Die Tore des idjtihãd, Raum des offenen Sinnens im Islam, wurden vor annähernd 1000 Jahren von politischreligiösen Mächten geschlossen, damit war der freimütige Diskurs über Religion und Koran unterbunden. Dogmen und Mythen prägen seither den Glauben und die Kultur der Muslime, abweichende Vorstellungen werden gewöhnlich unduldsam zurückgewiesen.

Gottes Worte im Koran, Vers um Vers gelesen und in ihren inneren Zusammenhängen durchleuchtet, entwerfen jedoch ein verstörend anderes Bild von Gott, der Schöpfung und dem Jenseits als jenes, das den Muslimen als selbstverständlich und ewig gewiss gilt. So erhoffen Märtyrer und Rechtgläubige vergeblich die Verheißungen des Paradieses.

Was erwartet Gott wirklich vom Menschen? In seinen Widersprüchen birgt der Koran eine große Erzählung, die uns, was ist und was wird, auf eigene, faszinierende Weise verstehen lässt.

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Copyright © 2014 by Reinhard Stransfeld

Bearbeitung März 2016

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783735708281

Bildnachweis: Das Tor von Ischtar

Copyright © Pergamon Museum Berlin

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Inhalt

  1. Vorbereitungen zur Erkundung
    1. Im Bann des Propheten
    2. Vom Tischler und vom Wurm
    3. Der große Atem des Buches
  2. Die Befunde der Erkundung
  3. Andere Sichten
    1. Gott
    2. Es steht geschrieben
    3. Der Ritus
    4. Evolution
    5. Die Gläubigen und die Anderen
    6. Das Jenseits
    7. Satan
    8. Die Prüfung
      • Exkurs: Das Milgram- Experiment / Fantasie über Verborgenes
  4. Die verborgene Botschaft
    1. Der immanente Auftrag
    2. Der weite Horizont
      • Dreißig Verse-
    3. Das Buch des „Herrn der Stufen”
    4. Das Buch der Bücher
  5. Koran und Islam
  6. Koran, Islam und die Welt
  7. Warum?
    1. Die Mühen der Klarheit und Wahrheit - der Islam zwischen Dogma und Koran
      • Das Rad neu erfunden?-/ Schöpfung-/ Der dunkle Flecken des Koran-/ Ein Widerspruch-/ Der Rat der Roboter -/ Die Stufen-/ Der Ort der Reife-/ Aufstieg durch Synergien-/ Selbstbefreiung oder Untergang-
    2. Die Bestimmung des Geistes
      • Ein zweifacher Geist?-/ Der vierte Aufstieg-
    3. Der unverstandene Gott
      • Die Dimensionen des Koran-/ Glaube und Vernunft-/ Exkurs: Wie können wir von Gott wissen?-/ Das Unverstandene/ Entsagung und Erfüllung-

Einführung

Das Anliegen

Im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern sehen Menschen vermeintlich Dinge, die nicht existieren. Dem Koran widerfährt ein gegenteiliges Geschick. Etliche seiner Worte und Verse, schwarz auf weiß gedruckt, werden nicht wahrgenommen. So stellt es sich jedenfalls dar – dass mit dem Aufstieg orthodoxer Auslegung seit einem Jahrtausend auf Dogmen beharrt wird, die zentrale Aussagen des Koran zum Glauben, dem Kern der Religion, ignorieren.

Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen?1 zürnte Gott bereits zu Zeiten der Offenbarung. Wie bei anderen heiligen Schriften war die Neigung abzusehen, sich des Koran gleich eines Buffets zu bedienen, von dem man nimmt, was behagt. Und mit der Verfestigung derartiger Haltungen wurden - und werden - jene Teile mit dem Bann der Nichtwahrnehmung belegt, die dem Geschmack der jeweiligen Dogmatik widersprechen.

Nun ist der Islam als Religion des Koran alles andere als ein monolithisches Gebilde. Nicht geringer als das Christentum in schier unzählige Gemeinschaften und Gruppen zersplittert, stellen sie sich - um im Bild zu bleiben - aus dem Koran ein je eigenes "Menü" zusammen.

Die unterschiedliche Rezeption des Buches wird exemplarisch sichtbar in den Ausdeutungen des Dschihad als Aufforderung zum Kampf versus die Anstrengung zur persönlichen Vervollkommnung. Bestimmte Kernannahmen, so das Bild des einzigen Gottes als allmächtiger Schöpfer oder die ewige Existenz im Jenseits, sind jedoch eherner Bestand der gesamten Religionsgemeinschaft.

Nicht zuletzt die in den letzten Jahrzehnten von den islamischen Kulturen ausgehenden Dynamiken hatten im Autor das Interesse entfacht, das zentrale Werk dieser Weltreligion zu lesen, den Koran. Eine gewaltige Herausforderung, wie sich rasch erwies. Bietet er sich doch dem unbefangenen Leser gleich einem schwer zugänglichen Gebirge von Worten dar, in dem einiges verständlich ist und noch mehr zunächst unverständlich bleibt: fragmenthaft, zerschnitten und wie anschließend absichtslos zusammengefügt, vielsagend und mehrdeutig. Ein Irrgarten der Lettern, der wohl manchen gutwilligen Leser aus der Suche nach der Essenz seiner Wirkmächtigkeit ratloser entlässt als er es eingangs war.

Aber vielleicht gibt es einen Schlüssel, der zum Verständnis führt, müssen geistige Siegel gebrochen werden, um sein Wesen erfassen zu können? Und so ist dieses Buch entstanden: Ergebnis einer zunehmend gerichteten Erkundung mit keinem geringeren Ziel, als die inneren Zusammenhänge sowie eine in sich stimmige und folgerichtige Vorstellung zum Glaubenskern aufzuspüren − einen Ariadnefaden zu finden, der durch das Labyrinth der Verse führt. Im Zentrum steht also das Buch mit seinen Zeichen, im mehrfachen Sinne des Wortes.

Es konnte allerdings nicht ausbleiben, einen Blick auf seine Entstehung zu werfen und auf seinen Verkünder, ebenso auf seine Bedeutung in der heutigen Zeit und damit auf den Islam und dessen Vermögen, dem Koran in seinen tiefsten Absichten zu folgen. Grundsätzlich blieb es jedoch bei der Konzentration auf den Koran. Er allein verkörpert Gottes vollendetes Wort zur Religion der Araber, zum Islam.

„Die grundlegende Botschaft des Koran sind Richtlinien und Anweisungen, durch die er dem Menschen Rechtleitung gibt, (sie) sind universeller Art. Sie gelten für alle noch kommenden Zeiten und in allen Situationen. Diese Offenbarung entspricht der Stellung des Menschen auf der Erde und in der Geschichte. Der Mensch hat in seiner Entwicklung das Stadium erreicht, in dem universelle Grundsätze angewandt werden müssen, um seine zweckvolle Existenz zu gewährleisten.”

Die alles überragende Bedeutung sieht von Denffer2 darin,

„dass der Koran Sprache von Allah ist, die in ihrer genauen Bedeutung und Wortwahl über den Engel Gabriel offenbart wurde, durch viele unabhängige Überliefererketten übermittelt, unnachahmlich und einzigartig und geschützt durch Allah selbst gegen jedwede Verfälschung”.

Was immer an fundamentaler Einsicht erworben und noch zu gewinnen ist, muss auf diesem Werk fußen.

Um den unbefangenen Zugang nicht zu verstellen, wurde auf eine Auswertung von Korankommentierungen und -exegesen zunächst verzichtet. Die eingangs verwendete Sekundärliteratur nutzte vornehmlich der Hinführung zum Gegenstand, dem Ertrag konnte sie kaum dienen. Vielmehr erwies sich, dass wichtige Fragen bisher ungestellt sind oder doch nicht öffentlich wurden. Zudem sind einige Befunde der Erkundung so überraschend, dass sie gewiss Verbreitung gefunden hätten, wären sie bereits anderenorts formuliert worden. Dies mit einer Einschränkung: In der mehr als tausendjährigen Rezeptionsgeschichte des Koran im Islam wird Etliches von dem, was dem Autor ins Auge stach, bereits betrachtet worden sein und vermutlich weitere Dinge, die ihm nicht auffielen oder nicht als relevant erschienen.

War es dann sinnvoll, dieses Buch zu schreiben? Existiert doch seit mehr als einem Jahrtausend ein Kanon unumstrittener Dogmen:

Dennoch, Verschiedenes von dem, was sich eröffnet hat, konnte erst aus der Sicht heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis deutlich werden. Zudem gilt das Sprichwort, dass man drinnen oft den Wald vor Bäumen nicht sieht. Dass also der Blick auf eine Kultur durch den Außenstehenden zu Einsichten führen kann, die von innen schwerlich gelingen. Schließlich erwiesen sich manche Folgerungen, die Vorhandenem ähnlich anmuten, im Näheren als recht verschieden.

So hat sich letztlich der Eindruck gebildet, dass selbst muslimische Reformer in manchem den kongenialen, zukunftsweisenden Gehalt des Koran verfehlen. Daher mutet es eigenartig an, wenn Kritiker der Orthodoxie3

„über die Schizophrenie beunruhigt (sind), zu der die Muslime bei ihrer Denkweise neigen, wenn sie einerseits damit einverstanden sind, in manchen Bereichen Bezug auf die Vernunft zu nehmen, es andererseits ablehnen, diese zu Hilfe zu nehmen, wenn es um die Religion und vor allem um das Verstehen des Koran geht,”

jedoch zuweilen demselben Phänomen zu erliegen scheinen. Welcher Art mögen die Widerstände sein, die es Muslimen verwehren, das Buch vollständig zu verstehen und anzunehmen? Fanden sich darin doch überraschende Einsichten und Hinweise zu Fragen wie

Für Muslime sind die Antworten von eminenter Bedeutung. Und auch den Leser aus westlichen Kulturen wird etwa die Feststellung, dass selbst jene, die sich als Märtyrer verstehen und das eigene Leben opfern, nicht ins verheißene Paradies gelangen, aufmerken lassen.

Erstaunlich ist, wie unzulänglich sich die westliche Sicht auf den Koran vielfach bis heute darstellt. Sie würdigt die literarische Qualität, sieht auch eigenständige spirituelle Elemente, erschöpft sich aber zumeist noch darin, das Werk an der Tora und am Evangelium zu messen und ist irritiert ob seiner Wirkmacht.

Ja, aus Tora und Evangelium ist dem Koran vieles eigen, ist doch ein gutes Wort [...] wie ein guter Baum: Fest steht seine Wurzel, und sein Gezweig reicht in den Himmel. Sure 14:Vers 24] Und so strebt auch der Koran aus diesen Wurzeln empor − höher, als gemeinhin wahrgenommen wird. Ja, er ist in Vielem irritierend. Jedoch, erschließt sich der "Code", wird verstehbar, dass scheinbar wirre Versfolgen nicht zuletzt seiner komplexen Rolle geschuldet sind. Und des treibenden Momentums der Eingebung, die ihn einst zustande brachte. Erst dann offenbart sich wahre spirituelle Kern der Religion, erschließt sich aus der nun erkennbaren Geradlinigkeit des Textes seine höhere Absicht. Gedankliche Ebenen und Perspektiven schimmern im Licht einer Einsicht von faszinierender visionärer Kraft.

Das also erwartet den Leser, und es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass sich mit der Lektüre die zumeist unzureichenden Vorstellungen zum Koran und auch zum Islam verändern können. Muslime mögen zur überraschenden Entdeckung gelangen, dass der Atem des Buches sich bis zu einem Horizont ausdehnt, den der Islam bislang nicht abschreiten konnte. Der Autor aber hat zum Koran von dem geschrieben, was er darin vorgefunden hat.

Vorgehen

So steht also der Koran im Zentrum der Erkundung, zunächst in textlogischer Hinsicht und im sinngerechten Verstehen der Aussagen. Wichtige Themen, Widersprüche und spirituelles Potenzial sind Ansatzpunkte der Betrachtung. Dabei kam es darauf an, das Wesen des Buches aus dem Blickwinkel der Verkündung zu erfassen, damit dem Anspruch, dass der Koran Gottes Wort sei, zu folgen.

Im Weiteren werden zentralen Dogmen des Islams andere Sichten gegenübergestellt, die das Wesen des orthodoxen Kanons im Kern berühren. Schließlich wird der Koran in seiner Sinngebung für den weiteren Weg der Menschheit erkundet, dies nicht zuletzt auch im Licht der vorherrschenden libertären Strömungen im Westen.

Angesichts des vielfach gebrochenen Textflusses und der häufigen zusammenhanglosen Aneinanderreihung von Aussagen, was dem Koran den Charakter eines Hypertextes gibt, lag die größte Herausforderung zunächst darin, über die Suren und Verse hinweg thematische Zusammenhänge zu erkennen, aus denen sich Folgerichtigkeiten herleiten ließen.

Dabei offenbarte sich, dass das Buch vollständig nur zu verstehen ist, wenn man ein Phasenkonzept unterstellt. In ihrem unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Charakter werden viele Aussagen erst sinnhaft, wenn man sie einander folgenden Epochen der Menschheitsentwicklung zuordnet. Es ist naheliegend, darin einen Plan Gottes für die arabische Gemeinschaft und im Größeren für die Menschheit zu sehen. Dies ist zu einer Kernthese der Studie geworden, die sich im Verlauf mehrmaligen Erarbeitens als ein Schlüssel zum Verständnis herauskristallisierte.

Vorangestellt und auch in der Entstehung das erste Kapitel, ist eine Einstimmung, mit der der Autor sich selbst für die vor ihm liegende Aufgabe sensibilisiert hat. Zudem sind einige der zu bewältigenden Anforderungen des Textes exemplarisch vorweggenommen.

Die Erkundung des Koran erfolgte aufgrund des Eindrucks eines ersten Durchgangs anhand von zwanzig Einzelthemen. Nur durch ein thematisch gerichtetes Lesen lässt sich das Buch erschließen. Strikte Konzentration Vers um Vers, ein Einlassen, das es erlaubt, den Koran weitmöglich frei von eigenen kulturellen Prägungen anzunehmen und aus seinem originären Wesen heraus zu erfassen, sind zwingend, damit ein vertieftes Verstehen und eine beweiskräftige Argumentation erwachsen kann.

Daran lassen sich die Schlüsse auf der Grundlage des Korantextes nachvollziehen. Einsichten, die in manchen nicht mit traditionellen Lesarten übereinstimmen, können zu einzelnen Versen zurückverfolgt werden. Mittels eines Versregisters lässt sich das Buch zudem leicht erschließen. (Anhang F)

Kapitel II bündelt die zentrale Erkenntnisse der Erkundung in kurzen Statements und erlaubt so einen raschen Blick auf die Reichweite der Ergebnisse. Im Weiteren (Kap. III) wird die Anbindung an den Koran als Gesamtkonzept geleistet. Um den Lesefluss zu erleichtern, wurde eine Verdichtung vorgenommen, eine Zuspitzung auf acht Schwerpunkte, in denen sich „andere Sichten” ergaben. Am Ende jeden Abschnitts sind die zentralen Aussagen als „Essenz” zusammengefasst. Der weiteren Einlassung dient Anhang C, darin sind ergänzende Aussagen und Schlüsse zu relevanten Themen umfänglich belegt.

Im Kapitel IV werden die Ergebnisse in eine Gesamtsicht gestellt, darin die zentrale Logik des Koran als Stufenplan herausgearbeitet. Kapitel V setzt sich mit dem Verharren des Islams in einer tendenziösen Deutung des Koran auseinander, zeigt aber auch auf, dass wichtige Aspekte darin unter taktischen Zwängen seiner Zeit in einer Weise dargestellt sind, die Fehldeutungen Vorschub leisteten.

Mittels der plakativen Begriffe von der westlichen und der islamischen Welt werden in Kapitel VI kulturelle Charakteristika pointiert. Die Mängel jeweiliger Verfestigungen - in der islamischen Welt eine als strikte Weisungsordnung gedeutete Religion, in der westlichen Welt eine missverstandene Rationalität - werden erkennbar.

Wenn auch der Islam als politisches System gegenüber den westlichen Kulturen in Vielem Entwicklungsrückstände aufweist, eröffnet der Koran über die westlichen Horizonte hinaus reichende Perspektiven. Er zehrt von Tora und Evangelium, geht in seiner visionären Kraft aber weit über diese Bücher hinaus. Und befasst sich anders als diese, die auf das Individuum bzw. die kleine Gemeinschaft fokussiert sind, letztlich mit dem Schicksal der Menschheit, welches sich in der Prüfung durch Gott erweisen wird.

Der Koran birgt das Potenzial, der unverzichtbaren Wiederbelebung von Spiritualität für eine wachsende Reife des Menschen entscheidende Impulse zu geben und konvergiert darin mit de Chardins Gedankenwelt4, der Entwicklung zum sich im Punkt Omega vervollkommnenden Universum.

Kapitel VII reflektiert schließlich die gewonnenen Erkenntnisse anhand neueren Schrifttums zum Koran und zum Islam und zeigt auf, dass selbst moderne, der Diskussion offene Autoren und Islamwissenschaftler zögern, unter dem güldenen Dom des Glaubens hervorzutreten ins schiere Licht einer Wahrheit, die allein den Kern der Offenbarung auszuleuchten vermag.

Der Anhang enthält Vertiefungen zu zentralen Aussagen, einige Ergänzungen sowie thematisch gegliederte Aufzeichnungen aus der Erkundung. Ferner sind Register zu den zitierten Schriften sowie ein Namenregister angefügt.

Die Reflexion von Koraninterpretationen und -analysen anderer Autoren ist, wie erwähnt, nach Abschluss der eigenen Erkundung erfolgt. Neben deren Würdigung im Kapitel VII flossen zudem in den laufenden Text etliche Modifikationen ein, die Gedanken und Anregungen aus diesen Werken aufgreifen.

Im 13. Jahrhundert wurden die Tore des idjtihãd, das Bemühen um die Auslegung der heiligen Texte, aufgrund politischer und religiöser Interessen geschlossen und somit die freimütige Diskussion im Islam und um den Koran unterbunden. Damit war der letzte Schritt einer längeren Entwicklung zu einer Religion der Dogmen vollzogen, die das im Kern der Schrift ruhende Potential spiritueller Bewegung für eine zukunftsgerichtete Entfaltung hemmen.

Der Koran spricht in der Sure 5 davon, dass die Religion vollständig gemacht wurde5 und Abdolkarim Soroush knüpft mit einer kritischen Frage an:

„Es hat einen Tag gegeben, an dem die Religion ihre Vollendung erreicht hat, aber wann wird das Wissen von der Religion seinen Zenit erreicht haben?” 6

Mit einem solchen erwartungsvollen Ausblick schließt das Kapitel VI:

„Nun erst kann der Islam für sich in Anspruch nehmen, die Religion des Koran und des Propheten zu sein. Aber eigentlich sind jetzt ab- und ausgrenzende Kategorisierungen überflüssig geworden, denn der Koran wäre dann tatsächlich als ein Buch für die Welt offenbart.”

Im 11. Jahrhundert gelangte der hervorragende islamische Gelehrte Ibn Sina zu dem Schluss, dass die Wahrheit dem Volk nicht zugemutet werden sollte, weil dies Verwirrung stiften würde. Dieses Buch sucht, über die Kluft der Zeit eine Brücke zu schlagen und den Raum neu zu öffnen für

Einsichtsvolle, die Gottes gedenken, im Stehen oder Sitzen oder auf ihrer Seite liegend, und die über die Erschaffung von Himmel und Erde sinnen. [3:190f.]

Die Übersetzungen

Die Erarbeitung erfolgte anhand von Übersetzungen7. Zwar

„ist die Sprache des Koran zu verstehen eine Voraussetzung, um seine Bedeutung voll zu begreifen. Deshalb haben viele Muslime diese Sprache erlernt. Andere, die dies nicht getan haben, bedienen sich Übersetzungen, was für sie ein indirektes Mittel ist, die Sprache zu kennen, weil in den Übersetzungen die Bedeutungen des Koran in ihre Muttersprache übertragen wurden, so dass sie sich mit der Botschaft von Allah vertraut machen können.”8

Es ist also legitim, sich der Übersetzungen zu bedienen, denn mögen auch zuweilen einzelne Worte nicht exakt zu übertragen sein, können doch die Bedeutungen des Koran, der Sinn der Verse, den Übersetzungen entnommen werden.

Grundlage der Erkundung war die deutsche Übersetzung des Koran durch Hartmut Bobzin9. Eine gute Wahl, wie sich zeigte. Im Abgleich mit weiteren Übersetzungen festigte sich der Eindruck einer sachgeleiteten Bearbeitung. Andere weisen in glaubensprägenden Versen mehr oder weniger häufig sinnkritische Abweichungen auf. Auffällig war, dass die Abweichungen durchweg zugunsten zentraler Dogmen wirken. In fast allen derartigen Fällen konnte sich der Autor durch den Blick auf das arabische Original davon überzeugen, dass sich Bobzin und im Großen und Ganzen auch Zirker um eine weitest gehende Text- bzw. Sinntreue bemühen.10 Am anderen Ufer stehen Ahmad, Asad und Rassoul, die den Text nicht selten zugunsten des Dogmas beugen. Dazwischen ringen Paret, Khoury, Karimi, Henning und die offizielle Übersetzung des Königsreichs Saudi-Arabien (KSA) sowie auch Rückert mehr oder weniger stark um Texttreue versus Anlehnung an die orthodoxe Sicht.

Überraschenderweise erwies sich die Not - die zunächst fehlende Kenntnis des Arabischen - als eine Tugend, denn sie nötigte zur Auseinandersetzung mit diversen Übersetzungen und führte dank der Differenzen zu Einsichten, die, wie sich in Kontakten mit der arabischen Sprache mächtigen Korankundigen erwies, aus deren Expertise aus welchen Gründen immer nicht erlangt wurden.

Eine reizvolle Herausforderung also, nunmehr für Leserinnen und Leser.


1 Sure 2:Vers 85 [2:85]; auch [2:146]

2 Ahmad von Denffer: Einführung in die Islamwissenschaften. Deutscher Informationsdienst über den Islam, (DIdI) e.V., Karlsruhe 2005:16,26

3 Amin al-Khüli und Muhammad Khalafalläh; in: Rachid Benzine, Islam und Moderne - die neuen Denker. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2012:157

4 Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos. Beck, München 1959

5 Sure 5:Vers 3 [5:3]

6 in Rachid Benzine: Islam und Moderne - Die neuen Denker. Verlag der Weltregionen im Insel Verlag, Berlin 2012:72

7 Inzwischen ist der Autor des Arabischen soweit mächtig, um etwa Textstellen, über die abweichende Auffassungen existieren, im Original zu überprüfen.

8 Ahmad von Denffer, a.a.O.:120

9 Hartmut Bobzin: Der Koran. Verlag C. H. Beck, München 2009. Ferner wurden die Koranübersetzungen von Rudi Paret, Kohlhammer, Stuttgart 2010, sowie von Hadhrat Mirza Masroor Ahmad, Verlag Der Islam, Frankfurt/ Main 2009, herangezogen, im Weiteren auch die von Adel Theodor Khoury, Muhammad Ahmad Rassoul, Muhammad Asad, Ahmad Milad Karimi, Max Henning, Friedrich Rückert, Hans Zirker. Zudem die offizielle Übersetzung des Königreichs Saudi-Arabien (KSA). Die verwendete Tora, bearb. von Annette Böckler, beruht auf der Übersetzung von Moses Mendelssohn; Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2011/(1783). Den Bibelzitaten liegt der Druck der Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1967 zugrunde.

10 mit dem bisher vorliegenden ersten Band einer Gesamtübersetzung im Großen und Ganzen auch Angelika Neuwirth.

I Vorbereitungen zur Erkundung

”Wenn man nach der Wahrheit sucht,

ist es notwendig, wenigstens einmal

alles in Zweifel zu stellen.”

René Descartes

Prinzipien der Philosophie, 1644

1. Im Bann des Propheten

Die Hitze des Tages wich, als der Glutball der Sonne mit dem Horizont verschmolz, und eine milde Brise fächelte wohltuend über erhitzte Gesichter. Noch war ein Raunen unter den Menschen, die sich zusammengefunden hatten. Einige waren mit dem Bevorstehenden vertraut, andere hatten lange Wege durch die Wüste auf sich genommen, um zu erfahren, was bereits seit langem Gegenstand erregter Gespräche in den Zelten und auf den Basaren war: dass ein neuer Prophet geschickt ward − einer der ihren, ein Araber.

Ein Prophet, der von dem einem Gott verkündete und eine schlichte Lehre bereithielt: Weise alle anderen Götter und Mächte ab, die dich und dein Leben bestimmen wollen und gebe deinen Willen, dein Tun und dein Sehnen diesem einen hin. Folge seinen klaren Weisungen und du wirst auf sicheren Pfaden wandeln, die dich ins Paradies geleiten.

Geduldig harrten sie im Wissen, dass der Prophet erst mit dem Ende der Dämmerung hervortreten würde, denn siehe, der Nacht Beginn ist eindrucksvoller, klarer ihr Wort. [73:6]

Als er erschien, verstummte das Raunen. Die hohe Gestalt mit den ausdrucksvollen Zügen und Augen, die sanft blicken konnten, nun aber durchdringend über die Menge glitten und in manchem Unbehagen wachriefen wegen Dingen, die getan waren und nicht hätten geschehen dürfen − eine Aura war um den Propheten, der sich niemand entziehen konnte.

Dann sprach er. Berichtete von den Propheten, die zuvor auf Erden wandelten und vom einzigen Gott verkündet hatten, von den törichten und falschen Lehren, die fehlgeleitete Philister daraus geformt und aufgezeichnet hatten. Er sprach von der Reinheit, von der Vollkommenheit des einzigen, aller Dinge mächtigen, ewigen Gottes, von seiner Barmherzigkeit, die jenem zuteilwerde, der sich sein Gebot zu eigen macht, von der Gemeinschaft der Gleichen, die den Gläubigen aufnehme, von den Wohltaten, die ihm im Diesseits und noch um vieles mehr im Jenseits verheißen sind - aber auch vom Zorn und der Unerbittlichkeit, zu der die Buchbesitzer und Beigeseller Gott herausforderten.

Und als die Zuhörer vom „Zauber seiner Rede” erfasst waren, schmolzen sie dahin: die Sorgen um die Dattelernte, die Ängste vor den Übergriffen feindlicher Stämme, der Verdruss über den Streit mit der Frau. Und vielen derer, die lauschten, war es, als wäre ein Quell in ihnen aufgesprungen, der nicht mehr versiegen wollte.

Zu versuchen, sich in die Atmosphäre einzufühlen, die den Auftritt des Propheten umgab, mag naiv erscheinen, und vielleicht ist es aus der Distanz von mehr als einem Jahrtausend und der Sichtweise eines anderen Kulturkreises vermessen, diese besondere Stimmung nachempfinden zu wollen. Jedenfalls hatte der Prophet dank seiner charismatischen Ausstrahlung und begnadeten Rede mehr und mehr Menschen um sich scharen können, die ihm getreu in die Diaspora folgten und von dort aus unter seiner Führung die neue Religion im arabischen Raum durchsetzten.

Und mag auch staatsmännisches Geschick und Kriegsglück darin hilfreich gewesen sein, war es letztlich die Botschaft selbst und die Glaubwürdigkeit des Überbringers, die Sinne und Herzen der Menschen erreichten und die eingenisteten Fragmente von zornigen Göttern, düsterer Magie und grausamer Herrschaft aus dem Denken und Fühlen vertrieb und die Lauschenden bewog, von nun an der Offenbarung des Koran Heimstatt in der eigenen Seele zu geben.

Heute hat sich die Botschaft unter vielen Völkern und über alle Kontinente verbreitet. Sie hat mannigfaltige Auslegungen gefunden, und es ist ein durchaus auch feindliches Ringen um das richtige Verstehen ihrer Worte. Wäre sie ohne ein wahres Wesen, hätte sich das gemeinsame Band wohl längst gelöst, und die Verkündigungen des Propheten wären zerflattert.

Doch was ist dieses Wesen? Warum ist es als Ganzes anscheinend so schwierig zu greifen? Überfordert es gar den Menschen, es in all seinen Facetten zu erfassen, selbst, wenn sie meinen, es in den Händen zu halten und durchdringen zu können? Manche Dinge sind noch größer, als sie ohnehin erscheinen.

2. Vom Tischler und vom Wurm

Da steht der Stuhl, vom Tischler erstellt. Er hatte eine Skizze angefertigt, geeignetes Holz gewählt und das benötigte Werkzeug bereitgelegt. Dann hatte er getan, was des Handwerks ist: gesägt und gefräst, gekehlt und gedrechselt. Er hatte verzargt und gedübelt, schließlich geschliffen und lackiert. Nicht zu vergessen die Polsterung der Sitzfläche.

Nun steht er also da, der fertige Stuhl, fein geschwungen und doch stabil, für lange Zeit geschaffen, in feinem Glanz, der das Licht spiegelt − eine Zierde des Standes, in die all die Kunstfertigkeit des Tischlers Hand eingeflossen ist. Weiß also der Stuhl, was des Tischlers ist? Weiß das Brot, was des Bäckers ist, das Hufeisen des Schmiedes?

Wie sollte das wohl sein, mag man einwenden, handele es sich doch um Gegenstände, ohne Leben. Nun gut, nehmen wir den Wurm und den Menschen. Ist es dunkel, windet sich der Wurm aus dem Erdreich hervor, wird es hell, kriecht er zurück. Also kommt der Mensch daher, verdunkelt den Raum und veranlasst den Wurm, das Erdreich zu verlassen. Entzündet er daraufhin ein Licht, drängt es den Wurm zurück ins sichere Dunkle. Er hat also den Wurm zu einem bestimmten Verhalten veranlasst. Weiß der Wurm damit vom Menschen?

Welch abwegige Frage, wird gewiss jemand einwerfen, ist doch der Mensch dem Wurm um ein schier Unendliches überlegen und der Wurm als solcher keiner geistigen Regung fähig. Weil darauf niemand widersprechen wird, darf man ein von allen geteiltes Einverständnis annehmen: Der Mensch ist dem Wurm um so vieles überlegen, dass dieser wohl nicht einmal den Menschen als solchen wahrzunehmen vermag. Dies, obwohl der Wurm und der Mensch sich näher stehen als der Stuhl dem Tischler. Ist doch der Stuhl geschöpft und der Tischler der Schöpfer, hingegen sind Mensch und Wurm gleichermaßen Geschöpfe. Und wenn auch sehr verschiedener Art, teilen sie, wie wir heute wissen, 60 und mehr Prozent des genetischen Codes.

Niemand wird widersprechen, wenn wir sagen: Stuhl, Tisch und Schrank sind als Produkte eines Erzeugungsaktes einander näher als ihrem Erzeuger, dem Tischler. Was bedeutet dies für die Schöpfung als solche, für den Wurm und den Menschen in ihrem Verhältnis zum Schöpfer? Ist es nicht folgerichtig zu sagen, dass die Geschöpfe, so verschieden sie auch sein mögen, einander näher sind als ihrem Schöpfer − Gott? Zu einem Gott, der in seiner Klarheit und Herrlichkeit, Vollkommenheit und Ewigkeit - und in seiner Unergründlichkeit - über allem ist?

Wenn also der Wurm den Menschen in keinem Element seines Wesens und Wollens erfassen kann, allenfalls auf das an ihn herangetragene Signal reagiert - Zeichen, die nur eine Winzigkeit menschlichen Vermögens vertreten - wie mag dann die Beziehung zwischen Mensch zu Gott beschaffen sein? Ein Verhältnis, welches vor sich die tiefe Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf findet.

Man mag einwenden, dass ein derartiger Vergleich etwas erzwingen will, was nur im Extremen aufscheinen kann. Nehmen wir also ein anderes Verhältnis, jenes zwischen Primat und Mensch. Der berühmte Verhaltensforscher Otto Köhler hatte in den 1920er Jahren Beobachtungen an Schimpansen durchgeführt, um Folgerungen zu deren geistigen Fähigkeiten ziehen zu können. Die Menschenaffen befanden sich in einem Raum, dessen Ausstattung anders als ein Käfig durch Pflanzen und Klettermöglichkeiten eine vertrautere Umgebung bot. Eines Tages war nun das Schloss der Tür zu diesem Raum defekt. Ein Handwerker kam herbei, entnahm das Schloss mittels eines Schraubenziehers und kam einige Zeit später mit dem reparierten Schloss zurück, um es wieder einzufügen.

Am nächsten Tag machte ein Mitarbeiter eine berührende Beobachtung. Einer der Schimpansen saß an der Tür und zwirbelte ein Hölzchen just auf einer Stelle, in der eine Schraube eingedreht war. Eine Verhaltensimitation, angeregt durch den Hauch einer Ahnung und doch unweigerlich scheiternd, weil das Prinzip Technik völlig unverstanden war. Zwei Gattungen, die 98 Prozent ihres genetischen Materials teilen, können nicht wirklich zusammenkommen.

Zurück zur Eingangsfrage, müssen wir es uns eingestehen: Das Unvollkommene kann niemals das Vollkommene erfassen, das Endliche niemals das Ewige. Es mag den Menschen ein Hauch von Ahnung anwehen, ja. Jedoch können Ahnungen trügerisch sein. Der griechische Philosoph Platon hatte einmal das Gleichnis vom Menschen entworfen, der, in einer Höhle eingeschlossen, aus den an die Höhlenwand geworfenen, flackernden Schatten auf den Zustand der Welt außerhalb der Höhle schließen soll. Zuweilen mag ein treffender Schluss gelingen, doch in der übergroßen Zahl aller Vermutungen werden die Ergebnisse des Grübelns falsch oder gar abwegig sein. Und woran sollte der treffende Schluss unter all den anderen als ein solcher zu erkennen sein?

Wenn das alles richtig gedacht ist, kommen wir unausweichlich zur Erkenntnis, dass, was immer der Mensch als Gottes Willen und Absichten deutet, nur Vermutungen im Lichte seines allzu begrenzten Verstehens sind, mittels dessen er bestrebt ist, dem Nichtverstehbaren - Erhabenen, Vollkommenen, Ewigen - eben doch Anleitungen für sein Handeln abzuringen. Das Problem wird sichtbar in dem Gleichnis des Labyrinths. Der Mensch versteht, was eine Wand und ein Pfad ist und versteht die Bedeutung des Ausgangs. Doch er weiß nicht um die Struktur der Anlage.

Er vermutet den Ausgang in einer bestimmten Richtung und geht darauf zu. Seine Vermutung mag sogar richtig sein, doch sie hilft ihm nicht. Denn er kann nicht wissen, dass er möglicherweise immer wieder Abzweigungen wählen müsste, die ihn zunächst in andere Richtungen führen, um den Ausgang letztlich zu erreichen. Könnte er, wie der Schöpfer, von oben drauf schauen, wäre das Rätsel leicht zu lösen. Aber dann wäre er Schöpfer und eben kein Geschöpfter. Doch so − Die Blicke erreichen ihn (Gott) nicht, doch er erreicht die Blicke. [6:103]

Das Naheliegende ist nicht das selbstverständlich Richtige, das offensichtlich Erscheinende nicht selbstverständlich das Wahre. Auf Gott laufen die Pfade zu, so oder so. Die einzelnen Schritte jedoch muss der Mensch mit eigenen Sinnen bedenken und auf eigenen Füßen zurücklegen. Wenn er aber Augen und Herz vorbehaltlos öffnet, wird er Gott als strahlenden Quell wahrnehmen und weiß um die Richtung. Das ist mehr, als viele von sich sagen können, wenn sie sich selbst gegenüber aufrichtig sind.

Doch was kann erlangt werden? In dem berühmten Fresco des italienischen Malers Michelangelo „Die Erschaffung des Adams” reckt dieser, in luftigen Höhen lagernd, zu Gott, der sich ihm entgegen lehnt, den Arm aus, auf dass die Fingerspitzen sich berühren mögen. Und doch geschieht es nicht, eine bleibende Lücke − symbolisch für die Distanz zwischen dem Irdischen und dem Allmächtigen, selbst dann, wenn alles Bemühen darauf gerichtet scheint, sie zu überwinden. Ein Rest, der Unerreichbarkeit heißt. So der Bewusstseinsstand des Abendlandes im 16. Jahrhundert.

3. Der große Atem des Buches

Die arabische Sprache kennt neben Lyrik und Prosa eine dritte Darstellung des Wortes: den Koran. Dieses Buch hat einen Stil eigener Faszination, und nicht zuletzt daraus ziehen viele Gläubige den Schluss, dass es sich nur um Gottesworte handeln könne. Der Koran sagt dazu selbst aus, dass er als Urbuch in Gottes Händen läge [43:4], als Buch herabgesandt [3:7] ward und vom Erzengel Gabriel Mohammed eingegeben wurde. Und es heißt weiter, allerdings nicht im Koran, der Erzengel hätte Mohammed die wortgleiche Wiedergabe abverlangt, um dessen rechtes Verständnis zu prüfen.

Mohammed wurde im Jahr 570 n. Chr. geboren und es währte 40 Jahre, bis ihm die erste Offenbarung zuteilwurde. Über die folgenden 22 Jahre verteilten sich weitere Offenbarungen und summierten sich zu 6.236 Versen11 in insgesamt 114 Suren auf. Der weitaus größte Teil, etwa 90 Suren, wurde ihm noch in Mekka offenbart, der Ort, in dem er aufgewachsen war, als Waise in die Kaufmannsfamilie von Verwandten aufgenommen. Die Anfeindungen gegen den Verkünder einer neuen Religion seitens der Bewahrer der alten Götter waren jedoch groß. Wirre Träume [21:5], lautete das Verdikt der Zweifler. So sah er sich schließlich genötigt, Mekka zu verlassen und fand Anfang der 620er Jahre mit einigen Dutzend Anhängern in Medina Aufnahme. Dort wurden ihm in den folgenden Jahren (mindestens) 24 weitere Suren offenbart, die dank ihres Umfanges mehr als ein Drittel des gesamten Korantextes enthalten.

Kurz vor seinem plötzlichen Tod im Jahr 632, vermutlich durch eine Lebensmittelvergiftung verursacht, hatte Gott die Religion vollständig gemacht und seine Gnade vollendet. [5:3]

Gottes Worte aus des Propheten Mund. Warum hatte Mohammed sie nicht selbst aufgeschrieben? Diese Frage hat die Menschen immer wieder bewegt und die Gläubigen finden eine Erklärung in der im Koran mehrfach getätigten Aussage, dass Mohamed schriftunkundig gewesen sei. So konnte er Tora und Bibel nicht lesen, was zu dem Schluss führte, dass es sich bei den vielen Rückgriffen auf geschichtliche Ereignisse und frühere Propheten um Gottes Worte handeln müsse.12 Als ein Hinweis gilt sein geringes Wissen etwa zum Abendmahl, das er fälschlich als eine nächtliche Mahlzeit verstanden hätte.

War dies wirklich eine irrige Annahme? Das berühmte Bild Leonardo da Vincis vom letzten Abendmahl zeigt jedenfalls Jesus Christus hinter einer einladend gedeckten Tafel, und viele alte Meister hatten es da Vinci gleichgetan.

Selbst wenn er nicht lesen und schreiben konnte − was mochte Mohammed veranlasst haben, auf die Hinterlegung eines authentischen Koran zu verzichten? Zwar wurden wohl im Zeitverlauf die Verkündigungen durch Schreiber festgehalten, ob aber die Aufzeichnungen durch Mohammed autorisiert worden waren, ist ungewiss. Möglicherweise hatte der unzureichende Entwicklungsstand der arabischen Schriftsprache eine Rolle gespielt. Zu seiner Zeit waren erst 18 der insgesamt 28 Konsonanten der arabischen Sprache eindeutige Schriftsymbole zugeordnet13 . Texte konnten daher nur in Verbindung mit der mündlichen Überlieferung authentisch vermittelt werden. Offenbar verließ sich der Prophet vor allem auf die Wirkung des gesprochenen Wortes.

Im Übrigen entzieht es sich der Überprüfbarkeit, ob Mohammed in der Verkündigung tatsächlich Wort für Wort das wiedergab, was ihm offenbart worden war. Zwar war er Prophet, doch von ihm roboterhafte Perfektion zu erwarten, wäre dem Wesen des Menschen in seiner Unvollkommenheit nicht gemäß. Siehe, ich bin ein Mensch wie Ihr [41:6] bezeugt er in Gottes Auftrag. Möglicherweise finden die Ähnlichkeiten, also Abweichungen in der Wortwahl bei gleichem Gehalt, darin eine Erklärung. Denn was sollte Gott veranlasst haben, mit den Worten zu spielen? Er leitet, wen er will, auf einen geraden Weg. [2:213]; [24:46]

Was also macht den großen Atem aus, der dem Buch entströmt? Um ihm näherzukommen, gilt es, sich über die Natur des Koran im Klaren zu sein. Für den Gläubigen gibt es keinen Zweifel: Der Koran ist das von Gott herab gesandte Buch und dessen Worte verkörpern seinen Willen gegenüber den Gläubigen. Ihre Frömmigkeit erweisen sie, indem sie an Gott [...] glauben und an den Jüngsten Tag und an die Engel, an das Buch und die Propheten. [2:177]

Da das Buch als Buch aber nun einmal Menschenwerk ist und in einer als autorisiert geltenden Form erst mehr als zwanzig Jahre nach Mohammeds Hinscheiden vorlag, bleibt nur zu hoffen, dass

„die Gestalt des Koran, wie wir sie jetzt haben, im Wesentlichen zwei bis drei Jahre nach dem Tode Muhammads fertig gewesen ist, da die uthmanische Ausgabe ja nur eine Kopie des Exemplars der Hafsa14 ist, dessen Bearbeitung unter Abu Bakr oder spätestens unter dem Regime Umars vollendet wurde. Diese Bearbeitung erstreckte sich jedoch wahrscheinlich nur auf die Komposition der Suren und die Anordnung derselben. Hinsichtlich der Einzeloffenbarungen dürfen wir das Vertrauen haben, dass ihr Text im Allgemeinen genauso überliefert wurde, wie er sich im Nachlasse des Propheten vorfand”.15

Übermittlungsfehler sollten weit möglichst ausgeschlossen werden. Daher wurden in der ersten offiziösen Niederschrift, veranlasst durch den dritten Kalifen Uthman im Jahr 655, grundsätzlich nur Texte aufgenommen, die von zwei Ohrenzeugen belegt waren. Gleichzeitig ließ er weitere Versionen in anderen Dialekten des Arabischen vernichten. Dem Vorbild Johannes folgend, der Niederschriften des Evangeliums an sieben Gemeinden gesendet hatte, wurde der Koran des Uthman an fünf Gemeinden verschickt. Diese ursprünglichen Fassungen sind wohl verlorengegangen. In den folgenden Jahrzehnten wurden dann sieben Lesarten des Koran für kanonisch16 erklärt.

Das alles hat seine Bedeutung vor der Wichtigkeit der wortgleichen Wiedergabe der Sendung durch Mohammed. Nur so kann die Behauptung, dass es sich um Gottes Worte handelt, Bestand haben. Der Islam ist bis heute geprägt durch die Auseinandersetzung um „Unerschaffen” oder „Erschaffen”. Ersteres bezeichnet die Autorenschaft Gottes, das andere meint vom Menschen Hinzugefügtes oder Verändertes.

Doch was bedeuten Worte? Endlose Dispute wurden und werden geführt und mit advokatenhaftem Scharfsinn belegt, warum es gerade so zu verstehen sei. Die Spitzfindigkeiten um Lettern stellen wohl die markanteste Blockade gegen die faszinierende Einsicht in die tiefere Bedeutung des Werkes dar. Nicht auf die Lesart der Worte kommt es an, sondern auf den Sinn der Verse im großen Atem des Buches. So kann man wohl mit dem Evangelium sagen: Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. [E 2.Kor 3:6]17

Eine Auffälligkeit wird zuweilen hervorgehoben. Es handelt sich um die Folge der Suren nach ihrer Länge. Eine Antwort mag sich finden, wenn gefragt wird, warum sie derart unterschiedlich lang, besser, warum viele so kurz sind.

Die triviale Annahme lautet, dass im Laufe der Zeit gleich einem Schneeball, der am Hang mit jeder Umdrehung weiteren Schnee aufnimmt, der Stoff mit der Zahl der Verkündigungen umfangreicher wurde. Mit dem Neuen wurde also zunehmend mehr Bekanntes verkündet, dies, um neuen Anhängern die Grundlagen der Religion nahezubringen und das Wissen anderer durch Ähnlichkeit und Wiederholung [39:23] zu festigen. Da nun der Koran im Wesentlichen rückwärts zusammengestellt ist, also beginnend mit den zeitlich jüngsten, zuletzt verkündeten Suren, entstand (im Groben) eine Anordnung nach der Länge. Der Nutzen ist darin zu sehen, dass der Unbedarfte bereits mit den ersten Suren eine umfassende Einstimmung auf das Wesen des Buches erfährt.

Wiederholungen und Ähnlichkeiten machen mehr als 80 Prozent des Textes aus! Wie gesagt, wirken sie in pädagogischem Sinne der steten Festigung des neuen Glaubens, der gewiss immer wieder auch durch Zweifel, Reste vormaliger Überzeugungen, sich listig ins Herz stehlen will, herausgefordert wird.

Wer sich in den Text hineinbegibt, wird nicht selten wegen der sprunghaften Gedanken und sybillinischen Anmerkungen ins Straucheln geraten. Im weiteren Lesen werden Mehrdeutigkeiten und auch Widersprüche auffallen.

Zudem haben (wir) fürwahr den Menschen in diesem Qur-an Gleichnisse aller Art auf mannigfache Weise vorgelegt18 . [17:89] Es ist geradezu Wesen des Koran, gleichermaßen konkrete Schilderung oder Anweisung und Allegorie, also Gleichnis zu sein:

Auf der Erde gibt es Ländereien, aneinandergrenzend, Weingärten und Getreidefelder, Palmen mit Einzel- und mit Doppelstämmen (aus einer einzigen Wurzel) 19, getränkt aus einer Wasserquelle.

In der Ernte geben wir den einen den Vorzug vor den anderen. Darin sind, wahrlich, Zeichen für Menschen, die begreifen. [13:4f.]

Vordergründig handelt es sich um eine Schilderung zur landwirtschaftlichen Vegetation, jedoch ist der gleichnishafte Charakter unverkennbar. Die eine Wurzel verkörpert Abraham; der einzelne Stamm steht für den Islam, der Doppelstamm für Juden- und Christentum, alle gespeist aus einer Quelle: Gottes Wort. Und doch erbringt die Ernte unterschiedlich wertvolle Frucht. Die Überleitung zum Jenseits führt im Weiteren folgerichtig zum Verbleib der Stämme der Menschen im Paradies oder in der Hölle. Mit der Ernte offenbart sich überdies das tiefere Anliegen Gottes: Früchte für den "Verzehr".

So haben viele Verse Bedeutung, die sich auf einen realen Sachverhalt gerichtet und oft auch zeitgebundener taktischer Natur sind, gleichzeitig in einem konstitutiven Sinn überdauernd wirken sollen. Dies dem Anspruch gemäß, der von islamischer Seite formuliert wird: „Die grundlegende Botschaft des Koran sind Richtlinien und Anweisungen, durch die er dem Menschen Rechtleitung gibt, (sie) sind universeller Art.”20 Allerdings erschöpft sich die Botschaft des Koran nicht in des Menschen Rechtleitung. Diese Seite ist lediglich von diesseitiger, also temporärer Bedeutung. Wirklich grundlegend ist der dem überfliegenden Blick verborgene spirituelle Teil der Botschaft zum höheren Sinn und Zweck der Welt und des Menschen.

Ein Beispiel für Mehrdeutigkeit bietet der Dschihad (gihadi): Kämpfet auf dem Weg Gottes, auf rechte Art [22:78], lautet eine gültige Übersetzung21 und in diesem Sinne wird der Koran gewöhnlich in der Öffentlichkeit kolportiert. Es gibt aber eine weitere Interpretation, im Arabischen als „Großer Dschihad” bezeichnet, die in eine gänzlich andere Richtung weist: zur inneren Einkehr und dem Ringen um die seelische Reinheit.

Zudem weist der Koran Widersprüche auf:

Beschließt er (Gott) eine Sache, so spricht er nur zu ihr: «Sei! » Und dann ist sie. [40:68]

Da vollendete er sie (die Schöpfung) zu sieben Himmeln in zwei Tagen. [41:12]

Warum sagte Gott nicht einfach: Sei! zu den Himmeln? Schließlich:

Er ist aller Dinge mächtig. [5:120]

Doch Gott war es nicht möglich [...] [8:33]

Für ein allmächtiges Wesen kann es ein "nicht möglich" nicht geben.

Der Koran selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er es dem Leser nicht leicht macht. So die dritte Sure [3:6f.]:

Kein Gott ist außer ihm, dem Mächtigen, dem Weisen.

Er ist es, der auf dich das Buch herabgesandt hat.

Einige seiner Verse sind klar zu deuten —

sie sind der Kern des Buches,

andere sind mehrfach deutbar.

Doch die, in deren Herzen Verirrung ist,

die folgen dem, was darin mehrfach deutbar ist,

um Zweifel zu erwecken und um es auszudeuten.

Doch nur Gott kennt dessen Deutung.

Gott hat also selbst dafür gesorgt, dass manche Worte in ihrer Mehrdeutigkeit sich nicht ohne Weiteres erschließen, im Übrigen erweist sich manches als direkt im Widerspruch stehend zu anderen Aussagen. Verfügen die unbeirrbaren Gläubigen über einen inneren Kompass, der sie über die Irrungen hinweg sicher geleitet? Sollen die bereits Verirrten straucheln?

Dann wäre der Koran ein Buch, das nur von demjenigen recht verstanden werden kann, der bereits gläubig ist. Jedoch ist es nicht das Anliegen, Ungläubige aus ihrer Verirrung heraus zum richtigen Glauben zu führen? Nun aber werden sie sich in den Mehrdeutigkeiten verstricken und nicht befreien können, weil nur Gott die rechte Deutung kennt. Und im Grunde kann niemand helfen, denn würde ihnen gesagt, was eindeutig sei und was nicht, wäre es gedeutet und nicht mehr eine Prüfung.

Ist es gar eine Versuchung zum Irrweg? Keinesfalls ein abwegiger Gedanke, denn Gott ist der beste Ränkeschmied. [3:54] Und so gehört (dies vielleicht) zu der Absicht, die in den Dingen liegt. [31:17]

Lässt sich den Herausforderungen der Widersprüche und Mehrdeutigkeiten begegnen, um zu verstehen? Es gibt eine Aufgabe, die das Einfallsvermögen des Probanden herausfordert und von einem Quadrat mit neun gleichmäßig verteilten Punkten handelt:

Diese Punkte sollen durch vier gerade Linien miteinander verbunden werden, ohne dabei den Stift abzusetzen. Wer sich daran versucht, wird rasch feststellen, dass der
Anspruch größer ist als es auf den ersten Blick erscheint. Wer sie lösen will, muss sein Blickfeld über den vermeintlich vorgegebenen
Rahmen hinaus weiten. (siehe Anhang B.2)

Das von Gott dargebotene Blickfeld ist der Koran. Jedoch, ist es ihm zugewiesen, das Verborgene preiszugeben? Denn nur Gott kennt das Verborgene, und keinem offenbart er das Verborgene, [72:26] Wie aber lässt sich am ehesten gewährleisten, dass das Verborgene nicht ans Tageslicht gelangt? Man verschweigt, dass es etwas Verborgenes gibt! Gott weist jedoch mehrfach auf dessen Existenz hin und fügt hinzu, dass es in einem klaren Buche stünde. [27:75] Das klare Buch aber ist jenes bei Gott, dem der Koran als Lesung entnommen wurde. Also besteht die berechtigte Hoffnung, darin fündig zu werden.

Bereits einige wenige Blicke ins Buch lassen erahnen, dass es häufig einfache Lösungen verweigert. Was also kann der Willige, der Wahrheitssuchende, tun? Vor allem in sich selbst blicken! Gottes wirkliche Absichten werden sich nur dem erschließen, der in sich selbst hinein lauscht.

Nur wer bis zum eigenen Grund vorstößt und sich prüft, wird ein spirituelles Saatkorn finden, aus dem heraus er innerlich wachsen und somit erst das Zeug dafür hat, Gott in seinem Wollen zu folgen. Denn

Siehe, Gott ändert an einem Volke nichts / Ehe sie nicht ändern, was in ihren Seelen ist. [13:11]

Erst dann kann er den spirituellen Kern des Buches erkennen und Eindeutiges von Mehrdeutigem trennen. Der Koran ist somit gleichermaßen Prüfung und Antwort. Wer ihn richtig liest, wird zum Grund seines spirituellen Gehalts vorstoßen und es mag sich erweisen, dass dieser weiter reicht als das Buch selbst. Zuvor muss er es jedoch lesen lernen. Die Hinweise darauf müssen ebenfalls im Koran verborgen sein. Diesen „Code” gilt es zu entschlüsseln.

Möglicherweise erweist sich dann das, was dem Unbedarften als eindeutig erscheint, in einem problematischen Sinn als mehrdeutig. Mehrdeutiges und Widersprüchliches mag hingegen dem Willigen eine eindeutige Wahl bieten. Jedoch, dem dialektischen Prinzip entsprechend, das dem Koran innewohnt, nötigt die Lösung zum Blick über den gegebenen Horizont hinaus.

Dem Einsichtsvollenden Kindern Adams Ehre (erwies) [...] und zeichneten sie besonders aus vor vielen, die wir erschaffen haben22