Die 16-jährigen Schwestern Barbro und Kerstin gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Wenn Barbro nicht einen kleinen braunen Fleck auf der linken Wange hätte, würde kein Mensch wissen, wer Barbro ist und wer Kerstin. Und eigentlich spielt das ja auch keine Rolle, denn sie machen alles gemeinsam, haben immer die gleichen Ansichten, sind gleich gut in der Schule und tanzen mit genau denselben Jungen. Doch dann geschieht etwas, das das Leben der Zwillinge verändert …
Mit »Kerstin und ich« liegt einer der frühen Romane Astrid Lindgrens in überarbeiteter Neuausgabe vor.
Astrid Lindgren wurde 1907 im schwedischen Småland geboren und starb 2002 im Alter von 94 Jahren in Stockholm. Zu den berühmtesten Büchern der »bekanntesten Kinderbuchautorin der Welt« (DIE ZEIT) gehören neben Pippi Langstrumpf die Geschichten über die Kinder aus Bullerbü, über Michel, Madita, Kalle Blomquist und Ronja Räubertochter. Astrid Lindgren wurde u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Alternativen Nobelpreis, dem Schwedischen Staatspreis für Literatur sowie dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet. Postum wurde sie mit dem Internationalen Buchpreis CORINE geehrt.
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© Text: Astrid Lindgren 1945 / The Astrid Lindgren Company AB
Die schwedische Originalausgabe erschien 1945 bei Rabén & Sjögren, Stockholm, unter dem Titel »Kerstin och jag«
Die deutsche Ausgabe erschien erstmalig 1953 im Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg
Deutsch von Else von Hollander-Lossow
Cover von Jan Buchholz unter Verwendung einer Illustration von Helma Baison
Auslandsrechte vertreten durch The Astrid Lindgren Company AB, Lidingö, Schweden. Mehr Informationen unter info@astridlindgren.se
www.astridlindgren.com
www.astrid-lindgren.de
E-Book-Umsetzung: Arhebis Digital Systems, Timisoara, Rumänien, 2019
ISBN 978-3-86274-463-3
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Nein, es war nicht so dumm! Aber es war ziemlich anstrengend. Keiner musste sich jedenfalls so anstrengen wie Papa. Er wollte ja auf seine alten Tage einen ganz neuen Beruf erlernen, und er ging mit einem rührenden Eifer ans Werk. Halbe Nächte lang las er über Futterpflanzen und Entwässerung und über die gewöhnlichsten Krankheiten der Haustiere, und er wandte sich mit kindlichem Vertrauen an die Bauern der Gegend, um Rat und Hilfe zu bekommen. Besonders nahm er seine Zuflucht zu unserem nächsten Nachbarn, dem Gemeindeschöffen Samuelsson auf Blomkulla, und sooft dieser Gemeindeschöffe in unsere Gegend kam, stürzte sich Papa auf ihn wie ein Habicht und nötigte ihn zum Kaffeetrinken ins Haus, und wenn er den Schöffen endlich in einem Sessel in seinem Zimmer untergebracht hatte, ließ er sich eine kleine Unterweisung über die beste Zusammensetzung von Kunstdünger auf Lehmboden und dergleichen geben. Wenn ich mit dem Kaffeetablett in das Zimmer kam, hörte ich nie etwas anderes als »Kali und Chilesalpeter und Superphosphat«. Der Kunstdünger lag förmlich in der Luft, und Papa sah den Schöffen an wie ein kleiner Schuljunge seinen verehrten Lehrer.
Auch Johan tat, was er konnte, um Papa in die Geheimnisse der Landwirtschaft einzuweihen. Papa hatte wohl viele seltsame Pläne, und wenn er sie Johan auseinander setzte, bekam er unverändert dieselbe Antwort: »Das sollten Sie lieber nicht machen.«
Schließlich riss Papa der Geduldsfaden und er brüllte: »Wer ist hier eigentlich der Herr, ich oder du, Johan?«
Und Johan erwiderte unerschütterlich ruhig wie immer: »Natürlich Sie, Herr Major. Aber ich finde trotzdem, Sie sollten es nicht machen.«
Und wenn Johan seine Meinung gesagt hatte, konnte man die Sache für erledigt ansehen.
Immer mehr Bauern des Kirchspiels kamen dann und wann zu uns. Ich glaube, es erschien ihnen wie ein richtiges Volksfest, dem armen, unkundigen Major auf Lillhamra zu helfen. Vermutlich ist es angenehm, sein Wissen vor einem Menschen auszubreiten, der so andächtig zuhört. Papa machte natürlich viele Fehler, die sicherlich im Kirchspiel auf Festen herumerzählt und besprochen wurden, und vor allem in der Gemeindemolkerei, wohin die Bauern jeden Morgen ihre Milch fuhren.
Kerstin und ich brachten die Milch aus Lillhamra hin. Anfangs hatte Johan uns begleitet, denn kein Mensch glaubte so recht daran, dass wir fahren konnten. Aber schließlich waren wir ja die Töchter eines Kavalleristen, und allmählich wurde uns der Milchtransport ganz und gar anvertraut. Man musste morgens früh aufstehen, und Kerstin und ich fuhren abwechselnd jeden zweiten Tag. Jeden zweiten Tag schlief eine von uns aus. Es machte Spaß, die Milch zu fahren, und in der Molkerei lernten wir sozusagen alle Bauern der Gegend kennen. Ich machte Augen und Ohren weit auf, um alles zu hören, worüber sie sprachen, und in meinem ganzen jungen Leben hatte ich noch nie so viele nette und unterhaltende Menschen getroffen, die einen so saftigen Humor hatten. Alle waren nett und freundlich. Fast alle!
Aber als ich eines Tages mit unserem Schwarzen auf den Hof der Molkerei fuhr, hörte ich den Lövhults-Bauern, der mir den Rücken zukehrte, mit äußerst überlegener Stimme sagen: »Das ist der richtige Herrschaftsbauer! Er weiß viel weniger von der Landwirtschaft als meine Sau, und wenn der nicht Konkurs macht, dann ist das ein Wunder.«
Ich merkte, dass sie von Papa sprachen, und fühlte, wie ich auf der Stelle blitzwütend wurde, und ich nahm mir vor, keinen von ihnen zu bitten, mir beim Herunterheben der Milch zu helfen. Ich packte also zu, bis ich fühlte, dass nächstens ein Blutgefäß platzen musste. Da kam der Lövhults-Bauer heran und hob mit einem spöttischen Lächeln die Kannen vom Wagen, ohne dass ich es verhindern konnte. Ausgerechnet der!
»Danke«, sagte ich, so kurz ich konnte, und versuchte, ein Gesicht zu machen, als hätten ich und meine ganze Familie in der vorigen Woche das Examen an der Landwirtschaftsschule bestanden. Dann fuhr ich rasch nach Hause und ging direkt zu Papa, um meinem Ärger Luft zu machen. Aber er lachte nur und sagte, der Lövhults-Bauer sei durchaus im Recht, wenn er so überlegen tue, denn er verstehe sein Handwerk wirklich, Papa aber nicht.
»Aber«, sagte Papa, »wenn ich noch eine Weile weiterarbeiten darf, weiß ich eines Tages bestimmt ebenso viel über Landwirtschaft wie die Sau vom Lövhults-Bauern, und das ist ja immerhin ein Ziel, auf das man hinarbeiten kann.«
Wie gesagt, mir machte es Spaß, die Milch zu fahren. Auf dem Hinweg ging es in rasender Geschwindigkeit bergab. Die Milch plätscherte in den Kannen, dass es eine Freude war, und ich machte mir ernsthaft Sorgen, sie würde zu Butter werden, ehe ich am Ziel war. Die Heimfahrt war wunderschön. Es wurde in diesem Jahr zeitig Frühling, und wenn der Schwarze langsam die Hügel hinauftrottete, versank ich in begeisterte Betrachtungen, während ich die Zügel locker ließ und die Frühlingssonne mir den Rücken wärmte. Finken und Meisen trillerten in den Baumwipfeln. Es duftete nach feuchtem Moos und nach Pferd. Ich fühlte mich irgendwie ganz eng verbunden mit der Erde und so glücklich wie noch niemals früher, und ich hatte das Gefühl, ich möchte dem Leben, das so gut zu mir war, auch etwas zuliebe tun. Ich fasste verschiedene erhabene Beschlüsse, zu allen nett und freundlich zu sein und Mama und Papa keinen Kummer zu bereiten und Kerstin oder irgendeinen anderen Menschen nicht anzuschnauzen, und wenn mein Wagen schließlich durch die Allee und auf den Hof rasselte, war ich so gerührt über meine eigene Güte, dass ich hätte weinen können.
Hatte man Glück, so war es denkbar, dass man auf Johan traf, ehe er auf den Acker hinausging. Eine Plauderei mit dem guten Johan war ungefähr das, was man gerade brauchte. Auf merkwürdige Weise wusste Johan alles, was im Kirchspiel geschah, und zwar fast im gleichen Augenblick, in dem es passierte. Er kannte jeden Menschen und vor allem jedes Pferd in mehreren Kilometern Umkreis, denn Pferde waren seine Leidenschaft, er konnte am Wiehern hören, wer auf der Landstraße vorbeifuhr. Kerstin und ich folgten ihm wie zwei Hunde, sooft wir Zeit hatten, und bekamen auf diese Weise einen guten Einblick in alles, was sich im Kirchspiel zutrug. Außerdem wurde unseren unkundigen Köpfen allerlei nützliches Wissen eingetrichtert. Johan hing sehr an Papa, und seine Bewunderung für Mama konnte er nicht verbergen. Wenn sie in seine Nähe kam, atmete er mit Wohlbehagen den leisen Parfümduft ein, der sie immer umgab, und hinterher sagte er zu Kerstin und mir in höchster Anerkennung: »Sie riecht wie eine ganze Apotheke!«
Einmal hackte er sich in den Finger, und Mama nahm ihn mit in ihr eigenes kleines Zimmer, um die Wunde zu verbinden. Er blieb auf der Schwelle stehen, tat einen tiefen Atemzug und sagte: »Hm, hier riecht es nach Weihrauch und Myrrhen!«
Trotz seiner fünfzig Jahre war Johan Junggeselle und gedachte es zu bleiben, sagte er, »solange sein Verstand ihn nicht im Stich ließe«.
»Mein Sprichwort lautet folgendermaßen«, sagte Johan: »Es ist nicht gut, dass der Mann allein sei, aber es ist besser.«
Sorgen könne man trotzdem genug bekommen, ohne verheiratet zu sein, sagte er zu Olle, der auch Junggeselle war, aber nicht eine Minute länger in diesem Zustand bleiben wollte, wenn es ihm gelänge, Edith zu überreden, mit ihm zum Pastor zu gehen. Leider war Edith sehr widerborstig. Sie wollte nicht übereilt heiraten, und schließlich hatte sie ja auch noch mehr Bewerber als nur Olle. Auf Blomkulla war ein Knecht, der Olles schlimmster Rivale war, und Olle sagte, er würde ihn totschlagen, sobald er Zeit dazu hätte. Da war es vielleicht günstig, dass Olle genauso wie alle anderen auf Lillhamra stets die Hände voller Arbeit hatte. Immer war alles Mögliche zu tun und immer geschah irgendetwas.
Eines Tages bekam die Stute Sickan ein Füllen, ein reizendes, goldbraunes kleines Wunder mit samtweichem Maul, das ganz plötzlich und ohne weiteres auf unsicheren Beinen neben Sickan stand, als wir eines Morgens in den Stall hinauskamen. An einem anderen Tag bekam die Kuh Audhumbla eine Euterentzündung. Es geschahen also nicht nur erfreuliche Dinge. Man musste sofort den Tierarzt holen lassen. Er kam und hatte es furchtbar eilig und musste eine Zitze schneiden. Ferm und Johan halfen die Kuh halten, und Kerstin und ich standen in einiger Entfernung und sahen zu. Aber gerade im entscheidenden Augenblick ließ Johan los, und der Tierarzt wurde furchtbar wütend. Er beschimpfte Johan, dass mir vor Mitleid das Herz richtig wehtat, und ich dachte, er müsse jetzt sehr traurig sein. Als der Tierarzt fertig war, war es eine Weile still.
Dann aber wandte Johan sich zu Ferm und fragte höflich und leise: »Hast du gehört, was er gesagt hat? Ich habe es nicht gehört!«
Kerstin und ich, wir beide hatten immer Angst, dass die Tiere irgendwie krank würden, denn dann wurde Papa immer so besorgt und traurig. Ich glaube, er hätte mit Freuden irgendeine Krankheit auf sich genommen, wenn nur die Tiere gesund wären. Aber das waren sie nicht immer. Wir bekamen nacheinander mehrere Kälber, die fast unmittelbar danach starben, und Papa trauerte, als wäre sein eigenes Fleisch und Blut dahingegangen. Damit nicht noch mehr Kälber an diesem geheimnisvollen Übel sterben sollten, verschrieb der Tierarzt zwei verschiedene Arten Arznei für alle neugeborenen Kälber. Eine Arznei, die dem Kalb einige Stunden nach der Geburt eingeflößt werden sollte, und eine andere, mit der es eingerieben werden musste. Es erwies sich als eine gute Behandlung. Die Kälber blieben am Leben, und Papa jubelte. Doch nach einiger Zeit kamen wir dahinter, dass Ferm, der zwar rechtschaffen war, aber nicht gerade zu den Schnelldenkern gehörte, die Arzneien vertauscht und den Kälbern die Arznei eingeflößt hatte, mit der sie eingerieben werden sollten, und umgekehrt. Nach diesem Vorfall habe ich meinen Kinderglauben an die tierärztliche Kunst nicht so recht wiedergefunden.
Und dann hatten wir eine große, dicke Sau, die sich auch in den Kopf gesetzt hatte, sich zu vermehren und die Erde zu bevölkern. Da diese gefühllose Mutter in früheren Fällen so grausam gewesen war, die eigenen Jungen totzubeißen, musste sie Tag und Nacht bewacht werden. Johan, Ferm und Olle saßen in den letzten Nächten vor der Niederkunft abwechselnd bei ihr, aber sie mussten tagsüber ja ihre schwere Arbeit tun, sodass Kerstin und ich uns anboten, bei der Sau zu wachen. Wir saßen eine ganze Nacht im Schweinestall, und da brachte sie doch wahrhaftig elf hellrosa Ferkel zur Welt, als wir gerade lebhaft darüber diskutierten, ob lackierte Fingernägel eigentlich wirklich hübsch wären oder nicht. Wir retteten die Ferkel vor der gierigen Schnauze der Sau, indem wir sie hinter ein Holzgitter legten, worauf die enttäuschte Mutter sich auf die Seite legte und einschlief.
Alles wäre gut gewesen, wenn Papa nicht so viel Geldsorgen gehabt hätte. Es war sehr merkwürdig, wie viel es kostete, die Landwirtschaft in Gang zu bringen, und wie viel gekauft werden musste. Dabei war Lillhamra so ein kleiner Hof. Früher einmal war es das größte Gut in der Gegend gewesen, aber der Großvater und der Urgroßvater hatten viel Land an die umliegenden Bauern verkauft. Und da lag nun das arme verwahrloste Lillhamra, umgeben von großen, prächtigen Bauernhöfen, auf denen es Melkmaschinen und Traktoren und Garbenbinder und alles Mögliche gab, was wir nicht hatten und nicht kaufen konnten.
Wir hörten Papa zwar darüber klagen, dass zu viel Geld verbraucht würde, aber wir gewöhnten uns schließlich so sehr daran, dass wir uns kaum noch darum kümmerten. Und im Lauf des Frühjahrs merkten Kerstin und ich, dass wir nichts Rechtes anzuziehen hatten. Wenn ich die Milch zur Molkerei fuhr, sah ich jeden Tag in Lövbergs Manufaktur- und Modengeschäft ein Paar wirklich schicke, dunkelblaue Tischlerhosen aus Manchestersamt, die sicher für kühle Sommerabende ganz hervorragend waren. Einen neuen Blazer konnte ich mir auch gut vorstellen. Und außerdem musste man ja zwei, drei Sommerkleider haben. Um Papa nicht zu erschrecken, beschlossen wir, es zunächst mit den Hosen zu versuchen.
Wir gingen eines Abends zu ihm und erklärten ihm ohne lange Vorreden, dass es jetzt die rechte Zeit sei, zwei Paar herrliche Hosen aus blauem Manchestersamt für den lächerlichen Preis von 28 Kronen pro Stück zu kaufen. Papa sah uns stumm an. Dramatisch, wie Hamlet in der Todesszene, zog er die Brauen in die Höhe und zeigte uns eine Rechnung über Kunstdünger. Es war eine hohe Rechnung, und so etwas wirkte ja auf jeden niederschmetternd. Da kam man und bat in aller Freundlichkeit um ein Paar blaue Tischlerhosen, und dann wurden einem stattdessen 7000 kg Kunstdünger ins Gesicht geschleudert. Beleidigt zogen wir uns zurück. Wir fühlten uns schlecht behandelt, und in den nächsten Tagen waren wir ziemlich schlecht gelaunt und unwillig bei der Arbeit.
Eines Abends aber, als wir in Kerstins Zimmer saßen, kam Mama herein. Sie brachte uns Milch und belegte Brote, und wir hatten plötzlich das Gefühl, sehr hungrig zu sein. Während wir aßen, sagte Mama:
»Kerstin und Barbro, wie würdet ihr es finden, wenn wir wieder in die Stadt zögen?«
Wir hörten vor lauter Schreck auf zu kauen. In die Stadt zurück? Was meinte sie? Das wollten wir auf keinen Fall.
»Lieber sterben«, sagte Kerstin.
»Ja, aber denkt doch, wie vieles ihr bekommen könntet, was wir euch nicht geben können, wenn wir Lillhamra halten wollen. Zum Beispiel Manchesterhosen.«
Kerstin und ich sahen sie verlegen an.
»Ihr müsst begreifen«, fuhr Mama fort, »dass wir jeden Groschen umdrehen müssen, wenn wir dies Unternehmen, auf das wir uns eingelassen haben, durchhalten wollen.«
Kerstin und ich rutschten auf unseren Stühlen hin und her. Nie war der entsetzliche Gedanke in unserem Kopf aufgetaucht, dass wir vielleicht gezwungen werden könnten, Lillhamra zu verlassen.
Aber Mama war noch nicht fertig. Sie sagte, wir würden die Erfahrung machen, dass es im ganzen Leben so sei, dass man nicht alles bekommen könne. Man müsse verzichten und sich bescheiden lernen. Man müsse auf das verzichten, was weniger nötig sei, um das zu bekommen, was nötiger sei, und in diesem Augenblick sei Lillhamra für uns alle das Allernötigste.
Kerstin und ich nickten zustimmend. Und dann beschämte Mama uns noch mehr durch die Bemerkung, dass sie und Papa wohl gemerkt hätten, dass wir in den letzten Tagen träge und arbeitsunlustig gewesen seien. Und sie sagte, es genüge nicht, nur auf irgendetwas zu verzichten. Es gäbe noch etwas, was fast noch wichtiger sei, und das sei die Arbeit. Nur wer arbeite und die Arbeit lieben gelernt habe, könne jemals glücklich sein, sagte sie.
»Außerdem«, sagte Mama, »können wir auf eure Arbeitskraft für Lillhamra ganz einfach nicht verzichten. Wir können es nur behalten, wenn wir uns alle richtig ins Geschirr legen, vergesst das nicht.«
Der Schlusssatz ihres Vortrags war ziemlich überraschend. »Übrigens sollt ihr die Hosen bekommen«, sagte sie, »weil ihr tüchtig gewesen seid. Und jetzt gute Nacht!«
Es dauerte eine Weile, bis Kerstin und ich uns wieder erholten. Wir starrten uns über unsere Milchgläser hinweg mit düsteren Mienen an, obwohl uns die Hosen versprochen worden waren. Wir fühlten uns beschämt, wenigstens ging es mir so. Aber da fiel mir glücklicherweise ein, dass Mama gesagt hatte, wir seien tüchtig gewesen und unsere Arbeitskraft sei so furchtbar nötig für Lillhamra, und ich sagte zu Kerstin:
»Ist ja toll, wie man sich hier für seinen alten Vater abrackert!«
Da erhellte sich Kerstins Gesicht, und die Schatten aus unseren Mienen verschwanden.
Ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich Lillhamra zum ersten Mal sah. Es war ein Märztag mit lauen Winden, in den Gräben stand Tauwasser und in der Luft war etwas wie früher Frühling. Wir kamen im Auto von dem kleinen Ort, der einige Kilometer von Lillhamra entfernt liegt. Dieser Ort stellt für uns den äußersten Vorposten der Zivilisation dar. Dort kaufen wir unseren Kaffee und unsere Seidenstrümpfe, und dorthin fahren wir, wenn unsere Sehnsucht nach Windbeuteln mit Schlagsahne überhand nimmt.
Der schmale, gewundene Weg führte durch einen Wald, der direkt aus einem Märchenbuch zu stammen schien. Und die ganze Zeit ging es bergauf. Es türmte sich ein Hügel nach dem anderen vor uns auf, und einer war immer noch höher als der andere, und schließlich musste ich Papa wirklich fragen, ob Lillhamra oberhalb oder unterhalb der Baumgrenze läge. Aber mit Papa war nicht zu reden. Er saß vorgebeugt im Auto und starrte auf ein fernes Ziel. Nur dann und wann warf er eine kurze Bemerkung hin: »In diesem Tümpel wäre ich beinahe einmal ertrunken, als ich klein war.« Oder: »Diesen Berghang bin ich einmal runtergerutscht. Dabei habe ich mir die Hosen zerrissen.« Und: »Von dieser Esche habe ich die Rinde abgeschält, als ich zehn Jahre alt war. Da habe ich von Großvater Prügel bekommen.«
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Papa ausgesehen hatte, als er dies alles tat; aber es ging nicht. Ich sah ihn zwar vor mir, wie er in der Esche herumkletterte und den Berg hinunterrutschte, aber der da kletterte und rutschte, war allemal ein ziemlich dicker Major mit einer Andeutung von grauen Schläfen, und das sah sehr komisch aus. Auf jeden Fall war es aber nett zu wissen, dass der eigene Vater hier einmal herumgelaufen war, und ich empfand etwas wie Zärtlichkeit für die Esche, von der er die Rinde geschält hatte.
Allmählich wich der Wald zurück, und zu beiden Seiten des Weges waren Laubbäume und Felder, auf denen gerade der letzte Schnee schmolz. Schließlich fuhren wir durch eine Allee hochstämmiger Pappeln, und ich sah, wie Papa vor Spannung förmlich erstarrte. Dann hielt das Auto mit einem Ruck an, und hier lag nun sein fernes Ziel. Hier lag Lillhamra. Ich nahm das Bild mit allen Sinnen in mich auf. Ein niedriges, weißes, einstöckiges Gebäude mit kaputtem Dach. Viele kleine Fensterscheiben, die im Schein der sinkenden Sonne wie Feuer flammten. Zwei Flügelgebäude. Und hoch über dem Dach des Hauses reckten zwei mächtige Linden ihre kahlen Kronen in den Frühlingshimmel.
Ich wagte nicht, Papa anzusehen, denn ich wusste, dass er Tränen in den Augen hatte, und das ist für mich das Schlimmste. Aber merkwürdigerweise war ich tatsächlich auch etwas gerührt, und mir war irgendwie, als wäre ich heimgekommen. Ich glaube, Kerstin empfand ungefähr das Gleiche, denn sie zwinkerte so merkwürdig mit den Lidern.
Was Mama fühlte, zeigte sie nicht. »Wir sind am Ziel«, sagte sie nur und stieg aus dem Auto.
»Ja«, sagte Papa, »hier bleiben wir, bis wir auf den Friedhof umziehen.«
Am Tor stand ein kleiner, dicker Mann von etwa fünfzig Jahren mit flachsgelbem Haar und freundlichen hellblauen Augen. Papa stellte ihn uns vor, und er gab uns allen die Hand. Er hieß Johan Rosenkvist und war eine Art Großknecht auf dem Hof. Ich wusste damals noch nicht, dass er einer meiner allerbesten Freunde werden würde. Wir begrüßten auch die übrigen Leute, einen Stallknecht von bescheidenem Aussehen – er hieß Ferm –, seine Frau, die viel energischer aussah, und die Kinder, von denen es etwa ein Dutzend zu geben schien. Außerdem war ein Jungknecht da, der vergnügt und rotbackig aussah und Olle hieß. Vater hatte alle Leute vom Pächter übernommen. Außerdem hatte er »eine der prächtigen Jungfrauen des Dorfes«, wie er sagte, als Hausmädchen angestellt. Sie hieß Edith und war am selben Morgen angekommen, um die Öfen zu heizen und bei unserer Ankunft den Kaffee bereitzuhaben.