Inhaltsverzeichnis

Widmung
Einleitung - Wie ich in der Einsamkeit meine Würde wiederfand
Teil 1: Politik - vom Hobby zum Beruf
Aufwachsen in einer Vertriebenenfamilie - Im Schatten der Toten
Start in die Politik - »Lasst doch mal ein Mädchen ran!«
Die Wahl zur Landrätin - Der Sensationssieg
Meine Zeit im Amt - Mit leerem Beutel große Sprünge machen
Managerin und Mutter - »Wo ist denn Ihre Tochter?«
Die Lust auf Freiheit - Born to be wild
Über den Kirchturm hinaus - Außenpolitik und Abenteuer
Der Sturz des Königs - Edmund Stoiber und die »unwichtige« Landrätin
CSU (chaotisch, sündig, unbelehrbar) - Der Niedergang einer reformunfähigen Volkspartei
Teil 2: Wenn das Leben zum Skandal gemacht wird
Latexhandschuhe und Männerfantasien
Freie Wähler - Eine Frau, ein Mann und eine Intrige
Freie Union - Eine Parteigründung wird zum Albtraum
Teil 3: Visionen einer besseren Welt
Eine menschenfreundliche Wirtschaftspolitik - Von Karl Marx bis Ludwig Erhard
Das bedingungslose Grundeinkommen - Die vernünftige Utopie
Die Betreuung unserer wenigen Kinder - Der Dauerskandal
Wir brauchen eine neue Schule - Wie Lernen Spaß macht
Ehe auf Zeit - Damit die Liebe lebendig bleibt
Das Kreuz mit der Kirche - Die wankenden Riesen
Lust auf Demokratie - Der (un-)bequeme Bürger
Die kranke Medizin - Tricks der Ärzte
Das Alter - Freude oder Fluch?
Fantasie und Vernunft - 18 Reformvorschläge einer Parteilosen 
Die Lebensuhr - Erfolg ist, wenn man sich selbst folgt
Copyright

Aufwachsen in einer Vertriebenenfamilie

Im Schatten der Toten

Ich bin ein Glückskind – und das gleich zweifach: Ich wurde in die richtige Zeit hineingeboren. Und in das richtige Land. Am 26. Juni 1957 kam ich zur Welt – Bundeskanzler Konrad Adenauer regierte als Patriarch der Politik das neue Deutschland mit ruhiger Hand, nach den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs herrschte eine gewaltige Aufbruchstimmung, der sich keiner entziehen konnte, kein westeuropäisches Volk dachte mehr daran, das andere zu überfallen oder zu unterjochen. Ich durfte also in Frieden aufwachsen –  Jahre später erzählten meine Eltern und Großeltern einem staunenden Kind, dass so etwas in der blutigen deutschen Geschichte keineswegs selbstverständlich war. Und noch ein paar Jahre später begriff ich als reisefreudige junge Frau, was es für ein Glück ist, Europäerin und Deutsche zu sein, einen Pass zu haben, der überall auf der Welt das Symbol für Freiheit und Reichtum ist, Bürgerin eines Landes zu sein, in dem Frauen zumindest theoretisch die Hälfte des Himmels und der Erde beanspruchen durften.

Was mein Gefühl einer wohligen Geborgenheit und eines Urvertrauens in meine Umwelt noch verstärkte: Ich wurde in eine der lieblichsten deutschen Regionen hineingeboren. An der 544 Kilometer langen Mosel aufzuwachsen, ein paar Steinwürfe von der ältesten deutschen Stadt Trier entfernt, lud mich mit einer Energie auf, die ich bis heute spüre: Hier, in der traditionsreichsten deutschen Weinregion mit einem der süffigsten Rieslinge der Welt, finden die Menschen immer wieder einen Anlass, sich selbst zu feiern. Es ist eine andere Mentalität als in der Uckermark, in Oberfranken oder in Ostfriesland. Die Winter sind hier mild, die Sommer warm, aber nie zu heiß. Die Moselaner sind selten reich an Geld, aber an guter Laune. Trübsal und Gefühlskargheit haben keine Chance, vielleicht liegt es an den Römern, die hier lange herrschten und die Einheimischen den Lebensgenuss lehrten. Bis heute sind die Haustüren in den schmucken Weindörfern meistens nicht abgeschlossen. Die Menschen zeichnen sich durch ein Grundvertrauen aus – und durch eine Gastfreundschaft, die man sonst nur in südlichen Ländern findet. Wer hier aufwächst, muss sich schon sehr anstrengen, keine glückliche Kindheit zu erleben.

20 Meter von unserem Haus im Moselstädtchen Schweich, das idyllisch an der Römischen Weinstraße mit ihren vielen Straußenwirtschaften liegt, erblickte ich in einem Schwesternstift das Licht der Erde. Mein Vater durchwachte die Nacht neben dem Bett meiner Mutter, was damals recht ungewöhnlich war. Als er morgens zum Waschen und Rasieren kurz nach Hause ging, rutschte ich ganz unkompliziert mit schwarzen Haaren und großen blauen Augen in die Welt. Schneewittchenhaft rosa mit pechschwarzen langen Haaren, erinnert sich meine Mutter, aber welche Frau findet ihr Baby nicht entzückend? Ich war ein Wunschkind meiner Eltern, 1957, weit vor der Erfindung des Betreuungsgelds und der Kita, wurde Nachwuchs noch als allergrößte Natürlichkeit gesehen und nicht als Hindernis auf dem Weg zur Selbstverwirklichung. »Kinder kriegen die Leute immer« hatte Konrad Adenauer damals getönt, die demografische Krise, die wir heute haben, konnte er sich nicht vorstellen.

Eigentlich hätte ich ein Caprifischer werden sollen. Meine Eltern waren extra auf die italienische Insel gereist, um frei vom beruflichen Existenzkampf an der Mosel die Familienplanung in die Tat umzusetzen. Sie wünschten sich einen Stammhalter, aber die Natur ist nicht planbar, so bekamen sie eine Caprifischerin. Auch gut, meine Mutter zog mich niedlich an und brachte mir gute Manieren bei. Und kurz darauf kam dann auch der ersehnte Stammhalter, mein Bruder Axel. Sie erzählte uns oft die Geschichte ihrer Herkunft, wie brutal ihre Jugend durch den mörderischen Wahnsinn des Krieges zerstört wurde. Schon früh erfuhren wir, dass über unserer heilen Familienwelt etwas schwebte, was die Fröhlichkeit ersticken konnte. Es waren die Schrecken der Vertreibung. Politik, ich konnte das Wort noch gar nicht aussprechen, bestimmte unser Leben. Im Wohnzimmer hingen die Bilder von zwei uniformierten jungen Männern mit geradem Blick, die ich niemals kennenlernen konnte, wie Ikonen an der Wand. Es waren meine beiden Onkel Heinz und Armin, die mit 18 bzw. 21 Jahren in Hitlers sinnlosem Gemetzel gefallen waren, der eine in Kiew, der andere in Weißrussland. Ihr Schicksal war allgegenwärtig bei uns. Meine Großmutter, die den Verlust ihrer beiden Söhne nie verkraften konnte, sprach immer wieder von ihnen. Sie wurden verheizt – wie Millionen andere auch.

Eine kurze Zeit teilte ich mit meiner Großmutter sogar mein Zimmer. Ich war 14, als sie starb – eine vom Leben gebrochene, ehemals sehr schöne Frau mit langen brünetten Haaren, die ich manchmal kämmte. Sie hatte ihr Lächeln verloren. In Malapane, einem 5000-Seelen-Ort in Oberschlesien, der durch Eisen und Stahlproduktion bekannt geworden war, war sie noch eine der wohlhabendsten Frauen des Ortes gewesen: Zusammen mit meinem Großvater hatte sie ein Kaufhaus für Eisenwaren und Textilien aufgebaut, eine Tankstelle betrieben sie zusätzlich, ihr Wohlstand war beträchtlich, sie konnten sich Dienstpersonal und 1932 sogar ein Auto leisten – einen Wanderer. Ein Privileg, das nur der Arzt und der erfolgreichste Geschäftsmann am Ort hatten. Meine Großeltern waren gut situiert. Bis Hitlers wahnsinniger Krieg ihr Leben durcheinanderbrachte. Es kam zu grotesken Situationen: Bei der Kommunion 1944 waren schon alle Gäste schwarz gekleidet, nur meine Mutter trug ein weißes Kleid. Sie war der einzige Lichtpunkt und wollte ein unbeschwertes Fest feiern, aber der Krieg überschattete alles.

Im Januar 1945 rückten die russischen Soldaten immer näher, meine Mutter, die damals elf Jahre alt war, floh mit ihrer Schwester Maud in überfüllten Zügen zu einer Tante nach Görlitz. Es war die erste Reise ohne ihre Eltern – und das Ende ihrer behüteten Jugend. Sie sah Soldaten, die durch den Krieg verstümmelt waren, sie hörte das fürchterliche Geräusch der Tiefflieger, die Jagd auf Menschen machten. Auf Rodelschlitten und in Kinderwagen versuchten die Menschen, ihr wichtigstes Hab und Gut zu retten. Im Februar 1945 ging es auf Wehrmachts-LKW, auf denen die verzweifelten Menschen wie Heringe dicht gedrängt saßen, weiter nach Sachsen, Bautzen war das Ziel. Dort wurde meine Mutter noch einmal stark traumatisiert. Sie hörte die brummenden Motoren der schweren britischen Bomber, die nach Dresden flogen und die Stadt in Schutt und Asche legten. Von Bautzen aus sah sie die Feuersäule, ein schauriges Schauspiel am Nachthimmel. Am nächsten Tag erblickte sie am Dresdner Bahnhof vom Phosphor verschmorte Leichen. Was solche Bilder in einer Kinderseele anrichten können, ist schauderhaft.

Und das Drama der Vertreibung, das Millionen erleben mussten, ging weiter: Meine Familie landete in Aue im Erzgebirge, einem Ort, an dem die Menschen hungerten und wie die Fliegen starben. Auf dem Marktplatz wurden Leichen gestapelt, erzählte mir meine Mutter, die in wenigen Wochen die ganze Geborgenheit ihres Lebens abgestreift hatte und ihrem nackten Überlebensinstinkt folgte. In den Kellern versteckten sich Frauen mit geschwärzten Gesichtern vor den russischen Soldaten, die sich mit wahllosen Vergewaltigungen an der deutschen Zivilbevölkerung rächten. Meine Großmutter, meine Mutter und deren Schwester entrannen dem Hungertod, indem sie sich von zusammengekehrtem Mehl und Kartoffelschalen ernährten, die zu Delikatessen wurden, geklaute Ähren kamen hinzu. Sie magerten ab und sahen im Herbst 1945 fast wie KZ-Gefangene aus. Die Hoffnung, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, hatten sie aufgegeben. Eine Rückkehr wäre lebensgefährlich geworden.

Die einzige Schwester meiner Großmutter, die in Schlesien geblieben war, war mit ihrer Familie und ihren zwei Babys von zornigen Polen erschossen worden, nachdem sie nicht aus ihrer Wohnung weichen wollte. Es war ein alltägliches Kriegsverbrechen der kleinen Leute, aber eben auch die Rache für die unsäglichen Verbrechen, die im deutschen Namen an den Polen verübt worden waren. Meine Großmutter hatte bei der Flucht zwei Pistolen mitgenommen, die sie aus Angst jedoch in die Moldau warf.

In der späteren DDR wollte meine Familie nicht leben, die Angst vor den Russen, die ihnen so viel Schreckliches angetan hatten, war zu groß. Meine Mutter ging in Meiningen zur Schule und wurde Schulsprecherin auf dem Gymnasium, aber es war klar, dass sie nicht in einem sowjetisch besetzten Teil des Landes bleiben wollten. Zumal inzwischen bekannt wurde, dass mein Großvater Alois in einem russischen Arsenbergwerk Zwangsarbeit leisten musste und mit schweren Vergiftungen entlassen worden war. Mit dem Gewehrkolben waren diesem Mann, der in Oberschlesien ein kraftstrotzender Kaufmann und Jäger gewesen war, alle Zähne ausgeschlagen worden.

Im September 1949 wagte meine Familie die Flucht nach Rheinland-Pfalz, in Trier hatte es ein Bruder meiner Großmutter als Direktor einer Zigarettenfabrik zu einer behaglichen Existenz gebracht, dort schlüpfte der schlesische Teil der Familie unter. Meine Mutter gab sich als Tochter eines mitreisenden Apothekerehepaars im Zug aus, mit viel Glück wurde sie nicht kontrolliert, denn 1949 war es schon nicht mehr einfach, den kommunistischen Teil Deutschlands zu verlassen.

Mein Großvater erlebte die Freiheit nicht mehr lange. Er kaufte sich noch auf Pump einen maßgeschneiderten Anzug, um mit seiner Frau an der Moselpromenade ein letztes Mal spazierenzugehen, ganz so, als ob er die Uhr zurückdrehen wollte. Er war ein gebrochener Mann, aber er hatte noch einen Rest an Stolz. In der Nacht schrie er vor Schmerzen, der Krebs wucherte in ihm. »Uschi, gib mir das Gewehr«, sagte er zu meiner Mutter, er wollte sich erschießen. Was für ein erschütternder Klagegesang an ein Mädchen, das die Welt nicht mehr verstand. Aber der natürliche Tod, der durch die Kriegsgefangenschaft natürlich ein unnatürlicher war, erlöste ihn von seinem Leiden. Und verhinderte, dass mein Bruder und ich unseren Großvater je kennenlernen konnten. Aber er war immer gefühlt bei uns.

Parteipolitisch geprägt oder beeinflusst wurde ich von meinen Eltern nicht. Über Parteien wurde bei uns zu Hause kaum gesprochen. Ich bewunderte meine Eltern für ihre Hingabe an ihre berufliche Selbstständigkeit. Sie hatten beide eine unglaubliche Energie. Jeden Morgen wurde pünktlich der Laden geöffnet und nach und nach erarbeiteten sie sich ein Stück Wohlstand. Ich stand als Kind gerne hinter der Ladentheke und verkaufte Schmuck, Ringe und Uhren. Das Herzstück des Ladens war die Werkstatt. Mein Vater, leidenschaftlicher Moselaner und Uhrmachermeister, reparierte die kleinen technischen Wunderwerke mit stoischer Ruhe und Feingefühl. Ich war immer wieder erstaunt über seine akribische Feinarbeit mit Lupe und Pinzette und hielt mich gerne in der Werkstatt auf. Die Arbeit meines Vaters hatte einen Sinn – bis ins hohe Alter widmete er sich ihr mit großer Geduld. So zurückgezogen er auch an seinem Werktisch war, nach der Arbeit wandelte er sich zu einem der geselligsten Menschen. Unser Haus war immer offen für Freunde, jeder Besuch war ein Fest, da wurde aufgetischt und gelacht. Das gute Leben besteht aus Anstrengung und Feiern – das lehrten mich meine Eltern, und ich liebe genau dieses noch heute.

Und meine Mutter? Sie behielt immer den Überblick, verstand es, charmant mit den Kunden umzugehen und ließ mir alle Freiheiten, wohl auch, weil ich gute Zensuren mit nach Hause brachte. Die Leichtigkeit meines Vaters und die ordnende Hand meiner Mutter waren eine wunderbare »Grundausbildung« für mein Leben. So erschuf ich mir meine Welt, eroberte mir meine Freiräume und ließ den Generationenkonflikt ausfallen, von dem alle sprachen. Ich hatte ihn nicht nötig und wollte mich auch nicht dafür rechtfertigen, dass ich meine Eltern beim besten Willen nicht ablehnen konnte.

Und zu meinem 18. Geburtstag bekam ich nicht nur ein Fahrzeug, sondern einen Buggy, ein herrlich unpraktisches Strandauto  – ein Symbol für Lebensfreude. Ich fühlte mich verstanden.

Start in die Politik

»Lasst doch mal ein Mädchen ran!«

Umfragen unter Jugendlichen sind ernüchternd: Politik gilt als verstaubt und vertrackt, eine Selbstbeschäftigung streitsüchtiger Erwachsener, die reglementieren und verbieten – das Gegenteil von Spaß und Lebensfreude. Viele kennen den Namen des Bundespräsidenten nur, wenn er gerade eine Affäre hat. Wer weiß schon unter den heutigen Pubertierenden, dass es zwei deutsche Staaten gab, die durch eine Stacheldraht-Mauer getrennt waren? Und Jugendliche, die sich ein Poster des amtierenden Bundeskanzlers über das Bett hängen und an Popstars weniger Interesse haben, waren zu jeder Zeit selten.

Mit Personenkult konnte ich nichts anfangen! Jemanden anzuhimmeln war nicht mein Fall. Weder Popstars, Sportler und erst recht nicht Politiker. Ich hatte keine Idole – nicht einmal den damals in Bayern gefeierten Franz Josef Strauß, dessen markige Worte auch verletzend und intolerant ankamen. FJS war ein charismatischer Redner, so volkstümlich wie gebildet, kantig und kultig, ein Mann, der im Bierzelt ebenso gut ankam wie in einer Akademie. Und immer für Bonmots gut war. Originalton Strauß: »Von Bayern gehen die meisten politischen Dummheiten aus. Aber wenn die Bayern sie längst abgelegt haben, werden sie anderswo noch als der Weisheit letzter Schluss verkauft!«, sagte er bereits 1955. Und er war auch clever: Selbst sein rhetorisch gewiefter Gegenspieler Helmut Schmidt konnte in meinen Augen dem bayerischen »Urviech« nicht das Wasser reichen. Dem politischen Gegner widmete Strauß liebevolle Boshaftigkeiten: »Irren ist menschlich, aber immer irren ist sozialdemokratisch.« Und natürlich äußerte er sich auch als Weltpolitiker, der weit über den weiß-blauen Horizont hinausdachte: »Was passiert, wenn in der Sahara der Sozialismus eingeführt wird? Zehn Jahre überhaupt nichts und dann wird der Sand knapp.« Besonders witzig fand ich den kraftstrotzenden Satz: »Da, wo ich bin, ist immer vorn. Und wenn ich mal hinten bin, ist hinten vorn.« Man durfte also anmaßend sein, wenn man seine Botschaft mit Humor würzte. Aber ich war auch erschrocken, wie Strauß mit seiner Mischung aus Attacke und Pointe die Massen ergriff und lenkte.

Ich war geistig keine 68erin, aber eine 76erin, vom Abiturjahrgang her. Zu dieser Zeit wurde der Unterschied zwischen links und rechts noch militant ausgetragen. Ich diskutierte die Thesen von Adorno und Habermas, denn mein Deutschlehrer stammte auch aus der »linken Szene«. Und der linke Säulenheilige Rudi Dutschke beeinflusste mich bis hin zur Literatur, allerdings ohne wirklich die oft sehr abstrakten Diskussionen in den dicken Wälzern der 68er für die real existierende Gesellschaft annehmen zu können. Ich verschlang die alten Griechen wie Platon und Sokrates, biss mich durch Herbert Marcuse, Albert Camus, Georg Lukács und Ernst Bloch und empfand irgendwann Befriedigung, als ich las, dass niemand eine Patentlösung anbieten konnte. Damit hatte ich den Freifahrtschein, selbst eine Antwort zu finden. Auch die Erklärungen des Philosophen Baruch de Spinoza waren mir nicht ausreichend bei der Frage, ob der Mensch sein Leben nur durchlebt wie ein Programm, das er nicht selbst in der Hand hat, oder ob er verantwortlich ist und damit frei. Ich machte mir viele Gedanken über den Satz: »Der Mensch ist nur so frei wie ein Stein, der einmal in die Luft geworfen wurde und seine vorgegebene Laufbahn durchfliegt.« Wahrscheinlich hat Spinoza halb recht, dass es seelische Muster gibt, die wir in unserem Leben abarbeiten. Aber wie wir das machen, ist unsere Entscheidung.

Ich hatte Freude am Philosophieren. Wichtig war mir die Freude an der Gemeinschaft und der Harmonie, das Wir wichtiger zu nehmen als das Ich. Ich war häufig Klassensprecherin und fühlte mich für das Große und Ganze einer Klassengemeinschaft verantwortlich. Ich freute mich, wenn ich jemandem Mut machen konnte. Und der wiederum motivierte dann andere. Gerade Außenseiter, die sich nicht artikulierten, versuchte ich zu entdecken. Weil jeder Mensch spannend ist.

Schule kann ein großartiger Lernort für Demokratie sein. Ich verstand mich nicht als Fundamentalopposition, sondern als Mittlerin, die auf sanfte Art einen Konsens suchte. Und ich hielt erstmalig kleine Reden: vor den Schülern, aber auch im Lehrerzimmer  – vor 50 Pädagogen. Die neue allgemeine Schulordnung, die heftig umstritten war, erlaubte den Lehrern und Eltern Mitsprache im Schulforum, so, dass auch die Schüler hier ihre Vertretung hatten. Dort konnte ich für sie sprechen.

»Alles Große ist einfach« – dieser Satz stand als Tafel im Eingangsbereich der fränkischen Burg Feuerstein, auf der ich einige Seminare absolvierte. Er klingt zunächst rätselhaft, doch heute erahne ich den Sinn dieser Aussage: Wer sich erkennt, kann frei leben. Auf diesem Weg hatte ich einige Lektionen noch vor mir – z. B. als Schulsprecherin des Fürther Helene-Lange-Gymnasiums und bei der Wahl des Bezirksschülersprechers. Dieses Amt wollte niemand so recht bekleiden, weil es sehr viel Arbeit bedeutete. So war auch ich nicht erpicht darauf, plötzlich so viel Verantwortung zu erhalten. Zwei Schülersprecher aus der Jungen Union bedrängten mich förmlich, das Amt zu übernehmen. Mit all meinem Mut stand ich bei der Nennung meines Namens auf und erklärte den anwesenden Jungs, wie ich mir die Arbeit der Schulsprecher auf Mittelfrankenebene vorstellte. Meine Performance endete mit dem Satz: »Und übrigens: Lasst da auch mal ein Mädchen ran!« Und so etwas in Zeiten, als Frauenquoten noch völlig unbekannt waren. Danach ärgerte ich mich aber über mich selbst, denn weiblich zu sein, wollte ich ja gar nicht als Argument ins Feld führen. Ich war ja keine Quotenfrau – das Wort gab es damals noch gar nicht.

Meine Wahl zur Bezirksschulsprecherin war für mich eine kleine Sensation, weil der Zeitgeist damals unter den Schülern klar links war, ich war umgeben von lebensfernen Mode-Revoluzzern. Deren oberflächlich wohlklingende Ideologie einer perfekten Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen leben sollte, fand ich weltfremd. Voraussetzung war ja ein auf das Gemeinwesen achtender Mensch, der durch die Erziehung im Kollektiv all seine persönlichen Wünsche zurückstellen sollte. Dieser Gedanke war zwar faszinierend und schwärmerisch, allerdings für die schulpolitischen Aufgaben nicht hilfreich. Außerdem wunderte ich mich darüber, wie meine Mitstreiter lebten: Ich traf mich mit meinen »linken« Kollegen zu Vorstandssitzungen in Nobelwohnungen reicher Eltern und sah das berühmte Konterfei von Che Guevara an der Wand, daneben hing dekorativ eine Kalaschnikow. Man verherrlichte mit dem kubanischen Revolutionshelden einen Mörder, der politische Gegner im Namen des Volkes umbringen ließ – ohne jede Gerichtsverhandlung. Das war alles andere als heroisch. Es erschütterte mich auch, wie sie die DDR romantisierten. Mauer, Schießbefehl und Stacheldraht wurden als Übergangsphase zum wirklichen Sozialismus entschuldigt. Ich sah das anders.

Jahre später beim Besuch der Jugendweihe in der DDR-Familie meines Cousins fiel mir die bedrückende graue Atmosphäre auf, die Schere im Kopf erlaubte kaum offene Gespräche, sie hatten sich wohl mit dem Leben arrangiert. Und als mein 19-jähriger Cousin über die ČSSR flüchtete und vor unserer Haustür stand, wusste ich endgültig, wie brutal dieser Staat war: Denn er hatte in diesem Staat, in dem Sippenhaft nicht unüblich war, seine Eltern und Geschwister nicht in seine Flucht eingeweiht, um sie nicht zu belasten. Ich schenkte ihm als Freiheitssymbol eine Gitarre – für mich war er ein Held, der für den Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie sein Leben riskierte. Die Texte und Noten, die ich ihm in den Jahren zuvor in die DDR geschickt hatte, waren immer von den Grenzern abgefangen worden. 

Das freiheitsberaubende DDR-Regime wurde von meinen Schulsprecherkollegen ignoriert, und wir begaben uns in ermüdende politisch-philosophische Diskussionen und heftige Rededuelle. Spitzfindig feilten wir stundenlang an einigen Formulierungen in unseren Papieren. Die Gesellschaft, die Eltern, die Lehrer – überall sahen sie Feindbilder. Auch ich war eines.

Manchmal muss man sich in die Höhle des politischen Löwen wagen. Im Nürnberger Kommunikationszentrum KOMM, das von Linksradikalen dominiert wurde und als Drogenhandelsplatz galt, wollte ich Jahre danach als Chefin des Arbeitskreises für Entwicklungspolitik der Jungen Union Bayern über Menschenrechte in Nicaragua diskutieren und besetzte mein Podium mit Experten. Aber durch eine Basisabstimmung im KOMM sollte diese Veranstaltung in allerletzter Minute verhindert werden. Natürlich wollten wir uns nicht den Mund verbieten lassen, zumal der Ort ja aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde und jeder Zutritt haben sollte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Mitstreiter der Jungen Union und ich dann mit einer üblen Szenerie konfrontiert wurden. Die Türschlösser waren verklebt, wir konnten nur einen Weg nach innen wählen, der von uns anpöbelnden Möchtegern-Revoluzzern gesäumt war. Wir wurden niedergepfiffen, rote Farbbeutel flogen auf uns zu, das Licht ging aus. Der Sicherungskasten war wohl gekapert worden. Ein Trupp von Polizisten füllte den Raum und führte einige Randalierer ab, die begonnen hatten, andere anzurempeln. Die demokratische Urtugend, den anderen einfach mal anzuhören, war in dieser hitzigen Stimmung ad absurdum geführt worden. Die drei hässlichen H (Hass, Häme und Hetze) waren in dieser Schreihals-Demokratie übermächtig. Aber mein Kampfgeist war geweckt, ich war »angefixt« von Politik. Sie kann süchtig machen.

Rhetorik begann mich noch mehr zu interessieren. Worte können auch eine Art von Gewalt sein, von Kampfsport: Wer am lautesten und längsten redet und das letzte Wort hat, gewinnt. Nachdem ich einmal als Bezirksschulsprecherin bei einer Podiumsdiskussion mit Linken nicht zu Wort kam, war ich völlig demoralisiert. Ich belegte Seminare, um schlagfertiger und mutiger zu werden. Schon während der Schulzeit las ich die Klassiker der Massenpsychologie: Als ich 15 war, fiel mir in einer Bibliothek in Fürth das Standardwerk aus dem Jahr 1895 von Gustave Le Bon in die Hände. Er enthüllt die vielen Möglichkeiten der Manipulation: dass Gefühle wichtiger sind als Argumente, dass die Dynamik einer Gruppe Menschen in die falsche Richtung lenken kann, dass gute Redner diese Klaviatur perfekt spielen. Le Bon befasst sich mit der Steuerung der Menschen durch das Unbewusste. Er stellt fest, dass der Einzelne in der Masse seine Kritikfähigkeit verliert und dadurch lenkbar ist. Eine gute Rede ist auf die Seele ausgerichtet, sie erfasst in der Tiefe die Ängste, die ein Publikum nicht kennt, aber hat. Ich wollte wissen, was die Menschen dazu bewegt, den Verstand beim Zuhören auszuschalten und sich am Schluss selbst für Massenmörder wie Adolf Hitler zu opfern – es waren Worte, Worte, Worte! Welche Macht geht von Worten aus! Ich fand das unheimlich  – auch in meiner Heimatstadt Zirndorf, wo Jahre zuvor eine demagogische Debatte tobte.

Das Thema Asyl beschäftigte uns als Stadt des »Sammellagers«, wie die heute sogenannte »Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber« hieß. Zirndorf war nicht stolz darauf, die Fremden wurden dämonisiert – mit Billigung des Bürgermeisters. Er war ein Meister des Populismus und forderte eine »Bürgerwehr«, da die Furcht im Raum stand, es gäbe Übergriffe der Asylanten auf das Eigentum der Stadtbewohner. Eine Hetze gegen politisch Verfolgte, die ich als hellwache junge Frau, die sich gern in der Welt umschaute, widerwärtig fand. Die Aufwiegelung war bedrückend: Ich erlebte Bürger, die bereit waren, mit Schäferhunden Patrouille gegen die Asylanten zu gehen. Dieser Bürgermeister war zwar der Held an den Stammtischen. Er hatte die Angst der Menschen vor Ort gegenüber den Fremden sehr geschickt erkannt und ausgeschlachtet. Ich erlebte jedoch, wie dumpfe Gefühle als Instrument für Macht missbraucht wurden.

Die Menschenverachtung ging aber noch weiter, man ließ keine Asylbewerber mehr in das öffentliche Bad unserer Kleinstadt und begründete das zynischerweise mit dem »Schutz der deutschen Kinder«. Ein Arzt habe berichtet, dass 60 % der 400 Insassen des Zirndorfer Asylantenlagers »Parasitenbefall, Ruhr und Geschlechtskrankheiten« hätten. Der Bürgermeister verbreitete so etwas gern. Ein für mich unhaltbarer Zustand, der von einem Mann ausging, der der ältesten deutschen Partei angehörte, die selbst während der Nazizeit viele Emigranten hatte. Willy Brandt hätte sich für seinen Parteifreund in Grund und Boden geschämt. Er war auch an Selbstherrlichkeit nicht zu überbieten. Als ich bei einer Bürgerversammlung den Vorschlag machte, die Laternen im Stadtpark in der Nacht zu löschen, um Energie zu sparen, versuchte er, mich ins Lächerliche zu ziehen: »So ein junges Mädchen wie Sie geht eben gern im Dunklen.« Manche grinsten, andere schauten betreten weg.

Müssen sich Menschen demütigen lassen? Da war die Rebellin geboren ...

Die Wahl zur Landrätin

Der Sensationssieg

Was will ich vom Leben? Wofür stehe ich? Wo ist mein Platz? Das waren die Fragen, die ich mir nach meinem Studium stellte. Ich fand es lange völlig abwegig, Berufspolitikerin zu werden, denn für mich war Politik eher eine spannende Leidenschaft. Hauptberuflich traute ich mir dieses Geschäft nicht zu, nicht zuletzt deswegen, weil man den vielfältigen Wünschen der Bürger gerecht werden muss. Erst recht als Kommunalpolitikerin, wo man zudem noch jeden Kanaldeckel kennen sollte. Als Politiker muss man in den Augen der Wähler ein Allrounder, ein Überflieger, oder wie man in Franken sagt, eine »Eier legende Wollmilchsau« sein – ein Anspruch, dem kaum jemand gerecht wird.

Ich wollte auf keinen Fall den Anschluss an mein berufliches Ziel verlieren und lieber in ein Unternehmen einsteigen, um nach einem anspruchsvollen Studium und der Promotion endlich mein Wissen umzusetzen. Marketing, Unternehmensführung und Kommunikationswissenschaften waren meine Schwerpunkte, aber Politik kam auch nie zu kurz. Ich promovierte über politische Public Relations und im Fach Volkswirtschaftslehre über politische Marktmodelle. Mich interessierten speziell die Theorien der Neuen Politischen Ökonomie, die die Wähler wie Kunden und Konsumenten betrachtet und Politik als Ware, die Zielgruppen angeboten wird. Nach den Bedürfnissen der größten Zielgruppe werden politische Themen ausgewählt. Die Randgruppen sind dabei uninteressant. Aber das war nicht mein Menschenbild einer würdigen Politik. Denn jeder Mensch hat gleichen Wert. Politische Programme und Projekte sollen nicht von vordergründiger Popularität abhängen, sondern dem Ganzen dienen, also auch den Kindern, den Alten, den Armen. Nicht immer bedeutet dies Wählbarkeit.

Dass ich mich mit knapp 30 Jahren zu einer Kandidatur als Landrätin durchrang, war, wie oft in meinem Leben, eine Bauchentscheidung. Aufgaben, die eigentlich unmöglich erscheinen, reizen mich. Oder, um es mit den Worten des bayerischen Filmemachers Herbert Achternbusch zu sagen: Du hast keine Chance, aber nutze sie. Die Aussicht, die Wahl gegen einen seit 18 Jahren amtierenden SPD-Landrat zu gewinnen, war jedoch gleich null. Aber Frauen erhalten oft dann eine Chance, wenn Männer kneifen. Ausgerechnet der Vorsitzende der Senioren-Union schlug mich zum Unwillen mancher CSU-Bürgermeister als politischen Frischling für die Kandidatur vor. Und das, obwohl ich kein Fränkisch spreche, sondern klares Hochdeutsch und einen erheirateten Doppelnamen Pauli-Balleis hatte, was mich in den Augen vieler zur »Emanze« werden ließ.

Zudem hörte ich schon die Vorwürfe der »Rabenmutter« auf mich zukommen, weil ich ja eine zweijährige Tochter hatte. Ein weiterer Malus: Ich war auch noch katholisch in einem klassisch fränkisch-evangelischen Landkreis. Aber dafür hatte ich die wichtigste Fähigkeit, die ein Politiker haben muss: gerne mit Menschen zu sprechen, schnell neue Gedanken aufzugreifen, Lebensfreude auszustrahlen und immer ein offenes Ohr zu haben. Und wer sagt denn, dass ein Landrat immer männlich sein muss? Diese Frage stellte sich meinen Wählerinnen und Wählern zunehmend. Mein Mann, der auch ein bekannter CSU-Politiker war, stand voll hinter meiner Kandidatur und entlastete mich bei der Betreuung unseres Kindes. Er ließ sich sogar mit mir und unserer Tochter auf einem Tandem fotografieren – ich saß vorne.

Ich redete mit vielen Bürgern und entwickelte aus diesen Gesprächen mein Programm: Es war grün angehaucht, ich lag dabei nicht unbedingt auf der reinen CSU-Linie. Ein großes mir unsinnig erscheinendes Straßenprojekt, das 80 Millionen Mark (ein Meter Straße verschlang 27.000 Mark!) kosten sollte, wollte ich kippen; die »Betonpolitik« meines Vorgängers war für mich einfach nicht mehr zeitgemäß – lieber wollte ich den öffentlichen Nahverkehr ausbauen, nicht die Straßen. Mit 523 Autos pro 1.000 Einwohner hatte der Landkreis eine für damalige Verhältnisse ungeheure PKW-Dichte auf einer Hauptverkehrsstraße, weil den Menschen nichts anderes übrig blieb. Ohne Auto kamen sie einfach nicht zum Arbeitsplatz. Die Müllverbrennung wollte ich nicht unbedingt erhalten: »Wir brauchen keine Dreckschleuder, sondern Anreize zur Müllvermeidung« war meine Parole. Die Schulbusse sollten für alle Bürger geöffnet werden, Familien sollten besser gefördert werden. Als junge Mutter wusste ich, wovon ich sprach. Und sehr bald erfasste ich, wo die Menschen in dem 308 Quadratkilometer großen Landkreis der Schuh drückte. Genauer gesagt, der Sommerschuh, denn so hieß mein Gegenkandidat, sein Name lud zu Wortspielen ein ...

Wahlkampf machte mir Spaß, hier spürt man, ob jemand ein Menschenversteher ist – oder ein Bürokrat. Ich hatte den Ehrgeiz, in wirklich jedem auch noch so kleinen Ort mindestens dreimal gewesen zu sein, vorausgesetzt, es gab dort eine Gaststätte, in der ich reden konnte. Aber auch die anderen kleinen Gemeinden erfasste ich durch Lautsprecherrundfahrten, bei denen meine Helfer und ich im Ortskern stoppten und uns der Diskussion mit Bürgern stellten. Nicht immer fand das Resonanz, und manchmal waren wir auch ganz schön erschöpft. Viel Unterstützung fand ich durch meine Junge Union, denn ich war ja auch deren stellvertretende Landesvorsitzende, und der Parteinachwuchs war nach dem Motto »Jugend forsch(t)« mit Feuer und Flamme dabei. Ich lernte mich noch einmal ganz neu kennen, besuchte im Dirndl viele Ortsfeste, stach Bierfässer an, lernte in Festzelten das Dirigieren auf der Bühne, trank eine Eisenmaß, bei der der Schmied ein glühendes Stück Eisen ins Bier tunkt – ein Grundkurs in fränkischer Lebenskunst. Zusammengefasst: »Passt scho«.

Bei den vielen Stopps in Außenbezirken kamen wir auch in die abgelegenen Winkel des Landkreises, bis zu dem Ort »Loch«. Hier gab es keine Straßennamen, nur Hausnummern, und als wir uns mit dem Lautsprecherwagen am Straßenrand postierten und Markus Söder, damals Bezirksvorsitzender der Jungen Union, mit leicht verzerrtem Lächeln die Ansprache »Liebe Locherinnen und Locher« wählte, zuckte nur leicht eine kleine Gardine, und eine alte Bäuerin lugte kopfschüttelnd zu uns herüber. Aber jede Stimme zählte. Später im Amt beschwerte sich eine Dame dann von »Loch 9«, dass im Ort so wenig Busse hielten. Ich hatte sie also doch politisiert.

Natürlich argumentierte ich auch mit dem Geldbeutel. Der Landkreis Fürth war im Jahre 1989 der höchst verschuldete in ganz Bayern und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren. Die Prokopfverschuldung lag bei 593 Mark, im restlichen Bayern waren es durchschnittlich nur 234. Über den Finanzausgleich erhielten wir Beistand aus Landesmitteln – ein Armutszeugnis. Wäre der Landkreis eine Firma gewesen, hätte er längst Konkurs anmelden müssen. 

Mein Konkurrent hörte das gar nicht gerne. Er beging dann den Fehler aller Fehler und griff mich in seinem Schubladendenken als Frau an. In einem Schreiben an mich verstieg er sich zu der Behauptung, dass es »für eine 32-jährige Frau ohne politische Erfahrung sehr schwierig sein wird, inhaltliche Aussagen über eine solch komplexe Aufgabe wie die Politik für den Landkreis Fürth zu treffen«. Ins Klardeutsch übersetzt: Eine Frau ist zu dumm, um eine große Behörde führen zu können. Ich veröffentlichte diese unsägliche These und erhielt Unterstützung: Frauenfeindlichkeit wurde schon damals nicht belohnt, denn immerhin sind ja über die Hälfte der Wähler weiblich, und auch viele Männer schüttelten den Kopf über so viel Borniertheit. Es war grotesk: Der nervöse Landrat verbot mir sogar, bei Kirchweihzügen neben ihm in der ersten Reihe zu laufen. Auch eine Podiumsdiskussion mit mir hatte er verweigert. Beim nächsten Mal lief ich dann doch in der ersten Reihe – er winkte nach links, ich nach rechts.

Im ersten Wahlgang kam ich auf 41,84 %, mein Gegenkandidat auf 47,30. Er fiel somit unter 50 %, das allein war schon sensationell. »Als Mann tut man sich halt schwer gegen eine Frau«, tröstete er sich.

Ich wusste, dass jetzt in der Stichwahl alles möglich war und wurde von einer Woge der Sympathie getragen. Der Wechsel lag in der Luft. Forsch besetzte ich Begriffe: Zukunft gegen Vergangenheit, Aufbruch gegen Amtsmüdigkeit, Frau gegen Mann, Jung gegen Alt. Ich war mit meinen 32 Jahren einfach moderner im Denken und machte meine Schwäche, die Jugend, zur Stärke. Weil ich kaum mehr Geld in meiner Wahlkampfkasse hatte, pokerte ich hoch: Ich spendete das letzte Geld für die Wahlwerbung, es waren 2.500 Mark, am Tag vor der Entscheidung dem Roten Kreuz und forderte meinen Konkurrenten öffentlich auf, das Gleiche zu tun. Er investierte jedoch noch einmal kräftig in Anzeigen – und verlor dennoch mit 49,6 %. Danach war er zutiefst erschüttert: Es gab keine Gratulation, keinen Händedruck, selbst die offizielle Übergabe der Amtsgeschäfte lehnte er in seiner Kränkung ab. Nach dem Wahltag verschickte er Bettelbriefe an Firmen, die mit dem Landkreis Geschäfte gemacht hatten. Offenbar brauchte er nach dem Wahlkampf dringend Geld. Ich schämte mich für ihn, denn so etwas fällt auf alle Politiker zurück. Ich selbst hatte nur 25.000 Mark für meinen Wahlkampf zur Verfügung – aber Geld entscheidet keine Wahl, und am Ende hatte ich 400 Stimmen mehr. Ich wusste nicht genau, was auf mich zukam, doch ich spürte: So viel Anfang war nie. Mein Hobby wurde zum Beruf.

Meine Partei feierte mit mir das Fest der Feste.

Ich war die jüngste Landrätin Deutschlands.