LORA LEIGH
BREEDS
Dashs Bestimmung
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Isabell Bauer
Titel
Prolog
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Danksagung
Impressum
LORA LEIGH
BREEDS
Dashs Bestimmung
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Isabell Bauer
Prolog
Der Brief erreichte ihn zu einem Zeitpunkt in seinem Leben, als der Ausgang des Kampfes, der in seinem Herzen tobte, noch völlig offen war.
Der Krieg gegen den Terrorismus war nach wie vor in vollem Gang, und das schon seit vielen Jahren. In bestimmten Gebieten des Nahen Ostens war immer noch die Hölle los. Die Einheit der Special Forces, in der Dash Sinclair diente, war inzwischen seit einem Jahr dort. Die acht Männer waren eine verschworene Gemeinschaft und vertrauten einander ihr Leben an. Sie teilten alles. Bis zu dem Tag, als eine gezielt abgefeuerte Rakete ihren Hubschrauber traf. Die anderen sieben waren auf der Stelle tot, und auch Dashs Leben hing nur noch am seidenen Faden, als die Rettungskräfte ihn erreichten. Damals hatte er nicht begriffen, warum ausgerechnet er noch am Leben war. Er fühlte sich müde, war es leid zu kämpfen, sich zu verstecken, und hatte das Leben in Einsamkeit einfach satt. Diese sieben Männer hatten ihm so nahegestanden wie noch kein Mensch zuvor, und nun waren sie einfach weg, und ihm blieb nur die schmerzliche Erkenntnis, dass sein Leben eine trostlose Einöde geworden war.
Noch Wochen später haderte er mit dem Leben, die Augen verbunden und völlig benommen von all den Medikamenten, die er bekam. Seine Wunden heilten nur langsam, und in seinem Herzen, das sich niemals einfach ergab und immer ums Überleben kämpfen würde, brodelte die Wut. Warum atmete er noch, wenn die anderen doch schon gegangen waren?
Doch dann kam sein befehlshabender Offizier zu ihm.
»Sie haben einen Fan.« Irgendetwas in ihm, ein Urinstinkt, übernahm plötzlich die Kontrolle. Er verdrängte den Schmerz, die Erinnerungen an all das Blut und den Tod – seine Aufmerksamkeit war geweckt. Aber auch sein Misstrauen.
Er besaß weder Familie noch Freunde und erst recht keine Fans. Seine Kameraden hatte er verloren. Warum konnte man ihn nicht einfach schlafen lassen? Doch nun war diese kleine Stimme in seinem Hinterkopf wieder da, die er immer versucht hatte zu überhören. Instinktiv wusste er, dass ihm sein größter Kampf erst noch bevorstand.
»Es ist ein nettes kleines Mädchen namens Cassidy Colder. Lassen Sie mich Ihnen den Brief schnell vorlesen. Ich werde ihr zurückschreiben, bis Sie wieder so weit hergestellt sind, dass Sie es selbst tun können. Aber ich habe das Gefühl, das kleine Mädchen wäre ziemlich enttäuscht, wenn Sie ihm nicht irgendwann antworten würden…«
Als der Lehrer uns die Liste gab, gefiel mir Ihr Name am besten. Dash Sinclair. Ich finde ihn sehr schön. Mama meinte, er klingt sehr tapfer und schön, und sie würden es sicher auch sein. Ich finde, er klingt wie der Name eines Daddys. Ich wette, Sie haben jede Menge kleiner Töchter. Und ich wette auch, Sie sind sehr stolz auf Ihren Namen. Ich habe keinen Daddy, aber wenn ich einen hätte, fände ich es schön, wenn er solch einen Namen hätte.
Dash hatte seinen Namen selbst erfunden. Vor langer Zeit. Er hatte gehofft, dass der Name von seiner Vergangenheit ablenken würde. Dann hatte er darum gekämpft, sich selbst zu verändern. Allerdings besaß er keine Töchter, war alles andere als ein liebender Vater. Die Zeilen, die sein Vorgesetzter ihm vorlas, sickerten langsam in sein Hirn, und er spürte, wie er unruhig wurde.
Meine Mama heißt Elizabeth. Sie hat braunes Haar, genau wie ich, und hübsche blaue Augen. Meine sind ganz ähnlich. Ich habe eine sehr hübsche Mama, Dash. Sie backt mir immer Kekse und findet es in Ordnung, dass ich mich mit der Fee unterhalte, die mit mir in meinem Zimmer wohnt. Meine Mama ist echt lieb.
Meine Mama sagt, Sie sind ein sehr tapferer Mann und dass Sie kämpfen, damit bei uns zu Hause alles sicher ist. Ich wünschte, Sie wären hier bei uns, Dash, denn manchmal ist meine Mama sehr müde.
Trotz der Schmerzen und obwohl er kaum richtig bei Bewusstsein war, durchfuhr ihn ein Schreck. In diesem einen Satz schwang so viel Angst mit. Es war ein Hilferuf. Und auf einmal war ihm klar, dass er leben musste. Er musste Cassidy und ihre Mutter beschützen.
Er sah das Mädchen geradezu vor sich, klein und zart, wie es vor Angst wimmerte. Ebenso seine Mutter, verzweifelt, verängstigt, die sich angriffsbereit vor ihre Tochter stellte, knurrend, einer wütenden Wölfin gleich.
Aber warum sah er das alles? Und warum ließ ihn dieses Bild nicht mehr los?
In anderen Momenten wurde er die qualvolle Fantasie nicht los, wie die Mutter ihn voller Lust unter halb geschlossenen Lidern hervor ansah, nackt, schlank und grazil, während sie unter seinem muskulösen Körper lag.
Es war die kleine Cassidy Colder, die ihm geschrieben hatte, aber mit jeder Zeile über ihre Mutter, jedem Satz, der ihre Mutter beschrieb und wie sie sich um die Tochter kümmerte, wuchs Dashs Verlangen. Tief in seinem Inneren reifte die Überzeugung, dass Elizabeth und Cassidy in irgendeiner Weise einfach zu ihm gehörten.
Ja. Der Name Dash passte gut zu einem Vater. Zu Cassidys Vater. Aber es war auch ein guter Name für einen Ehemann. Elizabeths Mann. Und wieder meldete sich sein Instinkt. Seine Sinne schärften sich, während er gegen den Nebel aus Schmerz und Medikamenten ankämpfte. Tanzende Schatten der Gewalt und blutige Zeichen des Todes umschlangen Cassidy und ihre Mama und verschmolzen miteinander. Die beiden gehörten zu ihm, und sie waren in Gefahr. Er musste leben.
Meine Mama sagt, Sie müssen ein sehr netter Mann sein. Nette Männer schlagen keine kleinen Mädchen. Oder?
Obwohl er so unschuldig formuliert war, wog dieser Satz schwer. Dash widersetzte sich den dunklen Qualen in seinem Inneren und kämpfte sich durch den Schmerz zurück in die Realität, um gesund zu werden. Um zu leben. Cassidy und ihre Mutter brauchten ihn.
Meine Mama sagt, dass es wahrscheinlich keine Feen gibt, aber dass es okay ist, wenn ich an sie glaube. Schließlich existiert nichts, solange man nicht daran glaubt. Glaubt man aber daran, ist es so echt wie der Sonnenschein. Und ich glaube an Sie, Dash …
Wieso hörte er immer wieder diesen Schrei? Das gedämpfte Schluchzen einer Frau. Doch es waren die Worte des Kindes, die sein Commander ihm vorlas und die ihm die Kraft verliehen, sich wieder ins Leben zurückzukämpfen. Lange hatte er gefürchtet, dass er diesen Kampf womöglich verlieren würde.
Meine Mama sagt, es wäre gut, wenn es Kobolde gäbe. Die Geschichte vom Gold am Ende des Regenbogens klingt schön.
Ich schwöre Ihnen, Dash, ich kenne eine echte Fee. Ich habe Mama davon erzählt, und sie hat gelächelt und gesagt, ich könne sie zu Keksen und einem Glas Milch einladen, wenn ich wollte. Ich musste ihr dann sagen, dass Feen keine Milch trinken und auch keine Kekse essen. Aber sie mögen Schokoladenriegel …
Irgendwann würde die Fee ihren Schokoladenriegel mit Cassidy teilen müssen. Dash aber hörte immer noch das gedämpfte Schluchzen einer Frau.
Die Briefe des kleinen Mädchens wurden während der bitteren Monate seiner Genesung für Dash zu einem Lebenselixier. Sie gaben ihm Halt. Denn sonst hatte er nichts und niemanden. Er war vollkommen allein auf der Welt und hatte immer geglaubt, dass er es so haben wollte, bevor die Zeilen des Mädchens sein Herz berührt hatten.
Sie waren oft mit lustigen kleinen Zeichen der Zuneigung für seine Mutter gespickt, die wiederum ihre Tochter offensichtlich sehr liebte. Und ein wenig von dieser Liebe gab das kleine Mädchen an ihn weiter.
Manchmal ist meine Mama traurig. Dann sitzt sie allein in ihrem Zimmer und starrt aus dem Fenster. Wenn ich sie dabei beobachte, glaube ich, dass ich Tränen in ihren Augen sehe. Ich denke, sie braucht genauso einen Daddy. Meinen Sie nicht auch?
Der Soldat, der den Commander an diesem Tag begleitete, konnte es sich nicht verkneifen, ihn damit aufzuziehen. Aber Commander Thomas brachte den Mann schnell zum Schweigen und las weiter vor. Dash war inzwischen wieder vollkommen bei Bewusstsein, aber er war immer noch schwach und hatte noch einen langen Weg vor sich. Doch er kämpfte. Kämpfte wie das Tier, das er war – wegen der Tränen einer Frau und der Ängste eines kleinen Mädchens.
Ich hätte Ihnen gern ein Geschenk zu Weihnachten geschickt. Aber Mama hat gesagt, dass wir dieses Jahr kein Geld dafür haben. Vielleicht dann zu Ihrem Geburtstag, hat sie gesagt, wenn Sie mir verraten, wann der ist. Stattdessen habe ich dem Weihnachtsmann eine E-Mail geschrieben. Ich habe ihm ganz genau erklärt, was er Ihnen bringen soll, aber ich wette, all Ihre anderen kleinen Mädchen haben auch schon daran gedacht. Ich wollte gern ein Fahrrad haben, aber Mama hat gesagt, dass der Weihnachtsmann das dieses Jahr vielleicht nicht schafft. Ich habe gesagt, er schafft es bestimmt. Denn der Weihnachtsmann weiß, dass ich in diesem Jahr groß genug für ein Fahrrad bin. Ich bin sieben Jahre alt. Mit sieben ist man alt genug für ein Fahrrad, finde ich.
Cassidy hatte mit ihrem kindlichen Humor und ihrem Glauben an das Gute in der Welt sein Herz im Sturm erobert. Er wollte, dass sie dieses verdammte Fahrrad bekam. Sie sollte sehen, dass der Weihnachtsmann sich um brave kleine Mädchen kümmerte, die so wertlosen Kerlen wie ihm das Leben retteten. Sie sollte wissen, dass er zu ihr kommen würde. Er wollte ihr das Fahrrad schicken. Damit es ihr gut ging, wenn er eintraf. Damit sie keine Angst mehr hatte …
Aber sie war auch eine kleine Kupplerin. Irgendwann las Commander Thomas ihm ihre Briefe erst vor, wenn niemand anders im Raum war. Und eines Tages war Dash auch wieder in der Lage zu sprechen, sodass er endlich einen Antwortbrief für sie diktieren konnte. Er war nur kurz. Noch immer wurde er schnell müde, aber er wollte, dass dieses kleine Mädchen wusste, was die Briefe ihm bedeuteten.
Ich habe ein Fahrrad bekommen, Dash. Mama war echt überrascht. Bei der Bescherung habe ich zuerst gedacht, dass der Weihnachtsmann mir noch nicht genügend vertraut. Mein Fahrrad stand nicht unter dem Baum. Doch dann klingelte es an der Tür, und als Mama aufmachte, stand ein leuchtend rotes Fahrrad davor. Sogar mein Name stand darauf. Es war nur für mich, und es war ganz neu. Und sogar ein Helm war dabei. Und ich habe richtige Handschuhe. Und Ellbogenschützer. Und Knieschützer. Und der Weihnachtsmann hat auch ein Geschenk für Mama gebracht. Können Sie sich das vorstellen, Dash? Es war das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe. Der Weihnachtsmann hat sogar an Mama gedacht.
Natürlich hatte der Weihnachtsmann an sie gedacht. Dash lächelte und bedankte sich knapp bei dem Commander dafür, dass er seine Bitte erfüllt hatte. Der lange Mantel würde die Mutter wärmen, bis er sie selbst in die Arme nehmen konnte. Cassidy hatte geschrieben, dass ihre Mama oft fror …
Und dann kamen auf einmal keine Briefe mehr. Einen Monat, bevor er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wieder sehen und auf seinen eigenen Beinen stehen konnte, sich wieder stark und gesund fühlte, war die Stimme des kleinen Mädchens verstummt. Besorgt bat er Commander Thomas, die Sache zu überprüfen und herauszufinden, was mit dem klugen, fröhlichen Mädchen geschehen war, das von seiner Mutter mit derart viel Liebe überschüttet worden war.
Commander Thomas, ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die kleine Cassidy Colder und ihre Mutter Elizabeth bei einem Feuer ums Leben gekommen sind, das vor einigen Wochen in ihrem Mietshaus ausgebrochen ist. Ihre Überreste waren nicht mehr zu identifizieren, aber es besteht keinerlei Zweifel daran, dass die beiden in den Flammen umgekommen sind. Es gab einige Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem Kind und seiner Mutter. Ich habe Gerüchte gehört über eine Lebensversicherung, die auf die beiden ausgestellt war. Bitte lassen Sie mich wissen, ob ich noch weitere Informationen einholen soll …
Das Fax stammte von dem Privatdetektiv, den er engagiert hatte.
Commander Thomas hatte die Sache sofort überprüft. Nachbarn hatten Schreie gehört und gesehen, wie das Haus explodierte und die Flammen sich innerhalb von Minuten ausbreiteten. Für Dash brach eine Welt zusammen. Das kleine Mädchen, das ihn gerettet hatte, das ihn motiviert hatte, unter allen Umständen überleben zu wollen, war tot.
Tagelang lag er einfach nur schweigend da und starrte an die Decke. Er war so lange allein gewesen. Jeden Morgen war er mit dem Wissen erwacht, dass es niemanden in seinem Leben gab, und jeden Abend mit dem Gefühl dieser schmerzhaften Leere eingeschlafen. Und doch hatte Gott ihm, als er zwischen Leben und Tod schwebte, zwei Engel gesandt – nur um sie jetzt wieder abzuberufen. Es war ein fürchterlicher Schlag für seine Seele, von der er immer gedacht hatte, dass sie schon vor Jahren verkümmert wäre. Er kannte nur Tod und Verderben. Vor Cassidy und ihrer Mutter Elizabeth war ihm jene reine Unschuld noch nie begegnet. Der kindlich dahingekritzelte Name ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Elizabeth. Seine Elizabeth.
In den dreißig Jahren seines Lebens war ihm noch nie ein anderer Mensch wirklich wichtig gewesen. Er wuchs in dem Glauben auf, dass sein Überleben davon abhing, niemanden zu dicht an sich heranzulassen. Er wusste, dass er anders war, und glaubte, dies vor anderen verbergen zu müssen. Er hatte sich seinen eigenen Weg durchs Leben gesucht, und buchstäblich, so gut er eben konnte, selbst erzogen, bis er alt genug gewesen war, in die Army einzutreten.
Und die Army war sein Zuhause geworden. Seine Kampfgefährten hatten ihm zwar nie wirklich nahegestanden, waren jedoch immer gute Sparringspartner gewesen, die ihm geholfen hatten, seinen Verstand zu schärfen und Führungsqualitäten zu entwickeln. Zwölf Jahre lang war dies sein Lebensinhalt gewesen: zu führen. Er hatte Karriere gemacht, war in die Special Forces aufgenommen worden und hatte dort zeigen können, wozu er fähig war. Immer war er davon überzeugt gewesen, dass er mehr nicht brauchte.
Doch nun begriff Dash, wie sehr er sich geirrt hatte.
Der Tod von Elizabeth und Cassidy fühlte sich an wie ein Dolchstoß mitten ins Herz, auch wenn er diese Frau niemals berührt, ihre Tochter nie im Arm gehalten hatte. Elizabeth war nicht seine Partnerin, Cassidy nicht seine Tochter, doch sein Herz sprach eine ganz andere Sprache. Innerlich heulte er auf angesichts dieses Verlusts, und sein Instinkt, eine Art angeborenes Wissen, ließ es nicht zu, dass er verleugnete, wie sehr er sich mit dieser Frau und ihrem Kind verbunden gefühlt hatte.
»Dash, Sie müssen jetzt endlich einen Strich unter die Sache machen.« Commander Thomas saß neben dem Krankenhausbett, seine grünen Augen blickten nüchtern und eindringlich. »Solche Dinge passieren. Man kann sie nicht erklären, und sie ergeben auch keinen Sinn. Wenigstens haben sie ein Andenken an die beiden.«
Dash biss sich auf die Unterlippe. Er hatte überhaupt nichts. Ein Haufen Briefe reichte einfach nicht – nicht im Entferntesten.
Er grub seine Finger in das Laken und starrte an die weiße Zimmerdecke hinauf. Offensichtlich glaubten alle, dass er an Depressionen leiden würde und seinen Willen zu kämpfen verloren hätte. Nichts lag der Wahrheit ferner. Er hatte noch eine letzte Schlacht zu schlagen, bevor er sich seinem tiefen Bedürfnis nach endgültiger Ruhe hingeben konnte. Vergeltung. Sein Rachedurst pumpte das Blut durch seine Adern, ließ das Herz in seiner Brust hämmern.
Er warf dem Commander einen langen, nachdenklichen Blick zu.
»Ich möchte wissen, was passiert ist.«
Commander Thomas seufzte und schüttelte den Kopf. »Wozu ist das noch wichtig, Dash? Die beiden sind tot.«
Dash spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Es war wichtig. Es war wichtig, weil er beabsichtigte, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. »Ich will es wissen. Setzen Sie sich mit dem Detektiv in Verbindung. Ich möchte alle verfügbaren Informationen bekommen, bevor ich entlassen werde.«
Er hatte bereits einen Plan. Der Detektiv konnte ihn mit allen Hintergrundinformationen versorgen, die er noch brauchte, und dann würde er die Sache still und unauffällig erledigen.
»Und was wollen Sie tun?« Commander Thomas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Sie werden eine neue Einheit bekommen …«
»Man hat mir angeboten auszuscheiden, wenn ich wieder in den Staaten bin.« Dash hatte Mühe, in ruhigem Ton zu sprechen. »Ich werde nicht in den aktiven Dienst zurückkehren, Commander. Mir reicht es.«
Die Überraschung war dem Commander deutlich anzusehen, und Dash wusste auch warum. Er war seit seinem achtzehnten Lebensjahr beim Militär. Nicht ein einziges Mal hatte er Urlaub genommen. Zwölf Jahre war er zuerst beim Heer und dann bei den Special Forces gewesen. Er war einer der Besten, ein Naturtalent, wenn es darum ging, Männer zu führen, und er konnte kämpfen. Aber jetzt hatte er genug. Alle Mitglieder der Einheit, mit der er ein ganzes Jahr lang gekämpft hatte, waren tot. Er wollte Gerechtigkeit. Er musste einen Weg finden, um die Waagschale wieder ins Gleichgewicht zu bringen, und dann musste er den Teil seiner Persönlichkeit wieder ans Tageslicht befördern, den er die meiste Zeit seines Lebens verborgen gehalten hatte.
Der Commander seufzte, dann nickte er. »Ich rufe ihn heute Abend an. Sie werden alles bekommen, was Sie brauchen.« Er stand auf und sah einen Moment schweigend auf Dash herab.
»Selbstjustiz ist strafbar. Das wissen Sie doch, Dash«, sagte er warnend.
Dash lächelte. Der Commander kannte dieses Lächeln. Dash war aus gutem Grund einer der Besten. Er wusste genau, was er tat, und er wusste auch, wie er es tun musste.
»Zuerst muss man erwischt werden«, erwiderte er leise.
Während er auf die fehlenden Informationen wartete, arbeitete er an seiner vollständigen Genesung. Er saß nur selten tatenlos herum. Meistens trainierte er, sowohl seinen Körper als auch seinen Geist, um sicherzugehen, dass er wieder zu Höchstleistungen fähig war. Als er die Nachricht erhielt, dass alle Informationen auf dem Weg zu seiner neuen Adresse in den Staaten waren, packte er seinen Seesack und bereitete sich auf die Abreise vor.
Schon Tage vor seiner Entlassung war er vollständig wiederhergestellt. In Gedanken befand er sich bereits in den Staaten. Dort würde er genug Informationen in Händen haben, um sich in aller Ruhe auf die Jagd zu machen. Doch da erreichte ihn völlig unerwartet ein Brief. Er kannte die Handschrift, aber nicht den Namen. Ihm blieb fast das Herz stehen, als er den Brief aus dem einfachen Umschlag zog und ihn las.
Es gibt bestimmt noch viele andere kleine Mädchen, die Sie lieb haben. Mama sagt, dass Sie bestimmt verheiratet sind und Kinder haben und uns nicht brauchen. Aber ich brauche Sie, Dash. Bitte helfen Sie mir und Mama, bevor die bösen Männer uns schnappen. Früher war ich Cassidy Colder, aber meine Mama sagt, dass ich jetzt Cassie Walker heiße. Walker ist ganz okay, denke ich. Und ich habe Ihnen Bobos Halstuch mitgeschickt, damit Sie wissen, dass ich es bin. Mama sagt, Sie werden bestimmt denken, dass uns die Explosion erwischt hat. Mama ist verletzt worden, aber sonst geht es uns gut. Bitte helfen Sie uns, Dash.
Die Zeilen waren hastig aufs Papier gekritzelt, und ihm lief ein Schauer des Entsetzens über den Rücken. In dem Umschlag befand sich das Medaillon, das er ihr zu ihrem achten Geburtstag geschenkt hatte. Darin war ein Bild von ihr zusammen mit ihrer Mutter. Elizabeth wirkte gehetzt. Große blaue Augen starrten in die Kamera, während das Mädchen entzückend lächelte.
Das kleine rote Tuch hatte der Teddybär um den Hals getragen, den Commander Thomas besorgt hatte. Sie hatte das Bärchen Bobo getauft. Das Halstuch duftete nach ihr, nach Babypuder und Unschuld. Aber da war auch noch ein anderer Geruch: Elizabeths Duft. Sofort gerieten seine Hormone in Wallung. Es war die pure weibliche Verführung: dunkel, süß, wie ein sommerlicher Regenschauer.
Er runzelte die Stirn, und der Zorn ließ ihn erzittern bei dem Gedanken, dass jemand es wagen könnte, den beiden etwas anzutun. Sie gehörten zu ihm. Und niemand durfte irgendetwas auch nur berühren, das Dash Sinclair gehörte.
Die Jagd war eröffnet.
Um den Feind würde er sich später kümmern. Zuerst … zuerst musste er die kleine Familie finden. Diese Frau, die seine Wärme brauchte, und das Kind, das er beschützen musste. Als Erstes würde er die beiden suchen, und wenn dabei einige ihrer Feinde ums Leben kämen, war das eben Pech! Die brauchte er dann später nicht mehr umzubringen.
1
Sechs Monate später
Er war ein Wolf-Breed. Dash Sinclair hatte das bereits gewusst, noch ehe sich die Nachricht vor sechs Monaten wie ein Lauffeuer in der Welt verbreitet hatte. Glücklicherweise waren die Erbfaktoren in seinem Fall rezessiv und somit nur auf genetischer Ebene nachweisbar, traten aber nicht körperlich in Erscheinung. Dennoch hatte man ihn deswegen schon als kleinen Jungen zur Tötung freigegeben. Zugleich hatte er es jedoch seinen Genen zu verdanken, dass er nach der Flucht aus den Labors überhaupt überlebt hatte.
Mit achtzehn war er zur Army gegangen, hatte gekämpft und getötet und sich versteckt, direkt vor der Nase einiger Männer, die verantwortlich für seine Züchtung gewesen waren. Er wusste, um wen es sich handelte. Er hatte sie in den Labors gesehen, als er noch ein Kind gewesen war, und erinnerte sich gut an ihre Gesichter. Er vergaß niemals die Züge eines Feindes. Im Laufe der Jahre hatte er mehr Selbstvertrauen gewonnen, war sich seiner Stärken bewusst geworden und konnte es dadurch vermeiden, Fehler zu machen. Er hatte niemals jemandem gesagt, was er eigentlich war, und sich auch keinem Freund anvertraut. Verdammt, er hatte ja auch noch nie Freunde besessen. Ihm ging es gut, und er war ein gefährlicher Mann. Die meisten Leute machten einen großen Bogen um ihn.
Doch nun lechzte er nach Blut. Ganz still stand er da und sog den Geruch des kleinen, durchwühlten Zimmers ein. Er fühlte den Zorn in sich hochkochen. Während der vergangenen sechs Monate hatte er jedes noch so kleine Detail über Elizabeth und Cassidy Colder aufgespürt.
Während seiner Zeit in der Army hatte er viele Bekanntschaften geschlossen, und einige davon schuldeten ihm noch etwas. Jetzt war es an der Zeit, diese Schuld einzufordern. Cassidy war ein kleines Mädchen, dem die Zeit davonlief und auf das ein Kopfgeld ausgesetzt war, mit einer Mutter, die es unter Einsatz ihres Lebens zu retten versuchte. Bei dem Gedanken daran, was Elizabeth Colder alles auf sich genommen hatte, um ihre Tochter zu beschützen, verkrampfte sich sein Magen. Diese kleine Frau brauchte selbst Schutz, sollte in den Arm genommen werden, genau wie das Kind, und nicht aus lauter Angst um ihre Tochter ständig auf der Flucht sein.
Jetzt witterte er die Panik des kleinen Mädchens, ihre kindlichen Tränen, genauso wie er die Wut und das Entsetzen der Mutter spürte. Er knurrte leise, als ihm der Geruch der Angst in die Nase stieg, was seinen Zorn nur noch anheizte. Die Männer, die die beiden jagten, würden dafür bezahlen. Irgendwann.
Er griff nach einer Kinderjacke, hob sie an die Nase und inhalierte den Duft. Sie roch nach Unschuld und Babypuder. Aber die Tatsache, dass die Jacke hier war und nicht Cassidys kleinen Körper wärmte, verursachte ihm eine Gänsehaut. Es war verdammt kalt da draußen. Bei so einem Wetter konnte ein Kind schnell erfrieren – wenngleich diese Jacke ohnehin nicht mehr viel helfen würde, da sie zerrissen war.
Als Nächstes nahm er einen Pullover und roch ebenfalls daran. Ahh, welch ein Duft. Weiblich, frisch und sauber, ein wenig Babypuder, aber eindeutig der Duft einer Frau. Seiner Frau.
Er sah sich im Zimmer um. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er sie eingeholt hatte, und ganz offensichtlich waren sie den Männern, die sie jagten, immer noch ein paar Schritte voraus. Er knurrte leise. Er würde die Frau und das Kind zuerst finden. Es war viel zu eisig und zu gefährlich dort draußen, um sich jetzt auf die Jagd nach dem Feind zu machen, ohne sicher zu sein, dass dem Wichtigsten in seinem Leben nichts geschah.
Die Puppe des kleinen Mädchens war zerrissen, und das Material, mit dem sie ausgestopft gewesen war, lag im Zimmer verstreut. Dash wusste jetzt, wie der Feind roch, und er lächelte kalt, während er diesen Geruch noch einmal in sich aufnahm, um ihn niemals zu vergessen. Cassidy und ihre Mutter mussten noch einmal hier gewesen sein, nachdem ihre Bleibe zerstört worden war. Ein kleiner Korb mit Kleidungsstücken stand neben der Tür, unversehrt, aber vergessen. Sie hatten die Wäsche gewaschen. Nur deswegen waren sie noch am Leben.
Er ließ die Sachen, die er in der Hand hielt, fallen. Sobald er die beiden gefunden hatte, würden sie das Zeug ohnehin nicht mehr brauchen. Er hatte alles, was sie benötigten, gut verpackt in seinem Geländewagen. Elizabeth und Cassie sollte es an nichts fehlen, sobald er sie gefunden hatte. Er kümmerte sich gut um alles, was er als zu ihm gehörig betrachtete, und in seinem Herzen spürte er eine tiefe Sehnsucht nach den beiden.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging lautlos durch das Zimmer, denn ihm war vollkommen bewusst, dass es verwanzt war. Schon beim Eintreten hatte er die Mikrofone gewittert. Auf seine Lippen trat ein kaltes Lächeln. Offenbar hatte er es mit blutigen Anfängern zu tun. Er würde keinerlei Mühe haben, sie auszuschalten, sobald es nötig war.
Der Geruch von Elizabeths Wut und ihrer Angst reichten nur bis zur Tür, daher wusste er, dass sie das Durcheinander nicht lange in Augenschein genommen hatte. Sie war klug. Seit Monaten war er den beiden nun auf der Spur, und erst in den letzten Wochen war es ihm gelungen, so nah an sie heranzukommen, dass er ein Licht am Ende des Tunnels sah. Sie machte es ihren Jägern nicht leicht, sie zu erwischen. Und sobald er bei den beiden war, hatten die anderen überhaupt keine Chance mehr. Aber zunächst musste er sie finden.
Er verließ das Apartment, ging wachsam durch die schmutzige schmale Gasse zwischen den Häusern und stieg dann die Kellertreppe hinunter. Er folgte ihrem Duft. Ein kleines Fenster war zerschlagen, ein zerfetztes Stück Stoff hing im Rahmen. Er griff danach. Es gehörte Elizabeth. Sie hatte sich auf der Flucht geschnitten. Das abgewetzte weiche Gewebe war blutig. Aber sie hatte sich klug verhalten. Sie hatte erkannt, dass ihre Verfolger die Vordertür im Auge behalten würden. Während der vergangenen zwei Jahre war sie stärker geworden, ihre Instinkte waren geschärft. Sie hatte jene Fähigkeiten immer weiter verfeinert, die sie auf der Flucht brauchte. Er wusste, dass sie in der Lage war, mangelnde körperliche Kraft durch Klugheit auszugleichen.
Während er auf das Stück Stoff starrte und mit den Fingern über die Blutflecken strich, witterte er die Präsenz eines anderen Wesens in der Luft, die durch die offene Tür hereinströmte.
Dash erstarrte und wandte den Kopf zum Türspalt, während sich der neue Geruch mit dem Duft nach Weichspüler, Waschmittel und abgestandenem Wasser vermischte. Der Gestank nach Fäulnis, nach Boshaftigkeit überlagerte die kühle Luft des Kellers, flutete seine Sinne und weckte den Blutdurst in ihm. Der Feind war auf der Jagd, lauerte ihm nun auf und wagte sich leichtsinnigerweise aus der Deckung, um herauszufinden, was Dash vorhatte. Dash freute sich bereits auf das Zusammentreffen.
Er unterdrückte das warnende Knurren, das sich seiner Brust entringen wollte. Der Geruch von kaltem Stahl kam näher, das Geräusch vorsichtiger Schritte. Der andere war allein. Er war selbstsicher, aber voller Wut, und er war schwächer. Dash lächelte. Der Mann, der sich an ihn heranschlich, war nichts als ein Lakai. Er stellte keine Gefahr dar, war nur ein bewaffneter Niemand. Entbehrlich. Und das war gut so, denn er würde das Haus nicht lebend verlassen.
Dash stand regungslos da, und er brauchte nicht lange zu warten. Behutsam wurde die Tür weiter geöffnet, und die schlanke, angespannte Gestalt des Feindes erschien. Es war ein erwachsener Mann. Ein Betamännchen, das es mit einem Alphatier aufnehmen wollte, von dessen Existenz es bisher nicht einmal etwas geahnt hatte. Dashs Lippen verzogen sich zu einem erwartungsvollen Lächeln, von dem er wusste, dass der andere Mann es nicht als Zeichen tödlicher Gefahr erkennen würde, welches es jedoch eindeutig darstellte.
»Wohl neugierig geworden, Fremder«, grunzte der andere Mann, während er sorgfältig die Tür hinter sich schloss und seine Waffe auf Dashs Brust richtete. »Nimm die Hände hoch, damit ich sie sehen kann. Und keine falsche Bewegung, sonst bist du tot.«
Dash hob die Arme, die Hände hinter dem Kopf. Seine Finger schlossen sich um den Griff des langen Messers, das in der Scheide zwischen seinen Schulterblättern steckte. Oh ja, jetzt konnte es losgehen.
»Ich sehe mich nur etwas um.« Dash runzelte die Stirn und registrierte, dass die Mündung der Waffe direkt auf sein Herz zielte.
Auf dem Lauf saß ein Schalldämpfer. Der Bastard war vorsichtig, das musste Dash ihm lassen. Aber das war auch schon alles. Ansonsten war er nicht besonders schlau. Er hätte längst erkennen müssen, welche Gefahr von Dash ausging, und ihn sofort töten sollen. Wenn es ihm denn gelungen wäre. Stattdessen wollte er ein wenig spielen. Dash spielte gern. Und er war sich absolut sicher, dass sein Gegner dieses Spiel nicht überleben würde. Das lag in der Natur der Sache. Er spürte die Schwäche des anderen. In seinem Blick war absolute Selbstüberschätzung zu erkennen.
»Wer bist du?« Seine Knopfaugen wurden schmal. Schmieriges Haar fiel ihm in die niedrige, nicht besonders intelligent wirkende Stirn.
»Niemand Wichtiges.« Dash zuckte die Achseln, während er für einen Moment spöttisch grinste. Er weigerte sich einfach, einem Kerl, der sogar bereit war, ein Kind zu töten, auch nur den geringsten Respekt entgegenzubringen. »Und wer bist du?«
Dash beobachtete genau, wie der andere Mann sich in dem schlecht sitzenden, wenn auch teuren Mantel bewegte und völlig selbstsicher die Waffe hielt. Der Kerl war daran gewöhnt zu töten, und er erledigte es gern ohne großen Aufwand. Er rechnete nicht damit, auf einen Gegner mit Dashs Fähigkeiten zu treffen. Es ist fast zu einfach, seufzte Dash innerlich. Eigentlich schade. Ein kleiner Kampf hätte ihm viel mehr Spaß gemacht.
»Du bist ziemlich neugierig, mein Freund.« Die übertriebene Lässigkeit des Mannes ging Dash mächtig auf die Nerven. Das allein war schon ein Grund, ihn umzubringen.
»Vielleicht nicht neugierig genug.« Dash beobachtete, wie der andere Mann ihn musterte und sein selbstgefälliges Lächeln noch breiter wurde. »Sie ist dir entwischt, oder? Elizabeth ist klüger als du. Verschwinde lieber, bevor ich dir das Licht ausknipse.« Die Provokation war eindeutig. Dash hatte seinen Ton bewusst genauso beleidigend gewählt wie seine Worte. Es würde keinen Kampf geben, keine Auseinandersetzung. Er würde einfach nur das Blut seines Feindes vergießen und Schluss.
Die Wangen des anderen Mannes röteten sich vor Ärger, und in seinen Augen glitzerte Brutalität. Er trat näher. Der Grund ist eindeutig, dachte Dash. Er wollte, dass seine Kugel tötete und nicht nur verletzte. Und er wollte den Schmerz und die Angst in Dashs Augen sehen, während ihm das Blut aus der Brust spritzte.
»Sie wird eine süße Belohnung für uns sein, wenn wir dem Boss das kleine Mädchen bringen«, schnaubte er. »Magst du sie etwa, Freundchen? Pech! Du bist tot.«
Der andere Mann glaubte, dass er nun nah genug wäre. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.
Mit einem leisen Zischen glitt das Messer aus der Lederscheide, als Dash seinen Arm hochriss und in letzter Sekunde das Handgelenk drehte, um seinem Gegner die Klinge durch den Hals zu ziehen. Überrascht riss der Mann die Augen auf, als seine Halsschlagader mit einem glatten Schnitt durchtrennt wurde.
»Nein, Freundchen. Du bist tot.« Diesmal unterdrückte er das animalische Knurren nicht, das aus seiner Brust drängte. Er genoss den Geruch des Blutes, das Gefühl des Sieges.
Dash wich zur Seite aus, als der Mann unwillkürlich den Abzug drückte und eine Kugel, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten, an ihm vorbeizischte, während sich eine Blutfontäne in hohem Bogen über den Ärmel seiner maßgeschneiderten Lederjacke ergoss.
Dann brach der Mann tot zusammen. Blicklose Augen starrten desinteressiert auf die rote Lache, die sich unter seinem Kopf auf dem Zementboden ausbreitete.
Dash verspürte nicht das geringste Bedauern. Manche Menschen besaßen eine geradezu tollwütige Seele, und dieser Kerl war einer von ihnen gewesen. Man brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man die Welt von solchen Gestalten befreite.
Sorgfältig wischte er die Klinge seines Messers an der Schulter des Mannes ab, bevor er die Leiche nach irgendwelchen Hinweisen durchsuchte, die ihm vielleicht nützlich sein konnten. Auf der Rückseite einer verknickten schwarzen Visitenkarte stand eine Telefonnummer. Kein Name. Dash steckte die Karte in die Innentasche seiner Jacke. Geld. Er warf es neben die Leiche. Eine Nachricht an seinen Boss, Schlüssel, ein Bild von dem kleinen Mädchen und seiner Mutter. Das steckte Dash ebenfalls ein.
Sekunden später, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Mann nichts bei sich hatte, was mit Elizabeth in Verbindung gebracht werden konnte, erhob sich Dash, steckte das Messer zurück in die Scheide und säuberte mit einem Handtuch, das jemand auf einer der Waschmaschinen vergessen hatte, den Ärmel seiner Lederjacke. Dann warf er es über das Gesicht des Mannes und ging zur Tür.
Er blockierte das Schloss, bevor er es hinter sich zuschnappen ließ, damit man es nicht so leicht öffnen konnte. Im Treppenhaus war neben anderen Stimmen auch Kinderlachen zu hören. Er wollte nicht riskieren, dass ein Kind arglos den Keller betrat oder ein Unschuldiger der Tat verdächtigt wurde, weil er die Leiche allein fand. Obwohl er sich kaum vorstellen konnte, dass es viele Leute gab, die den Tod dieses Mannes bedauern würden.
Durch den Vordereingang trat Dash hinaus in den kalten Dezemberabend. Als hätte er nichts Besseres zu tun, schlenderte er um das Haus herum, weil er hoffte, in dem Durchgang daneben noch weitere Spuren zu finden. Elizabeth und Cassidy waren durch ein Fenster geklettert, das hinaus auf diese schmale Gasse führte. Er bezweifelte zwar, dass es dort viel zu entdecken gab, aber er wollte auf Nummer sicher gehen.
Ihren marineblauen Wagen sah er zum Glück nicht. Zumindest konnte er nun davon ausgehen, dass sie nicht der eiskalten Winterluft ausgesetzt waren, sondern im Warmen saßen. Er hockte sich vor das zerbrochene Kellerfenster und betrachtete den Schnee, der davor lag. Die Fußabdrücke waren kaum zu erkennen, aber sie führten eindeutig zu Reifenspuren in ein paar Meter Entfernung. Nein, die beiden waren ihm nicht mehr weit voraus. Und wenn er sich nicht irrte, beobachteten die Bastarde, die sie jagten – abzüglich des einen, den er getötet hatte –, immer noch das Haus. Als er durch die Tür ins Freie getreten war, hatten sich sofort seine Nackenhaare aufgestellt.
Er richtete sich wieder zu voller Größe auf und folgte mit dem Blick den Reifenspuren. So wie sie aussahen, hatten Elizabeth und Cassie es ziemlich eilig gehabt. Nun war er fest davon überzeugt, dass die Abdrücke zu ihrem Wagen gehörten und dass die Spuren in Richtung Innenstadt führten. Er seufzte tief und hob seinen Blick zum Himmel, wo die Abenddämmerung heraufzog. Schneeflocken fielen auf seine Wangen und seine Stirn, und die Luft roch nach einem aufziehenden Schneesturm.
An diesem Abend würden sie nicht mehr weit fahren können. Er würde sie bald finden. Ohne Eile ging er zurück zur Vorderseite des Hauses, wo sein Auto stand. Den SUV mit Allradantrieb würde er am Ende der Straße gegen die militärische Version eines Hummers eintauschen, den er bereits gekauft hatte. Für den mächtigen Geländewagen stellten die schlechten Straßenverhältnisse nicht das geringste Problem dar, und er würde auch dann noch vorwärtskommen, wenn niemand anders mehr auch nur den Versuch wagen würde. Dieser kleine Vorteil würde ihm zugutekommen, wenn er die Frau einholen wollte, die er schon sein Eigen genannt hatte, noch bevor er je ihr Gesicht gesehen hatte. Außerdem brachte der Feind dieses Fahrzeug nicht mit ihm in Verbindung. Dieser Umstand würde sich in den nächsten Tagen auszahlen.
Immer wieder warf er einen aufmerksamen Blick in den Rückspiegel, während er vom Parkplatz des Army-Depots rollte. Dann zog er das Handy aus der Halterung an seinem Gürtel und wählte den Notruf. Er fasste sich kurz und blieb bei den offensichtlichen Fakten, meldete nur den Fund einer Leiche, sonst nichts. Dabei behielt er den weißen Taurus im Rückspiegel im Auge. Ja, der Fahrer schien durchaus für den Moment Interesse an ihm zu zeigen, machte aber keinerlei Anstalten, ihm zu folgen. Die Kerle waren wahrscheinlich überzeugt, dass Elizabeth und Cassidy bald wieder auftauchen würden. Sie hatten keine Ahnung, dass diese Frau klüger war als ein ganzer Haufen dieser Idioten zusammen. Dash schüttelte den Kopf und bog in die Richtung ab, die auch Elizabeth nach seinem Gefühl eingeschlagen hatte. Die Jagd war fast zu Ende, und dann konnte er endlich das eigentliche Spiel eröffnen.
Elizabeth fror und hatte Hunger. Adrenalin pulsierte durch ihre Adern, sodass ihr Herz raste. Es schneite so heftig, dass sie bei einem Diner angehalten hatte, um den Sturm abzuwarten. Dort bestellte sie für Cassie etwas zu essen und betrachtete das kleine Mädchen, dessen hellblaue Augen immer noch vor Schreck geweitet waren.
Arme kleine Cassie, dachte sie. Bis jetzt war ihr Leben ein einziges Chaos gewesen, und ein Ende war nicht in Sicht. Sie hatte nicht einmal einen Mucks von sich gegeben, als sie gemeinsam zu den Überresten ihres Hauses gefahren waren und die Männer gesehen hatten, die sie töten wollten. Mittlerweile wusste die Kleine, in welcher Gefahr sie schwebte. Cassies unwillkürliche Schreie hatten schon zuvor die Aufmerksamkeit ihrer Feinde auf sich gezogen, und das kleine Mädchen hatte das auch bemerkt. Es war eine schreckliche Bürde für ein Kind.
Sie war erst acht. Klug, hübsch. Zu hübsch für das Leben, zu dem sie gezwungen wurde. Sie war viel zu klein. Sie verlor immer mehr an Gewicht, schlief zu wenig, genau wie Elizabeth. Wenn es so weiterging, würden die Anstrengungen der Flucht sie schneller töten, als Danes Feinde es konnten.
Dane. Sie unterdrückte den Fluch, der ihr auf den Lippen lag. Cassies Vater. Er war kein guter Mensch, aber Elizabeth hatte auch nicht glauben wollen, dass er wirklich böse war. Das hatte sie erst begriffen, als er das Leben seiner Tochter aufs Spiel gesetzt hatte, um seine eigene Haut zu retten. Dem Bastard war völlig egal gewesen, was er dem kleinen Mädchen antat. Er hatte nur an sich selbst gedacht.
Ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken an Danes Handel mit dem Mann, den er bestohlen hatte. Mit welcher Leichtigkeit er Cassie verraten hatte, in der Hoffnung, seiner Strafe zu entkommen.
»Vielleicht kommt Dash ja heute Abend«, murmelte das kleine Mädchen so leise vor sich hin, dass Elizabeth es fast nicht hörte. »Meinst du, er kommt?«
Elizabeth wusste, dass Cassie nicht mit ihr sprach. Wenn der Schock und die Anspannung zu groß wurden, zog Cassie sich immer in sich selbst zurück. Sie sprach dann mit der Fee, von der sie glaubte, dass sie immer bei ihr war. Ein kluges, winzig kleines Wesen, das ihr tröstende Worte ins Ohr flüsterte und ihr versicherte, dass Dash Sinclair ein toller Name für einen Daddy war und dass Dash sie retten würde.
Gott, Elizabeth hätte vor Wut am liebsten laut geschrien, weil ihr Kind sich in solche Fantasiewelten zurückziehen musste, um die mentalen und emotionalen Grausamkeiten zu verarbeiten, denen es ausgesetzt war. Cassie war vollkommen davon überzeugt, dass der Soldat, dem sie geschrieben hatte, ihre Mutter und sie retten würde und sie danach glücklich bis in alle Ewigkeit zusammenblieben. Elizabeth hatte keine Ahnung, wie sie ihrer Tochter erklären sollte, dass Männer, egal, wie stark oder nett sie waren, nichts mit all den Schwierigkeiten zu tun haben wollten, in denen sie beide steckten.
Für einige Zeit hatte dieser Soldat das Leben ihrer Tochter durchaus bereichert. Vor wenigen Monaten hatte sie dieses Fahrrad bekommen, und eine kleine Puppe, die in dem verdammten Apartment in Stücke gerissen worden war. Elizabeth wusste, dass die Lebensmittelpakete, die sie eine Weile erhalten hatte, von ihm stammten. Natürlich hatte sie die Geste zu schätzen gewusst, aber gleichzeitig stellten die Geschenke auch eine weitere Bürde dar. Jetzt gab es noch jemanden, um den man sich Sorgen machen musste.
Elizabeth fragte sich, ob ihm überhaupt aufgefallen war, dass keine Briefe mehr von Cassie kamen. Falls sie ihm überhaupt etwas bedeutet hatten. Er kannte sie nicht, und er befand sich auf der anderen Seite der Erde. Falls er sich die Mühe machte nachzuforschen, würde er glauben, dass Cassie und sie bei der Explosion ihres Apartments im letzten Winter getötet worden waren. Verdammt. Es war so knapp gewesen. Sie hätten tatsächlich ums Leben kommen können. Aber diese Bastarde, die an ihren Fersen hingen, waren nicht einmal in der Lage, einen solchen Anschlag vernünftig zu planen.
Hier saß ihre Tochter also nun, und die Splitter eines weiteren geplatzten Traums bohrten sich gerade in ihre Seele. Sie hatte so fest daran geglaubt, dass Dash Sinclair kommen würde, dass er verzweifelt nach ihnen suchte und dass sie nicht mehr länger zu fliehen brauchten. Seit einer Woche hielt Cassie jetzt schon Ausschau nach ihm, und immer wieder glomm Hoffnung in ihren Augen auf, wenn sie einen großen, dunkelhaarigen Mann entdeckte. Jeden Tag starrte das kleine Mädchen auf den unscharfen Schnappschuss, den er ihr geschickt hatte, weil es große Angst hatte, den Soldaten nicht zu erkennen, und er vielleicht an ihnen vorbeiging, ohne zu wissen, wer sie waren. Das Bild war vor einem Hubschrauber aufgenommen worden. Sechs weitere Männer waren darauf zu erkennen. Dash stand in der hinteren Reihe, mit Staub bedeckt, in militärischer Tarnkleidung, und seine Gesichtszüge waren nur undeutlich auszumachen. Selbst wenn er vor ihr stand, würde Elizabeth ihn nicht erkennen.
»Iss, Cassie«, flüsterte Elizabeth und griff über den Tisch, um ihrer Tochter die dunklen Locken aus dem engelsgleichen Gesicht zu streichen. »Wir nehmen uns über Nacht ein Zimmer und ruhen uns ein bisschen aus.« Wenn Cassie nicht bald Schlaf bekam, würde sie krank werden. Der Gedanke, irgendwo einen Arzt finden zu müssen, ließ Elizabeth erschauern.
Das angrenzende Motel schien akzeptabel zu sein. Ein paar Stunden Schlaf würden sicher nicht schaden. In dem Schneesturm, der inzwischen draußen tobte, kam sowieso niemand von der Stelle. Das hieß, niemand außer dem Idioten, der gerade in seinem Hummer auf den Parkplatz einbog.
Elizabeth beobachtete, wie eine große schwarze Gestalt aus dem mächtigen Geländewagen stieg und dann schnell auf das Diner zulief. Fast überlebensgroß trat er durch die Tür. Er wirkte so gewaltig wie ein Berg, und sein Blick blieb sofort an ihr und Cassie hängen. Für einen kurzen Moment spürte sie Angst in sich aufsteigen, doch sie unterdrückte sie.
Nein. Die Männer, die sie verfolgten, waren nicht so gefährlich, nicht so hart. Wären sie es gewesen, hätten sie den Brand seinerzeit nicht überlebt. Dieser Mann war groß, größer, als sie je einen Mann gesehen hatte. Er trug Jeans, Stiefel und ein Baumwollhemd. Dichtes schwarzes Haar fiel ihm lässig bis zum Hemdkragen. Mit durchdringenden goldbraunen, fast bernsteinfarbenen Augen suchte er das Diner ab, bevor sein Blick wieder zu ihr zurückkehrte. Die Luft sprühte Funken zwischen ihnen, als er sie buchstäblich zwang, ihn auf einer geradezu archaischen Ebene wahrzunehmen. Dabei war er wahrlich nicht zu übersehen. Er strahlte Stärke aus, pure Kraft und so viel Männlichkeit, dass es ihr den Atem verschlug.
Lieber Gott! Was jetzt?
Ein Lächeln spielte um die Mundwinkel des Fremden, als könnte er ihre Gedanken lesen. Aber er zog keine Waffe aus der Tasche, sondern ein verknittertes Stück Papier. Sie starrte es an, während ihr das Herz im Hals schlug und Furcht in ihrem Magen brannte. Doch zugleich spürte sie ein völlig unangebrachtes Ziehen tief zwischen ihren Schenkeln.
Er blieb an ihrem Tisch stehen und sah auf sie herab. Dann glitt sein Blick zu Cassie. Elizabeth schaute ebenfalls zu ihrer Tochter, in ihre großen, runden Augen.
»Cassie«, murmelte er, als er ihr das Blatt Papier reichte. »Ich habe deinen Brief bekommen.«
Als Cassie seinen Namen flüsterte, hatte Elizabeth das Gefühl, die Welt würde stillstehen. »Dash?«
Das ist unmöglich, sagte sie sich. Dieser Mann konnte einfach nicht Dash Sinclair sein. Er konnte sie nicht gefunden haben. Woher sollte er überhaupt wissen, dass sie Hilfe brauchten? Doch wer sonst sollte er sein?
Er wandte sich wieder Elizabeth zu. »Haben Sie gegessen?«
Sie konnte nur den Kopf schütteln. Lieber Gott. Das war unmöglich. Es war ein Trick. Sie nahm den Brief vom Tisch und faltete ihn auseinander.
Es gibt bestimmt noch viele andere kleine Mädchen, die Sie lieb haben. Mama sagt, dass Sie bestimmt verheiratet sind und Kinder haben und uns nicht brauchen. Aber ich brauche Sie, Dash. Bitte helfen Sie mir und Mama, bevor die bösen Männer uns schnappen.
Wie war es Cassie gelungen, diesen Brief aufzugeben, ohne dass sie es bemerkt hatte? Sie starrte ihre Tochter an und konnte es nicht einmal fassen, dass sie tatsächlich mit diesem Fremden sprach. Einem gefährlich aussehenden Fremden mit kaltem Blick, der behauptete, Cassies Brieffreund aus der Army zu sein.
Cassies Wangen waren nun hochrot. In ihren blauen Augen stand Hoffnung, und ganz langsam schwand der Schock, und sie leuchtete vor purem Glück.
»Du bist gekommen, Dash!« Cassie warf sich in seine starken Arme. Ihr kleiner Körper wirkte zerbrechlich und hilflos an der Brust des Mannes. Ein seltsamer Ausdruck glitt über sein Gesicht, während er sie festhielt.
Dash Sinclair. Auch Elizabeth hatte dieser Name sofort gefallen, doch sie hatte ihn immer wieder verdrängt, bis auf die wenigen Male, wenn Cassie dem verwundeten Soldaten einen Brief geschrieben hatte – und wenn Dash ihr in ihren Träumen begegnet war. Cassis unerschütterlichen Glauben, dass Dash eines Tages auftauchen würde, um sie zu retten, hatte sie allerdings nicht geteilt. Sie war erwachsen. Sie glaubte nicht an Märchen, obwohl sie ihre Tochter ermutigt hatte, sich so lange wie möglich an diesen Strohhalm zu klammern.
»Iss, Cassie.« Er setzte Cassie zurück auf ihren Platz und deutete entschieden auf den Teller.
Überraschenderweise verschwand sofort eine Pommes in ihrem Mund. Und dann noch eine. Obwohl Elizabeth wirklich dankbar war, dass ihre Tochter endlich aß, spürte sie einen kleinen Stich der Eifersucht. Für sie hatte Cassie nicht essen wollen, und jetzt tat sie es für einen vollkommen Fremden.
»Mac«, rief er dem untersetzten Mann hinter dem Tresen zu. »Ich brauche zwei Cheeseburger und zwei Gläser Milch.«
Elizabeth schüttelte den Kopf. »Nein …« Sie wusste, dass einer der Cheeseburger für sie sein sollte.
»Danke, Dash.« Cassie legte ihren Kopf an seinen Oberarm, während sie müde auf dem Hamburger herumkaute. »Mama hat Hunger. Gestern hat sie auch nichts gegessen. Aber ich wusste, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste es einfach, Dash.«