutigung. Die Kleinmütigen sollen wieder neuen Mut finden. Ihr glimmender Docht soll mit heller Flamme brennen. Sie sollen nicht vertröstet werden, sondern sie sollen ge-trost werden. Das kann sehr herausfordernd sein. „Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist“, sagt Gott zu Josua, als er vor den Grenzen des feindlichen Landes Kanaan steht, um es einzunehmen.25 Getröstet sein heißt getrost sein und getrost sein heißt mutig auf gute Ziele zugehen. „Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht“, fordert Gott Josua auf. Mit anderen Worten: „Lass dich nicht verwirren, lass dich nicht abbringen von deinem Ziel - bleib dran!“ Trost setzt also in Bewegung. Trost bewirkt Veränderung.

1.1.3. „Tragt die Schwachen“ 26

Wörtlich heißt es: "Nehmt euch der Schwachen an". Das bedeutet: Macht ihre Sache zu eurer eigenen. Tragt mit an dem, was sie zu tragen haben. Lasst euch auf sie ein. Es sind die körperlich Schwachen, die chronisch Kranken, die sozial Schwachen, die seelisch Schwachen, die Charakterschwachen, die Glaubensschwachen. Und nicht zuletzt sind es Menschen, die mit Einschränkungen zu leben haben, die sich nicht mehr ändern oder sogar verschlimmern. Seelsorge braucht die behutsame Unterscheidung zwischen Herausforderung und Überforderung. Oft ist es besser, akzeptable Kompromisse zu finden als die Kraft für Veränderungsbemühungen zu verschwenden, die doch nicht gelingen werden.

Wer offene Augen für den anderen hat, begnügt sich nicht mit der Feststellung von Symptomen, die dann nach einem bestimmten Muster behandelt werden. Er fragt tiefer: Wer ist dieser Mensch? Was braucht dieser Mensch tatsächlich? Und auch: Was gibt mir dieser Mensch? Auch ich muss zurechtgewiesen werden, auch ich brauche Trost, auch ich bin schwach. Vielleicht soll ich nach Gottes Willen auch als Seelsorger manchmal mehr vom anderen empfangen als er von mir? Die Rollen zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen sind durchaus nicht so klar verteilt, wie es oft scheint. Wir sind alle gegenseitig aufeinander angewiesen. „Einer trage des anderen Last“, schreibt darum Paulus, und das nennt er „das Gesetz Christi“27 - mit anderen Worten: das christliche Grundprinzip.

Zu oft und zu leicht teilen wir die Menschen dem Augenschein nach auf: In Starke, die etwas zu geben haben, und Schwache, die bedürftig sind (die natürlich auch etwas zu geben haben, aber nicht so viel ...). Das ist anmaßend. Wir haben alle unsere Schwachpunkte, nur sieht man es bei den einen mehr, bei den anderen weniger, und manche haben an einer Stelle augenblicklich besondere Mühe, während andere ganz gut mit ihren ebenso großen Schwächen leben können, sich durchaus selber helfen können und von Mitleid zu recht nichts wissen wollen.

Das Tragen der Schwachen ist nur dann ein wahrhaftiges Tragen, wenn die Träger sich nicht besser und stärker vorkommen als die Getragenen. Das Besondere an den Schwächen der augenscheinlich Schwachen besteht nur darin, dass sie deutlicher wahrgenommen werden als die Schwächen der anderen. Aber verborgene Schwäche ist nicht geringer als offenbare. Dem Glücksspieler sieht man seine Schwäche eher an als dem Börsenjunkie, das Problem des Drogensüchtigen fällt mehr auf als das des Arbeitssüchtigen. Es gibt sie nicht: „Die“ Starken auf der einen Seite und „die“ Schwachen auf der anderen. Nur gemeinsam sind wir stark, weil wir alle miteinander schwach sind.

Drei Zielgruppen hat die Seelsorge:

Die drei Zielgruppen der Seelsorge

Zurechtweisung „Weist die Unordentlichen zurecht“Trost „Tröstet die Kleinmütigen“Tragen „Tragt die Schwachen“
Nicht bereit zur VeränderungBereit und fähig zur VeränderungNicht fähig zur Veränderung

Die real praktizierte Seelsorge stellt diese Ordnung leider nicht selten auf den Kopf:

Besonders schlimm wird es, wenn uneinsichtige Starke, die ihre Schwächen leugnen, sich auch noch selbst zur Seelsorge berufen fühlen.

1.1.4. Wenn die Macht missbraucht wird28

Der unangenehme Dienst des Zurechtweisens obliegt vor allem den Leitungspersonen. Führen bedeutet immer auch, Toleranzgrenzen definieren zu müssen, ihre Einhaltung zu verlangen und gegebenenfalls harte Maßnahmen im Fall der Überschreitung zu ergreifen.29 Mithin gehört zum Wesen der Führungsverantwortung die manchmal schwere Bürde, sich auf diese Weise unbeliebt zu machen.30 Darum bittet Paulus die Thessalonicher in den Versen 12 und 13, um des Friedens willen ihren Leitern mit besonderem Respekt zu begegnen.31 Sofort ergänzt er diese Weisung aber dadurch, dass er im nächsten Vers die gegenseitige

seelsorgerliche Verantwortung der Gemeindeglieder fokussiert.32 Gegenseitigkeit beinhaltet natürlich auch die seelsorgerliche Verantwortung der Gemeinde für die Leiter. Diese scheint mir besonderer Erwähnung wert zu sein. Denn besonders brisant wird das Problem mit den „Unordentlichen“ ja wirklich erst dann, wenn sie zugleich Menschen mit viel Macht sind. Aber welcher Seelsorger wagt das schon: Zum Beispiel einem sehr Mächtigen, der gerade Spaß daran gefunden hat, Köpfe rollen zu lassen, entgegenzutreten und klipp und klar zu sagen: „Hör auf damit - du missbrauchst deine Macht!“? Bekanntlich fängt der Fisch beim Kopf zu stinken an. Darum verändert sich oft so wenig in den christlichen Gemeinden und Werken: Die Leiter werden von den Mitarbeitern seelsorgerlich im Stich gelassen. Allzu gern und bequem beugt man sich ihrer Autorität, man arrangiert sich, man weicht aus, man zieht sich zurück.33

Jesus scheute die harte Seelsorge an den Starken nicht. Zu Menschen, die Schwäche zeigten und demütig genug waren, sie zuzugeben, nahm er eine überaus verständnisvolle und barmherzige Haltung ein. Aber wenn die Starken ihre Macht missbrauchten, wurde er zornig und kannte keinen Kompromiss. Er stieß die Tische der Geldwechsler um. Er prangerte mit schärfsten Worten die Heuchelei der machtgierigen Pharisäer an. Jesus stand damit ganz in der Spur der alttestamentlichen Propheten - und in seiner Spur gingen die Apostel weiter. Wir verstehen die Bibel grundfalsch, wenn wir hinter den manchmal extrem harten Worten der Propheten, Jesu und der Apostel über Fehlverhalten in der Gemeinde etwas anderes vermuten als die akute Auseinandersetzung mit sehr stark auftretenden Machtmenschen, die sich Sonderrechte herausnahmen, andere einschüchterten, sehr rücksichtslos ihren eigenen Vorteil suchten, willkürlich die Lehre verdrehten und vieles mehr. Wie bedrohlich die Gefahr des Machtmissbrauchs tatsächlich war, zeigt die Kirchengeschichte erschreckend deutlich.34 Die Apostel verloren den Kampf! Die Machtgierigen setzten sich durch. Es ist entsetzlich und sehr beschämend, mit wie viel Hass, Blut und Intrige sich die Kirche schon sehr früh ihren Weg gebahnt hat.

Ein Beispiel aus dem Alten Testament ist die Seelsorge Nathans an David.35 Üblicherweise wird das Fehlverhalten Davids, das Nathan scharf kritisiert, vor allem darin gesehen, dass er eine Affäre mit Batseba hat. Viele Maler haben sich die schöne Frau und den voyeuristischen König vorgestellt und beide dargestellt. Doch mit Verlaub: So sehr das auch die Fantasie reizt - das erotische Verhältnis der beiden ist nur ein Nebenaspekt dieser Geschichte.36 Viel schlimmer ist, dass David nicht vor Mord zurückschreckt, um Batseba in seinen Harem holen zu können. Er mordet, er stiehlt, er zerstört eine Ehe. Aber auch das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Der Eisberg selbst heißt: Eklatanter Machtmissbrauch. David sind die politischen Erfolge zu Kopf gestiegen.37 Er ist ein großer Herrscher geworden. Die Bibel warnt viel mehr vor den Gefahren der Macht und des Reichtums, ohne den in dieser Welt keine Macht zustande kommt, als vor sexuellen Übertretungen.38 Wenn Gott in biblischen Geschichten richtig zornig wird, dann immer dort, wo Menschen ihre Macht missbrauchen; was aber die Sexualmoral an sich betrifft, ist die Bibel mitunter erstaunlich großzügig.39 Unsere Schwächen kann Gott gut ertragen, er vergibt sie uns gern, er nimmt uns brutto an, er ist kein Moralist. Aber Gott hasst den Missbrauch der Macht. Darum spricht auch Nathan in seiner geschickt eingefädelten Beispielsgeschichte das Thema „Sex“ gar nicht an, sondern allein die dreiste Anmaßung des Mächtigen, sich zu nehmen, was ihm nicht zusteht. Und das kostet Nathan sehr viel Mut. David ist ein Kriegsmann, der schon viele getötet hat. An seinen Händen klebt viel Blut. Seine Hemmschwelle ist niedrig geworden. Batsebas Mann Uria ermorden zu lassen, bereitete ihm keine schlaflose Nacht. David und Nathan wissen genau, was die Mächtigen ihrer Zeit mit Kritikern zu tun pflegten, die ihre Kreise zu empfindlich störten. Einem David in dieser hochmütigen, machtgeilen Verfassung gegenüber ist Nathan akut lebensgefährdet. Darum spricht er das Problem nicht direkt an, sondern sehr vorsichtig in das Gleichnis eingehüllt - nicht um David zu schonen, sondern den eigenen Kragen!

Viele Seelsorger sind selbst durch sehr demütigende Erfahrungen des Leidens und Scheiterns gegangen. Der Seelsorger Paulus hat das am eigenen Leib erfahren und in der harten Schule des Leidens gelernt, worin ihr Sinn liegt: „Damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.“40 Die Vollmacht der Seelsorge entsteht dadurch, dass uns die Besserwisserei gründlich vergeht. Weil wir selbst gedemütigt sind, fällt es uns schwer, uns noch über andere zu erheben. „Das Herz des Mitmenschen wird nur von unten herauf erreicht“, hörte ich einen Evangelisten predigen. Ein wahrer Satz. Unangenehm, aber notwendig ist an dieser Wahrheit, dass wir dazu erst einmal nach unten kommen müssen. In der Theorie mag das etwas Heroisches sein, aber in der Praxis gefällt es keinem. Doch das Weizenkorn bringt nur Frucht, wenn es in die Erde fällt und erstirbt.41

Darin liegt aber auch das Problem der vernachlässigten Seelsorge an den Starken: Viele Seelsorger kommen sich selbst alles andere als stark vor und sie sind es auch wirklich nicht. Es sind Menschen, in denen und durch die Gottes Kraft trotz ihrer Schwäche wirksam ist, nicht weil sie so kompetent sind, sondern weil Gott so gnädig ist.42 Es sind oft Menschen mit tiefen Lebensnarben, „irdene Gefäße“, zerbrechlich und mit unschönen Sprüngen.43 Meist strotzen sie nicht gerade vor Selbstbewusstsein. Es sind oft zurückhaltende, introvertierte Menschen. Eigentlich hassen sie es, andere zu konfrontieren. Stark auftretenden Personen gehen sie lieber aus dem Weg, als sich ihnen entgegenzustellen. Sie kümmern sich lieber um die Opfer der Starken. Aber damit ist nur ein Teil des Seelsorgeauftrags erfüllt. Als Seelsorger müssen wir lernen, „daß es mit dem Wundenverbinden nicht getan ist, daß die Christenheit auch das Ihre zu tun hat, um die Wunden zu verhindern, daß sie sich nicht nur Krankheitssymptomen, sondern auch den Krankheitsherden stellen“ muss, wie der ehemalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier treffend schrieb.44 Erst wenn wir das genügend ernst nehmen, erfüllen wir den Seelsorgeauftrag ganz.

Bei all dem bleibt aber festzuhalten, dass Taktlosigkeit nicht durch Taktlosigkeit überwunden wird. Die Versuchung ist groß, Menschen, die andere von oben herab behandeln, ebenfalls so zu begegnen. Doch der Schlüssel zum Herzen des anderen wird immer nur von unten herauf gefunden. Dostojewskis Staretz Sossima gibt einen guten seelsorgerlichen Rat:

„Vor manch einem Gedanken bleibt man in Ratlosigkeit stehen, namentlich beim Anblick der Sünden des Menschen, und man fragt sich: ‘Soll man es mit Gewalt anfassen, oder mit demütiger Liebe?’ Entscheide dich immer so: ‘Ich will es mit demütiger Liebe versuchen.’ Hast du dich ein für allemal dafür entschieden, dann wirst du auch imstande sein, die ganze Welt zu besiegen. Liebevolle Demut ist eine gewaltige Macht, die stärkste von allen, und es gibt keine andere, die ihr gleichkäme.“45

1.1.5. „Seid geduldig gegen jedermann“

Seelsorge an den Starken benötigt Geduld, weil sie meinen, Hilfe nicht nötig zu haben. Seelsorge an den Kleinmütigen benötigt Geduld, weil die Heilung seelischer Verletzungen meist viel Zeit braucht. Seelsorge an den Schwachen benötigt Geduld, weil keine Veränderung zu erwarten ist.

Manche Heilungsschritte werden als plötzliche, wunderbare Veränderungen erlebt. Das kann sehr ermutigend sein. Aber auch „Spontanheilungen“ sind immer nur Etappen auf einem Weg, bei dem kein einzelner Schritt ausgelassen werden kann und auf dem es auch Rückschritte geben darf. Seelische Heilung ist in aller Regel ein seelischer Prozess, zu dessen Veranschaulichung sich das viel in der Bibel vorkommende Bild vom Wachsen am besten zu eignen scheint.

Geduld ist ein Geschenk. Geduldig werden kann, wer den andern ansieht, wer ihn sehen lernt, wie Gott ihn sieht, und ihn darum lieb gewinnt.46 Geduld ist eine in der Praxis durchgehaltene positive Einstellung zu einem Menschen. In der Theorie geht das immer, weil wir uns Illusionen machen. Aber wenn die Illusionen zerbrechen, stellt sich die Frage, wie jener Mensch tatsächlich ist. Das ist immer eine Chance für die Mitmenschlichkeit: Ihm nun das zu geben, was er tatsächlich braucht. Danach fragt die Liebe.

1Thess 5,14 gibt der Seelsorge eine Reihenfolge vor; sie fängt beim letzten Punkt der Aufzählung an und endet beim ersten:

1. Geduld ist die allgemeine und unabdingbare Voraussetzung für alle Seelsorge. Das A und O der Seelsorge lautet: Zeit haben, sich und dem anderen Zeit lassen, auf alles Drängerische, Aktivistische verzichten, ein Klima der Freiheit beanspruchen, das nicht unter dem Diktat des Müssens und Sollens steht, sondern in dem ein geschützter Raum des Dürfens, Wollens und Könnens erlebt wird.

2. Das Dürfen ist vor allem ein Sein-Dürfen: Sein, wie ich jetzt gerade wirklich bin. Aus der Voraussetzung der Geduld geht die Voraussetzung der bedingungslosen Akzeptanz hervor.47 In der christlichen Gemeinde gibt es kein „höher“ und „niedriger“, kein „besser“ und „schlechter“, kein „sündiger“ und „weniger sündig“. Sie ist, wie der Theologe Ulrich Bach treffend formulierte, ein „Patientenkollektiv“.48 Das in Gal 6,2 formulierte „Grundprinzip Christi“ beinhaltet, dass jeder Christ ein durchweg Schwacher ist, der unbedingt auf das Getragensein durch die Mitchristen angewiesen ist.

3. Die „normale“ Seelsorge ist Trost für Kleinmütige. Der Frage „Was fehlt dir und was brauchst du?“ gebührt darum unbedingter Vorrang.

4. Die Zurechtweisung der „Unordentlichen“ ist dort nötig, wo der Trost auf die harte und hohe Mauer der Selbstgerechtigkeit prallen würde. Die meisten brauchen Verständnis und Ermutigung, aber nicht alle. Für einen Menschen wie David im Fahrwasser des Machtmissbrauchs zum Beispiel besteht die seelsorgerliche Hilfe im konfrontativen Widerstand.

Weil Menschen in seelischer Not sehr verschieden sind und sich in sehr unterschiedlichen Lebenslagen befinden, folgt daraus zwingend, dass die Seelsorge unterschiedliche Wege beschreiten muss, damit sie das bekommen, was sie brauchen. Im Lauf der Seelsorgegeschichte haben sich drei Hauptwege herausgebildet. Am wirksamsten ist die Seelsorge, wenn sich diese Wege verschlingen wie die drei Fäden, aus denen ein Seil geflochten wird: Es ist wichtig, die drei zu unterscheiden, aber es ist genauso wichtig, sie beieinander zu halten und zueinander zu fügen. Nur dann ist Seelsorge ein wirklich starkes Rettungsseil.

Die drei „roten“ Fäden der Seelsorge, die sich durch ihre Geschichte ziehen, sind:

1.2. Die beiden Dimensionen der Seelsorge

Als „Sorge für die Seele“ ist Seelsorge sowohl auf die psychosoziale als auch auf die geistliche Existenz der Person bezogen. In der Vergangenheit wurde die geistliche Dimension der Seelsorge überbetont. Man sah Seelsorge fast ausschließlich als eine Form der Verkündigung von Gesetz und Evangelium an. Auch heute noch gibt es diese Anschauung.49

Die Frage der Zuordnung von Lebens- und Glaubenshilfe in der Seelsorge hat erst durch die „Konkurrenz“ der „weltlichen Seelsorge“, insbesondere durch die Psychotherapie, wirkliche Brisanz gewonnen. Seit die Psychotherapie sich etabliert hat, ist diese Diskussion ein „Dauerbrenner“.

1.2.1. Glaubenshilfe und Lebenshilfe

Das Feld der christlichen Seelsorge heute befindet sich zwischen zwei Extremen: Psychologie und Psychotherapie werden entweder radikal abgelehnt oder verklärt. Die radikal Ablehnenden verleugnen ihre Einsichten und Erfolge und glauben, das alles ganz durch die Kraft biblischen Glaubens ersetzen zu können. Hier sind Psychotherapie und Psychologie erklärte Feinde des Glaubens, die es zu bekämpfen gilt. Die Verklärenden überdehnen ihre Bedeutung und glauben, die Kraft biblischen Glaubens ganz dadurch ersetzen zu können. Hier sind Psychotherapie und Psychologie die Herren über den Glauben, denen man gehorchen muss.

Folgende Zuordnungen von Glaubens- und Lebenshilfe in der Seelsorge sind heute zu erkennen (Abbildung 01):

  1. Für die Vertreter der evangelikal-antipsychotherapeutischen Richtung geschieht Lebenshilfe durch Glaubenshilfe. Therapeutische Lebensveränderung ist für sie identisch mit Heiligung.
  2. Für die Vertreter traditionell verkündigungsorienter Seelsorge ist diese ebenfalls in erster Linie Glaubenshilfe. Sie akzeptieren aber die Psychotherapie sowohl als Hilfswissenschaft für den eigenen seelsorgerlichen Dienst sowie als eigenständiges und kompetentes Fachgebiet für die Hilfe an seelisch Kranken. Es liegt ihnen jedoch daran, klar zwischen auf Glaubenshilfe ausgerichteter Seelsorge und auf Lebenshilfe ausgerichteter Therapie oder Beratung zu unterscheiden.
  3. Die Verfechter einer Seelsorge als Psychotherapie im kirchlichen Kontext verzichten letztendlich auf die Glaubenshilfe.
  4. Als Vertreter des vierten Modells sind die meisten Institutionen zu nennen, die in Beratender Seelsorge ausbilden. Es geht dort um eine sachgemäße Entflechtung und Zusammenschau von Konflikten der Glaubensebene und des seelisch-körperlichen Bereichs.

Abbildung 01: Verhältnisbestimmungen von Glaubens- und Lebenshilfe in der heutigen Seelsorge

Nach neutestamentlichem Verständnis steht die Lebenshilfe immer, sofern sie durch Glauben motiviert ist, im Dienst der Glaubenshilfe (Abbildung 02).50

Seelsorge hat ein Ziel - wie ein Schiff, das eine Fracht von einem Ort zum anderen zu tragen hat. Das Schiff der Seelsorge heißt „Menschlichkeit“. Die kostbare Fracht ist das Evangelium (Abbildung 03). Die Fracht kann aber nur ihr Ziel erreichen, wenn das Schiff ankommt!

Abbildung 02: Die Einordnung der Seelsorge als Lebenshilfe nach neutestamentlicher Sicht

Den seelsorgerlichen Tiefgang macht die Fracht aus, die wir als Christen zu transportieren haben, das Gewicht des Evangeliums, die Verantwortung der Mission. Der Tiefgang lässt Kurs halten und gewährleistet, dass unser Schiff nicht wie eine Nussschale von einer Welle zur nächsten geschaukelt wird. Es soll aber nicht so sein, dass die Last zur erdrückenden Belastung für das Schiff der Menschlichkeit wird, zum knechtenden „Muss“. Dann kann Folgendes geschehen:

Abbildung 03

  • Das Schiff wird manövrierunfähig. Wir sind nicht mehr in der Lage, uns in aller Freiheit auf den anderen einzustellen.
  • Die bedrückende Überlastung lässt das Schiff auf Grund laufen. Beziehungen erleiden Schiffbruch, weil sie immer nur unter dem Vorsatz der Mission eingegangen werden, was kaum anders als unehrlich, weltfremd und verkrampft-zwanghaft wirken kann und deswegen eher abstößt als anzieht.
  • Der Zwang zur Mission kann so stark werden, dass der Weg zum anderen Menschen gar nicht mehr gesucht wird. Es kostet zu viel Kraft, immer missionarisch sein zu müssen. Nicht-missionarische Beziehungen will man aber auch nicht haben, weil man sie für vertane Zeit hält. Dadurch vereinsamt man - oder man hält sich nur noch im Hafen der Frommen auf.

Oft wird in evangelikal und pietistisch geprägter Seelsorge der Begriff des „Anknüpfens“ für den als notwendig erachteten Übergang von der Lebens- zur Glaubensthematik verwendet.51 Damit ist die Anschauung verbunden, alles seelsorgerliche Reden, das nicht explizit Geistliches zum Thema habe, solle nur als „Startbahn“52 für das „Eigentliche“ benutzt werden.53 Der Begriff „Anknüpfung“ legt eine stufenhafte Bewertung von Begegnungsinhalten nahe, woraus in der Praxis oft ein pseudoempathischer missionarischer Methodismus folgt. Durch die Anküpfungsmethode bekommt das seelsorgerliche Gespräch allzu leicht einen „Hauch von Heuchelei“, wie John Stott es ausdrückt.54 Wenn ein Christ echt ist, braucht er keinen taktischen Anmarsch, um zum „Eigentlichen“ zu kommen. Er ist ja die ganze Zeit beim Eigentlichen, denn es ist in ihm lebendig. Er redet nur nicht die ganze Zeit davon, sondern dann, wenn es sich ihm „auf’s Herz legt“ (Empathie) und der Respekt vor der Würde des anderen es ihm erlaubt. Dies kann, weil Gottes Geist wirkt, wie er will, zu jeder Zeit geschehen - oder aber auch eine Zeit lang nicht.

John Stott zeigt drei Möglichkeiten des Verhältnisses von Evangelisation und sozialem Handeln.55 Das Verhältnis von explizit geistlicher zu „nur“ menschlicher seelsorgerlicher Kommunikation wird davon umschlossen. Darum läßt sich das auch sehr gut auf das Verständnis von Seelsorge anwenden.56

Evangelisation und soziales HandelnIn der SeelsorgeBeurteilung
Soziales Handeln als Hilfsmittel zum Zweck der Evangelisation.„Nicht-geistliche“ Inhalte sind nur als Brücke zum „Eigentlichen“ wirklich bedeutsam.Wie Köder und Angelhaken; Mangel an Ehrlichkeit, lässt unglaubwürdig werden.
Soziales Handeln als evangelistische Lebensäußerung.Die explizit geistlichen Inhalte sind das Eigentliche. Die Beschäftigung mit anderen Fragen (Lebensprobleme) dient der Beglaubigung des Verkündeten.Menschlichkeit als natürlicher Lebensausdruck des Glaubenden, aber immer noch im Sinne eines Stufendenkens; sie bleibt Mittel zum Zweck der Evangelisation.
Soziales Handeln und Evangelisation in echter Partnerschaft.Liebe fragt nicht nach dem heimlichen Zweck, sondern nach der realen Bedürftigkeit. Entsprechend ist der seelsorgerliche Schwerpunkt auf Lebens- oder Glaubenshilfe zu legen. Unter dem Vorzeichen der Liebe ist beides gleich berechtigt.Die Liebe ist ungeheuchelt und nimmt sich ungeteilt der tatsächlichen Not an (Lk 10,25ff).

John Stott ist einer der Hauptverfasser der „Lausanner Verpflichtung“, die aus dem Lausanner Kongress für Weltevangelisation im Jahr 1974 hervorgegangen ist. In der Verpflichtung legten sich die 2.300 Teilnehmer aus 150 Ländern stellvertretend für die weltweite evangelikale Christenheit auf die wesentlichen Erkenntnisse des Kongresses fest. Die Lausanner Verpflichtung erhielt dadurch verbindlichen Bekenntnischarakter. Der weltweite Evangelikalismus baut seither auf diesem Fundament weiter.57 Sehr bemerkenswert für die Theorie der Seelsorge ist, wie sehr die Lausanner Verpflichtung die soziale Verantwortung der Christen betont:

„5. Soziale Verantwortung der Christen. Wir bekräftigen, daß Gott zugleich Schöpfer und Richter aller Menschen ist. Wir müssen deshalb Seine Sorge um Gerechtigkeit und Versöhnung in der ganzen menschlichen Gesellschaft teilen. [...] Wir tun Buße [...] dafür, daß wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschließend angesehen haben. [...] [Wir] bekräftigen [...], daß Evangelisation und soziale wie politische Verantwortung gleichermaßen zu unserer Pflicht als Christen gehören. Denn beide sind notwendige Ausdrucksformen unserer Lehre von Gott und dem Menschen, unserer Liebe zum Nächsten und unserem Gehorsam gegenüber Jesus Christus. [...] 6. Gemeinde und Evangelisation. [...] Wir müssen aus unseren kirchlichen Ghettos ausbrechen und in eine nichtchristliche Gesellschaft eindringen.“58

1.2.2. Die Vertikale, die Horizontale und ihr Schnittpunkt59

Nach Manfred Seitz ist das Selbstverständnis der Urgemeinde bezüglich ihrer Sendung mit der Dreiheit von Kerygma, Koinonia und Diakonia bezeichnet.60

  • Kerygma ist die Verkündigung des Evangeliums.
  • Koinonia ist die christliche Gemeinschaft.
  • Diakonia ist die tätige christliche Nächstenliebe.

Das Seelsorgeverständnis wurde Manfred Seitz zufolge immer dann problematisch,

„wenn ‘dieser Gestaltkreis’ zerbrochen, ein Element bevorzugt und die anderen geringer bewertet wurden. Verstand man die Seelsorge in erster Linie als Dienst, verwandelte sie sich in Therapie/Beratung. Faßte man sie als Bezeugung auf, wurde sie zur Predigt. Stellte man den Gemeinschaftsgedanken nach vorne, erschien die Gruppe als Ersatz für die Gemeinde.“61

Wenn wir unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung der Seelsorge zu einer zeit- und sachgemäßen Definition kommen wollen, so müssen wir zu einer Synthese von „Kerygmatischer“ und „Beratender Seelsorge“ gelangen, die den Beziehungsaspekt besonders würdigt. Wir meinen damit nicht nur Beziehung im Allgemeinen, sondern Festigung und Wachstum der Gemeinde Jesu.

Das Kerygma steht für die geistliche Dimension des christlichen Lebens. Die Konzentration liegt auf der vertikalen Beziehung zu Gott. Bei der Diakonia geht es vor allem um die zwischenmenschliche Ebene. Die Konzentration liegt auf der horizontalen Beziehung von Mensch zu Mensch.62 Jede Seelsorgedefinition, die entweder auf der Horizontalen oder auf der Vertikalen angesiedelt wird, ist einseitig und blendet Wesentliches aus. Wir fragen darum nach dem Schnittpunkt der beiden Dimensionen. Er liegt in der Koinonia63

Abbildung 04: Die Vertikale und die Horizontale des Gemeindewachstums.

Es gibt zwei sich ergänzende und ineinander wirkende Wachstumsbewegungen in der Gemeinde Jesu (Abbildung 04):

  • Die Verkündigung des Evangeliums und damit auch die Kerygmatische Seelsorge führt zur Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft zum Dienst (Diakonie). - Das Evangelium ist nur dann recht verkündet, wenn die erkennbare Wirkung im Wachstum der Gemeinschaft besteht. Dies ist vor allem ein qualitatives Phänomen. Die Gemeinschaft ist nur dann gesund und lebendig, wenn sie Dienstgemeinschaft ist.64
  • Die Diakonie und damit auch die Beratende Seelsorge führt zur Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft in die Aufnahme und aktive Weitergabe des Evangeliums.65 - Diakonie will „Einstieg in den Glauben“ sein.66 Die Erfahrung der Gemeinschaft ist die Erfahrung der Liebe Gottes als des „Schatzes in irdenen Gefäßen“67, was bedeutet: Die Liebe Gottes wird im Mitchristen nicht unmittelbar erlebt, sondern auf dem Weg der menschlichen Liebe. Diese äußert sich im diakonischen Verhalten.

Somit ist einerseits die von Seitz ausgesprochene Warnung vor Vereinseitigung eines Aspekts der Trias Kerygma, Koinonia und Diakonia ernst zu nehmen, andererseits bildet die Koinonia aber auch die beseelende Mitte und den Schnittpunkt von Kerygma und Diakonia und verdient darum besondere Aufmerksamkeit. Das Wachstum der Gemeinschaft der Heiligen ist das Ziel aller vom Heiligen Geist angeregten Gemeindeaktivität.68

Das Kerygma drängt ebenso zur Verleiblichung in konkreter Nächstenliebe wie die Attraktivität des gelebten Christentums in der Diakonia dorthin zieht, wo sich die Gemeinschaft der Heiligen versammelt, um immer neu Trost, Wegweisung und Inspiration zur tätigen Nächstenliebe zu bekommen: Unter die Verkündigung des Evangeliums und, daraus hervorgehend, auch zum missionarischen Wortzeugnis derer, die das Evangelium empfangen haben.

Mit diesen Bestandteilen können wir eine Definition von Seelsorge versuchen, die allen wesentlichen Aspekten gerecht wird:

Seelsorge wurzelt im Wesen der Gemeinde Jesu Christi. Ihre Quelle ist der persönliche Glaube an Jesus Christus. Ihr Ziel ist das innere und äußere Wachstum der Gemeinde. Seelsorge besteht aus zwei komplementären Bewegungen: Verkündigende Seelsorge bereitet den Weg zur passiven und aktiven Erfahrung tätiger Nächstenliebe, Beratende Seelsorge bereitet den Weg zur Aufnahme und aktiven Weitergabe des Evangeliums von Jesus Christus. Welcher seelsorgerliche Schwerpunkt jeweils angemessen ist, hängt von den Umständen, den am Seelsorgegeschehen Beteiligten und von der aktuellen Inspiration durch den Heiligen Geist ab.69 Begleitende Seelsorge kann sowohl verkündigende als auch beratende Elemente enthalten. Ihr hauptsächliches Wesensmerkmal ist aber das ungeteilte und unvoreingenommene, aktiv anteilnehmende Dasein für den anderen Menschen.

1.3. Missionarische Seelsorge

Hätte Jesus nicht ein weniger zwiespältiges Bild als das vom Fischen für den Missionsauftrag verwenden können? Hat nicht die Praxis des Köderns, Einengens und gewalttätigen Herauszerrens schon für unzählige Menschen die Frohbotschaft zur Drohbotschaft gemacht? Das Netz raubt den Fischen die Freiheit. Sie wissen nicht, was ihnen geschieht, wenn es heimlich über sie kommt. Sie werden getötet, ausgenommen und gegessen. Noch hinterlistiger ist die Angel: Die Fische werden mit einem Köder betrogen. Es ist ein Haken an der Sache, der sie Freiheit und Leben kostet. Aber Jesus geht es um das Gegenteil: Aus der Unfreiheit sollen Menschen in die Freiheit kommen, aus dem Tod ins Leben, aus dem

Betrogenwerden in die Geborgenheit des Vertrauens, wo sie erfahren, dass an seiner Sache kein Haken ist.

1.3.1. Der glimmende Docht

Kein Vergleich könnte klarer zeigen, was beim Menschenfischen in Gottes Namen nicht passieren darf. Vielleicht hat uns Jesus ja gerade darum diese schwierige Metapher zugemutet. Wir sollen ernsthaft darüber nachdenken, worin sich das Fischefischen vom Menschenfischen unterscheidet. Fünf Unterschiede möchte ich nennen. Wenn Menschen Seelsorge als Glaubenshilfe erfahren sollen, muss gelten: