Das Buch

Bis zu seiner Verhaftung Mitte der neunziger Jahre galt Andreas Marquardt als einer der brutalsten und gefährlichsten Zuhälter in der Berliner Halbwelt. Im Gefängnis vertraut er sich einem Therapeuten an und spricht erstmals offen über das, was er in seiner Kindheit durchleiden musste: Der Vater war ein sadistischer Schläger, der die Familie früh im Stich ließ, und von der Mutter wurde er jahrelang systematisch sexuell missbraucht. Obwohl diese seelischen Wunden sicher nie ganz verheilen werden, hat Andreas Marquardt es geschafft. Er brachte die Kraft auf, sich dem Einfluss der Mutter zu entziehen, und mit Hilfe einer Therapie die extrem traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit zu verarbeiten und so den Weg zurück ins Leben zu finden.

Seine Geschichte ist der erschütternde Bericht über eine gestohlene Kindheit, ein extremes Leben im Berliner Rotlichtmilieu und eine schwierige, allmähliche Läuterung. Heute unterrichtet Andreas Marquardt in einem Sportstudio in Neukölln voller Enthusiasmus Kinder in Karate und engagiert sich für zahlreiche soziale Projekte.

Die Autoren

Andreas Marquardt, geboren 1956, war ein international anerkannter Kampfsport-Champion und über zwei Jahrzehnte lang Zuhälter in Berlin. 2003 wurde er nach insgesamt acht Jahren aus der Haft entlassen und ist heute zusammen mit seiner langjährigen Lebensgefährtin in einer Sportschule in Berlin-Neukölln tätig.

Jürgen Lemke, geboren 1942, Diplom-Sozialpädagoge und Psychotherapeut, arbeitet seit 16 Jahren bei der Berliner Beratungsstelle »Kind im Zentrum« (KiZ). Er hat Andreas Marquardt während der Haft als Therapeut begleitet und seine Geschichte aufgeschrieben. Jürgen Lemke ist Autor von mehreren Büchern (Ganz normal anders, 1988; Hochzeit auf Dänisch, 1992 und Verloren am anderen Ufer, 1994) sowie Texten fürs Theater.

Andreas Marquardt

mit Jürgen Lemke

HÄRTE

Mein Weg aus dem

Teufelskreis der Gewalt

Ullstein

Für Marion

Inhalt

1  Ich bin keine Puschmütze!

2  Ein Bett für mich allein

3  Silvia, Petra und Judith

4  Häng nicht wie ein Mehlsack!

5  Ich mach dich zur Hure, du merkst das nicht!

6  Ganz ohne Frauen geht es nicht

7  Sehnsucht

8  Dienst beim Beerdigungsfuhrwesen

9  »Max, der Taschendieb«

10  In jedem Mann steckt ein bisschen vom Freier

11  Aufbau Ost auf dem Straßenstrich

12  So eine wie Mutter

13  Cholera oder Pest?

14  Die Abrechnung

15  Wieder in Freiheit

Ich bin keine Puschmütze!

1 Es gab Plätze in der Wohnung, die ich mit Vater verband. Dazu gehörten ein Stuhl am Wohnzimmertisch und unser Balkon, von dem man auf die Straße schauen konnte. Familienbesuch nannte er seine Auftritte. Er kam in die Wohnung, und gleich war dicke Luft. Meistens ging es um Unterhaltszahlungen, das leidige Dauerthema zwischen meiner Mutter und ihm. Vater führte sich auf wie ein Schwein.

Ich war noch klein, als er Mutter und mich verließ, und ich erinnere mich nicht, dass er mit uns zusammen gewohnt hat. Was er bei seinen Besuchen abzog, war der reinste Terror. Wie soll man das sonst nennen, wenn ein Vater versucht, aus seinem eigenen Sohn einen Krüppel zu machen? Nein, nein, nicht im Suff, er war stocknüchtern. Mutter, Großmutter und Großvater haben mir das bestätigt, und zwar unabhängig voneinander. Seine gewalttätigen Exzesse zog er bei klarem Verstand durch.

Ich bin sechs, da zerquetscht er mir die rechte Hand. Er poltert in unser Wohnzimmer, ich verdrücke mich in eine Ecke, ich will ihm nicht die Hand geben. Von seinem Stuhl am Wohnzimmertisch pfeift er mich heran wie einen Hund:

»Komm her, gib deinem Vater wenigstens die Hand!«

Achtung, denke ich, wieder dicke Luft! Ich strecke ihm meine Hand entgegen und laufe ganz vorsichtig auf ihn zu. Er drückt die Hand – noch ist alles normal –, ich halte gegen, ganz leicht, und flüstere: »Guten Tag, Vati.« Ich ahne schon etwas.

»Na wat denn«, blafft er mich an. »Fass mal zu hier, ick denk, du bist Sportler. Na, drück schon, bist doch ’n Kerl, Mann, oder biste ’ne Memme, ’ne Pfeife, ’ne Puschmütze? Wat biste denn, bist ja wie’n Mädchen.«

Und dann drückt er zu.

An die zwei, drei Minuten liegt meine Hand in einem Schraubstock, und der Schraubstock schließt sich Millimeter für Millimeter.

Mir schießen die Tränen in die Augen.

Ich flehe ihn an:

»Meine Hand! Bitte nicht! Du zerquetschst meine Finger!«

Ich winde mich wie ein Aal, ich beiße in seinen Oberschenkel, alles umsonst. Er lässt sich nicht erweichen, er presst und presst, dabei hat er dieses fiese Grinsen im Gesicht.

Den Schmerz vergesse ich nie. Ich brülle wie am Spieß: »Meine Hand, meine Hand!«

Endlich kann Mutter ihn von mir wegreißen.

Ich puste mir die kaputten Finger und wimmere ganz erbärmlich: »Ich bin keine Puschmütze, ich bin keine Puschmütze.«

Auf dem Weg ins Krankenhaus bläut Mutter mir ein, was ich dem Arzt sagen darf und was nicht. Die Wahrheit verbietet sie mir. Es wird schon einen Grund dafür geben, denke ich mir, warum der Doktor nicht erfahren darf, dass Vater der Übeltäter ist. Ich verstehe nicht, was gemeint ist, wenn sie sagt: »Sonst holt dich das Amt.« Aber dass sie mich nicht verlieren will, das fühle ich schon. Selbstverständlich lüge ich, was das Zeug hält: »Herr Doktor, ich habe mir in einer Schublade die Finger geklemmt. Ich weiß selber nicht, wie ich da reingekommen bin.« Der Arzt sieht sich die Hand an, schüttelt den Kopf und tut mir noch einmal weh.

Monatelang laufe ich mit einem Gipsverband herum. Ich bin in der ersten Klasse, schreiben kann ich damit nicht. Das Einzige, was läuft: Ich kann mit den anderen Schülern im Chor das Alphabet rauf- und runterleiern. Mutter erzählt in der Nachbarschaft, an meiner Schreibhand war eine Knochenrichtung nötig, damit der Junge später einmal eine sehr schöne Handschrift bekommt. Ich nicke artig mit dem Kopf, wenn sie die Geschichte mit dem Gips und der schönen Handschrift erzählt. Dass es darum geht, meine rechte Hand überhaupt noch einmal benutzen zu können, verschweigt sie.

Opa stellt Vater zur Rede, und in seiner Schimpfkanonade fällt mehrmals das Wort Jugendamt. Was dahintersteckt, weiß ich nicht.

Der Arzt bastelt monatelang an meiner Hand herum, denn die Knochen sind völlig ineinander verdreht und verschoben. In Abständen von zwei Wochen muss er den Gips öffnen, die Hand röntgen, die Knochen korrigieren und mit einer Schraube passgerecht machen. Bis alles wieder einigermaßen ordentlich zusammengewachsen ist, vergeht ein halbes Jahr.

Als mich nach den Osterferien meine Lehrerin das erste Mal an die Wandtafel holt und mich auffordert, meinen Vornamen mit Kreide an die Tafel zu schreiben, ist im Klassenzimmer schlagartig Stille. Ich erhebe mich, gehe nach vorn, greife mit der linken Hand nach einem Stück Kreide, überlege kurz, und nehme es in die rechte. Meine Finger zittern, das Kreidestück fällt mir aus der Hand und zerbricht auf dem Fußboden in mehrere Teile. Ich bücke mich, sammle die Teile auf, lege sie vorsichtig auf die Tafelablage neben den Schwamm und schaue hilflos zur Lehrerin. Sie kommt auf mich zu, reicht mir ein neues Kreidestück, und mit ihrer Unterstützung krakele ich mit der genesenen Hand meinen Namen in Großbuchstaben an die Tafel. Das leise Gekicher, das im Klassenzimmer aufgekommen war, verstummt. Ich drehe mich um zu den anderen und strahle über das ganze Gesicht.

Ich war kein Wunschkind. Vater heiratete meine Mutter, weil ich unterwegs war. Und wenn schon ein Kind, dann wollte er unbedingt ein Mädchen, auf gar keinen Fall einen Jungen. Als er einmal auf mich aufpassen musste, weil Mutter kurz einkaufen ging, stellte er mich bei null Grad – ich war noch ein Baby – auf den Balkon und bespritzte mich mit kaltem Wasser. Prompt hatte ich einen Tag später eine Lungenentzündung.

Das war schon die Härte, das muss man sich mal reinziehen. Fehlte nur, dass er mich mit nacktem Po auf die heiße Herdplatte gesetzt hätte. Ich vermute, Mutter konnte sich so schlecht gegen ihn wehren, weil sie jahrelang die Hoffnung nicht aufgab, dass er doch noch zur Vernunft kommen würde, um mit uns als Familie zusammenzuleben.

So klein, wie ich war, ich, der Sechsjährige, legte einen Schwur ab: Nie wieder Keile, nie wieder darf mir jemand so wehtun. Ich bin keine Puschmütze, ich bin ein Harter, ich werde es euch allen zeigen!

Eigentlich Wahnsinn, was sich der Knirps da vornimmt. Heute ziehe ich den Hut vor diesem Kind. Klar, dahinter standen die pure Verzweiflung und ein ausgeprägter Überlebenswille. Bei einem Sechsjährigen sicherlich eine Instinktsache, und trotzdem: Kinder in Not entwickeln diese Kräfte oder gehen vor die Hunde. Ich vergleiche mich mit einem Straßenkind, das, ganz auf sich gestellt, miese Erfahrungen macht und dabei lernt, sich wie ein kleiner Erwachsener durchzubeißen. Entweder es kommt durch, oder es bleibt auf der Strecke und verreckt erbärmlich. Ein behütetes Kind muss sich nicht selber aus seinem Elend befreien und Schwüre ablegen, um zu überleben.

Opa war Feuer und Flamme, als sein Enkel daraufhin in einen Sportverein wollte. Zuerst ging er mit mir in einen Ringerverein. Aber nach kurzer Zeit wollte ich dort weg. Das, was da auf der Matte ablief, war doch nur albernes Rumgebalge, reinster Kinderkram, viel zu lasch für mich. Dort hätte ich nie geschafft, was ich mir vorgenommen hatte.

Anschließend nahm er mich zu einem Boxverein mit. Bevor ich mich in die Mitgliederkartei eintragen ließ, sahen wir uns erst einmal ein Training an. Boxen – das kam schon besser.

Keine vier Wochen vergingen, und wir hatten den zweiten Reinfall. Ich war wieder enttäuscht. Boxen war ja genauso läppisch wie Ringen, da passierte auch nicht viel mehr, boxen konnte doch jedes Kind auf der Straße. Da würden Jahre vergehen, bis ich ein ernstzunehmender Kämpfer war.

Opa verstand sofort, tröstete mich und meinte, wir würden schon noch das Richtige finden. Bestimmt gäbe es eine Sportart, die genau zu mir passen würde. Die Woche drauf marschierten wir zusammen zu einem Judoverein. Ich war hellauf begeistert, das war’s! Umschlagen, hebeln, würgen, auf den Boden drücken, festhalten, kampfunfähig machen. Der Gegner blieb auf der Matte liegen und konnte sich nicht mehr bewegen. Hier war ich in meinem Element. Judo, das war kein Kinderkram. Ich wollte unbedingt bleiben, ich hatte gefunden, womit ich meinen Schwur erfüllen konnte. Opa war so glücklich wie ich. Sah er doch, wie meine Augen leuchteten.

Er wäre weiter mit mir auf die Suche gegangen, wenn mich Judo auch nicht gefesselt hätte. Opa war die Ruhe in Person und wäre wer weiß wohin mit mir marschiert, nur um mich glücklich zu machen.

Ein Bett für mich allein

2 Ich hatte keine rosigen Startbedingungen, aber unglücklich war meine Kindheit nicht. Na gut, mit Einschränkungen. Aber vor allem Oma und Opa haben getan, was sie konnten. Sehr gern erinnere ich mich an die Wochenenden und die Schulferien in unserer Laube. Drei kleine Zimmer und Küche, gut zweihundertfünfzig Meter von der Mauer entfernt. Ein großer Garten mit Obstbäumen, Tannen und Sträuchern, insgesamt an die fünfhundert Quadratmeter. Von zu Hause in der Mainzer Straße bis dorthin brauchte man zu Fuß ungefähr vierzig Minuten, mit dem Fahrrad knapp zehn. Ich habe mich oft im Indianeranzug und buntem Federschmuck auf dem Kopf, eine Streitaxt in der Hand, an die Erwachsenen herangepirscht und sie beim Dösen unter den Tannen erschreckt. In der Bullenhitze im Sommer bin ich zum Schwimmen in den nahe gelegenen Teltowkanal, und vor dem Schlafengehen bin ich meistens noch einmal in die Zinkbadewanne unterm Apfelbaum gesprungen. War kein Badewetter, habe ich mich aufs Fahrrad geschwungen und bin stundenlang in der Gegend herumgefahren.

Das Essen, das Oma zu Hause vorgekocht hatte, wärmte sie auf dem Propangaskocher auf, und am Gartentisch schmeckte es noch besser als am Esstisch im Winterquartier, wie Opa unsere große Drei-Zimmer-Wohnung in der Nähe vom U-Bahnhof Boddinstraße nannte. Viele Arbeiterfamilien aus Neukölln hatten neben der Wohnung ein Grundstück mit Laube, wo sie den größten Teil ihrer Freizeit verbrachten. In diesen Jahren kam ein Neuköllner noch nicht auf die Idee, im Urlaub nach Italien zu fahren.

Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich daran denke, wie Großvater mir abends die Sternbilder erklärte. Den Polarstern, den Großen und den Kleinen Wagen und all die anderen Sterne, von denen ich die Namen längst wieder vergessen habe. Schweigsam wurde er, wenn ich ihm Fragen nach dem Krieg stellte, den er als einfacher Soldat bis zum Schluss mitgemacht hatte.

Opa musste das Grundstück schließlich verkaufen, weil auf den Parzellen Hochhäuser gebaut wurden. Es dauerte nicht lange, und wir erwarben einen neuen Garten in der Nähe vom Spandauer Damm. Er war nicht ganz so groß wie der frühere, aber seinen Zweck erfüllte er auch.

Großvater war nicht der leibliche Vater meiner Mutter, er hat sie aber als seine Tochter angesehen. Ihr Verhältnis war nicht so herzlich wie das zwischen Oma und Mutter, in meinen Augen wirkte es eher sachlich und korrekt. Als junge Frau hatte sich Oma von einem feinen Herrn ein Kind andrehen lassen, und der dachte nicht im Traum daran, sie zu heiraten, nur weil sie guter Hoffnung war. Er ließ sie sitzen und Oma musste zusehen, wie sie mit dem Balg zurechtkam.

Auf einem Foto aus den fünfziger Jahren sitzt Opa im feinen Zwirn mit Schlips und Kragen, ein Kavalierstuch in der Brusttasche, kerzengerade auf einem Stuhl. »Seine« Frauen stehen rechts und links hinter ihm und legen vertrauensvoll eine Hand auf seine starken Schultern. Wer die Personen auf dem Foto nicht kennt, könnte die drei für einen Vater mit seinen zwei hübschen Töchtern halten, denn Mutter war zu diesem Zeitpunkt erst neunzehn und Oma noch nicht einmal vierzig. Beide wussten, dass sie gut aussahen, und zu seinem Geburtstag hatten sie sich ihre besten Kleider angezogen. Zur Feier des Tages trugen sie sogar Nelken aus unserem Garten im Haar.

Oma gefiel es, unseren Haushalt zu führen und umsichtig für uns zu sorgen. Ich war ihr Liebling, den sie hinten und vorne verwöhnen konnte und der ihr »Löcher in den Bauch« fragen durfte. Zu einem Geburtstag schenkte sie mir Man lacht über Putzi. Ein Comic-Heftchen, zehn mal zehn Zentimeter, nicht sehr dick und schön bunt illustriert. Kostenpunkt etwa dreißig oder vierzig Pfennig. Putzi war eine Art Mickymaus, ein lustiger Geselle, aber nicht der Stärkste. Ich wusste früh, über die Schwachen wird gelästert und gelacht. So wie Putzi werde ich nie, nahm ich mir vor, über mich lacht keiner.

Oma hat sich sehr zurückgehalten, wenn es Krach zwischen meinen Eltern gab. Nachdem mein Vater uns endgültig verlassen hatte, drängelte sie Mutter auch nicht, sich einen anderen Mann zu suchen.

Opa schuftete sein Leben lang als Bäcker. Er war mittelgroß, sehr kräftig, dabei schlank, sein Gesicht war schmal, die Ohren standen leicht ab, und der Schädel war beinahe kahl. Ich war fasziniert von seinen großen Händen, die in der Backstube den Teig in der Luft herumwirbelten und im letzten Moment geschickt wieder auffingen.

Eisern wie ein Stehaufmännchen hat er sich bei Wind und Wetter um Mitternacht aufs Fahrrad geschwungen und ist los zur Arbeit. Bei Regen setzte er seine imprägnierte Regenkappe auf. Frei hatte er nur am Sonntag, krank sein gab’s für ihn nicht. Ich bin für die Familie da, ich muss arbeiten, damit der Schornstein raucht, das war seine Einstellung, dazu stand er. Mir imponierte diese Haltung, ich liebte ihn dafür.

Am Vormittag kehrte er aus der Backstube zurück und legte sich schlafen. Nach dem Aufstehen las er seine Zeitung, danach sah er fern und unterhielt sich mit demjenigen, der gerade da war. Wenn ich aus der Schule kam, hatte Oma warmes Essen fertig, und wir aßen zu Mittag, redeten über die Schule und meinen Sport. Anschließend machte ich meine Hausaufgaben, griff mir die Sporttasche und ging zum Training. Opa legte sich noch einmal hin und schlief zwei weitere Stunden. Am Abend saß die Familie gemeinsam am Esstisch, dann, wenn Mutter gegen sechs Uhr von der Arbeit in die Türe trat. Sie war über viele Jahre Kontoristin in einer Wäscherei und Reinigung, die es schon lange nicht mehr gibt.

Während ich in der Sporthalle trainierte, kontrollierte Opa nach seinem Nachmittagsschlaf meine Hausaufgaben. War er mit dem Resultat nicht zufrieden, brachte er seine Einwände am Abendbrottisch vor, und ich musste nach dem Essen noch einmal ran. Meine schulischen Leistungen lagen zwischen zwei und drei. Wurde ich schlechter, drohte Mutter: »Wenn du nicht besser lernst, gehst du mir nicht mehr zum Sport!« Ihre Worte verdrängte ich, wach wurde ich erst, wenn Großvater mich zur Brust nahm: »Schularbeiten im Schnellverfahren? Kommt nicht in Frage. Mach es ordentlich, ansonsten weht hier ein anderer Wind.« Klar doch, er hatte bei mir die Vaterrolle übernommen. War Zeugnistag, gab’s schon mal ’ne Standpauke zu diesem und jenem Fach. Oma hielt sich raus und sagte höchstens: »Recht haben sie.«

Opa war für mich »alte Schule«. »Ordnung, Fleiß und Sauberkeit sind Tugenden«, sagte er, »die kosten nichts und bringen viel. Das gilt für deinen Sport genauso wie für den Schulunterricht.« Wenn er mit seinen Sprüchen kam, wurde die Stimme ernst und feierlich. Beim Reden ging er mir mit einer Hand über den Kopf, mit der anderen zupfte er an meinen Kragenecken herum.

Manchmal spürte ich seine Herzlichkeit sehr deutlich. Aber Umarmungen – so was kam für ihn nicht in Frage. »Nichts für einen richtigen Jungen«, meinte er und zog kurz an meinem Ohrläppchen, wenn ich mich an ihn anschmiegen wollte. Gewöhnlich schob er noch einen Spruch hinterher: »Ein Junge drängt sich nicht so auf.«

Mir gefiel, wie er das rüberbrachte, ich kapierte, was er mir damit sagen wollte. Es passte zu dem, was ich mir vorgenommen hatte. Verlegen lachte ich ihm frech ins Gesicht, und schon lief ich wieder rund.

Großvater brachte mir bei, dass man sich im Leben durchsetzen müsse. Jammern und klagen nützen gar nichts, sagte er, stark müsse man werden und besser als die anderen. Wir leben nun mal in einem Neuköllner Mietshaus und nicht in einer Villa im Grunewald. Mit Zimperlichkeit würde da gar nichts gehen. »Beiß die Zähne zusammen, sei strebsam und gib nicht so schnell auf, wenn du dir was vorgenommen hast«, war einer von seinen Lieblingssprüchen. Wenn er »Neukölln« sagte, gab er mir zu verstehen, es wird einem hier nicht leicht gemacht, aber man könne es schaffen.

Ich sollte meinen Weg gehen, und das war der, den man so geht in einer Familie aus Neukölln – man beißt sich durch. Bubi Scholz war so ein Beispiel in Berlin, er kam jedoch aus dem Prenzlauer Berg.

Als Junge sah ich im Fernsehen einen Film, der mich beeindruckte, an den Titel und die Schauspieler kann ich mich nicht erinnern. Die Hauptfigur war ein ganz normaler Mensch, ziemlich unauffällig, eigentlich ein kleiner Wicht. Er schlotterte vor Angst, wenn sein Boss sich ihm auf zehn Meter näherte. Eines Tages drückte ihm jemand eine Schachtel mit hellblauen Pillen in die Hand und sagte: »Nimm eine, wenn du das nächste Mal zum Chef gehst.«

Der Angsthase schluckte eine von den bunten Pillen, und im Handumdrehen fühlte er sich wie Supermann und wurde zum Beschützer der anderen Wichte im Büro. Kaum hatte er das Ding intus, riskierte er die große Lippe. Die Hände in den Hosentaschen, baute er sich vor seinem Vorgesetzten auf und sagte ihm rotzfrech ins Gesicht:

»Halt die Klappe, Schnulli, du hast hier gar nichts zu sagen!«

Die Wichte schauten voller Bewunderung zu ihm auf und rieben sich vergnügt und schadenfroh die Hände. Ich war tief beeindruckt, aber mir war auch bewusst, diese Wunderpillen kann ich nicht kaufen, die erhielt ich in keiner Apotheke. Was im Fernsehen ablief, kam nur in der Fantasie vor, das war ein Kinderfilm. Wenn ich wie Supermann werden wollte, musste ich das ohne diese hellblauen Pillen hinkriegen. Also, Hemdsärmel hoch, die Zähne zusammenbeißen und durch. Nur das brachte was, das merkte ich an meinen Siegen bei den Kinderund Jugendmeisterschaften im Judo und später im Kontaktkarate. Je fleißiger und ausdauernder ich trainierte, umso erfolgreicher und anerkannter wurde ich.

Ich war hart und brutal gegen mich selbst. Die drei Kilometer von zu Hause bis zur Sporthalle bin ich wie Opa bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad gefahren. War der Regen doch zu heftig oder der Schnee zu hoch, nahm ich den Bus, der genau vor dem Verein hielt. Meine Sportsachen hatte ich in einer schwarzen Tasche mit leuchtend weißen Buchstaben: »EBJC Erster Berliner Judoclub«. Darunter stand noch in japanischen Schriftzügen der Name des Vereins. Nicht zu übersehen. Ich trainierte fünfmal die Woche voller Hingabe, hielt die Regeln ein und habe mich nie vergessen.

Training schwänzen? Niemals, kam überhaupt nicht in Frage. Gesundheitliche Probleme kannte ich nicht. Ich hatte kaum Erkältungen, die zu länger andauernden Trainingsausfällen führten. Links war ich nicht ganz so belastbar. Diese Seite kriege ich bis heute nicht so sauber hin wie rechts, weil ich mir einmal beim Ballspielen auf der Straße den linken Ellenbogen böse zertrümmert hatte. Der Ball flog eine Böschung runter, ich sprang hinterher und landete voll mit dem Ellenbogen auf einem Pflasterstein. Die Schwäche konnte ich im Laufe meiner Karriere nach und nach mit Technik ausgleichen. Der Kopf lernte, die linke Hand ist nicht so stark, also täuschst du links an, mit rechts zerstörst du. Letztlich war es kein schweres Handicap, da ich als Rechtshänder das meiste sowieso über den rechten Arm machte.

Schmerzen sind ein Zeichen von Schwäche, diesen Satz hatte ich mir schon früh eingeprägt. Den letzten Schmerz, der mir was ausmachte, hatte mir Vater zugefügt, und das lag schon Jahre zurück. Dass Großvater mich einmal schwer versohlte, fand ich okay, obwohl ich am nächsten Tag in der Schule nicht auf meinem Stuhl sitzen konnte. Ich wusste, das war die Quittung für die Bananenschale, die ich ihm in meiner Wut an den Kopf geworfen hatte. Der Grund: Er wollte nicht gleich so wie ich.

Ich war zehn, da ließ mein Judotrainer einen Satz fallen: »Karate ist garantiert noch einige Grade härter als Judo.« Ich war ganz Ohr, fragte nach und hörte den Satz noch einmal. »Karate ist garantiert noch einige Grade härter als Judo.« Also ging ich mit Opa zum Karate.

Beim Judo bändigst du den Gegner am Boden, du fixierst ihn. Das kann sehr hart sein, unter Umständen brutal und schmerzhaft. Bei Karate erledigst du ihn innerhalb von Sekundenbruchteilen mit Schlägen und Tritten.

Das war’s, wovon ich träumte. Karate bedeutete für mich, über den Dingen zu stehen. Wenig tun, minimaler Einsatz, höchstens ein, zwei Schläge oder Tritte, dann musste es passiert sein, und der Gegner war weg vom Fenster. Mit anderen Worten: Ich werfe ihn um, er liegt am Boden vor mir und ich gehe weiter, ohne mich groß umzudrehen. Keine Umständlichkeiten, kein langes Fackeln, was du brauchst, ist eine ausgefeilte und präzise Technik. Ich werde angegriffen, mache eine Gegenbewegung, trete einmal zu, und fertig.

Karate elektrisierte mich. Vor Aufregung konnte ich die ersten Wochen nach dem Training kaum schlafen. Das, was der Karatesport fordert, schlummerte tief in mir.

Großvater schmunzelte nur, wenn ich von meiner Zukunft als Kampfsportler schwärmte. »Ich will Erster sein, Opa, nicht Dritter, auch nicht Zweiter, ich will der Beste sein.« In seiner bedächtigen Art stachelte er meinen Ehrgeiz an: »Ja, ja, du hast ja recht, Andy. Karate hat diese Härte, die mir im Leben so unablässig scheint. Wenn du weiter so fleißig übst, schaffst du das ganz bestimmt. Talent hast du ja für drei.«

Auf der Matte war ich glücklich. Seit meinem elften Lebensjahr durfte ich bei Herrn Yamada Kontaktkarate trainieren. Ich war sein jüngster Schüler, die anderen in der Trainingsgruppe waren über achtzehn. Er hatte auf Empfehlung meines Judolehrers mein Training beobachtet und mich aus mehreren Bewerbern ausgewählt. Er baute mich gezielt auf, weil er mein Talent auf den ersten Blick erkannte und ihm meine Einstellung zum Kampfsport stark imponierte. Ich folgte ihm ohne Wenn und Aber und führte aus, was er von mir verlangte. Ruhig und kontrolliert, ohne Wut im Bauch – irgendwie eisig. Cool würde man heute sagen. Herr Yamada wurde mein Meister.

Die effektivste Methode zur Abhärtung meines Körpers wurde Makiwara. In den Trainingsräumen waren im Boden und an den Wänden Schlagpolster angebracht, mit Jute oder Bast umwickelte Holzleisten, auf die wir eindroschen wie die Verrückten. Handkante, Finger, Knie, Schienbein, Faustknochen, Fußballen, Hacken, Ellenbogen – immer feste drauf. Die Haut riss ein, Arme und Hände waren blutunterlaufen. Egal. Das hielt mich nicht davon ab, weiter wie ein Besessener auf die Makiwaras einzuhämmern. Schlugen meine Trainingspartner zehnmal drauf, langte ich fünfzigmal zu, und das über Jahre. Ich trainierte immer intensiver als die anderen, machte mehr Kraftübungen, mehr Bruchteste. In einer Trainingseinheit zerschlug ich immer wieder so viele Ziegel und Bretter wie meine Sportkollegen zusammen. Ich wollte eine Stahlfeder sein.

Herr Yamada lehrte mich, den Schmerz zu kontrollieren. In Einzelsitzungen brachte er mir bei, mich bis zur Selbstaufgabe zu konzentrieren. Ich hockte vor ihm auf den Knien im Karatesitz. Mein Meister stand unmittelbar dahinter und befahl mir, eine Viertelstunde durchs Fenster auf den klaren Himmel zu starren.

»Lass dich nicht ablenken«, redete er mit seiner ruhigen, väterlichen Stimme auf mich ein. »Schau nach oben und versenke dich in die wunderschönen Farben, es gibt nichts Schöneres als den Himmel.« Dabei spürte ich, wie etwas leicht meinen Rücken berührte. Sanft traktierte er mit einem Bambusstöckchen meine Schultern und Arme.

Im Laufe der Monate tauschte er die Stöckchen gegen Stöcke aus stärkerem Bambus. Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Tag, aber es waren mindestens anderthalb Jahre vergangen, als ich während der Übung das erste Mal in Trance geriet und das Gefühl hatte, ich sei Teil des Himmels geworden. Schmerzen spürte ich nicht mehr. Von nun an konnte ich vor Wettkämpfen über die Technik der Meditation in wenigen Sekunden mühelos meine Kräfte bündeln und die Schmerzgrenze absenken.

Ein Wettkampf in Kontaktkarate ist auf drei Runden angelegt. Ich ließ mich mental erst gar nicht auf die dreimal drei Minuten ein; den Sieg nach Punkten wollte ich nie, denn mit jeder Minute, die ein Kampf länger dauert, nimmt auch das Verletzungsrisiko zu. Bei Kontaktkarate ist das vergleichsweise hoch.

Der Mattenrichter eröffnete den Kampf. Ich rannte auf den Gegner zu, und meine innere Stimme überschlug sich: Ich mache dich fertig, ich zerstöre dein Knie, ich breche dir den Oberschenkel! Du gibst sofort auf, noch in der ersten Runde! Mein Ziel war, dass so früh wie möglich der Abbruch des Kampfes ausgerufen wurde. Dahinter standen Härte, Kraft, Konzentration und eine ausgefeilte Schlagtechnik.

Ich schlug platziert auf den Punkt kurz über dem Knie. Mit einer Wucht, als würde ich in einer Karateshow einen Baseballschläger zertrümmern. Wo die Handkante auftraf, hatte sie gut hundertneunzig Stundenkilometer drauf – das ist später gemessen worden. Das Bein kam auf hundertsechzig Sachen. Selbstverständlich immer korrekt nach den Regeln des Kampfsports.

Ein Erlebnis vergesse ich niemals. Mit Robby, einem Jungen aus meiner Judogruppe, ging ich zum höchsten Haus, das es in Rudow, dem südlichsten Ortsteil von Neukölln, gab, in die Fritz-Erler-Allee 120. Neunundzwanzig Etagen hatte das Gebäude, insgesamt vierhundertfünfundsechzig Stufen.

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hoch in die oberste Etage und begaben uns anschließend zu den Nottreppen. Robby übernahm die Absicherung. Ich ging in den Handstand, und mein Judofreund umfasste mit beiden Händen meine Fußgelenke, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor und nach vorne überkippte. Robby gab das Signal. Vorsichtig stieg ich auf beiden Handflächen abwärts. Erst setzte ich die rechte Hand auf, zog die linke nach, dann balancierte ich das Gleichgewicht aus und nahm die nächste Stufe ins Visier. Rechts tap, links tap, Balance herstellen und weiter. Und das von Stufe zu Stufe, von Stockwerk zu Stockwerk, insgesamt einhundertzwanzig Meter bis nach ganz unten.

Nach der dritten Treppe hatte ich meinen Rhythmus gefunden. Ungefähr auf der Hälfte, vielleicht in der fünfzehnten Etage, hörte ich mein Blut in den Ohren rauschen, alles andere war nicht existent. Schaffe ich es bis runter, ging es mir durch den Kopf, bin ich der Übermann für mich selber. Dann habe ich das erreicht, was ich will, dann ist das der Beweis, dass ich keine Puschmütze bin.

Im zehnten Stock brüllte ich innerlich auf vor Schmerz. Zum Glück nur kurz, höchstens zwei Sekunden, dann hatte ich mich wieder im Griff und war schmerzfrei.

Unten im Parterre waren meine Hände total blutig, die Haut hing in Fetzen, die Handknöchel lagen blank, aber Schmerz fühlte ich immer noch keinen. Vorsichtshalber hatte ich genügend Tempotaschentücher eingesteckt. Robby tupfte das Blut ab, griff sich meinen rechten Arm, riss ihn nach oben und erklärte mich feierlich zum absoluten Champion.

»Du bist der Größte! Ohne absetzen – das macht dir so leicht keiner nach, Andy.«

Ich strahlte und war stolz auf meine Leistung. War das nicht der glatte Wahnsinn, was ich da geleistet hatte? Neunundzwanzig Etagen, vierhundertfünfundsechzig Stufen ohne abzusetzen, bis nach unten. Powern bis zum Umfallen – das war ich. Eigentlich übermenschlich.

Anschließend suchten wir die Praxis von meinem Hausarzt Dr. Schmidt auf, damit er mir die Hände verbindet. Der sah sich den Spaß an, schüttelte den Kopf und sagte: »Ja, ja, Neukölln.«

So was passiert, wenn man richtig trainiert, erklärte ich großspurig.

Nach meinem Hauptschulabschluss fing ich in einem kleinen Maschinenbaubetrieb in Neukölln eine Lehre als Werkzeugmacher an. Ich musste tagtäglich an der Werkbank mit Bohrmilch arbeiten. Die Brühe machte mich kirre, mein Magen sträubte sich total. Durch den Sport war er anfällig geworden. Das Abhärten der Muskulatur durch das ewige Reinschlagen hatte die Magenwände einreißen lassen. Ich brauchte Bohrmilch nur zu riechen, und schon musste ich mich übergeben. Das war der Brüller für die anderen Lehrlinge. Ich stand an der Drehbank, jemand schlich sich von hinten an mich ran, hielt mir eine Schale mit Bohrmilch unter die Nase – und schon kotzte ich wie auf Kommando los.

Mir war das total peinlich, ich schämte mich. Für mich war das eindeutig ein Zeichen von Schwäche. Ich wollte es nicht wahrhaben und quälte mich noch zwei weitere Monate, bis es nicht mehr ging und Dr. Schmidt mir die Arbeit mit dem Zeugs ärztlich untersagte. Ich musste die Lehre schmeißen und mich um eine neue Lehrstelle kümmern.

Vier Wochen später hatte ich eine als Einzelhandelskaufmann in einem Kaufhaus in Neukölln. Die Lehre verlief reibungslos, ich war den Anforderungen gewachsen. Meine Leistungen waren durchschnittlich, aber den Chefs fiel ich bald auf, denn ich besaß eine spezielle Fähigkeit, die kein anderer Lehrling vorweisen konnte: Diebe schnappen.

Es reizte mich, die im Kaufhaus streunenden Langfinger zu jagen, ihre Techniken zu studieren und zu begreifen. Wie verhalten sich Kleptomanen, bevor sie zuschlagen? Nach welchen Kriterien geht der einfache Taschendieb vor, wenn er sich ein Opfer aussucht? Wie stellt sich die durchschnittliche Hausfrau an, die aus Frust und Langeweile schon am Vormittag ein bisschen klauen geht, obwohl sie es gar nicht nötig hat?

Mein Auge wurde schärfer und schärfer, und ich entwickelte ein Gespür, diesen sechsten Sinn, mit dem man auch dem raffiniertesten Dieb schon im Ansatz auf die Schliche kommt. Bald fing ich beinahe so viele Diebe wie die Mitarbeiter, die extra eingestellt und dafür ausgebildet worden waren. Man rief mich immer öfter, vor allem dann, wenn ein erwischter Langfinger sich weigerte, zur Feststellung seiner Personalien freiwillig mit nach hinten zu kommen. Ich griff mit Eisenfaust zu, und der Widerspenstige ging an meiner Seite anstandslos nach hinten ins Kabuff, wo ich seine Daten notierte.

Nach Abschluss der Lehre wurde ich in die Chefetage bestellt und gefragt, ob ich nicht ständig die D-Kontrolle machen möchte. Das »D« stand für Diebstahl. Eine richtige Anstellung im Haus als Kaufhausdetektiv, nicht nur auf Zuruf. Warum nicht? Ich war einverstanden. Erstens erhielt ein D-Kontrolleur mehr Geld als ein Verkäufer, zweitens hatte ich die Tätigkeit spielend drauf, und drittens war Langfingerjagen inzwischen ein Hobby für mich geworden. Der Job war viel interessanter und abwechslungsreicher als acht Stunden hinterm Ladentisch irgendwelchen Leuten irgendwelche Klamotten aufzuschwatzen.

Die Leitung setzte mich in verschiedenen Kaufhäusern ein. Es dauerte nicht lange und ich hatte meinen Ruf weg. Bei den Sicherheitsleuten war ich begehrt, am liebsten hätte mich jeder ausschließlich für sein Objekt eingesetzt. Selbstverständlich sahen mich die Diebe aus einer anderen Perspektive. Für die war ich das, was der Fuchs für die Hühner ist. Sobald ich auf der Bildfläche erschien, schmissen sie die Beute blitzschnell in die Warenträger zurück, nahmen die Beine in die Hand und flatterten in Richtung Ausgang. Ich bin sicher, bevor sie sich verzogen, wünschten sie mir noch die Pest an den Hals.

Ich denke mal, ich war der jüngste Kaufhausdetektiv von ganz Berlin. Mit meinem Job war ich mehr als zufrieden, mein Geld stimmte, Langeweile kannte ich nicht, und ob ich als Verkäufer auch so eingeschlagen hätte, wage ich zu bezweifeln.

Ich war sechzehn, als zwei Etagen über uns, im vierten Stock, eine kleine Eineinhalbzimmerwohnung frei wurde. Beim Abendbrot tippte ich das Thema eigene Bleibe an.

Mutter verschluckte sich an ihrer Tomatenstulle und wedelte mit dem rechten Zeigefinger hin und her. Das hieß »nein«. Oma und Opa dagegen unterstützten mich. »Wenn der Junge auf eigenen Füßen stehen will, soll er, alt genug ist er«, bemerkte Opa. »Wir legen ihm keine Steine in den Weg.«

Den beiden war nicht entgangen, dass Mutter und ich immer schlechter miteinander konnten. Saß sie beim Essen mit am Tisch, redete ich keinen vollständigen Satz mit ihr. Höchstens gab ich ein »Bitte« oder »Danke« von mir. Ich wollte nur weg, zum Training oder sonst wo hin – nur weg von ihr. Ich wollte für mich sein, endlich eine eigenständige Person werden, mein Ding machen, nicht mehr sagen müssen, wann ich komme, wann ich gehe – eben selbständig werden. Und schon gar nicht mehr von meiner Mutter abhängig sein.

Für die Wohnung legte ich mich dermaßen ins Zeug, dass Opa eine Woche später zu seiner Tochter sagte: »Mit euch beiden geht das nicht mehr so weiter, der Junge muss schleunigst raus! Die anderthalb Zimmer oben sind genau richtig für Andy.«

Mutter sagte erst mal nichts, sie blickte wie abwesend an die Decke – wie immer, wenn sie nicht antworten wollte. Das war so ein Moment, wo ich dachte, Opa weiß mehr.

Er kämpfte so lange mit mir um die Wohnung, bis der Vermieter schließlich auch zustimmte und ich einziehen durfte. Danach unterstützte er mich bei der Einrichtung. Mutter hielt sich beleidigt zurück.

Mein Großvater besorgte von einem Bekannten gebrauchte Möbel. Robuste, einfache Sachen, ziemlich billig. Tisch und Stühle, eine Liege, einen Kleiderschrank und einen kleinen Fernseher. Einen Sharp, siebenunddreißig Zentimeter Bildröhre, rotes Plastikgehäuse, inklusive Zimmerantenne. Mich einzuschränken war kein Problem, meine Ansprüche waren nicht hoch.

Ein großer Teil von meinem Lehrlingslohn ging für die Miete drauf. Aber ich hatte noch das Geld, das ich für meinen Unterricht im Sportverein erhielt. Jahrelang hatte ich meinen Lehrer bei den Trainingsstunden unterstützt, bis er mich eines Tages nach einem Wettkampf fragte, ob ich nicht eine Trainingsgruppe selbständig übernehmen wolle. Ich sagte sofort zu. Das zusätzlich verdiente Geld machte mich ein bisschen unabhängiger.

Über die Monate kaufte ich mir nach und nach etwas zu. Als Erstes ein bequemes Bett. Endlich hatte ich ein richtiges Bett – und zwar für mich allein!

Großmutter kaufte für mich ein, kochte und wusch die Wäsche, aufgeräumt habe ich selber. So wie mir die beiden unter die Arme griffen, war klar, dass sie über meinen Umzug genauso erleichtert waren wie ich. Das Angebot meiner Mutter, mir etwas abzunehmen, lehnte ich dankend ab.

Die ersten Wochen kam sie öfter zu mir hoch, und ich habe sie auch anstandslos reingelassen. Und trotzdem lief bei jedem Besuch etwas ab, was mich wütend machte. Mutter kam rein und im Handumdrehen breitete sich in der Wohnung eine schwüle Atmosphäre aus. Sie bewegte sich wie eine Katze, die einem um die Beine streift, setzte sich lächelnd auf das gemachte Bett, wippte ein bisschen mit dem Hintern darauf herum, als würde sie überprüfen, ob es uns auch beide aushalten könnte. Dabei sah sie mich vielsagend an.

Sie machte sich lang, streckte Arme und Beine und stellte immer die gleichen dummen Fragen: »Na, wieder Damenbesuch gehabt?« Das Wort »Damenbesuch« sprach sie aus, als würde es mit zwei »a« geschrieben. Bei der nächsten Frage hätte ich ihr eine langen können. »Geht’s dir auch wirklich gut, Andreas?«

Bei mir kam an: So allein in der Wohnung, ohne mich, dir kann es gar nicht gutgehen.

Augenblicklich fingen meine Hände zu schwitzen an, ich war völlig verkrampft. Am liebsten hätte ich gebrüllt: »Steh auf, das ist mein Bett! Ich will nicht, dass du dich in meinem Bett herumwälzt.« Anstatt sie achtkantig rauszuschmeißen, sagte ich nur: »Doch, doch, mir geht es gut, Mutter.«

Sie legte es darauf an, mich wieder in ihre Fänge zu bekommen. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn nicht mehr aufs Wort parierte.

Nach einem Vierteljahr machte ich nur noch jedes dritte oder vierte Mal auf, wenn sie an meiner Tür klingelte. Kam ich nach Hause und ging die Treppe hoch, drückte sie fünf Minuten später auf den Klingelknopf. Sie musste hinter ihrer Wohnungstür auf mich gelauert haben.

Sie läutete dreimal kurz, einmal lang, Sturm zu klingeln hatte sie sich nicht getraut, die Nachbarn hätten ja denken können, der Junge lässt seine Mutter vor der Tür stehen.

Ich beobachtete sie durch den Spion. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, als würde sie nicht genau wissen, dass ich in der Wohnung war. Sie läutete noch ein weiteres Mal, jetzt etwas zaghafter, schaute auf ihre Armbanduhr und ging anschließend kopfschüttelnd die Treppe runter. Als hätte sie sich in der Zeit geirrt.

Ich ließ sie ganz bewusst stehen. Du Biest, dachte ich, dir zeige ich es, sollen die Nachbarn doch denken, was sie wollen. Das tat gut, richtig gut.

Ohne meine Zustimmung ging sie nicht in meine Wohnung. Den Schlüssel, den ich ihr für alle Fälle nach meinem Einzug gegeben hatte, traute sie sich nicht zu benutzen.

Nach einem halben Jahr atmete ich auf. Mein Eindruck war, sie würde endlich loslassen. Sie stellte ihre Besuche schließlich völlig ein, und dass sie mich beim Mittagessen am Sonntag in der unteren Wohnung mit Nichtachtung strafte, störte mich kaum. Hauptsache, sie ließ mich in Ruhe und kam mir nicht mehr zu nahe. Manchmal öffnete sie noch morgens, wenn ich die Treppen hinunterging, die Wohnungstür und grüßte mit einem Gesichtsausdruck, als gäbe es nur Unglück auf dieser undankbaren, schnöden Welt. Ich nickte kurz, und mit einem tiefen Seufzer verschwand sie wieder hinter ihrer Tür. Damit konnte ich leben.

Wie sich rausstellen sollte, hatte ich mich zu früh gefreut. Das war kein Loslassen. Anhänglich, wie sie war, hatte sie sich nur für eine andere Strategie entschieden. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass Mutter so schnell nicht aufgeben würde.

Ich war siebzehn, als ich mit meinem Vater abrechnete. Obwohl er sich jahrelang nicht mehr blicken ließ, war meine Wut auf ihn nicht verschwunden. Wenn ich an ihn dachte, wollte ich nur eins: meinen aufgestauten Hass endlich abschütteln.

Ich wusste, wo er wohnte. Monatelang kreiste ein Plan in meinem Kopf, bis ich bereit war. Hört er mir nicht zu, nahm ich mir vor, würde ich ihn verprügeln.

In meinem Zorn stieg ich die Treppen hoch und drückte auf die Klingel, ohne Pause. Er öffnete, stutzte und wollte mich nicht reinlassen. Ich tobte über die Türschwelle, drückte ihn kurzerhand auf einen Stuhl und brüllte: »Du hörst mir jetzt zu! Wenn nicht, schlage ich dir den Schädel ein!«

Er zitterte wie Espenlaub, gleichzeitig wollte er mich auf die alberne Tour abfrühstücken: »Wat will mir so ein Jüngchen schon erzählen hier.«

Dieses dämliche Gequatsche hatte mir gerade noch gefehlt. Ich verpasste ihm mit der Innenhand einen kräftigen Schlag auf die Brust, stützte meine Hände auf die Stuhllehne und beugte mich zu ihm runter. »Wage nicht aufzustehen! Du rührst dich nicht von der Stelle, bis ich ausgeredet habe!« Unsere Augen waren höchstens eine Handbreit voneinander entfernt.

Rache stand im Raum, ich war entschlossen. Eine falsche Bewegung hätte sein Ende sein können. Es wäre mir egal gewesen, was mit ihm geschehen wäre. Er saß wie angenagelt auf dem Stuhl, seine Hände hielten sich an den Kniescheiben fest, in den Augen flackerte die pure Angst. Er hatte begriffen: Lebensgefahr! Andy macht ernst.