SIMONA AHRNSTEDT

Die Erbin

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Antje Rieck-Blankenburg

Zu diesem Buch

Natalia de la Grip ist ein aufgehender Stern am schwedischen Wirtschaftshimmel: Sie ist klug, tough und schon jetzt eine der angesehensten Unternehmensberaterinnen des Landes. Doch diesen Erfolg musste sie sich hart erarbeiten: Denn obwohl sie als Tochter des mächtigsten Unternehmers Schwedens in die Elite der Finanzbranche hineingeboren wurde, hat ihr Vater nie einen Hehl daraus gemacht, dass Frauen seiner Meinung nach in der Wirtschaft nichts zu suchen haben. Natalia hält trotzdem unbeirrt an ihrem Karriereziel fest: eine Führungsposition bei Investum, dem milliardenschweren Familienunternehmen der de la Grips. Als sie eines Tages von niemand Geringerem als David Hammar, einem der erfolgreichsten Risikokapitalgeber Europas, zum Lunch eingeladen wird, ist sie zunächst überrascht. Sie willigt schließlich ein, nicht zuletzt weil sie neugierig auf den skandalumwitterten Mann ist, der sich seinen Weg aus der Arbeiterschicht nach ganz oben erkämpft hat und seit einiger Zeit die traditionsverhaftete Stockholmer Finanzwelt gehörig aufmischt. Aber es gibt da etwas, das Natalia nicht weiß. Etwas, das das Treffen mit David zum verhängnisvollsten Ereignis ihres Lebens machen wird. Denn David Hammar hat noch eine Rechnung mit ihrer Familie offen, die er nun ein für alle Mal begleichen will. Die letzte Schachfigur, die er dafür bewegen muss, ist Natalia. Allerdings hat er nicht mit den Gefühlen gerechnet, die die junge Frau in ihm hervorruft und die seinen seit langer Zeit geplanten Coup gefährlich ins Wanken bringen…

1

Mittwoch, 25. Juni

David Hammar spähte durch die gewölbte Scheibe des Hubschraubers hinaus. Sie befanden sich auf einer Höhe von tausend Fuß, die Sicht war gut. Er ließ seinen Blick über die weite Landschaft schweifen und justierte das Headset, das es ihm ermöglichte, mit den anderen in normaler Lautstärke zu kommunizieren.

»Dort hinten«, sagte er und wandte sich zu Michel Chamoun um, der auf der Rückbank saß und ebenfalls durchs Fenster hinausschaute. David wies in Richtung des Schlosses Gyllgarn, das, leuchtend gelb getüncht, in der Ferne sichtbar wurde.

Der Pilot visierte das Ziel an und ging auf Kurs. »Wie nah willst du ran?«

»Nicht allzu nah, Tom. Nur so weit, dass wir es etwas besser sehen können.« David ließ das Schloss nicht aus den Augen. »Ich will keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.«

Grüne Wiesen, Gewässer, die in der Sonne glitzerten, und dicht belaubte Bäume breiteten sich vor und unter ihnen aus. Wie ein Gemälde einer vollkommenen ländlichen Idylle. Das Schloss war auf einer Insel inmitten eines außergewöhnlich breiten Flusses erbaut worden. Das Wasser rauschte an beiden Seiten der Insel vorbei und bildete einen natürlichen Wallgraben, der früher einmal als Schutz vor Feinden gedient hatte.

Tom ließ den Hubschrauber in weitem Bogen über dem Gelände kreisen.

Auf den Weiden unter ihnen grasten Pferde und Schafe. Riesige, mehrere Hundert Jahre alte Eichen bildeten eine Allee von der Landstraße zum Anwesen. Selbst aus dieser Höhe konnte man die gepflegten Obstbäume und farbenfroh gestalteten Beete erkennen, die das gut erhaltene Schloss umgaben.

Verdammt! Das sah ja aus wie das reinste Paradies.

»Der Makler, mit dem ich gesprochen habe, schätzt allein den reinen Gebäudewert auf über dreißig Millionen«, sagte David.

»Das ist viel Geld«, stellte Michel fest.

»Zuzüglich der Werte von Wald und Grund. Und Wasser. Es handelt sich um mehrere Tausend Hektar Land, die allein schon über zweihunderttausend wert sind.« David fuhr fort, die Vermögenswerte aufzuzählen: »In den Wäldern gibt es jede Menge Wild und zudem massenweise kleinere Gebäude, die zum Anwesen gehören. Hinzu kommt natürlich noch das Inventar. Kriegsbeute aus dem siebzehnten Jahrhundert. Silberservice und kunstvolle russische Handarbeiten. Und eine Gemäldesammlung mit Werken aus den vergangenen drei Jahrhunderten. Auktionshäuser in der ganzen Welt werden sich darum reißen.«

David wandte sich auf seinem Sitz um. Michel inspizierte das leuchtend gelbe Schloss, über dem sie jetzt schwebten.

»Und all das gehört dem Unternehmen?«, fragte Michel skeptisch. »Nicht der Familie?«

David nickte bestätigend. »Unbegreiflich, dass sie sich für diese Lösung entschieden haben«, pflichtete er ihm bei. »So kann es eben gehen, wenn man glaubt, man sei unbezwingbar.«

»Niemand ist unbezwingbar«, meinte Michel.

»Nein.«

Michel richtete seinen Blick wieder aus dem Fenster. David wartete, während die dunklen Augen seines Freundes über die Besitztümer glitten. »Das ist ja ein richtiges Kleinod«, fuhr Michel fort. »Falls wir all das veräußern, müssen wir mit einem Volksaufstand rechnen.«

»Nicht falls«, entgegnete David rasch. »Sondern wenn.«

Denn genau das würden sie tun, dessen war er sich absolut sicher. Sie würden diesen fruchtbaren Grund und Boden zerstückeln und an den Meistbietenden verkaufen. Die Leute würden sich lauthals beschweren, am lautesten würden die jetzigen Eigentümer schreien. Beim Gedanken an diese musste er fast ein bisschen lächeln. Dann warf er Michel einen fragenden Blick zu. »Hast du alles gesehen?«

Michel nickte, woraufhin David fragte: »Kannst du uns in die City zurückbringen, Tom? Wir sind hier fertig.«

Tom nickte, der Hubschrauber legte eine elegante Kehrtwende hin und gewann an Höhe. Sie ließen das idyllische Ambiente hinter sich und nahmen Kurs auf Stockholm. Unter ihnen zogen Autobahnen, Wälder und Industriegebiete vorbei.

Eine Viertelstunde später erreichten sie die Kontrollzone der Hauptstadt, und Tom nahm Kontakt zum Tower des Flughafens Bromma auf. David lauschte mit einem Ohr dem Wortwechsel und den kurzen standardisierten Phrasen.

»… 1500 feet, request full stop landing, three persons on board.«

»Approved, straight in landing, runway three zero …«

Tom Lexington, ein erfahrener Pilot, steuerte den Hubschrauber mit ruhigen Bewegungen und wachem Blick. Eigentlich arbeitete er für ein privates Sicherheitsunternehmen, aber David und er kannten sich bereits seit Langem, sodass er sich bereit erklärt hatte, sein Können und seine Zeit zur Verfügung zu stellen, als David das Schloss aus der Luft inspizieren wollte.

»Danke, dass du uns geflogen hast«, sagte David.

Tom entgegnete nichts, sondern nickte nur knapp, um zu zeigen, dass er ihn gehört hatte.

David wandte sich wieder Michel zu. »Wir haben noch genügend Zeit bis zum Meeting der Geschäftsführung«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr. »Malin hat angerufen. Alles ist vorbereitet.« Malin Theselius war ihre Pressesprecherin.

Michel streckte seinen breiten, im Anzug steckenden Oberkörper auf dem Rücksitz. Als er sich am kahl rasierten Schädel kratzte, blitzten die Ringe an seinen Fingern auf. »Sie werden dich bei lebendigem Leibe zerreißen«, sagte er, während tausend Fuß unter ihnen Stockholm vorbeizog. »Das ist dir doch klar, oder?«

»Uns«, korrigierte David.

Michel setzte ein schiefes Grinsen auf. »Nee, nur dich. Denn du bist der Titelheld und der böse Corporate Raider. Ich bin bloß der kleine Einwandererjunge, der tut, was du sagst.«

Michel war der smarteste Mann, den David kannte, und Senior Partner in Davids Risikokapitalgesellschaft Hammar Capital. In Kürze würden sie gemeinsam die gesamte schwedische Finanzbranche vollständig umkrempeln. Aber Michel hatte recht. David, der Gründer von Hammar Capital, der den Ruf hatte, knallhart und arrogant zu sein, war derjenige, der in der Finanzpresse würde Spießruten laufen müssen. Und man konnte sogar sagen, dass er sich bereits darauf freute.

Michel gähnte. »Wenn das hier vorbei ist, werde ich Urlaub nehmen und mindestens eine Woche lang schlafen.«

David drehte sich erneut zu ihm um und sah in der Ferne die Vororte vorbeiziehen. Er war nicht müde. Im Gegenteil, er hatte sein halbes Leben lang auf diesen Kampf hingearbeitet und brauchte keinen Urlaub. Er wollte Krieg.

Sie hatten das Ganze seit fast einem Jahr geplant. Es war die größte Transaktion, an die Hammar Capital sich jemals herangewagt hatte. Dabei handelte es sich um die feindliche Übernahme eines riesigen Unternehmens, und die kommenden Wochen würden entscheidend sein. Noch nie hatte irgendjemand etwas Ähnliches getan.

»Woran denkst du?«, fragte David übers Headset. Er kannte seinen Freund in- und auswendig und wusste, dass dessen Schweigen etwas zu bedeuten hatte und Michels scharfsinniges Hirn gerade irgendein juristisches oder finanzielles Problem bearbeitete.

»Woran ich vor allem denke«, begann Michel, »ist, dass es schwierig werden wird, die Sache noch länger geheim zu halten. Man wundert sich bestimmt über die Kursbewegungen an der Börse. Es wird nicht lange dauern, bis irgendjemand – ein Börsenmakler wahrscheinlich – etwas an die Presse durchsickern lässt.«

»Ja«, pflichtete David ihm bei. Irgendetwas sickerte immer durch. »Wir halten den Deckel drauf, solange es geht«, sagte er. Sie hatten schon oft darüber diskutiert, an ihren Argumenten gefeilt, systematisch nach Denkfehlern gesucht, und waren schließlich stärker und schlauer geworden. »Wir kaufen weiter«, entschied er. »Aber immer nur äußerst wenig auf einmal. Noch weniger als bisher. Ich werde mit meinen Kontakten sprechen.«

»Der Kurs der Aktie steigt im Augenblick ziemlich schnell.«

»Ich hab es gesehen«, sagte David. Die Kurve des Aktienkurses ähnelte einer sich aufbäumenden Welle. »Schauen wir mal, wie lange es rentabel bleibt.«

Es war immer ein Prozess des Abwägens, wie schnell man vorgehen konnte. Je aggressiver die Aktien eines Unternehmens gehandelt wurden, desto stärker wurde der Kurs nach oben getrieben. Wenn aber zudem an die Öffentlichkeit gelangte, dass Hammar Capital der Käufer war, würde der Kurs rapide in die Höhe schnellen. Bis jetzt waren sie äußerst vorsichtig gewesen. Sie hatten mittels zuverlässiger Strohmänner tagein, tagaus eingekauft und nur in geringen Mengen. Kleine Bewegungen verursacht, die nicht mehr als eine Kräuselung der weitläufigen Börsenoberfläche nach sich zogen. Doch sowohl Michel als auch ihm war klar, dass sie sich nun einer kritischen Grenze näherten.

»Wir wussten ja, dass wir früher oder später gezwungen sein würden, damit an die Öffentlichkeit zu gehen«, erklärte David. »Malin feilt schon seit Wochen an der Pressemitteilung.«

»Die Leute werden ausflippen«, meinte Michel.

David verzog den Mund. »Ich weiß. Wir können nur hoffen, noch eine Zeit lang unterhalb des Börsenradars zu fliegen«, sagte er.

Michel nickte. Das war schließlich die Grundidee von Hammar Capital. Ihr Team aus Analysten spürte Unternehmen auf, die schlecht liefen, obwohl sie eigentlich gut aufgestellt waren. David und Michel identifizierten das Problem – oftmals eine inkompetente Unternehmensführung – und durchkämmten dann den Markt nach Aktien, um schließlich die Mehrheit zu erwerben.

Dann stürmten sie das Unternehmen, in brutaler Art und Weise. Übernahmen die Geschäfte und strukturierten den Laden um. Zerstückelten die Substanz und werteten sie auf. Verkauften und profitierten. Das konnten sie besser als fast alle anderen: etwas in ihren Besitz zu bringen und dessen Wert zu steigern. Manchmal lief es reibungslos und man zog an einem Strang, sodass Hammar Capital seine Agenda umsetzen konnte. In anderen Fällen lief es auf einen Kampf hinaus.

»Ich würde gerne jemanden aus der Eigentümerfamilie auf unserer Seite wissen«, sagte David, während sich die südlichen Stadtteile Stockholms vor ihnen ausbreiteten.

Einen oder mehrere der einflussreichen Aktieninhaber auf seiner Seite zu haben, beispielsweise einen der Manager der gigantischen Rentenfonds, war entscheidend, um eine feindliche Übernahme in dieser Größenordnung überhaupt bewältigen zu können. David und Michel hatten viel Zeit investiert, um diese zu überzeugen, in unendlich vielen Meetings gesessen und unzählige Rechenexempel durchgeführt. Aber ein Mitglied aus der Eigentümerfamilie für sich zu gewinnen, brachte diverse weitere Vorteile mit sich. Zum einen natürlich einen enormen Prestigegewinn, nicht zuletzt weil das Unternehmen, um das es hier ging, Investum, eine der größten und ältesten Aktiengesellschaften des Landes war. Zum anderen könnten automatisch andere folgen und zum Vorteil von Hammar Capital abstimmen, wenn sein Unternehmen vorweisen könnte, dass eine Person aus dem innersten Kreis auf seiner Seite stand. »Das würde den Prozess deutlich erleichtern«, fuhr er fort.

»Und wen?«

»In der Familie gibt es tatsächlich jemanden, der einen eigenen Weg gegangen ist«, erklärte David, während der Flughafen Bromma am Horizont sichtbar wurde.

Michel schwieg eine Weile. »Die Tochter, oder?«, fragte er dann.

»Ja«, antwortete David. »Sie ist ziemlich unscheinbar, soll aber angeblich sehr intelligent sein. Gut möglich, dass sie unzufrieden ist mit der Art und Weise, wie die Männer sie behandeln.« Investum war nicht nur ein alteingesessenes und traditionsreiches Unternehmen. Es wurde auch in einer patriarchalischen Art und Weise geführt, die die Fünfzigerjahre als modern und aufgeklärt erscheinen ließen.

»Glaubst du wirklich, dass du irgendjemanden in dieser Familie überzeugen kannst?«, fragte Michel mit Zweifel in der Stimme. »Du bist nicht gerade beliebt bei ihnen.«

David musste beinahe lächeln angesichts dieser Untertreibung.

Investum wurde von der Familie de la Grip kontrolliert, und das Unternehmen setzte täglich Milliardenwerte um. Indirekt kontrollierte Investum und damit die Familie annähernd ein Zehntel des schwedischen Bruttoinlandsprodukts und besaß die größte Bank des Landes. Es gab kaum einen Aufsichtsrat eines größeren schwedischen Unternehmens, in dem sie nicht repräsentiert waren. Die de la Grips waren adlig, traditionsbewusst und vermögend. So nahe man eben dem Königshaus kommen konnte, ohne königlich zu sein, noch dazu mit bedeutend blauerem Blut als ein Bernadotte. Dass er, der Emporkömmling David Hammar, eine Person aus dem innersten, für seine Loyalität bekannten Familienkreis dazu bringen würde, die Seite zu wechseln und zu ihm, einem berüchtigten Risikoinvestor und Corporate Raider, überzulaufen, war unwahrscheinlich.

Aber es war ihm bereits gelungen, einzelne Mitglieder verschiedener Familienunternehmen davon überzeugen können, gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Oftmals bewirkte dies allerdings, dass er zerrissene Familienbande hinter sich zurückließ, und meistens bedauerte er das sogar. In diesem Fall allerdings würde er es als einen willkommenen Bonus betrachten.

»Ich werde es jedenfalls versuchen«, sagte er.

»Das grenzt doch an Wahnsinn«, wandte Michel nicht zum ersten Mal im Verlauf dieses Jahres ein.

David nickte kurz. »Ich habe sie bereits angerufen und um ein Mittagsmeeting gebeten.«

»Natürlich …«, sagte Michel, während der Hubschrauber an Höhe verlor und zur Landung ansetzte. Der Flug hatte weniger als eine halbe Stunde gedauert. »Und was hat sie gesagt?«

David musste an die kühle Stimme denken, die sich gemeldet hatte. Am Apparat war nicht die Assistentin gewesen, sondern Natalia de la Grip persönlich. Sie hatte zwar überrascht geklungen, aber ansonsten nicht viel gesagt, sich lediglich für die Einladung bedankt und später durch ihre Assistentin den Termin per Mail bestätigen lassen.

»Sie sagte, dass sie sich auf unser Meeting freut.«

»Wirklich?«

David lachte auf, kurz und freudlos. Ihre Stimme hatte vornehm geklungen und ihn an diese arrogante Oberschichtmanier erinnert, die automatisch seinen Klassenhass aktivierte. Natalia de la Grip war eine von ungefähr hundert Frauen in Schweden, die mit einem Gräfinnentitel geboren worden waren, eine Elite innerhalb der Elite. Er konnte kaum in Worte fassen, wie wenig er von dieser Sorte Mensch hielt.

»Nein«, antwortete er. »Das hat sie nicht gesagt.«

Aber das hatte er auch nicht erwartet.

2

Donnerstag, 26. Juni

Natalia durchsuchte diverse Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. Sie zog ein Blatt mit Tabellen und Zahlen heraus.

»Aha«, rief sie und wedelte mit dem Papier. Sie warf der platinblonden Frau, die auf dem schmalen Besucherstuhl saß, einen triumphierenden Blick zu. Eigentlich fand der Stuhl in dieser Besenkammer, die Natalia als Büro diente, kaum Platz.

Natalias Freundin Åsa Bjelke warf einen teilnahmslosen Blick auf das Blatt Papier, bevor sie sich wieder der Begutachtung ihrer nudefarben lackierten Fingernägel zuwandte.

Natalia betrachtete das Chaos auf ihrem Schreibtisch. Sie hasste Unordnung, aber es war nahezu unmöglich, auf dieser kleinen Fläche Ordnung zu halten.

»Wie geht’s dir eigentlich?«, fragte Åsa und nippte an ihrem Take-away-Kaffee, während sie mit dem Blick verfolgte, wie Natalia erneut den Papierstapel zu durchsuchen begann. »Ich frag nur, denn du wirkst ziemlich unkonzentriert«, fuhr sie fort. »Du hast zwar so einige sonderbare Seiten, aber ein Mangel an Konzentration gehört nicht gerade dazu. So hab ich dich noch nie erlebt.«

Natalia runzelte die Stirn. Ein wichtiges Dokument war spurlos verschwunden. Sie würde eine der bereits über die Maßen gestressten Assistentinnen fragen müssen.

»J.O. hat gerade aus Dänemark angerufen«, erklärte sie und meinte damit ihren Chef. »Er bat mich, einen Bericht weiterzuleiten, den ich einfach nicht finden kann.« Sie erblickte ein weiteres Blatt Papier, zog es hervor und las es mit müden Augen. In der vergangenen Nacht hatte sie nicht gerade viel Schlaf bekommen. Erst hatte sie wegen einer bevorstehenden Fusion, die nahezu ihre gesamte Zeit in Anspruch nahm, bis spät in die Nacht gearbeitet. Und dann hatte am frühen – sehr frühen – Morgen auch noch ein Kunde angerufen, um sich über eine Sache zu beschweren, die definitiv auch noch ein paar Stunden hätte warten können. Sie sah Åsa fragend an. »Was meinst du damit, dass ich sonderbare Seiten habe?«

Åsa ging nicht darauf ein, sondern nahm noch einen Schluck aus ihrem Pappbecher. »Wo liegt das Problem?«, fragte sie.

»Die Probleme«, korrigierte Natalia. »Die Arbeit. Papa. Mama. Alles.«

»Aber du, dieses Suchen nach irgendeinem Blatt Papier, führt das denn zu irgendetwas? Was ist eigentlich aus der papierfreien Gesellschaft geworden?«

Natalia schaute erneut auf. Ihre Freundin sah fit und ausgeruht aus, gut gekleidet und frisch manikürt, und eine Welle der Irritation durchfuhr sie. »Nicht, dass ich mich nicht über deine unangekündigten Besuche freuen würde«, sagte sie nicht ganz aufrichtig, »aber Papa beklagt sich ständig über die hohen Gehälter seiner Juristen. Solltest du nicht um diese Zeit bei Investum sein und für dein Gehalt etwas tun? Ich meine, anstatt hier in meinem engen Büro im Prada-Kostüm herumzusitzen und mich zu schikanieren?«

Åsa winkte ungeduldig ab. »Ich verdiene definitiv mein hohes Gehalt. Und du weißt, dass dein Vater mich in Ruhe lässt.« Sie warf Natalia einen eindringlichen Blick zu. »Das weißt du genau.«

Natalia nickte. Sie wusste es.

»Ich war gerade in der Nähe«, fuhr Åsa fort, »und wollte nur fragen, ob du mit mir zu Mittag essen möchtest. Wenn ich nämlich noch ein weiteres Mal zusammen mit irgendwelchen Juristen von Investum zu Mittag essen muss, bring ich mich um. Tja, wenn ich gewusst hätte, wie todlangweilig Juristen sind, hätte ich etwas anderes studiert.« Sie fuhr sich durch ihre blonde Mähne. »Ich würde zum Beispiel eine gute Sektenführerin abgeben.«

»Tut mir leid«, antwortete Natalia rasch; zu rasch, was sie aber zu spät merkte. »Ich bin beschäftigt.« Sie räusperte sich. »Sorry«, fügte sie völlig unnötig hinzu. »Wie gesagt, ich bin beschäftigt.« Sie senkte den Kopf und begann in einigen Papieren zu blättern, die sie schon einmal durchgesehen hatte, um Åsas durchdringendem Blick zu entkommen.

»Wirklich?«

»Ja«, antwortete Natalia. »So ungewöhnlich ist es ja wohl nicht, oder?«

Åsa kniff die Augen zusammen. »Dafür, dass du eine Auffassungsgabe wie ein Computer besitzt, kannst du erstaunlich schlecht lügen«, konterte sie. »Gestern hattest du noch nichts vor, wie du selbst gesagt hast. Und andere Freunde hast du nicht. Versuchst du mir etwa aus dem Weg zu gehen?«

»Nein, ich bin beschäftigt. Und ich würde niemals auch nur davon träumen, dir aus dem Weg zu gehen. Du bist meine beste Freundin. Auch wenn ich sehr wohl noch andere Freunde habe. Aber vielleicht morgen? Ich lad dich ein.«

»Und womit bist du beschäftigt, wenn man fragen darf?«, wollte Åsa wissen, ohne sich durch das Versprechen zukünftiger Essenseinladungen ablenken zu lassen.

Natalia antwortete nicht. Sie schaute auf den übervollen Schreibtisch vor sich. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt für ein klingelndes Telefon oder einen Feueralarm, dachte sie.

Åsa riss die Augen auf, als hätte sie gerade eine Eingebung gehabt. »Aha, und wer ist er?«

»Mach dich nicht lächerlich. Ich bin nur zum Mittagessen verabredet.«

Åsas Augen zogen sich zu zwei türkisfarbenen Schlitzen zusammen. »Aber du benimmst dich so merkwürdig, selbst für deine Verhältnisse. Und mit wem?«

Natalia presste die Lippen aufeinander.

»Natalia, mit wem?«

Natalia gab auf. »Mit jemandem von – ähm – HC.«

Åsa schob ihre hellen Augenbrauen zusammen. »Mit wem?«, fragte sie ein weiteres Mal. Möglicherweise wäre aus ihr ja eine gute Sektenführerin geworden, aber zweifellos auch eine ausgezeichnete Vernehmungsleiterin, dachte Natalia. All dieses Blondie-Getue mit ihrem hellen lockigen Haar war reine Ablenkung.

»Es handelt sich lediglich um ein unverbindliches Mittagsmeeting«, sagte sie defensiv. »Ein Geschäftsessen. Er kennt J.O.«, fügte sie hinzu, als würde die Tatsache, dass ihr Lunchdate ihren Chef kannte, die Sache erklären.

»Wer?«

Sie kapitulierte. »David Hammar.«

Åsa lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und grinste breit, bis sie schließlich übers ganze Gesicht strahlte. »Also der Boss persönlich«, sagte sie. »Mister Corporate Raider himself. Der größte Bad Boy der Finanzwelt.« Sie legte den Kopf schräg. »Versprich mir, dass du alles daransetzt, ihn ins Bett zu kriegen.«

»Du hast sie ja nicht mehr alle«, entgegnete Natalia. »Du bist sexsüchtig. Eigentlich wollte ich sowieso absagen. Ich bin ziemlich im Stress. Aber eines der Dinge, die ich in dieser Unordnung auch nicht finden kann, ist das Handy, in dem ich seine Nummer gespeichert habe«, fügte sie hinzu. Wie zum Teufel konnte man ein Handy in einem Raum verlieren, der gerade mal vier Quadratmeter groß war?

»Aber warum um Gottes willen nimmst du dir denn keine Assistentin?«

»Ich habe eine Assistentin«, entgegnete Natalia. »Die im Gegensatz zu mir ein Privatleben hat. Ihre Kinder sind nämlich krank geworden, sodass sie nach Hause musste.« Natalia schaute auf die Uhr. »Schon gestern.« Mit einem Seufzer sank sie tiefer in ihren Bürostuhl. Sie schloss die Augen. Hatte keine Lust, noch länger zu suchen. Sie war wirklich am Ende. Es kam ihr so vor, als hätte sie seit Ewigkeiten nonstop gearbeitet. Dennoch lag sie mit allem möglichen Papierkram im Rückstand, musste noch einen Bericht vorbereiten und mindestens fünf Meetings buchen. Eigentlich hatte sie gar keine …

»Natalia?«

Åsas Stimme ließ sie zusammenzucken, und Natalia merkte, dass sie kurz davor gewesen war, auf dem unbequemen Bürostuhl einzudösen.

»Was ist?«

Åsa betrachtete sie mit ernstem Blick. Das herausfordernde Grinsen war verschwunden.

»Hammar Capital ist weiß Gott nicht so ein übler Laden, wie dein Vater und dein Bruder denken. Sie sind tough, ja, aber David Hammar ist beileibe nicht der Teufel persönlich. Und er sieht verdammt gut aus. Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen, wenn du dich auf ein Treffen mit ihm freust.«

»Nein«, meinte Natalia. »Ich weiß.« Trotzdem hatte sie sich gefragt, was der legendäre Chef von Hammar Capital ausgerechnet von ihr wollte. Er war zwar in der Tat nicht der Teufel persönlich, aber er hatte selbst mit dem Maß der Finanzbranche gemessen den Ruf, knallhart und rücksichtslos zu sein. »Nein, ich werde nur mit ihm zu Mittag essen und das Terrain sondieren«, entgegnete sie entschieden. »Wenn er vorhat, irgendeinen Deal mit unserer Bank abzuschließen, muss er sich sowieso an J.O. wenden und nicht an mich.«

»Die Sache ist nur die, dass man das bei Hammar Capital nie genau weiß«, meinte Åsa und stand mit einer eleganten Bewegung auf. »Und außerdem unterschätzt du deine Fähigkeiten. Kennst du etwa eine andere Person, die so gescheit ist wie du? Nein, na also.« Sie strich mit der Hand über ihren absolut fleck- und faltenlosen Rock. Zum eng anliegenden Kostüm (Natalia wusste zufällig, dass dieses Kostüm von Prada individuell für Åsa maßgeschneidert worden war) trug sie eine schlichte Seidenbluse und hellbeigefarbene Pumps und sah dennoch aus wie ein glamouröser Filmstar.

Åsa beugte sich über den Schreibtisch. »Du weißt genau, dass es dir ziemlich egal sein kann, was dein Vater denkt«, sagte sie, womit sie zielsicher einen wunden Punkt traf. »Du bist verdammt smart und wirst es weit bringen. Du könntest auch hier Karriere machen.« Åsa schlug mit den Armen in Richtung der Bürolandschaft vor ihnen aus, die zur schwedischen Filiale einer der weltgrößten Banken, der Bank of London, gehörte. »Du musst nicht zwangsläufig im Familienunternehmen arbeiten, um Wertschätzung zu erfahren«, fuhr Åsa fort. »Dort vertreten sie die weitaus mieseste Einstellung gegenüber Frauen, die man sich denken kann, und das weißt du. Dein Vater ist hoffnungslos, dein Bruder ein Idiot, und der Rest des Vorstands besteht aus chauvinistischen Machos. Ich muss es wissen, ich arbeite schließlich mit ihnen zusammen.« Sie legte den Kopf schräg. »Du bist intelligenter als sie alle zusammen.«

»Vielleicht.«

»Und warum hast du dann keinen Posten im Vorstand?«

»Aber du arbeitest ja trotz allem da, du bist doch zufrieden, oder?«, fragte Natalia und wich damit der Frage um ihre Mitgliedschaft im Vorstand von Investum aus. Das war wirklich ein wunder Punkt.

»Ja, aber ich bin nur durch die Quote reingerutscht«, antwortete Åsa. »Durch einen Mann, der Quoten ebenso hasst wie Einwanderer, Feministinnen und Leute aus der Arbeiterklasse. Ich bin sein Alibi. Er kann jederzeit auf mich verweisen und sagen, dass er selbstverständlich Frauen einstellt.«

»Papa hasst keine …«, protestierte Natalia, verstummte aber. Åsa hatte recht.

»Und außerdem tue ich deinem Vater leid, weil ich keine Eltern mehr habe«, fuhr Åsa fort. »Darüber hinaus hege ich keinerlei Ambitionen, Chefin zu werden und diesen elendigen Laden zu übernehmen. Meine einzige Ambition besteht darin, nicht vor Langeweile zu sterben. Aber du, du könntest so weit nach oben kommen, wie du willst.«

Åsa nahm ihre Fünfzigtausendkronenhandtasche und begann darin zu wühlen. Sie zog einen Lippenstift hervor und fuhr sich damit leicht über die Lippen.

»Er hat mich um ein diskretes Treffen gebeten«, erklärte Natalia. »Eigentlich hätte ich dir gar nichts sagen dürfen. Du erzählst es doch nicht weiter, oder?«

»Dummerchen, natürlich plaudere ich nichts aus. Aber was glaubst du, will er?«

»Wahrscheinlich handelt es sich um irgendeine Finanzierung. Vielleicht ein Geschäft mit einem unserer Kunden? Ich habe keine Ahnung. Hab die halbe Nacht wach gelegen und versucht, es herauszufinden. Vielleicht will er ja auch einfach nur networken?« Es war nicht ungewöhnlich, dass Leute sie aufgrund ihres Backgrounds treffen wollten – eine de la Grip, eine Frau mit den richtigen Kontakten und der passenden Abstammung. Sie verabscheute das. Aber David Hammar hatte sie neugierig gemacht. Er hatte weder einschmeichelnd noch aalglatt geklungen, lediglich höflich. Und außerdem musste sie sowieso etwas essen, also …

Åsa warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Eigentlich müsste ich ja mitkommen. Denn wer weiß, welch dummes Zeug du in meiner Abwesenheit von dir gibst.«

Natalia verzichtete darauf, Åsa auf die Tatsache hinzuweisen, dass sie als eines der vielversprechendsten Talente der Finanzwirtschaft galt, einem der komplexesten Gebiete innerhalb der Finanzbranche, und dass sie außerdem ganz oben im Ranking aller Absolventen stand, die jemals ein Examen an der Handelshochschule Stockholm abgelegt hatten. Oder dass sie im Zuge ihrer Arbeit mit Unternehmensfinanzierungen, Firmenübernahmen und Consultings buchstäblich Hunderte Millionen schwedischer Kronen täglich bewegte und kurz davorstand, eines der kompliziertesten Bankgeschäfte abzuwickeln, das jemals in Schweden getätigt worden war. Trotzdem hatte Åsa recht – wer wusste schon, was sie heute für dummes Zeug plappern würde, so unkonzentriert, wie sie war. »Ich ruf dich an und erzähl dir, wie es gelaufen ist«, meinte sie nur.

Åsa betrachtete sie lange. »Hör dir wenigstens an, was er will«, sagte sie schließlich. »Es kann nicht schaden. Viele würden über Leichen gehen, um mit David Hammar zusammenarbeiten zu können. Oder Sex mit ihm zu haben.«

»Findest du es nicht zu riskant, wenn ich zusammen mit ihm gesehen werde?«, fragte Natalia und verabscheute den unsicheren Ton in ihrer Stimme.

»Natürlich ist es riskant«, entgegnete Åsa. »Er ist gefährlich, reich, und dein Vater hasst ihn. Was willst du mehr?«

»Soll ich absagen?«

Åsa schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ein Leben ohne Risiko ist kein Leben«, entgegnete sie.

»Ist das etwa der Spruch des Tages?«, fragte Natalia.

Åsa lächelte, richtete sich auf und reichte Natalia ihren ausgetrunkenen Kaffeebecher. Er war weiß und mit einem schwarzen verschnörkelten Schriftzug versehen. »Nein, das stand da drauf. Diese Kaffeekette hat offensichtlich eine poetische Ader«, antwortete sie. »Dann werde ich wohl mal wieder zurück in mein Büro gehen und ein paar Telefonate führen. Vielleicht finde ich ja jemanden, den ich feuern kann. Juristen sind wirklich keine freundlichen Zeitgenossen. Wo trefft ihr euch eigentlich?«

»Auf Djurgården. Im Ulla Winbladh.«

»Es gibt Schlechteres«, sagte Åsa mit der Miene einer Kritikerin, die ausnahmsweise einmal nichts zu beanstanden hatte, obwohl sie sich ernsthaft bemühte. Sie strich mit den Fingern über ihren Schal. Als Natalia zuletzt einen solchen Seidenschal gesehen hatte, lag er in einem Regal im Nobelkaufhaus Nordiska Kompaniet und war mit einem Preisschild mit einem vierstelligen Betrag versehen.

»Du bist ein Snob, weißt du das?«, meinte sie.

»Qualitätsbewusst«, korrigierte Åsa und schob die Griffe ihrer Handtasche über ihre Schulter. »Schließlich können nicht alle Massenware kaufen, das versteht sich doch von selbst.« Sie schüttelte sich kurz und warf Natalia dann einen strahlenden türkisfarbenen Blick zu. »Vergiss nur nicht, dich zu schützen; wer weiß, mit wem er schon alles geschlafen hat.«

Natalia verzog das Gesicht. »Wie es scheint, hauptsächlich mit Prinzessinnen, jedenfalls wenn man den Gerüchten glauben darf«, entgegnete sie, da sie es sich nicht hatte nehmen lassen, im Internet durch die Klatschseiten zu klicken.

»Bäh, europäische Neureiche, dieses Gesindel«, entgegnete Åsa, deren Adelsgeschlecht aus dem dreizehnten Jahrhundert stammte. »Tu nichts, was ich nicht auch machen würde.«

Dann war der Rahmen ja recht großzügig gesteckt, dachte Natalia, schwieg jedoch.

»Willst du das da etwa anbehalten?«, fragte Åsa und musterte Natalias Kostüm mit einer Miene, die andeutete, dass es möglicherweise doch noch etwas Schlimmeres als Massenware gab. »Wo zum Teufel hast du das denn ausgegraben?«

»Es ist doch nur ein Mittagessen«, sagte Natalia verteidigend. »Und außerdem ist das Kostüm maßgeschneidert.«

Åsa ließ ihren Blick über den grauen Stoff gleiten. »Ja, schon möglich, aber in welchem Jahrzehnt?«

»Du bist wirklich ein furchtbarer Snob«, stellte Natalia fest, während sie aufstand, auf die Tür zuging und sie für Åsa öffnete.

»Schon möglich«, meinte Åsa. »Aber du weißt, dass ich recht habe.«

»Womit?«

Åsa lächelte in einer Art und Weise, die Männer dazu verleitete, sie auf Drinks einzuladen, mit ihren Ferienhäusern zu prahlen und sich mit weit ausgestreckten Beinen zu fläzen: »Mit allem, meine Liebe. Mit allem