Cover

Steve Alten

2012

Die Prophezeihung

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Martin Ruf

DANKSAGUNG

Mit Stolz und voller Hochachtung danke ich all den Menschen, die zum Abschluss von 2012 – Die Prophezeiung und zum anhaltenden Erfolg der gesamten 2012-Serie beigetragen haben.

Zuerst und vor allem gilt mein Dank den großartigen Mitarbeitern von Tor-Forge, besonders Tom Doherty und seiner Familie, meinem Lektor Eric Raab, seiner Assistentin (und jetzigen Lektorin) Whitney Ross und dem Künstler Seth Lerner. Dankbarkeit und Hochachtung gelten ebenso meinem persönlichen Lektor Lou Aronica im Fiction Studio (laronica@fictionstudio.com), dessen Ratschläge von unschätzbarem Wert waren, sowie meinem literarischen Agenten Danny Baror von Baror International für seine Freundschaft und seinen Einsatz. Auch danke ich seiner Assistentin Heather Baror-Shapiro.

Ein ganz besonderes Dankeschön geht an Dr. Steven Greer, dem ehemaligen Leiter der Abteilung für Notfallmedizin am Caldwell Memorial Hospital in North Carolina und Gründer und Direktor von CSETI und dem Disclosure Project, der mir großzügigerweise gestattete, mehrere Passagen aus seiner unglaublichen Pressekonferenz zu zitieren, die am 9. Mai 2001 im Nationalen Presseclub in Washington, D.C., stattfand. Ich empfehle jedem, seine Website auf www.DisclosureProject.org zu besuchen und sich die gesamte Pressekonferenz anzusehen. Wie immer gilt mein Dank Erik Hollander (www.HollanderDesignLab.com), dem Gestalter des Originalcovers, sowie dem forensischen Künstler William McDonald (www.alienUFOart.com), der die grafischen Darstellungen im Buch gestaltet hat.

Ein herzliches Dankeschön geht an den brillanten Jack Harbach O’Sullivan, der mich wissenschaftlich beraten hat; an meine Freundin, die Webmistress Leisa Coffman, für ihren unermüdlichen Einsatz und an die Herausgeberin Barbara Becker, die ebenfalls unermüdlich für das Adopt-An-Author-Programm arbeitet.

Meiner Frau Kim und meinen Kindern Kelsey und Branden danke ich für ihre Liebe und Toleranz in den langen Stunden, die meiner Karriere als Autor gewidmet sind – und schließlich danke ich meinen Lesern und Fans, die diese Serie mit Leben erfüllt haben … und hoffentlich noch über das Jahr 2012 hinaus erfüllen werden. Bloße Worte können meine Dankbarkeit nicht ausdrücken.

 

Herzlichst,

 

STEVE ALTEN
www.SteveAlten.com

ZUM AUTOR

Steve Alten wurde in Philadelphia geboren. Der Sportmediziner und Hobby-Paläontologe wurde mit seinem Debütroman Meg – Die Angst aus der Tiefe praktisch über Nacht zum Bestsellerautor. Steve Alten lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Boca Raton, Florida.

Besuchen Sie den Autor im Internet unter www.stevealten.com

EPILOG

»Wenn die Macht der Liebe die Liebe zur Macht überwindet, wird die Welt Frieden finden.«

 

JIMI HENDRIX

 

 

 

 

Evelyn Mohr öffnet die Augen. Die Welt hat sich in einen schwindelerregenden Wirbel verwandelt, am ganzen Körper spürt sie ein Kribbeln. Einen Augenblick lang fürchtet sie, ein Blitz habe sie getroffen, doch dann erinnert sie sich.

Das Kreuzfahrtschiff … das Loch im Atlantik!

Sie liegt auf der Seite in einer so undurchdringlichen Dunkelheit, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen sehen kann. Zwar hört sie, wie andere Menschen seufzen und stöhnen, aber sie hat keine Ahnung, wo sie ist. Mit der Hand tastet sie suchend über den Teppichboden, bis sie ihre SmartBrille gefunden hat. Sie versucht, Kontakt zu ihrem Mann Dave aufzunehmen, empfängt aber nichts als weißes Rauschen.

Die SmartBrille zurechtschiebend, schaltet sie die getönten Linsen aus und die Nachtsichtfunktion ein. Die zuvor so kompakte Dunkelheit verwandelt sich in einen olivgrünen Korridor, in dem sich mehrere Passagiere in Badekleidung befinden. Die meisten liegen in kleinen Gruppen zusammengedrängt bewusstlos auf dem Boden. Nur wenige setzen sich auf. Sie sind desorientiert; ihre Augen strahlen ein nächtlich silbernes Funkeln aus.

Evelyn sieht sich im Korridor um und entdeckt die stählerne Luke, die nach draußen führt. Mit zitternden Beinen drückt sie sich hoch, schiebt die wasserdichte Luke auf und stolpert hinaus auf eines der privaten Sonnendecks des Schiffs.

»Oh mein …«

Die Sonne ist schon lange untergegangen. Am nächtlichen Himmel erstrahlen Sternenkonstellationen, Nebulae und ferne Spiralgalaxien so klar wie auf Bildern des neuesten Satellitenteleskops. Im Norden erkennt sie Jupiter; der Planet ist so groß wie der irdische Mond, seine eigenen Monde funkeln wie Diamantstaub. Im Osten befindet sich Saturn, und jenseits davon Neptun – ein stahlblauer Punkt, der teilweise von den Eisringen des Uranus verdeckt wird.

Dann entdeckt sie eine Bewegung am Himmel – zwei kleine Monde. Einer der beiden steht direkt über ihr, der andere bewegt sich ungewöhnlich schnell und sinkt in rasendem Tempo zum tintendunklen Ozeanhorizont hinab.

»Wo zum Teufel sind wir?«

»In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.«

Sie sieht den groß gewachsenen Adonis mit dem langen, dunklen Haar und dem Körper eines Bodybuilders an der Reling stehen. Im Mondlicht leuchten seine Augen azurblau.

Evelyn geht auf ihn zu. »Sie sind Annas Freund. Der Mann, der mich gerettet hat.«

»Julian. Und Sie sind Evelyn, die Frau von Dave Mohr.«

Ihr Herz rast. »Hat Lilith Sie geschickt?«

»Meine Mutter hat mich geschickt. Sie können mir vertrauen. Ich bin ein Freund.«

»Was ist mit uns passiert?«

»Das Kreuzfahrtschiff wurde von einem Wurmloch aufgesaugt. Die Tatsache, dass wir uns in seiner Öffnung befanden – sozusagen in seinem Portal –, hat ein raum-zeitliches Paralleluniversum geschaffen.«

»Sie klingen wie mein Mann.«

»Ihr Mann existiert nicht mehr. Und er wird auch in den nächsten 127 Millionen Jahren noch nicht geboren werden.«

»Was?« Ihre Kehle schnürt sich zusammen. Andere Passagiere kommen auf die beiden zu. »Wie ist so etwas möglich?«

»Sehen Sie sich um. Das ist nicht die Erde, Evelyn. Das ist der Mars – zu einer Zeit, als der Rote Planet grün war und eine Atmosphäre besaß … unmittelbar vor der großen Katastrophe.« Plötzlich hält er inne. Sein Blick schweift aufs Meer hinaus. »Sie haben uns entdeckt. Alle zurück ins Schiff!!«

Die versammelte Menge schiebt sich wieder nach hinten in den Korridor. Evelyn hält sich an Julian fest, um nicht mitgerissen zu werden, und erhascht einen kurzen Blick auf die entsetzlichen echsenartigen Kreaturen, die vor ihnen über die Steuerbordwand gekrochen kommen. »Wer sind Sie? Sagen Sie mir die Wahrheit. «

»Mein Name ist Julian Agler Gabriel. Meine Freunde nennen mich Jag. Wie meine Mutter Sophia bin ich ein reinblütiger Hunahpu.«

»Warum sind Sie hier?«

»Ich bin hier, um die Zukunft der Menschheit zu sichern. «

Er zieht sie ins Innere des Schiffs und sichert die Luke hinter ihnen, als mehrere Exemplare der marsianischen Raubtierrasse ihren Angriff auf die Paradise Lost starten und am westlichen Horizont erneut Phobos erscheint, der in orangeroter Glut am fremdartigen Nachthimmel aufleuchtet.

1

2047 (35 Jahre nach dem vorhergesagten Weltuntergang)

16. April 2047
Atlantischer Ozean
107 Seemeilen nordwestlich der
Bermudas (Bermuda-Dreieck)

 

 

Mit einer Wasserverdrängung von 130 000 Tonnen durchpflügt das Kreuzfahrtschiff Paradise Lost die tiefblauen Wogen des Atlantik, wobei seine Doppelschrauben eine Kielspur von einer Viertelmeile Länge hinter sich herziehen. Der Ozeanriese besitzt einen sechsunddreißig Meter hohen Aufbau, der in dreizehn Passagierdecks unterteilt ist; seine Antriebstechnik besteht aus Komponenten der hoch entwickelten, umweltverträglichen NiCE-Systemreihe. Als Ersatz für die alten Dampfturbinen, die einst fast einen Liter Treibstoff benötigten, um das Schiff ganze vier Meter weit voranzutreiben, nutzen die modernen Turbinen die Energie aus der Primärphase des NiCE-Systems, einer Fünf-Megawatt-Solaranlage. Auf dem Oberdeck befindet sich der Wasserturm, der eine Fläche von über dreihundert Quadratmetern in Anspruch nimmt und von siebzehn rotierenden Solarspiegeln umgeben ist. Wenn Sonnenlicht auf die Spiegel fällt, wird die gebündelte Hitze zum Turm und dessen eingebautem Boiler geleitet; dabei steigt die Innentemperatur auf 455°C. Der so entstehende Dampf wird dazu benutzt, die Zwillingsturbinen im Maschinenraum anzutreiben, die die Schiffsschrauben in Bewegung setzen.

Die Sekundärphase des NiCE-Antriebssystems wird aktiviert, sobald das Schiff Fahrt aufgenommen hat. Die Schornsteine, durch die einst Abgasschwaden in die Luft geschleudert wurden, hat man durch Windturbinen ersetzt. Während der Ozeanriese sich fortbewegt, fangen die hohen, wie die Umrisse riesiger Glühbirnen geformten Turbinenblätter den niemals abreißenden Wind auf und verwandeln die kinetische Energie in genügend Elektrizität, um jedes Gerät an Bord des schwimmenden Hotels zu versorgen.

Wie alle Kreuzfahrtschiffe ist die Paradise Lost vor allem zum Vergnügen und zur Entspannung der Passagiere da. Im Inneren des gewaltigen Gefährts ergänzen Virtual-Reality-Suiten mehrere Fünf-Sterne-Restaurants, Shows auf Broadway-Niveau und Casinos. Sechs Decks im Freien sind für die sogenannten »Hydro-Freizeitaktivitäten« gedacht, in deren Zentrum zwei Wasserfälle stehen, die einen sanft dahintreibenden Fluss aufwirbeln, sowie Stromschnellen und Snack-Buchten mit offenen Büfetts.

Für Gäste, die es gerne etwas ruhiger haben, gibt es »intelligente Liegestühle«, die um eine Lagune herum aufgestellt wurden, sowie abgeschiedene Bereiche, zu denen nur Erwachsene Zutritt haben. Die Liegestühle schweben zwanzig Zentimeter über einem gitterförmigen Boden, der ein magnetisches Levitationskissen (Maglev) erzeugt; sie sind nicht nur luxuriös, sondern verhindern auch, dass der Passagier seekrank wird. Rollen und Roboterfinger innerhalb des Mikrofasermaterials der Stühle bieten alles – von einem sanften Kneten bis zu einer Shiatsu-Tiefenmassage. Wenn man den »Körperspritzer« des Liegestuhls bedient, kann man sich mit einer Wolke aus reinem Wasser abkühlen, dem sich gegen einen kleinen Aufpreis ein vitaminreiches Pflegemittel zusetzen lässt. (Sonnenschutzcremes sind überflüssig, seit ein Jahrzehnt zuvor das sogenannte »Body Dipping« entwickelt wurde, das Hautschäden durch Sonneneinstrahlung verhindert.)

Für die 2400 Passagiere an Bord der Paradise Lost ist die achttägige Kreuzfahrt von Fort Lauderdale zu den Bermudas kein verlorenes, sondern ein wiedergefundenes Paradies.

 

Die Privatdecks um die Delfinlagune sind bis auf den letzten Platz belegt. Fünfhundert Passagiere räkeln sich auf den Liegestühlen, nicken ein und kommen wieder zu sich, während sie darauf warten, zur ersten Mahlzeit des Abends gerufen zu werden.

Jennifer Ventrice liegt auf dem Rücken, den Kopf der Abendsonne zugewandt. Ihr Liegestuhl befindet sich zwischen der Steuerbordreling und dem träge vorbeiströmenden Fluss. Die Dreiundsiebzigjährige, die aus Brooklyn stammt, sieht sich einen Opti-Vision-Film an, der auf das Innere ihrer an den Seiten geschlossenen Smart-Brille projiziert wird. Trotz des alle Sinne ansprechenden Komforts ist Jennifer nervös. Es ist jetzt vierzehn Jahre her, dass sie und ihr Ehemann gezwungen waren, aus den Vereinigten Staaten zu fliehen, und obwohl ihr Pass und ein in ihren Körper implantierter Smart-Chip ihre neue Identität bestätigen, weiß sie, dass die Feinde ihres Mannes großen Einfluss und andere, weniger konventionelle Mittel haben, um sie beide aufzuspüren.

Entspann dich, Eve. Du hast es bereits problemlos durch die internationalen Checkpoints in London und Miami geschafft. Die Sicherheitskontrollen auf den Bermudas sollten eigentlich kein …

Nein! Sie kneift die Augen zusammen, und die Bewegung, mit der sie sich heftig zur Ordnung ruft, sorgt dafür, dass der Film unterbrochen wird. Ich heiße Jennifer, nicht Eve. Jennifer … Jennifer!

Sie schaltet den Film aus und ist für einen Augenblick vom Sonnenlicht geblendet, das vom Ozean reflektiert wird, bevor die Smart-Linsen die Tönung neu eingestellt haben. Das war ganz allein Daves Schuld. Warum hatte er ihr nicht erlaubt, in ihrer neuen Identität auch weiterhin ihren wirklichen Vornamen zu benutzen? Hatte er denn nicht begriffen, wie schwierig es für sie war, wenn sie – sobald sie an sich selbst dachte – sich etwas anderes als den Namen »Eve« vorstellen musste?

Zum tausendsten Mal denkt sie an das entscheidende Datum zurück, an den 25. November 2033, als Evelyn Mohr aufgehört hatte zu existieren – an jenen Tag, als Lilith Mabus ihren Mann und alle, die ihnen beiden nahestanden, ins Exil gezwungen hatte. Die energische Witwe des Milliardärs Lucian Mabus war damals erst zwanzig Jahre alt gewesen und hatte sich schnell und entschlossen zur Vorstandsvorsitzenden von Mabus Tech Industries und dessen weltraumtouristischem Projekt gemacht – des Projekts HOPE. Innerhalb weniger Monate hatte Lilith ihren neu gewonnenen Einfluss in Washington ausgenutzt und Präsident John Zwawa dazu gebracht, ihrem Konzern die Kontrolle über Golden Fleece zu sichern, eines Geheimprojekts der NASA, das von Evelyns Mann Dave geleitet worden war.

Was Lilith Mabus in Wahrheit suchte, war der Zugang zu Nullpunktenergie, einem Warp-Antriebssystem, das von dem außerirdischen Raumschiff benutzt worden war, das man im Jahr 2013 geborgen hatte. Lilith hoffte, diese Technologie für ihre Shuttles nutzen zu können, die zur Marskolonie flogen.

Doch stattdessen hatte sie ihren lange verloren geglaubten Seelengefährten Jacob Gabriel gefunden.

Jacob und sein Zwillingsbruder Immanuel hatten vor einigen Jahren ihren angeblichen Tod öffentlich inszeniert. Doch zuvor hatte Jacob, berauscht von Liliths Pheromonen, jenen einen Akt begangen, vor dem ihn sein Vater ausdrücklich gewarnt hatte: Er hatte mit seiner schizophrenen Hunahpu-Cousine geschlafen.

Am 25. November 2033 hatten Jacob und seine Mutter an Bord des außerirdischen Raumschiffs die Erde verlassen, wobei Immanuel Gabriel mit seinen beiden Leibwächtern sowie die Mohrs als Flüchtlinge vor MAJESTIC-12 und Lilith Mabus zurückblieben. Evelyn Mohr hatte eine neue Identität angenommen, pflichtgemäß die Rolle der stets tatkräftigen, hilfsbereiten Ehefrau gespielt und sich nacheinander in Kanada, Mexiko, Honduras und Peru niedergelassen, während ihr Mann Jacobs dunkelhaarigen Hunahpu-Zwilling, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen war, auch weiterhin beriet und förderte.

Vor sechs Jahren hatte Evelyn erklärt, dass sie genug von diesem Leben habe. Zwar verstand sie, dass Manny etwas Besonderes war, doch sie sehnte sich danach, irgendwo Wurzeln zu schlagen und eine geregelte Existenz zu führen, eine Vorstellung, die der auf der Erde zurückgebliebene und noch immer von Wut und Angst erfüllte Zwilling geradezu verabscheute. Dave gab schließlich nach und war damit einverstanden, seinen Protegé der Obhut der beiden Leibwächter zu überlassen, damit er und Eve ihre letzten Tage in Frieden zubringen konnten.

Sigerfjord ist eine der vielen Hundert Inseln, die der Küste Norwegens vorgelagert sind. Sie besitzt kaum Verbindungen zum Festland und wird nur selten von mehr als achthundert Menschen bewohnt; der Ort war so entlegen, dass er sich sogar außerhalb der Reichweite von Lilith Mabus’ langen Armen zu befinden schien. Rasch gewann Dave das Vertrauen der örtlichen Gemeinschaft, indem er eine schadhafte Turbine in Sigerfjords Erdwärmekraftwerk reparierte, während Jennifers juristische Erfahrung ihr dabei half, einen einträglichen Posten in einem Anwaltsbüro zu finden.

 

Evelyn Mohr späht unter dem Rand ihrer Smart-Brille hindurch und erhascht einen Blick auf eine junge Frau, die sich ohne Bikini-Oberteil auf dem Liegestuhl direkt neben ihr ausgestreckt hat. May Foss war die Tochter ihres Arbeitgebers und der Liebling ihres Vaters. Sie stammte von der Nachbarinsel Gjaesingen. Zum Abschluss ihres Jurastudiums hatte Mays Vater seiner Tochter und ihrer besten Freundin Anna Reedy zwei Wochen Urlaub an einem beliebigen Ort auf der Welt versprochen, wobei er für alle Kosten aufkommen würde. Die beiden Vierundzwanzigjährigen hatten sich für Miami entschieden.

Der Unternehmer hatte unter einer Bedingung zugestimmt: Jennifer, Foss’ amerikanische Assistentin, sollte die beiden begleiten.

Natürlich hatte Dave protestiert, doch die Bitte ihres Chefs abzulehnen hätte möglicherweise ihren Arbeitsplatz gefährdet. Weil sie eine gute Stelle hatte und es riskant gewesen wäre, schon wieder umzuziehen, hatte die ehemalige Mrs. Evelyn Mohr ihre Reisetasche gepackt und ihrem Mann versichert, dass es keine Probleme geben würde.

Nach sechs Jahren in Norwegen war die Hitze in Südflorida geradezu himmlisch.

»May? May, wo bist du?«

May setzt sich auf und winkt ihrer Freundin. »Hier.«

Anna Reedy eilt durch den Gang. Die Wangen der dunkelhaarigen italienischen Schönheit sind vom Laufen gerötet. »May, ich bin verliebt.«

»Schon wieder?«

Evelyn lächelt still in sich hinein, als sie hört, wie sich die beiden jungen Frauen unterhalten.

»Er heißt Julian. Er ist groß, fast zwei Meter, mit langen, braunen Haaren und dem Körper eines griechischen Gottes. Und diese Augen …«

»Wie alt ist er?«

»Neunundzwanzig. Und er ist Single. Er reist zusammen mit einem Freund.«

»Hast du den Freund gesehen?«

»Nein. Warum? Sie wollen dich treffen. Dich auch, Jen.«

Evelyns Haut kribbelt. »Mich? Warum mich?«

»Ich habe ihm unser Foto gezeigt. Das, wo wir drei in South Beach sind, und er hat mich gebeten, dich ihm vorzustellen.«

May tippt Evelyn mit dem Ellbogen in die Seite. »Vielleicht mag der griechische Gott ja ältere Frauen.«

Fubitch! Lilith hat Bilder von uns in jeden Winkel der Welt geschickt – und das Versprechen einer saftigen Belohnung noch dazu. Was ist, wenn …

»Bleibt hier. Ich hole ihn.«

»Anna, warte!« Evelyn will ihr gerade nachgehen, als sie das Summen des Telefons hört, das in ihre SmartBrille integriert ist. Sie tippt auf die Steuerung neben ihrer rechten Schläfe und nimmt das Gespräch an. David Mohrs leberfleckiges Gesicht lässt den östlichen Horizont des Atlantiks verschwinden. »Jen, wo zum Teufel bist du? Laut meinem GPS bist du irgendwo im fukabitching Bermuda-Dreieck.«

Sie muss lächeln, als sie hört, wie ihr Mann versucht, beim Fluchen den aktuellen Slang zu benutzen. »Beruhige dich, Erik. Die Mädchen wollten eine Kreuzfahrt machen. Und das hieß entweder die Bermudas oder Kuba.«

»Auch das noch. Na ja, du hast die richtige Wahl getroffen. Kuba, unfassbar! Schon beim kleinsten Verstoß gegen die Verkehrsregeln verlangen die Behörden dort eine Stuhlprobe von dir.«

»Ich werde dich nicht fragen, woher du das weißt. Vermisst du mich?«

»Sehr.«

»Weißt du, was ich vermisse?«

»Jennifer …«

»Ich kann mir nicht helfen. Wieder in Florida zu sein … das warme Wetter … die Palmen …«

Ohne Vorwarnung wird das Schiff plötzlich heftig durchgeschüttelt, als sei es auf Grund gelaufen. May stößt einen Schrei aus, als sie wie Hunderte andere Passagiere umgerissen wird. Alle sehen sich verwirrt und verängstigt um.

»Ein Zusammenstoß?«

»Werden wir sinken?«

Dave Mohr schreit, um die Aufmerksamkeit seiner Frau wiederzugewinnen. »Jen, was ist los? Stimmt was nicht?«

»Ich weiß nicht. Es fühlte sich so an, als seien die Maschinen plötzlich blockiert. Vielleicht sind wir auf etwas … Ahhh!«

Auch diesmal gibt es keine Vorwarnung, als sich der Ozeanriese nach Backbord neigt. Rundum schreien Passagiere, und auf dem sich neigenden Deck krachen Hunderte schwebende Liegestühle ineinander wie konzentrische Kreise umkippender Dominosteine.

Evelyn taumelt nach vorn und stürzt gegen die Steuerbordreling. Passagiere rutschen kreuz und quer über das schräg stehende Deck, als das Schiff eine abrupte Kursänderung vollführt.

Nach einem beängstigend langen Augenblick liegt das Schiff wieder eben im Wasser und folgt seinem neuen Kurs – in Richtung Westen.

May hilft Evelyn auf die Beine. »Jennifer, was passiert da gerade?«

»Ich weiß es nicht. Such Anna.«

Die junge Frau streift ihr Bikini-Oberteil über und rennt los.

Eve konzentriert sich wieder auf ihren Mann. Dave erscheint in dem Glas vor ihrem rechten Auge. Hektisch macht sich der Physiker an den interaktiven Projektionen seines Computers zu schaffen, der Satellitenbilder des Ozeanriesen frei im Raum um ihn herum durch die Luft schweben lässt.

»Dave, was ist los? Warum haben wir unseren Kurs geändert? War das ein Tsunami? Oder eine Monsterwelle?«

»Keine seismische Aktivität. Keine verräterischen Kräuselungen im Wasser. Keine anderen Schiffe in der Umgebung. Ich habe keine Ahnung, wie …« Der Wissenschaftler hält inne. Sein ohnehin bleiches Gesicht wird noch fahler. »Oh Gott, was ist denn das?«

 

Robert Gibbons jr. stürmt auf die Brücke. Der Kapitän, der ziemlich mitgenommen aussieht, verlangt Antworten. »Mr. Swartz, berichten Sie!«

Der Erste Offizier Bradley T. Swartz beugt sich völlig verblüfft über seine Navigationsanzeigen. »Sir, das waren wir nicht. Es sieht so aus, als sei das Schiff von irgendeiner verrückten Strömung gepackt worden.«

Kapitän Gibbons sucht mit seinem Fernglas die Oberfläche des Atlantiks ab, die inzwischen schäumt wie ein rasch dahinströmender Fluss.

»Captain, der Kompass verhält sich völlig chaotisch. Null Grad liegt jetzt … im Westen.«

»Was?«

»Sir, der Aussichtsposten hat etwas entdeckt! Ihre sofortige Anwesenheit ist erforderlich.«

Gibbons verlässt eilig die Brücke und klettert eine schmale Wendeltreppe aus Stahl zum Ausguck hinauf. Ein Matrose hat das dort angebrachte Fernrohr ausgerichtet. Seine Augen sind angsterfüllt. »Es befindet sich eine Meile entfernt direkt vor unserem Bug, Sir. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

Der Kapitän drückt sein rechtes Auge an das Gummipolster des Okulars. »Oh mein Gott …«

Es ist keine Strömung und kein Malstrom; es scheint nicht mehr und nicht weniger zu sein als ein Loch mitten im Ozean. Der dunkle Abgrund hat einen Durchmesser von mehreren Meilen. Der Atlantik stürzt in seine Tiefen wie in dreihundertsechzig Grad umfassende Niagara-Fälle. Der Strudel saugt das umgebende Meer in sich hinein – und mit ihm die Paradise Lost.

Der Kapitän betätigt die Gegensprechanlage. »Ändern Sie den Kurs! Vierzig Grad auf das Steuerbordruder! «

Ohne auf eine Bestätigung zu warten, stürmt er die Wendeltreppe zur Brücke hinab. »Mr. Swartz?«

»Führen Kursänderung durch, Sir.«

Gibbons starrt in Richtung Bug. Nun mach schon, dreh ab!

Der Ozeanriese wendet sich nach rechts, stößt jedoch sofort auf Widerstand. Das ganze Schiff wird durchgeschüttelt. Es kann den Gravitationskräften, die hier im Spiel sind, nichts entgegensetzen.

»Keine Veränderung, Sir.«

»Alle Maschinen stopp. Volle Kraft zurück!«

»Volle Kraft zurück, aye.«

Die Schiffsschrauben kommen zum Stillstand, und der Bug wendet sich wieder nach Backbord. Gibbons richtet sein Fernglas auf die massive Anomalie, die jetzt nur noch siebenhundert Meter entfernt ist. Ihr Rand zieht sich über den gesamten Horizont, und dahinter stürzt alles … ja, wohin eigentlich?

Die Paradise Lost erzittert, als die beiden Zwillingsschrauben ihre Rotationsrichtung ändern und gegen den Griff ankämpfen, mit dem die See sie gepackt hat. Die Vorwärtsbewegung des Schiffes wird zwar langsamer, doch es kommt nicht frei.

Der Kapitän spürt, wie ihm das Herz in der Brust hämmert. »Mr. Halley, senden Sie SOS. Informieren Sie die Küstenwache, dass wir Rettungshubschrauber brauchen. Warnen Sie alle Schiffe in der Umgebung davor, sich in dieses Gebiet zu begeben.«

Der völlig überraschte Funker meldet mit krächzender Stimme: »Aye, Sir.«

Die Deckoffiziere treten an die Panoramafenster und starren angsterfüllt und ungläubig nach draußen. Nur wenige versuchen, ihre Angehörigen anzurufen – und müssen feststellen, dass sie keine Verbindung bekommen.

Zahllose Schreie formen sich zu einem Crescendo, als die Passagiere erkennen, was sich vor ihnen befindet.

Benommen und mit zitternden Armen und Beinen erreicht Kapitän Gibbons seinen Kommandositz, und ihm wird übel, als das 130 000-Tonnen-Schiff über den Rand eines Strudels der vierten Dimension kippt … und verschwindet.

 

In Evelyn Mohrs Bewusstsein verstummen die Schreie, und mitten in der plötzlichen Stille sieht sie das merkwürdig vertraute, kantige Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes. Eindringlich funkeln seine azurblauen Augen hinter seiner Sonnenbrille, und seinen mächtigen Armen gelingt es irgendwie, sie vom wegkippenden Deck hochzuheben und in das Schiff zu tragen. Sein muskulöser Körper widersteht den Kräften der Physik und jenem Sekundenbruchteil der Schwerelosigkeit, bevor die entfesselten Gravitationskräfte wieder einsetzen und jede Zelle ihres Körpers zerrissen und in alle Richtungen verstreut wird.