Lust auf mehr?
www.atrium-verlag.com
www.atrium-verlag.com/e-books
Für Katie und Jack
Es hat aufgehört zu regnen, aber die Straße ist noch feucht und glänzt unter dem Licht der Scheinwerfer. Hier, auf einer der wahrscheinlich miesesten Straßen Londons, hält sich der Verkehr in Grenzen.
Es ist bereits Morgen, genau genommen ein paar Stunden nach Mitternacht. Aber für die paar Leute, die unterwegs nach Hause sind, sich zur Arbeit schleppen oder ihren wie auch immer gearteten Geschäften nachgehen, fühlt es sich an wie mitten in der Nacht.
Stockfinstere Nacht.
Eine warme Nacht, geradezu schwül. Der 1. August, der sich ganz ordentlich anlässt. Aber das ist nicht der Grund, warum der Beifahrer in dem blauen Chevrolet Cavalier den Kopf zum offenen Fenster hinausstreckt und wie ein Schwein schwitzt.
»Wie ein Kinderficker auf der Hüpfburg«, meint der Fahrer. »Du müsstest dich mal sehen, Alter.«
»Hat das Ding keine Klimaanlage?«
»Du bist der Einzige, der so schwitzt.«
Die drei Männer auf dem Rücksitz lachen, ihre Schultern berühren sich. Sie sehen durch die Lücke zwischen den Vordersitzen auf den entgegenkommenden Verkehr. Als sie sich Zigaretten anzünden, hält der Fahrer die Hand nach hinten. Sie stecken ihm eine an und reichen sie ihm.
Der Fahrer nimmt einen tiefen Zug und schaut die Zigarette an. »Warum raucht ihr diesen Mist?«
»Ein Freund hat ein paar Kisten von dem Zeug, war mir was schuldig.«
»Warum bekomm ich nicht ein paar davon?«
»Hab gedacht, du rauchst das starke Zeug. Marlboro oder so.«
»Ja, hast du gedacht.« Er reißt das Lenkrad herum, um einem Müllsack auszuweichen, der mitten auf die Straße geweht wurde. »Seht euch diese Scheiße hier an. Die Leute hausen hier wie Schweine.«
Draußen gleiten verrammelte Restaurants und Läden vorbei, mit türkischen oder griechischen Namen. Ein asiatischer Gemüseladen, Clubs, ein kleines Minicab-Büro. Die Rollos und Sicherheitstüren sind voller Graffiti: Buchstaben tanzen über das Metall, rot, weiß und schwarz, nicht zu entziffern.
Markierte Reviere.
»Haben wir keine Mucke?« Einer der Männer auf dem Rücksitz schlägt rhythmisch gegen die Kopfstütze.
»Vergiss es«, sagt der Fahrer mit einer wegwerfenden Handbewegung Richtung Lautstärkeregler. »Die Anlage bringt’s nicht.«
»Und das Radio?«
Der Fahrer zieht Luft durch die Zähne, als falle etwas in heißes Fett. »Um die Zeit läuft nur Schwachsinn. Chill-out-Scheiße und Oldies but Goldies.« Er fasst den Beifahrer mit der Hand im Nacken. »Außerdem muss sich der Junge hier konzentrieren, verstehst du?«
Vom Rücksitz: »Darauf, dass er sich nicht in die Hose pinkelt. Der hat Schiss, wenn du mich fragst. Richtig Schiss.«
»Und wie …«
Der Beifahrer sagt nichts, dreht sich nur um und schaut nach hinten. Damit die drei wissen, dass sie später quatschen können, wenn das hier vorbei ist. Er sieht wieder nach vorn und spürt das Gewicht auf dem Sitz zwischen seinen Beinen und das Hemd, das an seinem Kreuz klebt.
Der Fahrer fährt dicht auf einen Nachtbus auf und zieht den Wagen dann hart nach rechts. Singt vor sich hin, während er an dem Bus vorbeifährt und über die Ampel, die gerade auf Rot schaltet.
Sie ist in Stamford Hill auf die A10 abgebogen. Hat die großen Häuser hinter sich gelassen, mit den SUV-Volvos in der Einfahrt und den ordentlichen Vorgärten. Nun steuert sie ihren BMW Richtung Süden.
In Stoke Newington wird sie langsamer. Sie weiß schließlich, hier sind überall Kameras, falls jemand blöd genug ist, über eine rote Ampel zu fahren. Sie achtet auf die Geschwindigkeit. Es ist nicht viel Verkehr, aber man muss immer mit einem genervten Verkehrsbullen rechnen, der es darauf abgesehen hat, einem armen Teufel den Abend zu verderben.
Das Letzte, was sie jetzt braucht.
Ein paar Minuten später ist sie in Hackney. Sieht nachts gar nicht so übel aus, aber sie weiß es besser. Na wenigstens mussten die Schleimer der Maklerbüros hier etwas tun für ihr Geld.
»Aber ja, die Gegend hier ist absolut im Kommen. Sie hat keinen guten Ruf, stimmt, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen. Hier gibt es wirklich ein Gemeinschaftsgefühl, und die allgemeinen Vorurteile bedeuten natürlich auch, dass die Preise hier kaum zu schlagen sind …«
Ich meine, egal, man es ausspricht, De Beauvoir Town klingt wirklich nett, oder? Reden Sie einfach über Hackney Downs und Regent’s Canal und machen Sie sich keine Gedanken über Kleinkram wie Messerstechereien, Lebenserwartung oder so. Es gibt sogar den einen oder anderen begrünten Platz und eine oder zwei nette Straßen mit viktorianischen Reihenhäusern.
»Pflanzen Sie am Ende des Gartens ein paar von diesen – wie heißen die doch gleich – Leyland-Zypressen ein, und schon sehen Sie den Sozialbau gar nicht mehr!«
Die Armen hätten sich genauso gut Zielscheiben auf ihre Haustüren malen können.
Sie schafft es über die Balls Pond Road, ohne langsamer werden zu müssen. Auf der einen Seite liegt Kingsland, auf der anderen breitet sich Dalston wie ein Schmutzfleck nach Osten aus.
Bald da.
Ihre Hände sind schweißnass, sie hält sie aus dem Fenster, spreizt die Finger in der Nachtluft. Sie glaubt, den Regen spüren zu können, nur ein, zwei Tropfen. Und hält den Arm in dieser Position. Der BMW hört sich gut an – nur ein tiefes Brummen und ein Flüstern unter den Reifen. Und das Leder des Beifahrersitzes fühlt sich weich und sauber an, als sie darüberstreicht. Sie hat dieses Auto schon immer geliebt, fühlte sich ab dem Moment, als sie zum ersten Mal die Beine hineinschwang, wohl darin. Manchen Leuten geht es mit Häusern so. Welchen Spruch der Makler auch draufhat, manchmal gibt einfach das Gefühl den Ausschlag, das man beim Betreten des Hauses hat. Genauso war es mit dem Auto, es hat sich angefühlt, als gehörte es ihr.
Sie sieht den Chevrolet Cavalier auf sich zukommen, als sie vor der Ampel abbremst. Er ist um einiges schneller als sie und legt an der Ampel eine Vollbremsung hin.
Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet.
Sie greift nach dem Schalthebel hinter dem Lenkrad und lässt die Xenon-Scheinwerfer ihres BMWs zweimal aufblenden. Besser als die Landescheinwerfer einer 747, hat der Autoverkäufer gemeint. Die reden noch mehr Schwachsinn als Immobilienmakler.
Der Fahrer des Chevrolets starrt sie nur an, kein Zeichen, nichts.
Dann schaltet er die Scheinwerfer ein.
Sie tritt aufs Gaspedal und braust über die Kreuzung. Erste Regentropfen fallen auf die Windschutzscheibe. Im Rückspiegel sieht sie den Chevrolet in dreißig Metern Entfernung wenden. Laut hupend schneidet er die entgegenkommenden Fahrzeuge, zieht an einem schwarzen Taxi vorbei auf die Busspur und rast auf sie zu.
Sie spürt, wie sich ihr Magen zusammenzieht.
»Warum ausgerechnet die?«, fragt der Mann auf dem Beifahrersitz.
Der Fahrer legt den fünften Gang ein und zuckt die Schultern. »Warum nicht?«
Die drei auf dem Rücksitz beugen sich weiter nach vorn. Sie sind angespannt, klingen aber sachlich. »Die hat sich selbst ausgewählt.«
»Wenn du jemandem in die Quere kommst, forderst du das Schicksal heraus, so einfach ist das.«
»Sie wollte doch nur helfen.«
»So läuft das nun mal bei uns«, sagt der Fahrer.
Der Beifahrersitz fühlt sich heiß an unter ihm, als er sich langsam wegdreht, so als berühre ihn das nicht, als atme er normal und als drohe seine Blase nicht jeden Augenblick zu platzen.
Scheißdumme Kuh. Warum kann sie sich nicht um ihren eigenen Kram kümmern?
Sie scheren aus der Busspur aus und überholen einen Motorradfahrer. Als sie an ihm vorbeifahren, dreht er sich nach ihnen um. Er trägt einen schwarzen Helm mit Visier. Der Mann auf dem Beifahrersitz erwidert den Blick, hält ihm aber nicht stand und sieht wieder nach vorn auf die Straße.
Auf das Auto vor ihnen.
»Verlier sie nicht«, sagt einer auf der Rückbank.
Ein anderer: »Yeah, du musst dieses Stück Scheiße umlegen, Alter.«
Der Fahrer blickt in den Rückspiegel. »Wollt ihr mich verarschen?«
»Nein.«
»Wollt ihr mich total verarschen?«
Die Männer auf dem Rücksitz heben die Hände. »Beruhig dich, Alter. Ich mein ja nur …«
Der Fahrer blickt wieder auf die Straße und steigt aufs Gaspedal, bis der Chevrolet nur noch einen Meter hinter dem silbernen BMW ist. Der Fahrer dreht sich grinsend zu dem Mann auf dem Beifahrersitz. »Bist du so weit?«
Der Regen wird stärker.
Sein Herz geht schneller als die quietschenden Scheibenwischer.
»Jetzt«, sagt der Fahrer.
»Yeah …«
Der Chevrolet zieht nach links, nur noch eine Handbreit trennt ihn vom BMW, drängt ihn auf die Busspur. Die drei auf dem Rücksitz johlen und fluchen, was das Zeug hält.
»Jetzt!«
Der Mann auf dem Beifahrersitz nickt, schließt die feuchte Hand um den Revolvergriff neben seinem Knie.
»Heb das Ding hoch, Alter. Zeig ihr, was du hast.«
Er hält den Atem an, umklammert die Waffe und unterdrückt den Drang, in das Auto zu pinkeln.
»Was Sie bekommt.«
Als er sich umdreht, sieht er, dass die Frau im BMW schon panisch genug ist. Sie blickt wild um sich, ihr Mund ist vor Angst verzerrt.
Er hebt den Revolver.
»Mach schon.«
Das war es doch, was er wollte, oder?
Kusslaute von der Rückbank.
»Mach schon, Mann.«
Er beugt sich hinüber und schießt.
»Noch mal.«
Beim zweiten Schuss zieht der Chevrolet davon, und er versucht, den silbernen Wagen im Blick zu behalten. Sein Nacken ist nass vom Regen, er bekommt nichts mit von dem Gejohle um ihn herum und den Händen, die ihm auf die Schulter klopfen. Er sieht, wie der BMW plötzlich nach links schwenkt und auf den Bürgersteig schlittert, sieht die Menschen an der Bushaltestelle, sieht Leute durch die Luft fliegen.
Was er wollte …
In dreißig Metern Entfernung, oder weiter, hört er ein Knirschen. Das war die Motorhaube. Und noch etwas: einen dumpfen Schlag, schwer und nass, dann kreischendes Metall und berstendes Glas, das in der Ferne verklingt, als sie davonbrausen.
Helen Weeks war es gewohnt, dass ihr übel war, wenn sie aufwachte, dass sie sich fühlte, als hätte sie praktisch nicht geschlafen und als sei sie allein, egal, ob Paul neben ihr lag oder nicht.
Heute war er vor ihr aufgestanden und duschte bereits, als sie langsam ins Bad schlurfte und sich über das Waschbecken beugte, um sich zu übergeben. Nicht dass es viel gewesen wäre. Einige braune, bittere Fäden.
Sie spülte sich den Mund aus, drückte auf dem Weg in die Küche das Gesicht gegen die Glastür der Dusche. »Hübscher Arsch«, sagte sie.
Paul grinste und hob das Gesicht wieder in den Wasserstrahl.
Als er zehn Minuten später ins Wohnzimmer kam, war Helen bereits bei ihrem dritten Toast. Sie hatte den kleinen Esstisch gedeckt – Kaffeekanne, Tassen, Teller und was man sonst noch so brauchte. Als sie eingezogen waren, hatten sie das Geschirr bei The Pier gekauft. Marmelade und Erdnussbutter standen auf dem Tablett, aber Paul griff wie immer nach den Choco Krispies.
Das gehörte zu den Dingen, die sie an ihm liebte: Er war ein großes Kind, das nie den Appetit an Choco Krispies verlor.
Sie sah ihm dabei zu, wie er die Milch darübergoss und die paar Tropfen, die er verschüttet hatte, mit dem Finger wegrieb. »Ich bügel dir das Hemd noch.«
»Das geht schon so.«
»Du hast die Ärmel nicht gebügelt.« Er bügelte nie die Ärmel.
»Warum auch, ich hab den ganzen Tag die Jacke an.«
»Das dauert doch nur fünf Minuten. Vielleicht wird heute noch ein warmer Tag.«
»Draußen schifft es.«
Eine Weile aßen sie schweigend. Helen dachte schon daran, den kleinen Fernseher in der Ecke einzuschalten, überlegte es sich dann aber anders. Vielleicht hatte ja doch noch einer von ihnen beiden etwas zu sagen. Aus der Wohnung über ihnen war ohnehin Musik zu hören. Ein Rhythmus und dazu der Bass.
»Was steht heute bei dir an?«
Paul zuckte die Schultern und schluckte. »Keine Ahnung. Das wird sich zeigen, wenn ich reinkomm. Mal sehen, was der Captain vorhat.«
»Bist du gegen sechs fertig?«
»Jetzt komm schon, du weißt doch, wie’s läuft. Wenn was reinkommt, kann es ewig dauern. Ich ruf dich an.«
Sie nickte und dachte an eine Zeit, als er das wirklich tat. »Was ist mit dem Wochenende?«
Paul sah zu ihr und knurrte ein »Was?« oder »Warum?«.
»Wir sollten uns ein paar Häuser ansehen«, sagte Helen. »Ich wollte heute mal telefonieren und ein paar Besichtigungen ausmachen.«
Paul verzog das Gesicht. »Ich hab doch gesagt, ich weiß noch nicht, was ich mache. Was sich ergibt.«
»Wir haben noch sechs Wochen. Höchstens sechs Wochen.«
Wieder nur ein Schulterzucken.
Sie hievte sich hoch und steckte noch zwei Scheiben Brot in den Toaster. Tulse Hill war okay, mehr als okay, wenn man einen Döner oder einen Gebrauchtwagen kaufen wollte. Brockwell Park und Lido waren zu Fuß zu erreichen, und in fünf Minuten war man unten in Brixton, wo immer viel los war. Die Wohnung selbst war auch nett; sie war sicher, in einem der oberen Stockwerke und mit einem Lift, der meistens funktionierte. Aber sie konnten nicht hierbleiben. Eineinbisschen Schlafzimmer – das Elternschlafzimmer und die Kammer, in die man nicht mal eine Katze reinbekommt –, eine kleine Küche, ein Wohnzimmer und ein kleines Bad. In eineinhalb Monaten, wenn ein Kinderwagen im Gang und ein Laufstall vor dem Fernseher stünden, würde es noch um einiges enger werden.
»Ich fahr vielleicht rüber zu Jenny.«
»Gut.«
Helen lächelte und nickte, dabei war ihr klar, dass er das überhaupt nicht gut fand. Paul hatte sich nie mit ihrer Schwester verstanden. Und es hatte nicht gerade geholfen, dass Jenny vor ihm von dem Baby erfahren hatte.
Und noch ein paar andere Dinge wusste.
Sie ging mit dem Toast zum Tisch. »Bist du schon dazu gekommen, mit dem Personalchef zu reden?«
»Über?«
»Verdammt, Paul …«
»Was?« Helen fiel beinahe das Messer aus der Hand, als sie seinen Blick sah.
Die Metropolitan Police gab ihren weiblichen Angestellten dreizehn Wochen Mutterschaftsurlaub, aber bei den Vätern waren sie weniger großzügig. Paul hätte sich – zumindest, wenn es nach ihr gegangen wäre – schon längst darum kümmern sollen, mehr als die fünf Tage bezahlten Urlaub zu bekommen, die ihm zustanden.
»Du hast gesagt, du kümmerst dich darum. Dass du den Urlaub willst.«
Er lachte hohl. »Wann hab ich das gesagt?«
»Bitte …«
Kopfschüttelnd rührte er mit dem Löffel in seinen Choco Krispies herum, als suche er nach einem Plastikspielzeug darin, das er übersehen hatte. »Der hat Wichtigeres zu tun.«
»Klar.«
»Ich hab Wichtigeres zu tun.«
Paul Hopwood war Detective Sergeant bei der Kriminalpolizei, in einem CID-Team ein paar Meilen nördlich von Kennington. In einer Intelligence Unit. Alle Witze, die man darüber machen konnte, hatte er bereits gehört.
Helen merkte, wie sie errötete. Sie wollte losbrüllen, konnte aber nicht. Stattdessen sagte sie: »Tut mir leid.«
Paul ließ den Löffel sinken und schob die Schüssel weg.
»Ich versteh einfach nicht …« Helen sprach den Satz nicht zu Ende, Paul hörte ohnehin nicht zu. Oder er tat zumindest so. Er hatte nach der Krispies-Packung gegriffen und studierte immer noch konzentriert deren Rückseite, als sie ihren Stuhl zurückschob.
Nachdem Paul gegangen war und sie das Frühstücksgeschirr weggeräumt hatte, duschte sie. Sie blieb in der Dusche, bis sie nicht mehr weinen musste. Dann zog sie sich langsam an. Einen riesigen BH und Wohlfühlslip, darüber ein Sweatshirt und eine weiße Jogginghose. Nicht dass sie eine große Wahl gehabt hätte.
Sie hockte sich vor die Glotze, bis sie das Gefühl hatte, ihr Gehirn würde flüssig. Sie schaltete den Fernseher aus und setzte sich mit den Immobilienseiten des Lokalanzeigers aufs Sofa.
West Norwood, Gipsy Hill, Streatham. Herne Hill, wenn sie Abstriche machten. Und Thornton Heath, wenn sie keine andere Wahl hatten.
Wichtigeres …
Sie überflog die Seiten, malte Kreise um ein paar Angebote, die infrage kamen. Jedes Haus zehn- oder fünfzehntausend teurer, als sie eigentlich zahlen wollten. Sie würde um einiges schneller wieder arbeiten müssen als geplant. Jenny hatte angeboten, ihr mit dem Kind zu helfen.
»Du bist bescheuert, wenn du dich auf Paul verlässt«, hatte Jenny gemeint. »Egal, wie lange er frei bekommt.«
Direkt wie immer, ihre kleine Schwester, und es ließ sich kaum was dagegen einwenden.
»Wenn das Baby erst mal da ist, kommt er schon klar.«
»Und du?«
Die Musik oben wurde lauter. Sie musste Paul sagen, dass er mit dem Typen mal reden sollte. Sie ging ins Schlafzimmer und setzte sich, um irgendwas mit ihren Haaren zu machen. Männer, die meinten, Schwangere hätten was »Strahlendes«, mussten eine Schraube locker haben. Genauso wie Leute, die glaubten, sie könnten ihr den Bauch tätscheln, wann immer es ihnen in den Sinn kam. Sie schluckte, es schmeckte sauer. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann Paul ihn zum letzten Mal hatte berühren wollen.
Die Abschiedsküsschen-an-der-Tür-Phase hatten sie lange hinter sich, klar, aber sie hatten auch viele andere Dinge abgeschlossen. Sie gab ja zu, ihr war auch nicht besonders nach Sex zumute, aber so, wie die Dinge standen, war das auch besser so. Anfangs war sie ganz wild darauf gewesen, wie viele Frauen in den ersten Wochen der Schwangerschaft, wenn man den Büchern glauben durfte. Doch Paul hatte ziemlich schnell das Interesse verloren. Auch das war nicht ungewöhnlich, hatte sie gelesen. Die Gefühle der Männer änderten sich, sobald diese ganze Mutterschaftssache kam. Es fiel ihnen schwer, ihre Partnerin noch wie früher zu sehen, sie zu begehren, selbst wenn sie noch keinen Bauch hatte.
Bei Paul und ihr war das noch viel komplizierter, aber vielleicht spielte auch das mit rein.
»Der arme kleine Scheißer will bestimmt nicht, dass ich ihn ins Auge pikse«, hatte Paul gesagt.
Helen hatte nur spöttisch gemeint: »Ich glaub nicht, dass du bis zu seinen Augen kommst.« Aber ihnen war beiden nicht wirklich nach Lachen zumute gewesen.
Sie schob ihr Haar nach hinten und legte sich aufs Bett. Sie versuchte, sich an bessere Zeiten zu erinnern. Vielleicht half das ja. Zwei- oder dreimal hatte es geklappt, aber inzwischen fiel es ihr schwer, sich an ein »Früher« zu erinnern. An die drei Jahre, die sie zusammen gewesen waren, bevor es schiefzulaufen begann.
An die Zeit vor den Streitereien und dieser saublöden Affäre.
Sie konnte ihm nicht vorwerfen, dass er fand, es gäbe Wichtigeres als sie, als eine Wohnung oder ein Haus für sie zu finden. Für sie beide und das Baby, das vielleicht nicht seines war.
Sie beschloss, nach oben zu gehen und selbst mit dem Typen wegen der Musik zu reden. Aber sie schaffte es einfach nicht, aufzustehen. Sie musste ständig an Pauls Gesichtsausdruck denken.
Die Blicke.
So wütend, als habe sie keine Ahnung, wie verletzt er war, und so leer, als sei er gar nicht da. Da saß er ihr gegenüber am Tisch und starrte auf die Rückseite dieses blöden Krispies-Kartons.
Während der Fahrt versuchte Paul Hopwood, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, bei dem Gedudel auf Capital Gold mitzusingen und sich Gedanken über Meetings und unhöfliche Sergeants zu machen. Alles war ihm lieber, als über die Scheiße vorhin nachzudenken.
Gemeinsames Frühstück und scheißfreundliches Getue. Glückliche Familien …
Er bog nach rechts ab und wartete darauf, dass sein Navi ihm mitteilte, er sei falsch abgebogen, dass die Frau mit der vornehmen Stimme ihn aufforderte, bei der nächsten Gelegenheit zu wenden.
Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Er musste an einen Typen vom Revier in Clapham denken, der meinte, man solle diese Dinger mit Stimmen ausstatten, die Männer »mit speziellen Vorlieben« ansprachen.
»Das wär genial, Paul. Sie sagt ›Links abbiegen‹, du ignorierst sie, sie wird ein bisschen strenger. ›Ich sagte: Links abbiegen, du ungezogener Junge.‹ Das ginge weg wie warme Semmeln. An diese Privatschulbürschchen und solche Typen.«
Er drehte das Radio lauter und stellte die Scheibenwischer langsamer.
Glückliche Familien. Am Arsch.
Helen hatte jetzt schon seit Wochen diesen Blick drauf. Diese verletzten Rehaugen. Als hätte sie jetzt genug gelitten und er solle Manns genug sein und vergessen, was passiert war, weil sie ihn brauchte. Alles schön und gut, aber offensichtlich war er nicht Manns genug gewesen, als es darauf ankam, oder?
Mrs Plod, die Bullentussi …
Dieser Blick, als ob sie ihn nicht mehr erkennen würde, dann die Tränen und wie sie die Hände auf den Bauch legte, als ob das Kind rausfiele, wenn sie zu sehr weinte oder was. Als sei das alles sein Fehler.
Ihm war klar, was sie insgeheim dachte. Was sie ihrer Trantüte von Schwester jeden Abend am Telefon sagte. »Das wird anders, sobald er das Baby sieht.« Natürlich, alles würde wunderbar werden, sobald das verdammte Baby da war.
Durch das Baby würde alles gut.
Die Navifrau forderte ihn auf, links abzubiegen. Er ignorierte sie, schlug mit den Händen auf dem Lenkrad den Takt zu der Musik und biss auf die Fistel in seiner Unterlippe.
Mein Gott, er hoffte es so sehr. Er hoffte so sehr, dass alles gut würde. Aber er schaffte es einfach nicht, es Helen zu sagen. Er wünschte sich so sehr, das Baby anzuschauen und es einfach zu lieben – ohne groß nachzudenken. Einfach zu wissen, dass es seins war. Dann könnten sie weitermachen wie normale Leute, wie die ganzen anderen normalen Idioten, auch wenn es so aussah, als ob sie keine Chance hatten.
Doch diese Blicke und dieser blöde, bittende Unterton in ihrer Stimme. Das machte seine Hoffnung Stück für Stück zunichte.
Das Navi erklärte ihm, er solle im nächsten Kreisverkehr die erste Ausfahrt nehmen. Er biss kräftiger auf die Fistel und nahm die dritte Ausfahrt. Kennington war wie immer als Ziel einprogrammiert. Es spielte keine Rolle, dass er die Route in- und auswendig kannte, weil er gar nicht dorthin wollte.
»Bitte bei der nächsten Gelegenheit wenden.«
Diese Fahrten machten ihm Spaß, wenn die schnöselige Kuh ihm ständig sagte, was er zu tun habe, und er das Gegenteil tat. Ihr den Mittelfinger zeigte. Und sich so in die richtige Stimmung brachte für den Ort, den er wirklich anpeilte.
»Bitte wenden.«
Er griff zum Handschuhfach, holte ein Papiertaschentuch heraus und spuckte das Blut aus.
»Achtung!«
»Scheiße, was?«
»Da muss man brüllen, Mann. Ich hab das Ding zum falschen Loch geballert.«
»Dann brüll.« Er hob die Hände an den Mund und rief: »Achtung, Arschlöcher.« Selbstzufriedenes Nicken. »Wenn schon, denn schon, T.«
Theo lachte über seinen Freund und über die Blicke des älteren Pärchens auf dem Green daneben. Sie nahmen ihre Schläger und machten sich auf den Weg. Es war zwecklos, den Schlag noch mal zu versuchen. Sie hatten schon ein halbes Dutzend Bälle verloren.
»Wozu braucht man den ganzen Scheiß überhaupt?«
»Was?«
Theo stieß mit dem Finger in die Tasche über der Schulter seines Freundes: weiches Leder, jede Menge Reißverschlüsse und Taschen; dunkelblau, mit der Aufschrift PING, die auch auf jedem der neuen Schläger im Innern der Tasche prangte, große Fellkappen für die Holzschläger. »Das hier ist Pitch und Putt, Alter. Neun Löcher.«
Sein Freund war einen Kopf kleiner als er, aber kräftig gebaut. Er zuckte die Schultern. »Man muss halt gut aussehen, scheiß drauf.« Und das tat er, wie immer. Diamanten in beiden Ohren und ein Jogginganzug, der zur Tasche passte. Mit hellblauer Ziernaht und farblich abgestimmten Sportschuhen. Das weiße Cap, mit dem er immer rumlief, hatte kein Logo, wie alle seine Sachen. »Ich brauch keine Labels«, erklärte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, »um zu wissen, dass ich gut aussehe.«
Ezra Dennison, auch als »EZ« bekannt, für die meisten aber nur »Easy«.
Theo lief neben ihm, trug Jeans und eine hellgraue Jacke mit Reißverschluss. Weiter drüben ging das ältere Ehepaar parallel zu ihnen in dieselbe Richtung. Er nickte ihnen zu, woraufhin sich der Mann rasch abwandte und so tat, als suche er seinen Ball.
»Nett hier«, sagte Easy.
»Yeah.«
Der Kleinere der beiden winkte einem nicht vorhandenen Publikum zu. »Easy und The O, am achtzehnten Loch, wie Tiger Woods und … ein anderer Typ, egal.«
Theo fiel auch kein anderer Golfspieler ein.
Theo Shirley oder »The O« oder einfach nur »T«. Egal. »Theodore« bei seiner Mutter oder wenn seine Freunde ihn verarschen wollten.
Wer schoss das Tor, Theo-dore?
»Du hast so viele Namen«, hatte sein Vater mal gesagt und gelacht, wie immer, kurz vor seiner Pointe, »und nichts zu unterschreiben.«
Dann der Blick von seiner Mutter. Der Blick, den er immer sah, wenn sie wissen wollte, warum er es nicht nötig hatte, sich eine ordentliche Arbeit zu besorgen.
Easy kramte in seiner Tasche, holte einen neuen Ball heraus und warf ihn Theo vor die Füße. »Du bist dran, glaub ich.« Er hob die Hand. »Keine Fotos, bitte.«
Theo zog seinen Schläger aus dem schäbigen Beutel, den er im Häuschen am Eingang bekommen hatte, und schlug den Ball bis kurz vors Green.
Drei Meter weiter fand Easy seinen Ball. Er beugte sich darüber, wackelte ewig mit dem Arsch, um ihn dann knappe sieben Meter über das Green hinaus in die Bäume zu dreschen. »Dieses Putten ist sowieso scheißlangweilig«, sagte er.
Sie gingen zum Green. Es war hell, aber der Boden hing noch schwer an ihren Füßen. Die Schnürsenkel an Theos Sportschuhen waren braun vom Schlamm, und seine Jeans war unten an den Beinen ganz nass vom langen Gras, durch das sie die letzte halbe Stunde gelaufen waren.
Die ersten zwei Juliwochen waren bereits vorbei, und noch immer schien der Sommer irgendwo aufgehalten worden zu sein. Theo konnte es nicht erwarten, dass es richtig heiß wurde. Er hasste das nasskalte Wetter, spürte es in den Knochen.
Seinem Vater war es genauso gegangen.
In Pullover und Jacken gehüllt, hatte Theo draußen auf dem winzigen Balkon im zehnten Stock gesessen und vom Starkbier genippt, das sein Vater ihm reichte, wenn seine Mutter nicht hinsah.
»Wir sind für diese Kälte nicht geschaffen, verstehst du. Für diesen beißenden Wind. Deshalb gibt es auch keine schwarzen Skiläufer.«
Über solchen Scheiß konnte Theo immer lachen.
»Wir kommen von einer Insel.« Da hatte er schon einige Biere intus. »Sonne und Meer, das ist unser Element.«
»Gibt aber auch nicht viele schwarze Schwimmer«, sagte Theo.
»Nein …«
»Dann macht das keinen Sinn.«
Er nickte nachdenklich. »Das ist eine Frage der natürlichen Auftriebskraft.«
Viel mehr hatte sein Vater nicht dazu zu sagen. Auf alle Fälle brachte er das Thema nicht zur Sprache, als Theo sämtliche Schwimmwettbewerbe in der Schule gewann. Er stand nur am Beckenrand und brüllte lauter als alle anderen. Und als eine kleinkarierte, dumme Kuh hinter ihm sagte, er solle leiser sein, wurde er nur noch lauter.
»Bloß weil ihr Junge schwimmt, als würde er absaufen«, sagte er später.
Theos alter Herr sonderte immer irgendeine Scheiße ab, und Theos Mum sagte dann zu ihm, er solle sich nicht aufführen wie ein Idiot. Selbst zum Schluss, als er auf dem Sofa lag und die Medikamente ihn total stumpfsinnig machten.
Easy lief über das Green und machte sich auf die Suche nach dem Ball, während Theo seinen einlochte. Er sah über die Schulter, an dem Tee hinter ihnen warteten Leute. Er wollte gerade das Green verlassen, als Easy auftauchte, herüberkam und losquatschte, während er den Fahnenstab zwischen den Händen hin- und herwarf. »Was machst du heute noch?«
»Nicht viel. Was mit Javine oder so. Und du?«
Easy warf die Fahne in die Luft. »Hab nachmittags was zu erledigen.«
Theo nickte und drehte sich nach den wartenden Leuten um.
»Nichts Großes, nur ein bisschen Kleinscheiß. Wär gut, wenn du mitkommst.« Easy sah ihn abwartend an. »Und die Sache mit Javine verschiebst.«
»Kleinscheiß?«
»Nur Kleinscheiß, wirklich.« Er grinste breit. »Winzigstscheiß, Alter, ich schwör’s bei Gott.«
Theo kannte dieses Grinsen noch aus der Schule. Es fiel ihm manchmal schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Easy kein Kind mehr war. Seine Haut war dunkler als die von Theo, da seine Leute aus Nigeria kamen, aber das war egal. Sie stammten aus derselben Gegend, derselben Ecke von Lewisham, hingen mit denselben Typen rum. In der Gang waren jede Menge Jungs gemischter Herkunft, aber die meisten kamen wie er aus Jamaika. Ein paar Türken und Pakis waren auch dabei, sogar ein paar Weiße. Er kam gut mit ihnen klar, solange sie nicht zu aufdringlich wurden.
An dem Tee hinten pfiff jemand. Easy hörte nicht hin, aber Theo verließ das Green, und nach ein paar Sekunden folgte Easy ihm.
»Also, kommst du mit?«
»Yeah, solange es wirklich nur Winzigstscheiß ist.«
»Absolut. Da passiert nichts, T. Und wenn doch, weißt du ja, dass ich immer alles unter Kontrolle habe.«
Da war es wieder, dieses Grinsen. Theo sah seinem Freund zu, wie er das Seitenfach seiner Golftasche tätschelte, als sei es ein Welpe. »Was für ’nen Scheiß hast du denn da drin?«
»Halt die Fresse.«
»Bist du auf Drogen oder was?«
»Ich seh das so«, Easy stellte die Tasche ab, »ein Pitching Wedge, um den Ball aufs Green zu schlagen, einen Putter zum Einlochen. Und noch ’n paar andere Sachen … für andere Sachen.« Er grinste noch breiter. »Kapiert?«
Theo nickte.
Manchmal war es schwierig, sich vorzustellen, dass Easy mal ein Kind gewesen war.
Theo sah angespannt zu, wie Easy den Reißverschluss zurückzog und in der Tasche wühlte. Er versuchte, langsam auszuatmen, als sein Freund noch eine Handvoll Bälle herausholte und sie nacheinander fallen ließ.
Easy zog einen Holzschläger aus der Golftasche und deutete damit auf eine Fahne am anderen Ende des Platzes. »Lass uns da noch ’n paar Schläge machen.«
»Das ist das falsche Loch, Alter. Das ist nicht unser nächstes Loch.«
»Ach ja?« Easy stellte sich auf zum Abschlag, biss sich konzentriert auf die Unterlippe. »Ich möchte nur ein paar von diesen Mistdingern durch die Gegend ballern.« Er schlug kräftig, verfehlte den Ball jedoch um ein paar Zentimeter und beförderte stattdessen einen großen Klumpen nasse Erde in die Luft.
»Yeah. Tiger Woods«, sagte Theo.
Easy schlug erneut. Dieses Mal traf er den Ball, er flog jedoch kaum weiter als der Erdklumpen.
Jemand rief, und sie drehten sich um. Ein älterer Mann winkte ihnen vom Häuschen am Eingang zu.
»Was hat der Alte für ein Problem?«
Theo reckte den Hals und winkte zurück. »Du musst deine Divots wieder zurücklegen.«
»Was zurücklegen?«
Theo holte das rausgeschlagene Rasenstück und trat es wieder fest. »Das ist Golfer-Etikette, verstehst du?«
»Was’n das für ’n Scheißwort?«
»Das bedeutet, wie man was macht. Wie sich was gehört.«
Easys Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er hatte es noch nie abgekonnt, wenn jemand was besser wusste.
»Das heißt so, okay?«, sagte Theo.
Easy spuckte auf den Boden und zog seine Jogginghose hoch. Er griff nach einem anderen Schläger und ging hinüber zu den übrigen Bällen.
»Scheiße, was machst du?«
Easy drehte sich um und schlug mit aller Kraft einen Ball in die Richtung, wo der alte Mann stand. »Das mach ich.«
Der Alte schrie, aber eher erschrocken als wütend, und sprang zur Seite, als der Ball hinter ihm gegen die Wand des Häuschens knallte. Easy holte erneut aus, diesmal verfehlte er sein Ziel, was ihn nicht weiter zu stören schien. Munter schlug er weiter drauflos. Wieder knallte ein Ball gegen das Häuschen, und der Greenkeeper zog rasch die Tür hinter sich zu.
»Der holt garantiert jemanden, Alter.«
»Scheiß drauf.«
»Mein ja nur.«
Easy wühlte schon wieder in seiner Tasche, suchte nach weiteren Bällen.
Theo stand daneben und sah ihm zu. Sein Freund war verrückt, das war klar, trotzdem lachte er sich halb tot.
Jenny wohnte auf der anderen Seite der Themse, im Norden, genauer gesagt in Maida Vale, und Helen fuhr hinüber, um sie in einem Café am Bahnhof zu treffen. Die Fahrt war nicht gerade billig, sie musste die Congestion-Steuer zahlen, die Maut für die Innenstadt, dazu kamen die Parkgebühr und der Tee, von dem jede Tasse zwei Pfund kostete. Aber seit ihrer Schwangerschaft wurde Helen in der U-Bahn übel.
Sie saßen an einem Fenstertisch und sahen den Leuten zu, die unter Regenschirmen vorbeieilten. Jenny winkte ein paar Frauen zu, die ins Café kamen, und plauderte kurz mit ihnen über die bevorstehenden Ferien. Sie hatte zwei Jungs in einer Schule um die Ecke und traf sich hier oft mit anderen Müttern.
Obwohl sie erst vor ein paar Stunden gefrühstückt hatte, verputzte Helen zwei Mandelcroissants, bevor ihre erste Tasse Tee leer war. Mit dem Blick auf den Bauch ihrer Schwester meinte Jenny: »Bist du dir sicher, dass da nur eins drin ist?«
»Ich glaube, es waren zwei, aber er hat das andere aufgefressen.«
Sie sagte immer »er«, dabei kannte sie das Geschlecht ihres Babys gar nicht. Bei dem Ultraschall in der zwölften Woche hatte man sie gefragt, ob sie es wissen wollten, aber Helen hatte gesagt, sie wolle sich überraschen lassen. Sie hatte sofort gemerkt, dass es das Dümmste war, was man sagen konnte, und Pauls Hand gedrückt, der mit versteinerter Miene auf den Monitor starrte.
Er wollte nur eines wissen, und das konnte ihm kein Ultraschall der Welt sagen.
»Steht dir gut«, sagte Jenny. »Du warst vorher schon etwas arg dünn. Ehrlich.«
»Kann schon sein.«
Jenny hatte immer etwas Positives zu sagen, aber in letzter Zeit fühlte sich Helen deshalb nicht wirklich besser. Zwischen einem positiven Blick auf die Dinge und Blödsinn-Quatschen lag ein kleiner, aber feiner Unterschied. Jenny hatte gesagt, man würde durch die Hormonschwankungen interessanter für die Männer. Sie hatte Helen erklärt, wie ungewöhnlich es sei, dass Helen sich die ganze Schwangerschaft hindurch übergeben müsse. Als mache sie das zu etwas ganz Besonderem.
Aber in letzter Zeit hatte ihre Zuversicht bei allem, was Paul anging, nachgelassen.
»Wie läuft’s denn?« Sie setzte ein ernstes Gesicht auf, wie man es von Ärzten und Nachrichtensprechern kennt.
Helen trank einen Schluck Tee. »Er tut sich nicht leicht damit.«
»Das arme Baby.«
»Jen …«
»Es kann einem in der Seele leidtun.«
»Wie würde Tim denn mit so einer Situation umgehen?«
Jennys Mann. Ein Bauunternehmer mit einer ausgeprägten Leidenschaft fürs Angeln und für Autopflege. Ganz nett, wenn man auf so was stand.
»Was hat denn das damit zu tun?«
»Meine ja nur.« Helen schämte sich ein bisschen für ihre Gedanken. Tim war nett, und auch wenn Helen nicht auf diesen Typ Mann stand, Jenny gefiel er, und das reichte ja. »Ich glaube nur nicht, dass du nachvollziehen kannst, wie Paul sich fühlt«, sagte sie. »Das meinte ich. Ich kann es auf alle Fälle nicht, also …«
Jenny zog die Augenbrauen hoch. Sie bestellte noch was zu trinken und wandte sich wieder Helen zu, mit einem Lächeln, das sagte: Klar. Denk, was immer du willst, wenn es dir das Leben leichter macht. Aber du weißt, und ich weiß …
Helen dachte: Du bist jünger als ich, spiel hier nicht die Mutter.
Sie wechselten kurz das Thema – sprachen über Jennys Kinder und was sie am Haus hatte machen lassen –, aber es schien unmöglich, mit jemandem länger als fünf Minuten zu reden, ohne wieder bei Babys zu landen. Bei Stilleinlagen und Beckenbodengymnastik. Man kam sich vor wie eine Gebärmutter auf zwei Beinen.
»Ich wollte nur sagen … Ich habe mit einer Freundin geredet, die ein paar gute Mutter-Kind-Gruppen in deiner Gegend kennt.«
»Okay, danke.«
»Es tut gut, ein bisschen rauszukommen und andere Mütter zu treffen.«
»Jüngere Mütter.«
»Jetzt sei doch nicht blöd.«
Helen hatte sehr viel darüber nachgedacht, und sie fühlte sich nicht wohl dabei. Die Schwangeren, die sie bei den Geburtsvorbereitungskursen und Frauenarztbesuchen getroffen hatte, kamen ihr alle so viel jünger vor. »Mein Gott, es gibt Frauen in meinem Alter, die sind schon Oma.«
Jenny rümpfte die Nase. »Frauen ohne ein eigenes Leben, meinst du. Zwei Generationen buggyschiebende Irre.«
»Ich bin fünfunddreißig«, sagte Helen. Sie wusste, wie dämlich sie klang. Sie sprach es aus, als hätte sie eine tödliche Krankheit.
»Na und? Mir wär es lieber, ich hätte meine später bekommen. Viel später.«
»Das nehm ich dir nicht ab.«
Jenny strahlte. Ihre Schwester hatte keine Karriere gemacht, die sie hätte opfern müssen, und die Mutterrolle ohne Probleme angenommen. Geradezu erschreckend war das. Sie hatte superunkomplizierte Schwangerschaften gehabt und eine Figur, die ohne große Anstrengung sofort wieder war wie zuvor. Der Stress war letztlich nur ein kleines Problemchen, das man lösen musste. Ein fantastisches Vorbild, aber auch ein deprimierendes.
»Alles wird gut«, sagte Jenny.
»Ja.«
Wenn dein Kind erst mal da ist. Der unausgesprochene Gedanke, der die Gesprächspause füllte, brachte sie zurück zu Paul …
»Du weißt, dass du die erste Zeit gerne zu uns kommen kannst.«
… zu seiner Abwesenheit.
»Ich weiß, danke.«
»Es wär schön, wieder ein Baby im Haus zu haben.« Jenny grinste und beugte sich über den Tisch. »Keine Ahnung, wie Tim reagiert, wenn ich wieder diesen Gluckenblick habe. Dabei ist er auch nicht anders, du hättest ihn letztes Jahr mit dem Baby seines Bruders sehen sollen. Er wollte es gar nicht mehr hergeben.«
Helen sagte nichts. Sie hatte Paul von unterwegs angerufen und sowohl in seinem Büro als auch auf seinem Handy nur den Anrufbeantworter erreicht.
»Ich will nicht nerven, aber weißt du schon, wer bei der Entbindung dabei sein soll?«
»Nicht wirklich.«
»Ich würde das echt gern machen, das weißt du.«
»Jen, es ist alles schon organisiert.«
»Ein Plan B kann nicht schaden.«
Helen war dankbar, als plötzlich eine Freundin von Jenny an ihren Tisch kam und sie abtauchen konnte, während die beiden jüngeren Frauen sich über eine Kampagne unterhielten, die Geländewagen in den Straßen rund um die Schule verbieten wollte. Sie rieb sich über die Brust, als das Sodbrennen wieder begann. Auch daran hatte sie sich in den letzten acht Monaten gewöhnen müssen. Sie überlegte, wie sie den Tag verbringen könnte. Eine Möglichkeit wäre, die Zeit mit Shoppen im Sainsbury’s totzuschlagen. Oder sich noch mal hinzulegen, wenn sie nach Hause kam. Aber so, wie die Dinge lagen, hätte sie nichts dagegen, einfach hier sitzen zu bleiben, bis es dunkel wurde.
Als sie merkte, dass die andere Frau mit ihr sprach, lächelte Helen und versuchte so zu tun, als habe sie die ganze Zeit zugehört.
»… Sie können es wahrscheinlich nicht mehr erwarten, dass es draußen ist, oder?« Dabei sah sie auf Helens Bauch. »Wenigstens war der Sommer nicht zu heiß. Das ist ein Albtraum, wenn man so weit ist wie Sie.«
»Es kommt garantiert noch eine Hitzewelle in den nächsten Wochen«, meinte Jenny.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Helen.
Klar, natürlich wollte sie die Geburt am liebsten sofort hinter sich bringen. Sie hatte es so satt, diesen riesigen Ball vor sich herzutragen und die ständigen Blicke und Ratschläge zu ertragen. Herr im Himmel, von wegen Erwartungsdruck …
Sie wollte ein Baby, das einen Strich unter alles zog. Einen Neuanfang.
In diesem Augenblick aber wollte sie vor allem eines: nicht mehr allein sein.
Paul ließ das Auto in einem Parkhaus in Soho stehen und wartete fünf oder zehn Minuten im Regen auf das Taxi. Die Scheinwerfer des schwarzen Wagens waren ausgeschaltet, als er endlich um die Ecke bog und vor ihm hielt. Es saß bereits ein Fahrgast drin.
Der Taxifahrer wirkte ernst, als er Paul die Tür aufhielt. Es stellte sich aber schnell heraus, dass – bislang – nur das Wetter Kevin Shepherd nervte.
»Zum Kotzen, oder?«
Paul ließ sich auf einen der Klappsitze fallen. Er fuhr sich durch die kurz geschnittenen Haare und schüttelte das Wasser heraus.
»Ich hab gedacht, die globale Erwärmung macht Schluss mit dem Sauwetter«, sagte Shepherd.
Paul grinste, wurde nach hinten gerissen, als das Taxi losfuhr und links in die Wardour Street einbog.
»Ich hab ein Häuschen in Frankreich«, sagte Shepherd. »Im Languedoc. Waren Sie schon mal dort?«
»In letzter Zeit nicht«, antwortete Paul.
»An Tagen wie diesem weiß ich wieder, warum ich es gekauft hab.«
»Als gute Geldanlage, denk ich.«
»Abgesehen davon.« Shepherd sah aus dem Fenster und schüttelte traurig den Kopf. »Der einzige Grund, warum ich nicht öfter dort bin, ist das Essen. Ich sag’s, wie es ist. Das meiste ist ein entsetzlicher Fraß. Und das sag ich nicht, weil ich die Franzosen nicht mag. Natürlich mag ich sie nicht, keine Frage.« Er lachte. »Aber ich schwöre, das Essen wird absolut überschätzt. Die Italiener, die Spanier, selbst die Deutschen kochen besser. Bei Gott, alle überholen die Franzosen, wenn’s ums Essen geht.«
Der Akzent verriet seine Herkunft aus dem East End, aber die Ecken und Kanten waren nicht mehr ganz so ausgeprägt.
»Bei mir um die Ecke gibt’s ein französisches Restaurant«, sagte Paul. »Alles mit Soße zugekleistert.«
Shepherd deutete auf ihn und grinste zufrieden. »Genau. Und diese weißen Kartoffeln. Richtig weiß sind die. Liegen auf deinem Teller wie die Eier einer Albino-Bulldogge. Null Geschmack.«
Shepherd war blond, seine Haare reichten ihm bis zum Kragen. Er sah ein bisschen aus wie dieser Schauspieler aus dem Starsky and Hutch-Film, fand Paul. Allerdings war sein Lächeln nicht ganz so charmant. Er trug ein rosa Hemd mit einem dieser übergroßen Kragen, wie sie jetzt in Mode waren, dazu eine lila Krawatte. Für den Anzug hatte er garantiert eine vierstellige Summe hingeblättert, und die Schuhe kosteten sicher mehr als alles zusammen, was Paul am Leib trug.
Das Taxi fuhr auf der Oxford Street nach Westen. Shepherd hatte nichts gesagt, aber der Fahrer schien zu wissen, wo es hinging. Es war eines dieser neuen Taxis mit einem beeindruckenden Soundsystem und einem Bildschirm, auf dem Spots für aktuelle Kinofilme, Parfüms und Handys liefen. »Kann ich Ihren Dienstausweis sehen?«, fragte Shepherd. Er sah zu, wie Paul in seiner Tasche kramte. »Ich will wissen, wen ich da umsonst mitnehme.« Er streckte die Hand nach der kleinen Lederbörse aus, in der Paul auch seine Oyster Card für die U-Bahn und Briefmarken aufbewahrte, und schaute sich den Ausweis an. »Intelligence, haben Sie am Telefon gesagt.« Paul nickte. »Die Witze kennen Sie sicher alle schon.«
»Alle.«
Der Taxifahrer drückte auf die Hupe und beschimpfte einen Busfahrer, der gerade losfuhr, als er ihn überholen wollte.
»Dann sagen Sie mir doch, wie intelligent Sie sind.«
Paul lehnte sich zurück und wartete ein paar Sekunden. »Ich weiß, dass Sie Mitte Februar dieses Jahres von einem rumänischen Geschäftsmann namens Radu Eliade angesprochen wurden.« Shepherd blinzelte und rückte seine Krawatte zurecht. »Er kam mit dreihunderttausend Pfund zu Ihnen, die er mit einer Reihe von Kredit- und Kundenkartentricks gemacht hatte und nun waschen lassen wollte. So nennt man das doch?« Shepherd grinste. Definitiv nicht so charmant wie sein Doppelgänger aus dem Film. »Ich weiß, dass Sie und mehrere Geschäftspartner ein Lagerhaus in North Wales angemietet haben und die nächsten fünf Wochen damit verbrachten, Industrieanlagen gegen Bargeld aufzukaufen, um sie eine Woche später wieder zu verkaufen. Ich weiß, dass Mr Eliade sein Geld blitzsauber gewaschen zurückerhielt und dass Sie ihm Ihre Bemühungen nicht einmal in Rechnung stellen mussten, weil Sie sich eine goldene Nase damit verdienten, den ganzen Kram nach Nigeria und in den Tschad zu verhökern.« Er wartete wieder und meinte: »Und … wie finden Sie mich?«
Paul hatte beobachtet, wie sich Shepherds Gesichtsausdruck veränderte, während er sprach. Wie er hart wurde, als er überlegte, ob Eliade oder einer seiner anderen Geschäftspartner ihn verpfiffen hatte. Und wie dann plötzlich die Neugier aufleuchtete, als er sich die Frage stellte, warum er noch als freier Mann herumlief, wenn ein Mann von der Met, von der Intelligence Unit noch dazu, das alles wusste.
Warum ihn noch niemand bei seinem schicken, überdimensionierten Hemdkragen gepackt hatte.
Sie fuhren schweigend weiter, ein normales Taxi auf der Edgeware Road Richtung Kilburn. Die Ladenfronten wurden etwas schäbiger, die Mercedes-Dichte kleiner.
»Sieht aus, als würde es heller werden«, bemerkte Shepherd.
»Das ist gut.«
»Was sagt eigentlich der Wetterbericht?« Shepherd versuchte, mit Paul Blickkontakt herzustellen, um sicherzugehen, dass er die tiefere Bedeutung verstand. »Vielleicht sollte ich etwas mehr Zeit im Languedoc verbringen. Was meinen Sie, Paul? Sie wissen doch so gut Bescheid.«
»Kommt drauf an«, antwortete Paul.
Das Taxi hielt plötzlich vor ein paar Läden in der Willesden Lane, um zwei Männer einsteigen zu lassen.
»Das ist Nigel«, stellte Shepherd den Mann vor, der auf dem Klappsitz gegenüber von Paul Platz nahm. Nigel war groß und kräftig, um die fünfzig und hatte nach hinten gekämmte, ölige graue Haare, die aussahen, als hätte man sie in Form getreten. Paul knurrte eine Art Begrüßung. Nigel, der links und rechts über den Sitz quoll, sagte nichts. Shepherd klopfte auf den Platz neben ihm. »Und das« – er deutete auf den zweiten Mann, der nicht ganz so von sich überzeugt wirkte und einen kackbraunen Mantel trug –, »das ist Mr Anderson. Er ist etwas freundlicher als Nigel.«
Anderson blinzelte Paul hinter seinen dicken Brillengläsern an. »Wer ist das?« Ein weicher irischer Akzent, kein bisschen freundlicher.
Shepherd beugte sich vor und rief dem Fahrer zu: »Weiter geht’s, Ray.«
Als das Taxi losfuhr, fingen sie an zu quatschen. Shepherd und Anderson unterhielten sich über ein festliches Dinner, bei dem sie neulich gewesen waren, und über einen abgehalfterten Fernseh-Comedian, der seine besten Zeiten hinter sich hatte.
»Absoluter Dreck.« Shepherd verzog das Gesicht. Schmutzige Witze mochte er offensichtlich ebenso wenig wie französisches Essen. »So flach, dass es auch der Dümmste kapiert.«
Er fragte Paul, ob er Familie habe. Das gehe ihn nichts an, meinte Paul, was Shepherd in Ordnung fand.
»Macht eh nur Probleme«, sagte Anderson.
Das Taxi schlängelte sich gekonnt durch den dichten Verkehr, während Kilburn in die wohlhabenderen Straßen von Brondesbury überging. Als sie nach Cricklewood kamen, wurden die Häuser wieder kleiner und rückten näher zusammen.
»Woher kennt ihr beiden euch?«, fragte Anderson.
Bevor Paul antworten konnte, bog das Taxi von der Hauptstraße ab, fuhr ein paar Minuten durch Seitenstraßen und gelangte schließlich auf eine von tiefen Spurrillen durchzogene Straße. Paul sah sich um. Sie fuhren jetzt wesentlich langsamer und näherten sich einem riesigen Gebäudekomplex, der sich dunkel vor einem Himmel abhob, an dem zum ersten Mal ein Anflug von Blau zu erkennen war. Er konnte die Graffiti und die Muster aus Rissen und Löchern in den Fensterscheiben sehen.
Das stillgelegte Wasserwerk in Dollis Hill.
Das Taxi hielt vor einem mit einer schweren Kette und einem Vorhängeschloss gesicherten Tor. Ray stellte den Motor ab und griff nach der Zeitung auf dem Beifahrersitz. Nigel ließ sich nichts anmerken, und Andersons Kopf sackte nach vorn, als sein Blick auf das Stanley-Messer in der Hand des Dicken fiel.
Der Ire klang vor allem müde. »Ach, Kevin, muss das sein?«
Nigel war schon dabei, ein kleines quadratisches Brett unter Shepherds Sitz herauszuziehen. Shepherd rückte zur Seite, um Nigel Platz zu machen, als dieser Anderson packte und auf den Boden zerrte. Er riss seinen Arm zur Seite und fixierte den Handrücken des Iren mit seinem ganzen Gewicht. Dabei spreizte er seine Finger auf dem Brett.
»Fuck, Kevin, jemand hat dir Scheiße erzählt«, sagte Anderson.
Nigel drückte Andersons Gesicht noch fester auf den Boden und sah auf, alles war bereit.
»Zwei, drei Zentimeter sollten reichen«, sagte Shepherd.
Es blutete nicht stark, und das Geräusch wurde durch den Teppich erstickt. Danach beugte sich Shepherd nach unten und reichte Anderson ein Taschentuch für seine Hand. Er drückte es dagegen und zog langsam die Knie an.
»Mit diesem Finger greifst du in Zukunft nicht mehr in die Kasse«, sagte Shepherd. Er nahm die Beine zur Seite, um den Mann auf dem Boden nicht zu berühren, und sah zu Paul. »Als würde es ihm nicht schon gut genug gehen. In den letzten eineinhalb Jahren hat er sich drei neue Autos gekauft. Dummes Arschloch.«
»Die meisten wollen mehr, als sie haben«, sagte Paul. »Das ist nur natürlich.«
Shepherd dachte kurz darüber nach, bevor er auf seine Uhr sah. »Macht Ihnen doch nichts aus, von hier allein zurückzufahren, oder? Wir müssen weiter, bevor dieser Blödmann Rays ganzes Auto vollblutet.«
Paul vermutete, dass er in zwanzig Minuten bis zur Willesden Junction laufen konnte. Wenigstens regnete es nicht. Er wartete.
»Mr Hopwood, ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte Shepherd. »Vieles verstehe ich noch nicht. Vieles, was Sie betrifft. Aber über ein, zwei Dinge bin ich mir ein bisschen klarer geworden. Darüber, was Sie wissen oder zu wissen glauben, zum Beispiel.«
»Verständlich.«
»Die Sache ist nämlich die. Ein paar Bullen kenn ich ziemlich gut, und es war verdammt interessant, Sie eben zu beobachten. Einige Bullen hätten es nämlich nicht ertragen, danebenzusitzen und zuzusehen, egal, was sie tun oder angeblich tun. Sie wären ausgetickt, hätten rumgebrüllt und drauflosverhaftet. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Und wenn ich das getan hätte?«
Shepherd zuckte mit den Schultern. »Hätte genervt, wäre aber nicht wirklich ein Problem gewesen. Ich glaube nicht, dass Mr Anderson Anzeige erstattet. Nigel ist nicht besonders redselig, und Ray hält garantiert die Klappe.« Er beugte sich vor. »Ist doch so, Ray?«
Ray hielt die Klappe.
»Ein paar verplemperte Stunden auf dem Polizeirevier und ein paar Tage Papierkram für einen Idioten, der stattdessen draußen Selbstmordattentäter fangen könnte. Das wäre alles.«
Das konnte Paul nicht bestreiten.