Handelnde Personen

Yvolar

ein alter Druide

Alphart

ein Wildfänger

Leffel Gilg

ein Bauer aus dem Unterland

Erwyn

Ventars Erbe

Urys

ein Zwerg

Mux

ein Kobling

Rionna

Prinzessin von Iónador

Calma

ihre Zofe

Galfyn

Häuptling des Falkenclans

Herras

sein Waffenmeister

Barand

Marschall von Iónador

Alwys

König der Zwerge

Gaetan

Bürgermeister von Seestadt

Walkar

ein Bärengänger

Fyrhack

der letzte Feuerdrache

Kaelor

ein Eisriese

Lorga

Anführer der Erle

Klaigon

Fürstregent von Iónador

Éolac

sein Seher

Muortis

Herrscher des Eises

36

Die Nachricht, was Yvolar der Druide in des Königs Zauberspiegel gesehen hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Glondwarac, und ebenfalls die Kunde, welche Bewandtnis es mit dem Menschenjungen auf sich hatte, der all die Jahre unter den Zwergen gelebt und unter ihnen aufgewachsen war.

Bislang waren nur wenige in das Geheimnis eingeweiht gewesen, doch nun wussten es alle. Und genau wie Yvolar es vorausgesagt hatte, wurde eine Vollversammlung einberufen im ehrwürdigen Hort der Kristalle.

Für Erwyn änderte sich damit alles: Wenn er bislang durch die Stollen der Zwergenfestung gewandelt war, hatte man ihm kaum Beachtung geschenkt. Auf einmal jedoch begegnete man ihm mit bewundernden, wenn nicht ehrfürchtigen Blicken. Bei allem, was er bislang getan hatte, hatte er sich den Zwergen stets unterlegen gefühlt; weder war er kräftig genug für die Arbeit unter Tage, noch war er geschickt im Umgang mit Hammer und Meißel, und er verfügte auch nicht über die Fähigkeit der Zwerge, Edelmetalle und wertvolle Steine durch meterdicken Fels zu wittern. Und während sich die kleinwüchsigen Bewohner des Berges darin gefielen, Schätze anzuhäufen und sie in ihren Kammern zu horten, hatte sich Erwyn stets zu anderen Dingen hingezogen gefühlt, zu Dichtkunst, Musik und Gesang.

Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er stets versucht, den anderen Zwergen ebenbürtig zu sein, und wäre es nur, um seinen Ziehvater nicht zu enttäuschen. Je älter er jedoch wurde, desto deutlicher war ihm aufgegangen, wie hoffnungslos dies war. Erwyn hatte oft darüber nachgesonnen, wo sein Platz in dieser Welt sein mochte. Yvolar hatte ihm geholfen, diesen Platz zu erkennen – und wie sich herausstellte, brauchte Erwyn dafür kein Zwerg zu sein. Im Gegenteil schien alle Welt froh darüber, dass er anders war.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Erwyn nicht den Eindruck, sich für seine Körpergröße und seine für die Zwerge so sonderbaren Interessen entschuldigen zu müssen. Dieser Gedanke ermutigte ihn – auch wenn er die Gefahren, die vor ihm liegen mochten, nicht einmal ansatzweise erahnen konnte …

»Und du bist sicher, dass du es wirklich tun willst?«, fragte Yvolar ihn noch einmal, der mit ihm durch die Gänge mit den hohen Decken schritt.

»Nein«, antwortete Erwyn wahrheitsgemäß, »aber ich glaube nicht, dass ich mich meiner Verantwortung entziehen kann.«

»Kluge Worte.« Der Druide nickte. »Was hat dich zu dieser Einsicht gebracht?«

»Die Überzeugung, dass sich ein jeder von uns seiner Bestimmung stellen muss.«

»Hm«, machte Yvolar. Er blieb stehen und schaute dem Jungen prüfend in das blasse Gesicht. »Und zu dieser Überzeugung bist du ganz allein gelangt?«

Ein wenig verlegen schüttelte Erwyn den Kopf. »Ein Freund hat mir dabei geholfen.«

»Ein Freund, so so.« Um Yvolars Lippen spielte ein kaum merkliches Lächeln. »Ich verstehe.«

Yvolar und der Junge gingen weiter, dem Kristallhort entgegen, wo die Vollversammlung der Zwerge bereits auf sie wartete. Schon konnte man lautes Stimmengewirr hören, das von der hohen Kuppeldecke widerhallte. Erwyn hatte sich immer gewünscht, vor eine solch große Menge zu treten – allerdings als Sänger und nicht, weil er vom Schicksal dazu ausersehen war, die Welt zu retten. Noch immer hatte er den Eindruck, ein ganz normaler Junge mit ganz normalen Fähigkeiten zu sein, aber mit dieser Ansicht stand er wohl allein da. Die Zwergenkrieger jedenfalls, die ihn und den Druiden eskortierten und deren Kettenhemden bei jedem ihrer Schritte klirrten, schienen überzeugt, dass er der Auserwählte war, denn ihre Blicke, die ihn hin und wieder streiften, verrieten unverhohlene Ehrfurcht und Respekt.

Sie erreichten den Gang zum Kristallhort. Das Stimmengewirr schwoll an, und Erwyn wäre am liebsten umgekehrt. Yvolar bemerkte seine Unruhe und blieb noch einmal stehen, um sich dem Jungen zuzuwenden. Auch die Eskorte der Zwerge hielt an.

»Bereit?«, fragte der Druide.

Erwyn zuckte unsicher mit den Schultern. »Was erwartet mich, wenn ich dort hineingehe?«

»Im Kristallhord selbst nichts, aber in naher Zukunft Ungewissheit und Gefahr«, gab der Druide zur Antwort, »doch auch neue Freunde und Gefährten. Und wenn deine Mission erfolgreich sein sollte – unsterblicher Ruhm.«

Erwyn blickte verlegen zu Boden. »Noch vor ein paar Tagen habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als Glondwarac zu verlassen, um in der Welt dort draußen große Taten zu vollbringen. Und jetzt …«

»… würdest du am liebsten hierbleiben«, vervollständigte Yvolar wissend.

Erwyn blickte auf. »Woher wisst Ihr …?«

»Ein Narr wärst du, wenn es anders wäre«, sagte Yvolar zu Erwyns Verblüffung. »Ein wahrer Held sehnt sich nicht nach der Gefahr, und nur widerwillig nimmt er sie auf sich, wenn er muss. In deinen Adern, mein Junge, fließt vornehmes Blut. Danaóns Erbe – du magst es glauben oder nicht – ist in dir, und darum bist du derjenige, der die Mission zum Erfolg führen kann. Der Umhang, den du trägst, soll dich immer daran erinnern.«

Tatsächlich trug Erwyn einen wunderschönen Umhang von sattem Grün, dessen Borte mit goldenen Runenzeichen bestickt war. Nie hatte Erwyn ein vollkommeneres Gewebe gesehen; weder war es grob wie Wolle noch steif wie Leinen, sondern weich und geschmeidig, dabei aber offenbar von großer Festigkeit.

Alwys, der König der Zwerge persönlich, hatte es Erwyn überreicht. »Dies ist der Umhang des Sylfenkönigs«, hatte er mit feierlicher Stimme erklärt, als er Erwyn an diesem Morgen in dessen Kammer aufgesucht hatte. »Danaón legte ihn ab, ehe er in die Schlacht auf dem Korin Nifol ritt. Damals bat er Yvolar den Druiden, ihn aufzuheben, bis ein würdiger Nachfolger gefunden sei, und Yvolar brachte ihn nach Glondwarac. Ein würdiger Nachfolger bist du, Dochandar – und dieser Umfang gehört nun dir.«

Und damit hatte Alwys dem Jungen, der vor ihm niedergekniet war, den Umhang um die Schultern gelegt und ihn mit einer goldenen Fibel geschlossen.

Nun stand der Junge vor Yvolar dem Druiden und blickte an sich herab. Der Umhang umgab ihn wie eine schützende zweite Haut und verlieh ihm das Gefühl, größer und bedeutsamer zu sein. Der Gedanke, dass einst der König der Sylfen diesen Umhang getragen hatte, erfüllte ihn mit großem Stolz. Er atmete tief durch und straffte sich.

»Besser?«, fragte Yvolar lächelnd.

»Ich … ich denke schon.«

»Dann lass uns gehen, Sohn. Die Zeit drängt.«

Erwyn nickte, und gemeinsam betraten der Druide und sein Schützling die große Halle.

Dass im Hort der Kristalle Zusammenkünfte abgehalten wurden, war nichts Ungewöhnliches, aber erstmals seit langer Zeit war wieder eine Vollversammlung einberufen worden, zu der alle Einwohner Glondwaracs gekommen waren. Entsprechend voll war selbst das riesige Gewölbe mit den hohen Fenstern. Nicht nur rings um den Zwergenthron herrschte dichtes Gedränge, sondern auch auf den Rängen und Balkonen, die zwergische Steinmetzkunst aus dem Fels geschlagen hatte. Jeder Zwerg in Glondwarac hatte erfahren, dass große Ereignisse bevorstanden, und alle wollten dabei sein, ob Mann, Frau oder Kind, wenn sie ihren Anfang nahmen.

Erwyn konnte die Spannung, die in der Luft lag, deutlich spüren. Das allgegenwärtige Tuscheln und Flüstern, das Murmeln und Wispern erinnerte den Jungen an einen Bienenstock. Als der Druide und er jedoch in die Mitte des Ratsaales traten, verstummten die Stimmen schlagartig.

Erwyn spürte sein Herz bis in den Hals schlagen. Yvolar, dem die Unruhe des Jungen nicht verborgen blieb, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und führte ihn vor den Zwergenthron, auf dem König Alwys saß, die mit Edelsteinen besetzte Krone Glondwaracs auf der Stirn.

Bei ihm standen die Ältesten des Reiches – ehrwürdige Zwerge mit langen, bis zum Boden wallenden Bärten. Aber nicht nur Zwerge waren an diesem Tag unter Alwys’ Hofgesellschaft – auch zwei Menschen waren zugegen. Leffel Furr, den sie den Gilg nannten, war der eine, Alphart Wildfänger der andere. Während Leffel von der Gewalt des Augenblicks ebenso erschlagen schien wie Erwyn selbst, blickte Alphart gewohnt grimmig drein. Die Gegenwart all der Zwerge, aus deren Menge er wie ein Riese hervorstach, schien ihm unangenehm.

Entschlossenen Schrittes trat Yvolar vor, in die Säule aus blauem Licht, die schräg durch eines der hohen Fenster fiel. Erwyn schob er vor sich her, die Hand auf der Schulter des Jungen. Der Zwergenkönig erhob sich, und in einer Respekt gebietenden Geste breitete er die Arme aus, worauf es völlig still wurde im Hort der Kristalle.

»Freunde, Zwerge, Landsleute!«, wandte sich Alwys mit erhobener Stimme an sein Volk. »Nur selten in unserer Geschichte wurde eine Versammlung aller Zwerge an diesem Ort einberufen, und stets gab es dafür gute Gründe. Ein Besucher ist zu uns gekommen, dessen Namen jeder von euch kennt. Obwohl er keiner von uns ist, hatte sein Wort stets Gewicht im Hort der Kristalle, und ich möchte, dass ihr ihm aufmerksam zuhört. Das Wort hat der Wanderer, der unter zahlreichen Gefahren zu uns gekommen ist, um uns von alarmierenden Vorgängen zu berichten: Yvolar der Druide!«

Yvolar, der kein bisschen angespannt schien und sich unter den zahlreichen Blicken leicht und selbstsicher bewegte, bedankte sich beim Zwergenkönig für die Ansprache mit einem respektvollen Nicken. Dann breitete auch er die Arme aus und ergriff das Wort.

»Meine Freunde!«, rief er so laut, dass es von der hohen Kuppel widerhallte. »Lange liegt mein letzter Besuch bei euch zurück, doch stets war ich ein Freund und Verbündeter des Volks von Glondwarac. In Zeiten des Friedens haben wir die Tafel geteilt und Rubinwein getrunken, im Krieg Schulter an Schulter gegen den gemeinsamen Feind gekämpft. Dies ist der Grund, meine Freunde, weshalb ich hier und heute vor euch stehe: Denn der Feind, gegen den wir einst gemeinsam stritten und den wir längst besiegt glaubten, hat sich erneut erhoben.«

Hier und dort wurde erneut getuschelt, Bestürzung war in bärtigen Mienen auszumachen. Die Zwerge waren ein friedliebendes Volk und mochten es nicht, wenn in ihren Hallen laut und offen von Krieg gesprochen wurde – denn ein Krieg bedeutete, all das zu riskieren, was sie der Erde im Lauf von Jahrtausenden abgerungen hatten.

»Ich bin zu euch gekommen«, fuhr Yvolar fort, »weil ich dunkle Zeichen sah. Wäre es nur der vorzeitige Frost, der Allagáin bedroht, so wäre ich nicht beunruhigt, denn frühe Winter hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber das Wasser des Brunnen Aillagan hat sich blutrot verfärbt, und grässliche Kreaturen durchstreifen die Berge. Die Erle, unsere Feinde von alters her, haben die Klüfte von Dorgaskol verlassen, und eine Kreatur aus den Tiefen der Welt lässt die Gewässer des Grundmeers erstarren. All dies beweist, meine Freunde: Das Böse ist zurückgekehrt. Es ist nicht vernichtet, wie wir gehofft hatten, sondern wirkt noch immer. Muortis, der Herr der Finsternis und des Eises, hat die Zeit überdauert – und erneut greift er uns an.«

Nun war es mit der Ruhe im Saal vorbei. Obwohl die Zwerge inzwischen wussten, welches Grauen der weise Druide im Spiegel des Zwergenkönigs gesehen hatte, waren sie unter Yvolars Ausführungen zusammengezuckt. Ein Rauschen wie von prasselndem Regen ging durch die Halle, als allenthalben getuschelt und gemurmelt wurde.

»Ich weiß, ihr habt Angst«, sprach Yvolar dessen ungeachtet weiter, »und das solltet ihr auch. Als ich in des Königs Spiegel schaute, sah ich Muortis’ geheime Waffe und weiß nun, was er vorhat. Wie schon einmal will er die Welt in Kälte und Eis erstarren lassen und bedient sich dabei der tödlichsten Kreatur, die die Berge kennen – eines Eisdrachen.«

Das Gemurmel wurde lauter. Erwyn, der bei jedem Wort des Druiden ein Stück kleiner geworden war, weil er sich aus einem unerfindlichen Grund für all die Unruhe verantwortlich fühlte, blickte betroffen in die Runde, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.

Während die Züge von König Alwys unbewegt blieben und keine Gefühlsregung verrieten, zeigten sich die Ältesten sichtlich besorgt. Einige schauten betroffen zu Boden, andere hatten zorngerötete Mienen unter den Bärten, und einer, ein selbst für einen Zwerg recht gedrungener Zeitgenosse, dessen samtenes Gewand jedoch seine hohe Abstammung verriet, ballte wütend die Faust.

»Was fällt Euch ein, Druide?«, wetterte er. »Was fällt Euch ein, hierherzukommen und den Frieden des Kristallhorts zu stören mit Euren Schauermärchen?«

»Das sind keine Schauermärchen, Rat Ildrys«, widersprach Yvolar, der den Zwerg offenbar bestens kannte. »Unsere Annahme, dass sich Muortis’ böser Geist verflüchtigen würde, hat sich als irrig erwiesen. Er wirkt noch immer und will erneut Tod und Kälte über uns bringen. Mit Hilfe des letzten Eisdrachen lässt er das Grundmeer erstarren, und die Kälte breitet sich bereits im ganzen Lande aus. Sie sorgt für einen frühen Winter und treibt die Kreaturen der Dunkelheit aus ihren Löchern. Nicht mehr lange, und die Kälte wird die Seen und Flüsse erfassen und schließlich auch den Búrin Mar. Und wenn alles Wasser erstarrt und alles Leben vernichtet ist, werden ewiger Winter und immerwährende Dunkelheit über das Land kommen. Ich bin es nicht, der Euren Frieden stört, Rat Ildrys – Muortis ist es. An ihn richtet Eure Beschwerde, denn er will Euch vernichten, nicht ich.«

Ildrys wusste nichts darauf zu erwidern. Die Zwerge hatten bereits von dem drohenden Unheil gehört, dennoch war ihre Bestürzung groß, nachdem Yvolar ihnen die Gefahr noch einmal in so deutlichen Worten geschildert hatte. Noch einen Augenblick ließ er das Gesagte wirken, dann erhob er erneut die Stimme, so laut, dass sie bis zum letzten Rang hinauf zu hören war.

»Aber, meine Freunde«, sprach er, »es gibt auch Hoffnung! Glaubt nicht, dass wir der Bosheit Muortis’ schutzlos ausgeliefert sind. Denn dieser Junge, der lange Zeit unter Euch lebte« – er deutete auf Erwyn – »ist ein leibhaftiger Spross von Vanis’ Stamm!«

Alle Blicke richteten sich auf Erwyn, auch die Ältesten starrten ihn an, und es war leiser Zweifel in ihren Augen zu erkennen. Auf Alwys’ Zügen jedoch zeigte sich ein mildes Lächeln, das er dem Jungen schenkte, der sich sichtlich unwohl fühlte in seiner Haut. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen und hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Alwys’ Lächeln jedoch erinnerte ihn an Danaóns Umhang, den er trug und den der Zwergenkönig ihm am Morgen überreicht hatte, und seltsamerweise gab ihm dieses Stück Stoff wieder Mut …

»Vor langer Zeit«, erklärte Yvolar, »habe ich Dochandar zu euch gebracht, auf dass er hier heranwachse, im Schutz dieser ehrwürdigen Hallen, verborgen vor der Welt und geschützt in der Zeit dieser magischen Stätte. Ich wusste um seine Herkunft, und mir war klar, dass er, sollte sich das Böse irgendwann erneut erheben, unsere Hoffnung sein würde.«

Wieder war es der Älteste Ildrys, der seine Skepsis äußerte. »Dieser Grünschnabel soll ein Nachkomme Vanis’ sein? Er sieht nicht aus wie ein Sylf, sondern wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich für meinen Teil habe meine Zweifel, ob wirklich das Blut Ventars durch seine Adern fließt.«

Erneut war Gemurmel von den Rängen zu hören. Die meisten Zwerge kannten Erwyn von früher Kindheit an, und es fiel ihnen schwer zu glauben, dass jemandem, der unter ihnen gelebt hatte und so ganz und gar unbegabt war im Zwergenhandwerk, solch enorme Bedeutung zukommen sollte.

»Seid vorsichtig, meine Freunde!«, rief Yvolar ihnen mahnend zu. »Lasst euch nicht vom Offensichtlichen täuschen. Wisset, dass das Auge nicht alles zu sehen vermag. Ihr zweifelt an Erwyns Herkunft? Muortis tut es nicht. Wüsste er von seiner Existenz, so würde er nicht zögern, eine Horde Erle hierherzuschicken, um ihn zu vernichten, denn er ist derjenige, der euch retten kann.«

»Wie sollte Muortis das anstellen?«, fragte Ildrys forsch, dessen Skepsis noch immer nicht versiegt war. »Das Zwergenreich ist verborgen in der Zeit!«

»Glaubt Ihr denn, Rat Ildrys«, entgegnete der Druide, »dass Muortis’ dunkle Magie nicht stark genug wäre, Euren Zeitzauber aufzuheben?«

Ildrys verzog das bärtige Gesicht, bevor er seine nächste Frage vorbrachte: »Und wie sollen wir Muortis besiegen?«

»Indem wir Eis mit Feuer bekämpfen«, erwiderte Yvolar. »So wie Muortis den Letzten der Eisdrachen in seine Dienste genommen hat, so werden wir Hilfe beim Letzten der Feuerdrachen suchen.«

»Es gibt keine Feuerdrachen mehr!«, rief Ildrys überzeugt.

Yvolar schüttelte das kahle Haupt. »Ihr irrt Euch, Rat Ildrys. Zumindest einer der Drachen ist noch am Leben.«

»Wie ist sein Name?«

»Es ist Fyrhack der Mächtige!«, antwortete der Druide.

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, geisterte er wie ein Echo über die Ränge und wurde allenthalben respektvoll geflüstert.

»Fyrhack ist eine Legende!«, rief Ildrys. »Seit mehreren Menschenaltern wurde er nicht mehr gesehen. Und selbst wenn er noch am Leben wäre, so würde er uns wohl kaum zur Hilfe kommen. Denn es ist kein Geheimnis, dass Drachen nichts übrig haben für Menschen. Und für uns Zwerge erst gar nichts.«

Yvolar nickte. »Der Streit um die Schätze aus den Tiefen der Berge hat Drachen und Zwerge vor langer Zeit entzweit. Dennoch haben sie sich einst verbündet, um gegen einen gemeinsamen Feind zu ziehen. Und vergesst nicht, dass es weder ein Mensch noch ein Zwerg ist, der den Drachen um Hilfe bitten wird, sondern ein Erbe von Vanis’ Stamm. Ihm wird er sie nicht verwehren.«

»Schön und gut, Druide, aber weshalb erzählt Ihr uns das alles? Wenn es stimmt, was Ihr sagt, warum verlasst Ihr Glondwarac dann nicht einfach mit dem Jungen, damit er seine Aufgabe erfüllen und uns alle retten kann? Mir will scheinen, unsere Stadt schwebt seinetwegen in großer Gefahr.«

»Gern würde ich dies verneinen, aber ich fürchte, Ihr habt nur zu recht, Rat Ildrys«, gestand Yvolar ein. »Solange Muortis in Urgulroths dunklen Tiefen schlief, bestand keine Bedrohung für Glondwarac – seit er jedoch erwacht ist, wächst mit jeder Stunde, die verstreicht, die Gefahr, dass der Herr des Eises erfährt, welch für ihn gefährlichen Gast diese Hallen beherbergen.«

»Worauf wartet Ihr dann noch?«, schrie Ildrys. »Nehmt den Wechselbalg und bringt ihn an einen anderen Ort, ehe Ihr Tod und Vernichtung über uns alle bringt!«

Beifälliges Gemurmel auf den Rängen, hier und dort wurde auch mit gepanzerten Fäusten auf Stein geklopft, was unter Zwergen als Zeichen der Zustimmung galt.

»All die Jahre hat das tapfere Volk von Glondwarac den Jungen beschützt, wofür die Welt euch zu Dank verpflichtet ist«, sagte Yvolar mit lauter Stimme. »Aber ich fürchte, die Rolle, welche die Geschichte den Zwergen zugedacht hat, ist damit noch nicht erfüllt. Eine bewaffnete Expedition soll ausgerüstet werden, die Dochandar auf seiner Mission begleitet und ihn beschützt, wenn er sich zum Feuerdrachen begibt, um das Bündnis zu erneuern, das einst geschmiedet wurde.«

»Eine Expedition?«, wiederholte Ildrys. »Zwerge sollen die schützenden Mauern Glondwaracs verlassen und damit ihre magische Sphäre? Wozu? Wenn dieser Knabe dort tatsächlich ein Erbe Danaóns ist, wird er auf sich selbst aufpassen können, oder nicht?«

»Unabhängig davon, wessen Blut in seinen Adern fließt, ist er dennoch ein Junge und braucht unsere Hilfe«, entgegnete Yvolar und warf einen Blick in die Runde. »Dies ist die Bitte, die ich an das Volk der Zwerge richte. Unterstützt den jungen Dochandar bei seinem Auftrag und lasst uns Verbündete sein im Kampf gegen das Böse, so wie vor langer Zeit!«

Schweigen kehrte ringsum ein, und aller Augen richteten sich auf König Alwys. Jeder im Hort der Kristalle war gespannt darauf, was der Herrscher von Glondwarac auf die Bitte des Druiden erwidern würde. Jedoch ergriff Rat Ildrys erneut das Wort, noch ehe Alwys seine Entscheidung kundtun konnte.

»Bürger von Glondwarac!«, rief er entrüstet. »Ein Fremder kommt her und fordert uns auf, dass wir Opfer bringen für die Welt dort draußen, mit der wir nichts mehr zu schaffen haben, seit wir uns in diese Mauern zurückgezogen haben. Noch dazu einer, der unser Vertrauen missbrauchte, indem er uns über die Gefahr im Unklaren ließ, die in Gestalt dieses Jungen unter uns lebte. Wir Zwerge sind nicht erpicht auf einen neuen Krieg. Warum auch? Er hat unserem Volk nichts als Leid gebracht und uns große Opfer abverlangt. Daher haben wir beschlossen, uns fortan nur noch um unsere eigenen Belange zu kümmern. Ist es nicht so?«

Erneut erhob sich zustimmendes Gemurmel auf den Rängen, und auch einige Zwerge des Rats nickten.

»Ich weiß sehr wohl um die Opfer, die das Volk von Glondwarac dereinst gebracht hat«, versicherte Yvolar. »Aber vor diesem Feind gibt es kein Verstecken, auch nicht an dieser magischen Stätte. Er lässt es nicht zu, dass man sich heraushält. Man ist für ihn oder gegen ihn, eine andere Wahl lässt er auch dem Volk der Zwerge nicht. Die Welt verändert sich, meine Freunde, und die Veränderung wird auch vor diesen Mauern nicht Halt machen. Zudem tragt auch ihr Verantwortung für die Welt dort draußen, die ebenfalls die eure ist.«

»Du wirfst uns mangelnde Verantwortung vor?«, rief Ildrys aufgebracht. »Ausgerechnet uns, die wir im Krieg mehr Gefallene zählten als irgend sonst ein Volk?«

»Keineswegs!«, hielt Yvolar dagegen, und allmählich packte ihn die Wut. »Das Volk von Glondwarac hat stets gewusst, was es der Welt schuldig ist – denn der Reichtum in diesen Hallen wurde zu einem hohen Preis erkauft!«

Aufgeregte Rufe wurden laut, und nun war es nicht nur mehr Ildrys, der Einspruch erhob. Die Zwerge in ihrer Gier nach Schätzen waren es gewesen, die einst in den Tiefen das Böse geweckt hatten. Es war kein besonders diplomatischer Zug gewesen, sie mit so harschen Worten darauf hinzuweisen, aber der starrsinnige Widerwillen Ildrys’ hatte Yvolar bis aufs Äußerste erzürnt. In seinen Augen glomm eine wilde Wut, sein Gesicht war hart geworden, und er umklammerte den Eschenstab mit der Rechten so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Es war das erste Mal, dass Alphart und Leffel ihn so erlebten, und obwohl der Wildfänger in politischen Fragen alles andere als bewandert war, wusste er, dass etwas unternommen werden musste, um die Situation zu retten. Wie eine Flutwelle griff die Empörung im Rat und auf den Rängen um sich und drohte jede Vernunft zu ertränken. Selbst König Alwys versuchte vergeblich, sich Gehör zu verschaffen.

Ehe er selbst recht begriff, was er eigentlich tat, trat Alphart vor und rief: »Bürger von Glondwarac, hört mich an!«

Es war weniger die Stimme des Wildfängers als vielmehr seine eindrucksvolle Statur, die bewirkte, dass sich aller Blicke auf ihn richteten, denn an Körpergröße überragte Alphart selbst den Druiden. Zudem war es noch nie vorgekommen, dass ein Mensch im Kristallhort das Wort ergriff. Trotz ihrer Empörung waren die meisten Zwerge neugierig zu erfahren, was der Fremde aus Allagáin ihnen zu sagen hatte, und so verstummten sie. Selbst Yvolar und Alwys blickten den Wildfänger erwartungsvoll an.

»Ihr kennt mich nicht, und ich kenne euch nicht«, sagte Alphart in gewohnter Offenheit. »Wäre dieser Mann nicht« – er deutete auf Yvolar – »hätten wir uns wohl niemals kennengelernt, und vermutlich hätte keiner von uns das als großen Verlust empfunden. Aber das Schicksal hat es nun mal anders gewollt. Ja, das Schicksal – oder was auch immer. Jedenfalls bin ich hier. Ich bin hier, weil ich mich nicht aus meiner Verantwortung stehlen kann. Und ich meine … ja, ich meine, das könnt auch ihr nicht. Noch vor wenigen Wochen war ich ein einfacher Wildfänger, der in den Bergen auf die Jagd ging und nichts ahnte von der Gefahr, die unsere Welt bedroht. Dann jedoch änderte sich alles. Erle töteten meinen Bruder und zerstörten mein Heim, und Hilfe suchend klopfte ich an die Pforte Iónadors. Aber die Herren der Goldenen Stadt wollen nichts wissen von der nahenden Gefahr und ziehen es vor, sich selbst zu betrügen und zu belügen und die Augen zu verschließen vor der Wahrheit, bis es zu spät ist. Denn es sind Dummkopfe, Narren, die sich ihr eigenes Grab schaufeln. Doch dieser Druide dort« – erneut zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf Yvolar – »stellte sich an meine Seite. Ja, das tat er. Er tat es, um dem Feind die Stirn zu bieten, der uns alle vernichten will.«

Alphart schaute in die Runde und blickte in nachdenkliche bärtige Gesichter. »Ob der alte Mann weiß, wovon er spricht, kann ich euch nicht sagen«, fuhr er fort. »Er ist ein Zauberer, und als einfacher Mann halte ich nichts von Zauberei und Magie. Dennoch vertraue ich ihm, denn er und dieser Bursche hier« – diesmal deutete er auf Leffel – »sind die Einzigen, die genug Mut und Verantwortungsgefühl und wohl auch Verstand haben, etwas gegen den Feind und das drohende Unheil unternehmen zu wollen. In den letzten Tagen habe ich Dinge gesehen und erlebt, die ich nicht für möglich gehalten habe. Etwas lauert dort draußen. Etwas Unheimliches. Etwas Böses. Es hat meinen Bruder getötet, und ich habe geschworen, ihn zu rächen. Aus diesem Grund folge ich dem Druiden. Dass ihr ihm ebenfalls folgt, dazu kann ich euch nicht zwingen. Aber wenn dieser Junge dort« – diesmal richtete sich sein ausgestreckter Arm auf Erwyn