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Washington, D.C., zwölf Stunden später
Es war ein warmer, schwüler Freitagabend in der Hauptstadt. Der Himmel leuchtete orange, als die Sonne unterging, und die ersten Sterne tauchten am tiefblauen Firmament im Osten auf.
Die Rushhour war zu Ende, aber es herrschte immer noch dichter Verkehr, als die letzten Regierungsangestellten nach einer langen Arbeitswoche heimwärts fuhren. Reihe um Reihe langweiliger, funktionaler Limousinen, SUVs und gelegentlicher Luxuskarossen schob sich Stoßstange an Stoßstange über die Ausfallstraßen. Die Autos wirkten ebenso müde wie ihre Fahrer.
In der Mitte dieser trägen Prozession wechselte ein silberfarbener Sportwagen unaufhörlich die Spur, beschleunigte und bremste, rang um jeden Meter Raumgewinn wie ein Rennpferd, das in einer Herde eingepfercht war.
»Komm schon, nun fahrt endlich«, murmelte Ryan Drake und gab Gas, um sich vor einen GMC Yukon zu schieben, der versuchte, ihn zu blockieren. Der gestresst wirkende Bürohengst hinter dem Steuer warf ihm einen gereizten Blick zu.
Drake ignorierte die Missbilligung des anderen Fahrers und verließ den verstopften Freeway an der nächsten Ausfahrt. Dann gab er Gas und verlangte seinem Audi TT alles ab. Der schnelle deutsche Sportwagen reagierte zwar ein wenig hart beim Abbiegen, aber mit seinen zweihundertfünfzig PS unter der Haube machte er das auf den Geraden mehr als wett. Der 3,2-Liter-Sechszylindermotor heulte auf, als er mit Vollgas eine Reihe von Ampeln überfuhr, die gerade auf Rot umgesprungen waren.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stieß einen Fluch aus. Er würde zu spät zu seiner Verabredung kommen. Und dabei handelte es sich um einen Termin, bei dem Unpünktlichkeit nicht toleriert wurde.
»Sie wird mich umbringen. Das weiß ich genau.«
In dem Versuch, seine Gedanken von dieser unerfreulichen Aussicht abzulenken, schaltete er das Radio an. Sie brachten gerade Wirtschaftsnachrichten.
»Der Dow Jones ist heute Nachmittag wieder gefallen und schloss mit einem Minus von zweihundertfünfzehn Punkten. Die Analysten gehen angesichts der wachsenden Sorge vor Insolvenzen bei größeren Investmentbanken von einem weiteren größeren Kursverfall aus. Insgesamt ist der Dow Jones im Zeitraum von einem Jahr um mehr als zwanzig Prozent gefallen, und auf den europäischen Märkten herrscht ebenfalls Unruhe …«
Es gab zurzeit jede Menge solcher Berichte, und sie alle benutzten Ausdrücke wie »Subprime-Immobilienkrise« und »untragbare Schuldenlast«. Was derzeit vor sich ging, war selbst für all jene nachvollziehbar, die die komplexen Einzelheiten nicht verstanden. Die Wirtschaft entwickelte sich rasend schnell von schlecht zu beschissen und zu noch Schlimmerem, und niemand wusste, wie man dem Einhalt gebieten sollte.
Komisch, wie viele Dinge sich in einem Jahr ändern können, dachte Drake, während er an einer Kreuzung links abbog.
Kurz darauf fand er sich in einer Welt aus luxuriösen Vorstadthäusern, saftig grünen Rasenflächen und makellos polierten SUVs wieder. Die Wohnsiedlung machte den Eindruck, als wäre sie auf dem Reißbrett geplant worden, so als hätte Walt Disney sie entworfen.
Jeden zweiten Straßenblock passierte er ein schickes Café mit Rauchglasscheiben und Bistrotischen aus Edelstahl. Hier trafen sich für gewöhnlich Leute, die Brillen mit dicken Gläsern trugen und eine halbe Stunde damit zubrachten, ihr Haar so zu stylen, dass es aussah, als wären sie gerade aus dem Bett gekommen. Sie taten, als würden sie irgendetwas Wichtiges in ihre Laptops eingeben, während sie ihre Moccacinos schlürften.
Jetzt jedoch waren die Tische leer, und kaum ein Laptop oder eine Designerbrille waren zu sehen. Eines dieser Cafés hatte sogar die Rollläden heruntergelassen, so als würde es sich gegen einen aufziehenden Sturm wappnen.
Ryan schob diese Gedanken beiseite, bog an der nächsten Kreuzung rechts ab, legte den zweiten Gang ein und gab Gas.
Er erreichte sein Ziel eine Stunde und fünfzehn Minuten zu spät. Nach seinen Maßstäben war das nicht schlecht, aber für die Leute, die er treffen wollte, war das inakzeptabel.
Drake schaltete den Motor ab und stieg aus. Es war ein warmer Abend; das Zirpen der Grillen und das Summen anderer Insekten war zu hören. Winzige Fliegen surrten um ihn herum und umkreisten sich gegenseitig in trägen Spiralen, wie uralte Doppeldecker, die in einem endlosen Luftkampf um die höhere und damit bessere Position rangen. Vor einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hing die amerikanische Fahne an einem Mast, durchaus passend für dieses Viertel. Aber die Flagge bewegte sich kaum in der trägen Luft.
Drake holte tief Luft und sog den Duft von frisch gemähtem Rasen, Blumen, frisch gesägtem Holz und vor allem das rauchige Aroma von gegrilltem Fleisch ein.
Verbranntes Fleisch traf es vielleicht besser.
Drake hoffte sehr, dass ihn sein Geruchssinn narrte, und ging zügig die gepflasterte Einfahrt zur Haustür hinauf. Er klopfte. Niemand antwortete.
Er klopfte noch einmal, diesmal lauter, aber mit demselben Ergebnis.
»He, John! Ist da drin noch jemand am Leben?« Er hob seine Stimme ein bisschen, damit man ihn auch im Garten hinter dem Haus hören konnte.
Jetzt endlich wurde er mit einer Antwort belohnt.
»Komm doch hintenrum, mein Junge! Die Pforte ist offen!«
Drake sprang über einen Busch am Rand der Veranda, ging zu der kleinen Pforte im Zaun und öffnete sie.
Im Gegensatz zu John Keegans oft unordentlichem Aussehen war sein Haus ein schönes, gepflegtes Einzelhaus in Brookeville, einer kleinen Vorstadt etwa fünfzehn Meilen westlich der City von Washington. Der Ausdruck »Kleinstadt« hätte es ziemlich genau getroffen. Hier schlossen die Leute ihre Autos nicht ab, jeder kannte jeden, und man blieb auf ein Schwätzchen stehen, wenn man sich auf der Straße begegnete.
Drake bezweifelte, dass er selbst in all den Jahren, die er in seinem Haus wohnte, mehr als ein Dutzend Mal mit seinen Nachbarn gesprochen hatte.
Keegan hatte sein Haus billig ergattert, wie er mehr als einmal selbstzufrieden verraten hatte. Er hatte es auf einer Auktion erstanden, nachdem der vorige Besitzer gestorben war. Weder das leckende Dach noch die veraltete Elektrik oder die Tatsache, dass es seit zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden war, hatten ihn auch nur eine Sekunde von dem Kauf abhalten können.
Keegan war ein durch und durch praktisch veranlagter Typ. Er machte sich mit einer geduldigen Zuversicht, die Drake irgendwie an seinen Großvater erinnerte, an die Renovierung. Männer wie er gehörten einer anderen Generation an; einer Generation, die zu wissen schien, wie bestimmte Dinge erledigt werden mussten.
Aber das Haus spielte heute nur eine Nebenrolle. Keegans ganzer Stolz war der solide Grill aus Ziegelstein, den er sich nur zum Spaß auf der rückwärtigen Terrasse gebaut hatte. Und getreu seinen Südstaatenwurzeln war es ein Grill, der mit Holz betrieben wurde, und nicht etwa mit Propangas.
Laut Keegan war Gas etwas für Mädchen – echte Männer grillten mit Holz.
Für Drake machte das keinen großen Unterschied, aber vermutlich war sein Gaumen auch durch seine Zeit beim SAS ruiniert. Ihre Barbecues hatten sie mit Fässern veranstaltet, die sie der Länge nach aufgeschnitten und mit allem befeuert hatten, was brannte. Hatten sie Nachschubschwierigkeiten an Brennmaterial, war für gewöhnlich immer ein Kanister mit Benzin zur Hand, mit dem sie sich aushalfen.
Keegan stand mit einem albernen Grinsen an seinem Barbecue, eine Flasche Bier in der einen und eine Grillzange in der anderen Hand. Seine zottelige blonde Mähne bedeckte eine ausgefranste Baseballcap mit dem Logo der Carolina Panthers. Selbst sein buschiger Schnauzbart sah aus, als müsste er dringend getrimmt werden.
Seine Kochkünste konnten leider mit seinen unbestrittenen Fähigkeiten als Heimwerker nicht mithalten, und er schien das angeborene Bedürfnis zu haben, alles zu verbrennen, was irgendwann mal gelebt hatte.
»Nett, dass du uns Gesellschaft leistest, Junge«, bemerkte er. Aus irgendeinem Grund schien es ihn zu amüsieren, das Wort »Junge« mit seinem gedehnten Südstaatenakzent auszusprechen.
Keira Frost stand in sicherem Abstand von dem qualmenden Grill und war deutlich weniger subtil.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt, Ryan? Hast du unterwegs zu Abend gegessen?«
Drake zwang sich zu einem Lächeln und deutete mit einem Nicken auf den Grill. »Könntest du mir das verübeln?«
Natürlich gab es einen anderen Grund für seine Verspätung. Es war der gleiche Grund, weshalb er zu jeder Veranstaltung außerhalb der Arbeit zu spät kam, selbst wenn er nicht bereit war, das zuzugeben. Sich in seine Arbeit zu vergraben half ihm zu vergessen, was letztes Jahr passiert war.
Und es half ihm auch, die Frau zu vergessen, die dafür verantwortlich war.
Frost wirkte nicht sonderlich überzeugt und schien etwas erwidern zu wollen, als Keegan, der sensibel genug war, um das Thema nicht weiter zu vertiefen, auf die Blechwanne zu seiner Linken deutete. In dem Eiswasser schwammen Bierflaschen unterschiedlicher Marken. »Na, jetzt bist du ja hier. Schnapp dir ein Bier, Mann. Ich bin fast fertig.«
Drake lächelte und nahm sich ein Corona. Er wischte das Wasser von der Flasche, bevor er den Kronkorken öffnete. Eigentlich war ihm Peroni lieber, aber da seine Kehle trocken war und es reichlich Bier gab, wollte er sich nicht beschweren.
»Also was liegt an, John?« Frost trank einen Schluck aus ihrer Flasche. »Hast du auf dem Klo gesessen, als man uns beigebracht hat, wie man grillt, oder was?«
Der ältere Mann grinste. »Verflucht! Du brennst heute Nacht aber wirklich, Frost.«
»Die Burger da auch gleich, wenn du sie noch länger auf dem Feuer liegen lässt.«
Drake verfolgte das Wortgefecht zwischen seinen beiden Spezialisten mit einem Lächeln. Sie hatten in den letzten zwei Jahren ein Dutzend Operationen zusammen durchgeführt, und trotz ihrer Verschiedenheit hatte sich eine gewisse knurrige Zuneigung zwischen ihnen entwickelt.
Das war einer der Gründe, weswegen Keegan gelegentlich Barbecues veranstaltete, vor allem dann, wenn das Team gerade seinen Abschlussbericht abgegeben und damit eine weitere Operation abgeschlossen hatte. Es war wie eine Abschlussparty; etwas, womit man eine Operation definitiv ad acta legte.
Oder aber, in Keegans Fall, war es ein Vorwand, eine Flasche Tequila aufzumachen, damit die Welt wieder in Ordnung kam.
Keegan grinste, als er sich zu Frost herumdrehte. »He, das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen: Wie läuft’s mit deinem Auto?«
Selbst in dem dämmrigen Abendlicht konnte Drake sehen, wie Frost rot anlief. Die junge Frau hatte sich Anfang des Jahres einen alten, heruntergekommenen Ford Mustang gekauft, in der Hoffnung, ihn aufarbeiten zu können. Das letzte Mal, als Drake sich ein Herz gefasst und sie nach ihren Fortschritten gefragt hatte, hatte der gesamte Motorblock in Einzelteile zerlegt in ihrer Garage gelegen.
»Läuft ganz gut«, antwortete sie. Sie klang nicht sonderlich überzeugend.
Keegan hörte auf, die Burger auf dem Grill hin und her zu schieben. »Weißt du«, meinte er dann nachdenklich, »mein Daddy hat mal gesagt, man sollte Frauen niemals in die Nähe von Waffen, Autos oder Videorekordern lassen. Manchmal glaube ich, er war klüger, als er geahnt hat.«
Frost ließ sich nicht provozieren. »Ja, ich glaube, diese Haltung war in den Dreißigern ziemlich verbreitet, du weißt schon, damals, als du noch ein Kind warst.«
Drake setzte sich auf den Rand der hölzernen Terrasse, einer weiteren makellosen Konstruktion von Keegan, trank einen Schluck Bier, schloss die Augen und atmete dann langsam aus.
Nach einem Tag voll flimmernder Computerbildschirme, klingelnder Telefone und surrender Drucker war es eine Wohltat, an der frischen Luft zu sein und den Geräuschen der Welt ringsum zuzuhören.
»Hey.«
Drake öffnete die Augen, als Frost sich neben ihn setzte. Er zuckte zusammen und wappnete sich gegen einen weiteren verbalen Angriff. »Hör mal, Keira, wegen heute Abend …«
Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Du bist ja jetzt endlich hier. Das ist das Wichtigste.«
Drake hob eine Braue. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so nachsichtig zu sein. Ihre unerwartete Friedfertigkeit hatte ihn überrumpelt. Er fühlte sich unbehaglich, wusste nicht, was er sagen sollte, wollte aber auch nicht, dass das Gespräch einschlief.
Er erinnerte sich vage daran, dass sie gesagt hatte, sie wäre umgezogen, aber die Einzelheiten waren ihm entfallen. Wie eine halb ausgegorene Idee, die man schon lange aufgegeben hatte. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander aus Berichten, geheimen Dokumenten, Terminen und einem Dutzend anderer Probleme, die mit seiner Arbeit zu tun hatten und alles andere zu ersticken schienen.
»Also, wie läuft es mit deiner neuen Wohnung?«, fragte er auf gut Glück. »Bist du schon eingezogen?«
Das Zucken in ihren Augen sagte ihm, dass er einen Riesenfehler gemacht hatte. »Ryan, das war vor drei Monaten. Und es war meine Schwester, die umgezogen ist.«
Drake verließ der Mut. Er arbeitete fast jeden Tag mit diesen Leuten zusammen, verbrachte weit mehr Zeit mit ihnen als mit seiner eigenen Familie, und doch kam es ihm in Momenten wie diesem vor, als würde er sie kaum kennen. Er war heute Abend auch nur deshalb hier, weil Frost in sein Büro gestürmt war und sich geweigert hatte, es wieder zu verlassen, bevor er sein Kommen zugesagt hatte.
Sie hatte vorgegeben, nicht alleine unter Keegans Essen leiden zu wollen, aber er hatte ihre eigentlichen Beweggründe gespürt. Sie wollte, dass er Kontakt zu ihnen hielt und sich auf etwas anderes konzentrierte als nur auf seine Arbeit.
Es war ein tapferer, aber vergeblicher Versuch.
»Tut mir leid, Keira.« Er trank einen Schluck Bier, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Ich bin im Moment in meinen Gedanken vollkommen woanders.«
In Wahrheit war er mit seinen Gedanken an einem einzigen Ort, und zwar im Irak. Nachdem seine eigenen Leute Jagd auf ihn gemacht hatten und er einmal um die halbe Welt gereist war, hatte er eine Verschwörung und Korruption aufgedeckt, die fast bis zur Spitze der Agency reichte.
Dann hatte sich alles in Luft aufgelöst. Der einzige Mann, der ihnen hätte helfen können, war exekutiert worden, während all jene, die hinter der ganzen Sache gesteckt hatten, nicht nur überlebt, sondern sogar Karriere gemacht hatten. Drake selbst war nur am Leben, weil sein Freund Dan Franklin einen Deal für ihn eingefädelt hatte. Er hatte im Austausch für sein Schweigen Drakes Sicherheit erkauft.
Drakes Leben hing jetzt an einem seidenen Faden; er konnte die Agency nicht verlassen, wusste aber, dass sein Glück ihn eines Tages durchaus verlassen könnte. Er wusste jetzt, wie Damokles sich bei jenem Bankett gefühlt haben musste, als er versuchte, seine Mahlzeit zu genießen, während ein großes blutiges Schwert über seinem Kopf hing.
»Kann passieren.« Frost schwieg einen Moment und dachte über irgendetwas nach. Vielleicht wog sie aber auch nur gerade ab, ob jetzt der richtige Moment für das war, was sie zu sagen beabsichtigte. »Darf ich dich etwas fragen?«
Er sah sie an. Was kam jetzt? »Seit wann fragst du vorher um Erlaubnis?«
»Warum setzt du dich selbst so unter Druck?« Sie klang todernst.
Drake zögerte. Keira Frost war geradeheraus und hatte keine Angst, ihre Meinung zu äußern. Aber es sah ihr nicht ähnlich, plötzlich tiefschürfende Gespräche zu führen.
»Du hockst in diesem Büro und arbeitest Gott weiß wie lange«, fuhr sie fort. »In der realen Welt machst du kaum etwas. Ich meine, verdammt, ich musste dir praktisch eine Pistole an die Schläfe setzen, damit du heute Abend hierherkamst. Ist meine Gesellschaft so übel?«
»Ich berufe mich auf mein Recht, die Aussage zu verweigern«, erwiderte er in der Hoffnung, die Stimmung ein wenig aufzulockern. Aber er merkte rasch, dass das vergeblich war. Sie hatte nicht vor, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. »Hör zu, es liegt einfach daran, wie es gerade bei der Arbeit läuft …«
»Ryan, es wird immer viel zu viel Arbeit geben, wenn du das so willst.«
Drake vermied sorgfältig ihren Blick. »Ich nehme an, du willst damit auf irgendetwas hinaus«, erwiderte er schließlich. Er wünschte sich, er würde nicht so klingen, als wollte er sich verteidigen.
»Du verausgabst dich völlig«, erwiderte sie schlicht. »Als würdest du versuchen, dich zu bestrafen oder irgendetwas zu beweisen. Aber was es auch ist, es ist nicht gut.«
»Für wen?«
»Für niemanden. Wenn du erschöpft bist und ausgelaugt, dann denkst du nicht logisch, was bedeutet, dass du unser Leben aufs Spiel setzt, wenn wir das nächste Mal im Feld sind.« Sie sah ihn scharf an. »Und auch wenn ich es nicht gern sage, ich mache mir Sorgen um dich. Ich will nicht erleben, dass du einem Burn-out zum Opfer fällst. Das hast du nicht verdient.«
Jetzt endlich drehte sich Drake herum, um sie anzusehen. Seine grünen Augen schimmerten im Schein der Glühbirnen ringsum.
Aber bevor er antworten konnte, summte das Handy in seiner Tasche. Aus alter Gewohnheit nahm er es heraus und warf einen Blick auf das Display.
Der Anrufer war George Breckenridge, der verantwortliche Officer für das Shepherd-Programm der CIA und Drakes unmittelbarer Vorgesetzter. Der Mann, der diesen Posten zuvor innegehabt hatte, Dan Franklin, war letztes Jahr zum Direktor der Special Activities Division befördert worden. Er hatte ein Machtvakuum hinterlassen, das gefüllt werden musste.
Drake hatte mittlerweile kaum noch Kontakt zu seinem ehemaligen Freund.
Und er hatte keine andere Wahl, als den Anruf anzunehmen. Wenn in der Agency an einem Freitagabend nach Feierabend der Boss anrief, war es wenig wahrscheinlich, dass er gute Neuigkeiten hatte.
Diesmal war Drake die Ablenkung jedoch nur recht.
»Ja, George?«
Breckenridge war wie immer barsch und kam gleich zur Sache. Er hatte keine Lust, sich mit Fußvolk wie Drake abzugeben, und versuchte auch nicht, das zu verbergen. »Sie müssen herkommen. Wo sind Sie?«
»Brookeville. Bei Keegan. Warum, was ist los?«
»Es gibt hier etwas, wozu wir Ihre Meinung hören wollen.«
Das sagte ihm gar nichts. Was ihn allerdings auch nicht überraschte. Sie sprachen über eine offene Leitung, und auch wenn Drake bezweifelte, dass die Russen oder Chinesen jedes seiner Telefonate abhörten, gab es Regeln. In der Geschichte der CIA war mehr als ein Operative – wie ein Agent im internen Sprachgebrauch der CIA genannt wurde – durch ein leichtsinniges Telefonat über eine ungesicherte Verbindung aufgeflogen.
»Wie dringend ist es denn?«
»Sorry, habe ich den Eindruck gemacht, es handelte sich bei meinem Anruf um eine Einladung zum Abendessen?« Breckenridge bemühte seinen herablassendsten Tonfall. »Wir wollen, dass Sie und Ihr Team vor fünf Minuten hier hereingeschneit sind. Irgendwas unklar?«
Nicht zum ersten Mal stellte Drake Franklins Wahl seines Nachfolgers ernsthaft infrage. Was auch immer der Auswahlprozess für diese Position war, er war sichtlich nicht geeignet, Arschlöcher auszuschließen. »Alles vollkommen klar.«
»Gut. Wir sehen uns in Konferenzraum eins in dreißig Minuten.« Er legte auf, ohne noch etwas zu sagen.
»Wichser«, sagte Drake leise, als er aufblickte.
Frost betrachtete ihn argwöhnisch. »Ärger im Paradies?«
»SNAFU, wie unsere Cousins von der Marine so gerne sagen.«
Sie nickte wissend. SNAFU bedeutete: Situation normal, alles fucked up.
»Was wollte er denn?«
Drake setzte die Bierflasche an und leerte sie in einem Zug. »Die gute Nachricht lautet, dass du zumindest heute Abend Keegans Burger entkommst.«