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Übersetzung aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große

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Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

ISBN 978-3-492-99099-8
März 2018
Deutsche Erstausgabe
© Gallimard Ltée © Édito, 2016
www.editionsedito.com
Publié par l’intermédiaire de Mon Agent et Compagnie
6 rue Victor Hugo – 73000 Chambéry – France
www.monagentetcompagnie.com
Titel der französischen Originalausgabe:
»La petite boutique japonaise« bei Gallimard, Paris, 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Shutterstock
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Inhalt

Erster Teil – Pam

Erstes Kapitel

über den Einfluss von Matthieu Ricard auf das Wachstum der Bonsai

Zweites Kapitel

über die unwahrscheinliche Begegnung einer Geisha vom linken Seine-Ufer mit einem bretonischen Samurai

Drittes Kapitel

in dem die Auswirkungen von Bahnreisen auf die Erotik beschrieben werden

Viertes Kapitel

in dem man erfährt, wie Steve McQueen das Schicksal von Jean-Christophe Le Kervantec verändert hat

Fünftes Kapitel

in dem das unerbittliche Dallas-Universum das Recht des Stärkeren feiert

Sechstes Kapitel

in dem man erkennt, dass zu viel Maki-Sushi der Gesundheit einer Beziehung abträglich sein kann

Siebtes Kapitel

in dem das angebliche Taktgefühl des japanischen Volkes einen ordentlichen Schlag bekommt

Achtes Kapitel

in dem man den Unterschied zwischen Zufall und Wahrscheinlichkeit, Glück und Statistik begreift

Neuntes Kapitel

über die Notwendigkeit, qualitativ hochwertige Türrahmen zu besitzen, die leidenschaftlicher Gewalt widerstehen

Zehntes Kapitel

in dem Thad eine Strategie entwickelt, um bei Pam einzuziehen, ohne dass es danach aussieht

Elftes Kapitel

in dem die Geschichte eine tragische Wendung nimmt, die wir nicht kommen sahen

Zwölftes Kapitel

in dem es um Zugvögel geht

Dreizehntes Kapitel

in dem der Frage nachgegangen wird, ob sich Liebeskummer in japanischem Sud auflöst

Vierzehntes Kapitel

in dem nach einem Zusammenhang zwischen Thads Verschwinden und dem Leben des Samurai Miyamoto Musashi gesucht wird

Fünfzehntes Kapitel

in dem allen Ernstes die Frage gestellt wird, ob man mit einem Wochenpass der Pariser Verkehrsbetriebe nach Japan kommt

Zweiter Teil – Thad

Erstes Kapitel

in dem wir Thad in schlechter Verfassung bei minus fünfzehn Grad in Sapporo wiederfinden

Zweites Kapitel

Im Land der aufgehenden Sonne ist Saufen eine ernst zu nehmende Kunst.

Drittes Kapitel

Ein Yakuza ist ein stolzer Mann, er versteckt sich nicht, im Gegenteil, alle sollen wissen, wer er ist.

Viertes Kapitel

Heilsam ist es, sich seinen Körper wieder anzueignen. Jedenfalls sofern Nobu mal zwei Minuten die Klappe hält.

Fünftes Kapitel

in dem man sieht, wie Thad von Meister Po persönlich ins Gebet genommen wird. Und was daraus folgt.

Sechstes Kapitel

Über die Demütigung, wenn kindliche Ängste wieder aufsteigen. Vor allem, wenn man gerade splitternackt in einem Fluss sitzt.

Siebtes Kapitel

in dem wir erfahren, dass Richard Chamberlain in den Dornenvögeln glaubwürdiger ist als in Shogun und welchen Einfluss dies auf Thads Geschicke hat

Dritter Teil – Lehrjahre einer Geisha

Kleines Kapitel

Erstes Kapitel

in dem wir Pamela tausend Fuß über der Erde antreffen, bevor sie abrupt landet

Zweites Kapitel

in dem ein zu Unrecht verkanntes Gesetz überprüft wird: Angst löst sich im warmen Wasser auf.

Drittes Kapitel

in dem Pamela beschließt, sich den Geistern zu überlassen, damit sie ihr bei ihrer Suche helfen

Viertes Kapitel

in dem man mehr über Keikos geheimnisvolle Aktivitäten erfährt – worauf Pamela gern verzichtet hätte

Fünftes Kapitel

das zu der Erkenntnis führt, dass man manchmal nur in den Zug steigen muss, um den Blickwinkel zu ändern

Sechstes Kapitel

in dem sich die Ausbildung zur Geisha in Kyoto als sehr viel komplexer erweist als am linken Seine-Ufer

Siebtes Kapitel

Wenn der Wert auch nicht nach der Zahl der Jahre fragt, kann die Lehrzeit doch ein ganzes Leben dauern. Was lang werden könnte.

Achtes Kapitel

in dem man sich daran erinnert, dass Sue Ellen trinkt, um den gemeinen J. R. zu vergessen, und dass Pamela keinen Alkohol verträgt

Neuntes Kapitel

in dem ein Horoskop und ein paar kurze, trostreiche Gedichte das Gefühl der Hochstapelei nicht aufwiegen

Zehntes Kapitel

in dem Keiko wieder auftaucht, was verheerende Folgen für die Moral unserer kleinen Geisha hat

Elftes Kapitel

in dem Pamela Nobu als Schattenriss sieht – ein Höhepunkt, wenn man einen Japaner kennenlernen will

Zwölftes Kapitel

Seit er sich für einen Boten der Kami hält, zweifelt Nobu an nichts mehr. Zu Recht oder zu Unrecht?

Kleines Briefkapitel

Dreizehntes Kapitel

in dem wir uns der Lösung nähern, während die Wetten noch offen sind

Vierzehntes Kapitel

in dem Pamela ihre vornehme Zurückhaltung aufgibt und mit Musashi und Grünschnabel abrechnet

Epilog

Danksagung

Glossar

Zitate

ERSTER TEIL

Pam

»Willst du mir wohl sagen, wenn ich bitten darf, welchen Weg ich hier nehmen muss?«
»Das hängt zum guten Teil davon ab, wohin du gehen willst«, sagte die Katze.
»Es kommt mir nicht darauf an, wohin«, sagte Alice.
»Dann kommt es auch nicht darauf an, welchen Weg du nimmst«, sagte die Katze.
»Wenn ich nur irgendwo hinkomme«, fügte Alice als Erklärung hinzu.
»O, das wirst du ganz gewiss«, sagte die Katze, »wenn du nur lange genug gehst.«

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Erstes Kapitel

über den Einfluss von Matthieu Ricard auf das Wachstum der Bonsai

Thad war höchst schlecht gelaunt aufgestanden, hatte Kurs gen Osten genommen und Pamela in tiefster Verzweiflung zurückgelassen. Um ihre Demütigung zu ermessen – aber war es denn eine? –, unternahm Pamela eine Kreuzfahrt auf den Bâteaux-Mouches. Heißt es nicht, dass Reisen bildet?

An diesem Montagmorgen alterte Pam um Jahre.

Aus Protest ging sie auf der falschen Seine-Seite. Die Gefährdung war kaum wahrnehmbar, aber durchaus real: Mit kleinen Schritten trippelte sie, entgegen ihrer Gewohnheit, die Kais am rechten Ufer entlang. Als sie den Rollladen des winzigen Geschäfts am Quai Malaquais öffnete, schien ihr, dass die Bonsai merkwürdig dreinschauten, sie hätte schwören können, dass sie sich von ihren zweiundzwanzig Zentimetern tausendjährigem Zen herab über sie lustig machten. Vor allem der ehrwürdige Gaozong Tang, den ihr Madame Pichon, die Hausmeisterin vom Quai Voltaire 26, über den Urlaub anvertraut hatte. Wie hässlich er bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, ganz zerknautscht unter seinen winzigen Blättern und in der grotesk verkrümmten Haltung eines Bettlers, der den Gnadenstoß erfleht! Mit großer Geduld hatte Pamela seine Lebensfreude wiedererweckt.

Um ihm die Hoffnung zurückzugeben, hatte sie ihm lange Passagen aus Glück von Matthieu Ricard vorgelesen. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass das buddhistische Mitgefühl das Herz des entwurzelten Chinesen berühren würde. Und hatte recht behalten, denn nach und nach hatte Gaozong [→ Glossar] wieder Haltung angenommen und zur stattlichen Erscheinung eines Kaisers der dreizehnten Tang-Dynastie zurückgefunden, die hinsichtlich der kulturellen Ausstrahlung des Reichs der Mitte nicht die schlechteste war. Das Ergebnis war so spektakulär, dass Madame Pichon in ihrer Begeisterung ihren Bonsai immer öfter in Pamelas Obhut gab.

In Wahrheit fühlte sich Gaozong einfach nicht wohl in der zugigen Hausmeisterloge am Quai Voltaire, wo er, vom Papageienkäfig bedrängt, auf der Heizung stand und ständig von den Vögeln angekreischt wurde. Also krümmte er sich und warf ein paar Blätter ab, gerade genug, um seine Besitzerin zu beunruhigen, die ihn umgehend in den kleinen Japanladen am Quai Malaquais zurückbrachte.

Pam fiel nicht darauf herein, sie hatte den Trick des Ehrwürdigen schnell durchschaut. Aber sie sagte nichts, und diese Zurückhaltung besiegelte eine Art Pakt zwischen ihnen. Irgendwann gewöhnte sie sich dann an, ihre Gefühle mit Gaozong zu teilen. Prinz Charles sprach schließlich auch mit seinen Rosen.

Die übrigen Bonsai standen in Reih und Glied in den Regalen. Links die Pensionsgäste, rechts, gut sichtbar im Schaufenster, die zum Verkauf bestimmten. Mindestens einmal täglich kam eine elegante Dame, ein älterer Herr oder ein Tourist durch die Tür, um zu fragen, wie teuer der hübsche Bonsai ganz oben in dem linken Regal sei. Pamela antwortete jedes Mal, er sei nicht zu verkaufen, sondern nur auf der Durchreise hier, sie sollten sich einen aus dem Schaufenster auf der anderen Seite aussuchen. Dann betrachteten sie jedes einzelne Bäumchen ausführlich, kniffen enttäuscht die Lippen zusammen und verließen das Geschäft am Ende mit leeren Händen. Pamela hatte schon versucht, den Lauf der Dinge zu ändern, indem sie die Bäume umgekehrt aufstellte, die Pensionsgäste ins Fenster und die verkäuflichen nach hinten. Aber das machte alles nur noch schlimmer: Die Kunden waren nicht mehr nur enttäuscht, sondern wütend und schimpften auch noch, wenn sie mit leeren Händen gingen.

»Erfolg ist eher eine Frage von Begabung und Talenten als eine des finanziellen Ertrags«, pflegte der Eigentümer des kleinen Japanladens zu sagen. Diese Haltung kam Pamela sehr entgegen, denn trotz ihres glücklichen Händchens in der Pflege der Bonsai, wobei sie den ersten Grundsatz der Schnittkunst, nie die Oberfläche der Blätter zu verringern, peinlich genau befolgte, war sie für den Verkauf absolut unbegabt. Die mehrere Hundert Jahre alten Bäumchen fanden nie einen Abnehmer und waren anscheinend dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in dem kleinen Japanladen zu bleiben.

An diesem Tag war alles anders, fast hätte man meinen können, die Bäume wüssten etwas. Aus ihren tausend kleinen grünen Augen blickten Pamela ebenso viele Vorwürfe an, und diese überwältigende vegetabile Missbilligung konnte sie nicht ertragen.

Die Ikebana-Bestellungen mussten noch warten. Pamela trippelte mit kleinen Schritten ins Hinterzimmer und setzte Wasser auf. Sie brauchte jetzt eine Tasse Tee, um angemessen über ihr großes Unglück nachzudenken.

*

Die Teezubereitung ist ein wunderhübsches Ritual, das Konzentration und Genauigkeit verlangt. Einen Suppenlöffel Kirschblütentee in die Kanne geben, das Wasser auf siebzig Grad und nicht ein Grad mehr erhitzen, fünfundvierzig Sekunden und nicht eine Sekunde länger ziehen lassen, abseihen und möglichst heiß trinken.

Pam verbrühte sich jedes Mal. Aber das war wahrscheinlich der Preis, den man für ein Leben als Geisha zahlen musste. Und Pam wollte unbedingt Geisha werden, seit sie alt genug war, etwas werden zu wollen.

In diesem Moment konzentrierte sie sich auf die Geräusche des Wasserkessels, wartete auf das Schrillen vor dem Brodeln, zu dem es nicht kommen durfte, weil der zarte Kirschblütentee kochendes Wasser nicht überstehen würde. Dann würde er schmecken wie im Hals stecken geblieben. Also ungefähr so, wie sie sich heute Morgen fühlte.

Während sie, in ihren meerblauen Kimono gehüllt, kerzengerade auf der äußersten Stuhlkante saß, spürte Pam, wie der schwarze Regen ihres persönlichen Hiroshima in ihr aufstieg. Sie trank ihren Tee in kleinen leisen Schlucken – ihr natürliches Taktgefühl hatte sie seit jeher vom geräuschvollen Schlürfen der Japaner abgehalten.

Der Kirschblütentee war schal geworden. Anstelle der gewohnten zarten Bitterkeit hinterließ er einen Geschmack von Asche und Verbranntem auf ihrer Zunge. Thads unerwartetes, brutales Verschwinden hatte die Wirkung eines Tsunami. Der Kummer, der es sich in ihrer Kehle bequem gemacht hatte, wurde mit glühend heißen kleinen Schlucken in ihre Brust verdrängt. Eine Weile lang glaubte Pam, sie könnte das Schluchzen, das sich in ihrer Herzgegend ansammelte, in literweise Kirschblütentee ertränken. Doch der Schmerz nahm eine andere Richtung, um sich seinen Weg hinaus zu bahnen. Zwei Tränen, erlesene Tauperlen, die der zarte Vorhang ihrer Wimpern nicht länger zurückhalten konnte, kullerten über ihre Wangen und zogen zwei makellos gerade Furchen durch ihr hell gepudertes Gesicht, bevor sie sich schließlich in Höhe ihres Kinns, das bei Pam hübsch zugespitzt war, vereinten. Mit einem Wimpernschlag wurde ihr Gesicht zu einem überfluteten Reisfeld und ihr Kurtisanen-Make-up zu einer ekelhaft schmierigen Brühe, die in dicken Tropfen auf ihre Kimonojacke fiel. Das Geisha-Bild, das sie sich jahrelang geduldig erarbeitet hatte, weichte auf und wurde von einem Sturzbach aus Tränen fortgeschwemmt.

Pamelas Japanbegeisterung reichte weit zurück. Kaum der Kindheit entronnen, hatte sie eine Leidenschaft für Yoko Tsuno entwickelt, die bezaubernde Weltraummechanikerin mit dem schwarzen Aikido-, Judo- und Kendo-Gürtel, deren in Spirou veröffentlichte Abenteuer sie faszinierten. Ungeduldig erwartete Pamela jedes Wochenende die Heimkehr ihres Vaters, um das ersehnte Heft, das gefaltet in seinem Aktenkoffer lag, in die Finger zu bekommen. Und allmählich färbte die unerschrockene Japanerin mit dem Haarschnitt von Mireille Mathieu (Nummer eins in Japan), die so harmlos aussah, es aber faustdick hinter den Ohren hatte, auf sie ab. Irgendwann gab ihre Mutter nach und meldete sie für einen Jiu-Jitsu-Kurs im Haus der Jugend und Kultur von Melun an. Jedes Mal, wenn sie ihren weißen Kimono anlegte, fühlte sich Pamela in ihrem Element. Leider blieb der Gürtel auch weiß, denn trotz aller Bemühungen machte Pam keinerlei Fortschritte. Irgendwann bekam sie dann doch noch ihren gelben Gürtel, nach fünf Jahren schwerster Depressionen aufseiten ihres Lehrers, den sein Verbandsdiplom nicht darauf vorbereitet hatte, mit einer so vollkommen erfolglosen Beharrlichkeit konfrontiert zu werden.

Als Pam später auf der letzten Umschlagseite von Das andere Geschlecht las: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«, dachte sie, das Gleiche müsse doch auch für Geishas gelten. Ihr war durchaus bewusst, dass das nicht so einfach werden würde, zumal sie aus Melun-Sénart stammte. Trotzdem hatte sie sich über die Jahre eine Identität als Geisha zusammengebastelt. Es war ein kühnes Unterfangen gewesen, gegen den Strich von allem und allen um sie herum. Stoisch ertrug sie die Verachtung ihrer Mitschüler und das überhebliche Desinteresse ihrer Lehrer auf dem technischen Gymnasium, das Unverständnis ihrer Mutter und die wohlwollende Neugier ihres Vaters, der ihr allerdings irgendwann etwas zu aufmerksam unter den Kimono schaute.

Pam blieb ihrem Vorhaben treu, obwohl Yoko Tsuno mehr einer Manga-Puppe made in Belgium glich als einer traditionellen Kurtisane, obwohl ihre innere Geisha unbeständig war und aus lauter Versatzstücken bestand und obwohl ihr Verlobter Yvon sie deswegen verlassen hatte. Man wird eben nicht als Geisha geboren, sondern man wird es. Aber niemand kann einem sagen, wie lange das dauert.

In diesem Moment jedoch, an diesem Montagmorgen, hatte sie das Gefühl, dass ihr Kopf vor Schmerz explodiert und all ihre Gedanken in die Luft geflogen waren. Nun musste sie diese verstreuten Sinnsplitter erst wieder aufsammeln und zusammenfügen. Aufmerksam betrachtete sie die Gegenstände, die sie umgaben und die so perfekt zu ihrer Idealwelt passten: die vielhundertjährigen Bonsai, die Ikebana-Körbe, Hokusai-Landschaften an der Wand – die ganze beruhigende Zeitlosigkeit des kleinen Japanladens.

Was blieb von diesem vertrauten Universum, das ihr nun haltlos und fremd erschien? Gab es überhaupt noch eine Verbindung zum Tag davor, als alles einfach war? Was sollte aus ihrem Leben werden?

Ihr Wertesystem, das die Grundlage für das bescheidene Gleichgewicht ihrer Existenz als Geisha vom linken Seine-Ufer bildete, war durch Thads Verschwinden zutiefst erschüttert worden. Daran ließ sich erkennen, wie vage und zerbrechlich ihr inneres Konstrukt war. Mit tränenblinden Augen las sie immer wieder die Worte, die er ihr hinterlassen hatte:

Verzeih, muss weg.

Wie vom Donner getroffen saß Pam kerzengerade auf der äußersten Stuhlkante im Hinterzimmer des kleinen Japanladens.

Wozu Geisha sein, wenn der Samurai sich aus dem Staub macht?

Zweites Kapitel

über die unwahrscheinliche Begegnung einer Geisha vom linken Seine-Ufer mit einem bretonischen Samurai

Thad war der perfekte Samurai. Seine dünnen langen Haare trug er mal mit einem langen Perlmuttstäbchen zu einem kläglichen Dutt hochgesteckt, mal zu einem schmalen Zopf geflochten, der ohne Aussicht auf Erfolg Richtung Lenden strebte. Er war mittelgroß mit geraden Schultern und schmaler Taille, und unter dem dünnen Stoff seiner eng anliegenden schwarzen Hemden zeichneten sich seine sehnigen Muskeln ab.

Am Ansatz seiner Handgelenke konnte das geübte Auge die verschnörkelten Ausläufer eines furchterregenden Tattoos erkennen. Sein unerschrockenes Gesicht mit den hohen, vorstehenden Wangenknochen, typisch für Bretonen der Côtes-d’Armor, strahlte eine gelassene Grausamkeit aus. Ein Eindruck, den der tödliche Blick aus seinen schimmernden schwarzen Augen noch verstärkte. Eine schmale Narbe nahm an der rechten Schläfe ihren Ausgang, führte dicht am Ohr vorbei, folgte der Kante des Kiefers, verschwand unter dem Kinn und tauchte am Hals wieder auf, dem sie bis zum Schlüsselbein folgte und dann wer weiß wo endete. Eine seltsame Narbe war das, Spur eines unwahrscheinlichen Unfalls oder einer alten Verletzung. Am unteren Rücken, wo sich der Hintern zu wölben begann, hob sich ein bohnenförmiger blaugrauer Fleck – Zeichen der Nachkommen Attilas – von seiner blassen Haut ab. Thad war der lebende Beweis dafür, dass ein paar Hunnenkrieger nach dem Gemetzel auf den Katalaunischen Feldern ihr Glück in der Bretagne versucht und sich dort an einer größtmöglichen Anzahl Bécassinen vergangen hatten. Er war das Inbild eines mongolischen Kriegsherrn.

Als Pam vor zwei Jahren die Glocke des kleinen Japanladens am Quai Malaquais bimmeln hörte und die überaus komplizierte Ikebana-Komposition, an der sie konzentriert und sorgfältig gearbeitet hatte, unterbrach, um den Kunden willkommen zu heißen, war ihr sofort klar, dass das, was da geschah, nicht wieder rückgängig zu machen war.

Obwohl er regungslos an der Schwelle verharrte, erfüllte die Anwesenheit dieses Mannes das ganze Geschäft. Eine Anwesenheit, die wie eine Anomalie wirkte.

»Bonjour, Monsieur, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Pam höflich.

»Keine Ahnung«, antwortete der Mann, sichtlich überrascht vom Auftritt dieses seltsamen japanischen Püppchens, das kerzengerade vor ihm stand. Er vermerkte die Modulation ihrer Stimme, den Tonfall und die Art, wie sie ihn begrüßt hatte: taktvoll und genau richtig, den Umständen absolut angemessen. Man musste die Kunst der Begrüßung verdammt gut beherrschen, um jemanden auf diese Art willkommen zu heißen. Automatisch registrierte er den alten Kimono, den fachmännisch um die Taille geknoteten traditionellen japanischen Gürtel – ein echter Obi – und ihr kindliches Gesicht, das auch durch die für diese Uhrzeit absurd dicke Schminke hindurch zu erkennen war. Schwer zu tragen und auf sich zu nehmen, sagte er zu sich selbst. Eine Frau, die sich so schminkt, zeigt, dass sie Absichten hat, dass sie sich behauptet, mächtig ist und fähig, in den Kampf zu ziehen. So merkwürdig ihre Haltung auch war, passte sie doch perfekt zum Geist dieses Ortes.

»Haben Sie einen bestimmten Wunsch? Suchen Sie etwas für sich selbst? Oder ein Geschenk?«, fragte Pamela liebenswürdig.

»Ein Geschenk«, sagte er und trat ein, womit er sie zwang, einen Schritt zurückzuweichen. »Sie haben sehr schöne Bonsai«, fuhr er fort und näherte sich langsam den kleinen Bäumchen.

Bei Gaozong angekommen, blieb er abrupt stehen. Pam bereitete sich auf die übliche Frage zum Ehrwürdigen vor und nahm innerlich schon die Reaktion auf ihre Antwort vorweg, dass er nicht zu verkaufen sei.

»Ein außergewöhnlicher Baum. Der hat bestimmt schon viel erlebt. Gestatten Sie, dass ich ihn ein wenig betrachte?«

»Bitte«, erwiderte Pam, überrascht von dieser zumindest ungewöhnlichen Frage.

»Ich werde Sie nicht stören.«

»Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen, ich arbeite weiter im Hinterzimmer, gleich dort.« Sie deutete die Richtung mit einer Kinnbewegung an, bevor sie mit einer leichten Drehung des Oberkörpers entschwand. Thad dachte, dass er nie etwas Anmutigeres gesehen hatte als diese kaum angedeutete Geste, die eine am linken Seine-Ufer eher seltene Gastlichkeit ausdrückte. Aus dem Hinterzimmer, in dem sie verschwunden war, drang ihre gedämpfte Stimme an sein Ohr: »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie so weit sind.«

*

Allein im Laden, spürte der Mann in Schwarz, wie Verwirrung ihn überkam und gleich heimisch wurde. Diese Frau zeigte Wirkung. Viel zu viel für eine Frau. Etwas an ihr machte ihn nervös. »Ich bin ein einsamer Krieger«, murmelte er, an den Bonsai gewandt. »Ich darf keine Zeit mit einer Frau vergeuden, ich muss meinen Kampf führen, ohne mich ablenken zu lassen.«

»Von welchem Kampf sprichst du, und wer sind deine Gegner, Grünschnabel?«, säuselte der Bonsai. Thad wich zurück. War es möglich, dass der Baum seine Gedanken lesen konnte? Und im gleichen Tonfall zu ihm sprach wie Meister Po zu Kwai Chang Caine, dem Helden aus Kung Fu? Bestimmt fehlte es ihm an Schlaf, wahrscheinlich auch an Gesprächspartnern. Wann hatte er sich eigentlich das letzte Mal mit jemandem unterhalten? Ob er durch die über die Jahre angesammelte Einsamkeit zu einem sanften Irren geworden war, der mit Bäumen sprach?

Er war eher zufällig hereingekommen, er mochte Paris nicht besonders, schon gar nicht das linke Seine-Ufer. Wieder einmal war er nur auf der Durchreise. Bevor er nach Saint-Brieuc zurückfuhr, hatte er daran gedacht, seiner Mutter – einer strengen, verdienstvollen Bretonin – etwas zu schenken, deshalb hatte er die Tür des kleinen Japanladens aufgedrückt. Wie hätte er ahnen können, dass eine junge Frau mit blassem, sanftem Gesicht und großen, dunklen, von zwei schwarzen Khol-Linien übertrieben unterstrichenen Augen – eine unerbittliche Schönheit –, ihn hier festnageln würde? Ihn, den eiligen Mann, den Krieger ohne Herrn, den Ronin.

So gut es ging, konzentrierte sich Pamela wieder auf die Komposition des Ikebana für die Ehefrau von Dr. Atsura, dem Ladenbesitzer, ihrem Danna, der ihr so viel von Japan erzählt hatte, diesem außergewöhnlichen Land, das sie mit ganzer Seele liebte, ohne je dort gewesen zu sein.

»Das ist völlig unnötig«, hatte Dr. Atsura ihr versichert. »Die meisten Menschen, die mein Land besuchen, verstehen es nicht. Einfach weil sie es nicht können. Sie merken sich zwei, drei Klischees wie die blühenden Kirschbäume, den Berg Fuji und die Geishas, die sie für gewöhnliche Prostituierte in altmodischer Tracht halten, aber das Wesentliche entgeht ihnen.«

Deshalb hatte Pam sich gehütet, ihm zu sagen, dass ihr persönliches Japan, jedenfalls die Vorstellung, die sie davon hatte, genau dieser touristischen Beschreibung entsprach. Abgesehen von den Geishas, die sie seit Langem bewunderte und deren Leben sie dank Arthur Goldens Buch so gut kannte.

Dr. Atsura hatte milde gelächelt und sie angestellt im kleinen Japanladen im Erdgeschoss des Hauses, das er seit dreißig Jahren mit seiner Frau bewohnte, einer bewundernswerten Dame um die fünfzig, deren silbrig schimmerndes Haar am Hinterkopf kunstvoll hochgesteckt war. Sie hatte Pamela zartfühlend und wohlwollend aufgenommen und sie in die delikate Kunst des Ikebana und die Feinheiten der japanischen Kalligrafie eingeführt. Dr. Atsuras Frau hieß Masako, wie die Mutter von Yoko Tsuno. Pam hatte darin ein Zeichen gesehen. Ein sehr gutes Zeichen.

Die Komposition, an der sie arbeitete, war kompliziert. Sie sollte außergewöhnlich, einzigartig, bedeutsam sein. Die ganze Kunst des Ikebana besteht darin, eine geschnittene Blume lebendig wirken zu lassen, was äußerst schwierig zu erreichen und zu begreifen ist. Am Anfang muss man tricksen, man behilft sich mit Moos, allem möglichen Beiwerk und anderen Blüten, um der Komposition ein erlesenes, geheimnisvolles und vollendetes Aussehen zu verleihen. Zum größten Vergnügen der Pariser Kunden, die so ein wenig Shinto-Erleuchtung mit nach Hause nehmen konnten, denn die Anordnung der Blüten repräsentiert die drei Ebenen des Himmels, des Menschen und der Erde. Theoretisch kann derjenige, der diese Kunst beherrscht, auch mittels einer einzigen Blume in einer Vase ein ästhetisches Empfinden erzeugen. »Wenn Einfachheit das Ergebnis einer Summe beträchtlicher Anstrengungen ist, ist das wahre Kunst. Doch manchmal reicht ein ganzes Leben dafür nicht aus«, pflegte Masako zu sagen. Davon war Pamela weit entfernt, aber sie gab wie gewöhnlich ihr Bestes und widmete sich ruhig und konzentriert ihrer Aufgabe. Außer gerade jetzt. Beim Einsatz ihrer kleinen Schere, deren winzige Klingen glatt und mühelos die widerspenstigsten Stiele durchtrennten, hatte sie es seit ihrer Rückkehr ins Hinterzimmer zwei Mal geschafft, sich in den Finger zu schneiden. Die Wunden waren nur oberflächlich – ganz im Gegensatz zu der Verwirrung, die von ihr Besitz ergriff. Was machte der Besucher? Ob er noch da war?

Wahrscheinlich, denn die Glocke der Eingangstür hatte nicht wieder gebimmelt.

Wie viel Zeit seit seiner Ankunft vergangen war? Sie hatte nicht die geringste Ahnung.

Pam trug seit Langem keine Uhr mehr, sie verließ sich auf das Tageslicht und den Verkehrsfluss am Seine-Ufer. Bemerkenswerterweise irrte ihre innere Uhr fast nie und ging höchstens ein paar Minuten vor oder nach. Das war eine Gabe oder zumindest ein Talent, das ihr in Melun-Sénart einigen Ruhm eingebracht hatte.

»Los, Pam, sag mal, wie spät es ist.«

»Acht Uhr«, sagte sie dann, und es stimmte.

»Wie macht sie das nur?«, staunten die Nachbarn. Sol und Mich, ihre Eltern, waren sehr stolz auf den Erfolg ihrer kleinen sprechenden Standuhr.

»Und jetzt?«

»Acht Uhr zwanzig … acht Uhr zweiundzwanzig …«, antwortete Pam sanft und stets ein wenig verlegen, dass sie so viel Bewunderung für etwas ihr selbst Unerklärliches erntete. Manche Menschen können dank ihrer Gelenke Regen vorhersagen, Pam kannte die Uhrzeit. Das war alles und nichts.

Aber gerade in diesem Moment schien ihre innere Uhr verstellt zu sein. Es gab keinerlei Indiz für die Zeit, und die Arbeitsplatte im Hinterzimmer erwies sich als großartiger Nichtbeobachtungsposten. Pam versuchte, so leise wie möglich zu atmen, und spitzte die Ohren, damit ihr nicht das geringste Geräusch im Laden entging. Es war so still, dass der Besucher sich entweder in Luft aufgelöst haben musste oder vor Ort erstarrt und am Boden festgewachsen war. Ausgeschlossen, unter solchen Bedingungen eine angemessene Harmonie zwischen den blassrosa, fast weißen Pfingstrosen und dem zarten Grün des Zwergbambus herzustellen. Eine Aufgabe, die noch erschwert wurde durch das Blut, das aus den winzigen Schnittwunden von der Blumenschere perlte.

Pam legte die Blumen vorsichtig in den Korb, bedeckte sie mit Seidenpapier, damit sie nicht welkten, und ging zurück in den Laden.

Der Mann hatte sich nicht gerührt. Reglos stand er vor dem majestätischen Gaozong.

Pam war sofort klar, dass er sich mit dem Bonsai in einem Zwiegespräch befand und daraus ein geheimes Einverständnis zwischen den beiden erwuchs. Sie spürte das unmerkliche Zittern, das an den winzigen Blättern entlanglief – ein untrügliches Zeichen dafür, dass Gaozong der stummen Rede des Besuchers lauschte. Sie stand da, ohne sich zu bewegen, bis der Mann sich sehr langsam zu ihr umdrehte.

»Dieser Baum ist beeindruckend«, sagte er ernst. »Es ist ganz klar, dass er unverkäuflich ist, das kann gar nicht anders sein. Er ist dazu da, auf Sie aufzupassen.«

Pam schaffte es nicht, etwas dazu zu sagen, weil er gleich darauf mit demselben feierlichen Ernst verkündete: »Es wird ein Geschenk.«

»Wie bitte?«

»Was ich suche. Ich weiß noch nicht genau was, aber es wird ein Geschenk … für eine Frau.«

»Oh …«, murmelte Pamela bedauernd, fast schon ein bisschen traurig, »für eine Frau.«

Lange nachdem der Besucher gegangen war, ertappte sie sich dabei, wie sie die Tür anstarrte, durch die er verschwunden war.

Drittes Kapitel

in dem die Auswirkungen von Bahnreisen auf die Erotik beschrieben werden

In dem Zug, der ihn nach Saint-Brieuc brachte, musste Thad ständig an die seltsame Geisha vom linken Seine-Ufer zurückdenken. Denn eine Geisha war sie zweifellos. Gewisse Anzeichen können nicht täuschen. Die Feinheit der Stickereien wies ihre Kleidung als echten japanischen Kimono aus. Ein sehr schönes Stück – er musste ein wahres Vermögen wert sein. Wie kam eine kleine Bonsai-Verkäuferin dazu, so ein Kleidungsstück zu tragen oder gar zu besitzen?

Rätsel über Rätsel … Und ihr Obi aus bronze- und orangefarbener Seide war auf eine spezielle Weise geknotet: nach der Mode der Geisha-Schülerinnen in Kyoto. Diese Art Knoten ließ sich nicht lösen. Das wusste er nur zu gut. Er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie er es einmal mit ungeduldigen, ungeschickten Fingern versucht hatte … Wie hieß das Mädchen noch? Sein Kumpel Nobu hatte sie ihm vorgestellt, vor vielen Jahren, als sie in der Vorstadt von Osaka für Juntaro arbeiteten, einen ehemaligen General. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Ihr Name klang wie ein Parfum …

Thad hatte sehr gute Erinnerungen an seinen Auftrag in Japan. Es war sicher eine der besten Erfahrungen seiner gesamten jungen Karriere. Nicht unbedingt wegen der Arbeit – er sollte die Ansiedlung und Entwicklung einer südkoreanischen Firma überwachen, die mit der des Generals in Konkurrenz stand –, sondern weil er damals dieses fremde, faszinierende Land für sich entdeckte …

Die gigantischen Städte mit ihren wimmelnden Menschenmassen, die gleichwohl auf den Bürgersteigen so diszipliniert vorrückten wie eine Flut ohne Hoffnung auf eine Wiederkehr der Ebbe, hatten unerwartete Ängste in ihm wachgerufen. Glücklicherweise blieb ja noch das Land mit seiner atemberaubenden Schönheit. Die Berge, die kristallklaren Flüsse, die Pflaumen-, Kirsch- und Ahornbäume sahen immer wie Zeichnungen aus, die es darauf anlegten, die auf ihnen ruhenden Blicke zu blenden … In den zehn Monaten seines Auftrags in Japan hatte er sich angewöhnt, so oft wie möglich über Land zu wandern und in Herbergen zu übernachten, die für ihre unerschwinglichen Preise oft auffallend karg eingerichtet waren. Er hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass diese Kargheit den höchsten Luxus darstellte. Und Luxus ist teuer – in Japan wie überall.

Damals hatte er sich mit Nobu angefreundet, einem Riesen von der Insel Hokkaido, der nicht nur wegen seiner Größe, sondern mehr noch wegen seiner schroffen Art nicht ins Team passte – genauso wenig wie zu den restlichen japanischen Männern.

Dieser Waffenbruder hatte ihm das Buch geschenkt, das sein Leben verändern und sein Selbstbild erschüttern sollte. Es war die Geschichte von Miyamoto Musashi, dem (laut Nobu) größten Samurai aller Zeiten. Der hatte sich die Mühe gemacht, eine Art spirituellen und kriegerischen Ratgeber über den Weg des Schwertes zu verfassen, der dem Samurai den richtigen Weg erklärt, aber auch um einiges erschwert. Obwohl Thad nicht gleich alle Feinheiten erfassen konnte, hatte er doch das Gefühl, endlich die Anleitung für sein Leben in Händen zu halten, nach der er schon seit Jahren suchte.

Bis dahin hatte er einfach gemacht, wofür er bezahlt wurde, ohne zu fragen, ob das gut oder schlecht war. Moral war eine lästige Vorstellung, die einen höchstens daran hinderte, seine Arbeit ordentlich zu machen. Also hatte er sie schnell entsorgt. Er sah sich als Söldner wie Steve McQueen, sein Liebling aus den Glorreichen Sieben. Aber auch Söldner brauchen einen Sinn in dem, was sie tun, und einen Ehrenkodex, an den sie sich halten können. Deswegen suchen sie sich ihre eigenen Gesetzestafeln, denn die Erfahrung zeigt, dass ein Leben ohne Glauben und Gesetz nicht lange gut geht. Diesbezüglich hatte Thad seine eigenen Erfahrungen gemacht.

Er war dem Tod schon ein paarmal von der Schippe gesprungen. Der war schon ziemlich nah an ihm dran gewesen, hatte ihn herausgefordert und schließlich doch einen anderen genommen. Daraus hatte Thad den Schluss gezogen, ihm könne nichts passieren, also hatte er sich wie ein bretonischer Highlander benommen und seine Unsterblichkeit in Missionen getestet, die oft genug übel waren, ihn aber in der Welt herumkommen ließen.

Eines Abends behauptete Nobu, die sieben Söldner seien eigentlich sieben Samurai. Das kam Thad damals sehr komisch vor. Yul Brynner, okay, aber Steve McQueen? Ausgeschlossen! Nachdem er jedoch dank des Videoklubs unter der Wohnung, in der sie ihrer Überwachungstätigkeit nachgingen, den Tatsachen ins Auge geblickt hatte, klärte sich in seinem Geist alles auf: Cowboy und Samurai sind ein und dasselbe, wie Caine und Grünschnabel: Persönlichkeiten, die von einem ausgeprägten Gefühl für Pflicht und Ehre geleitet werden. Diese Erkenntnis erwies sich als recht nützlich, da sie es Thad erlaubte, ohne Gewissensbisse seinem Beruf nachzugehen, wenn die Anforderungen seiner Arbeitgeber radikaler wurden.

Die Fernüberwachung der Konkurrenz mündete in eine Einschüchterung der »verdammten koreanischen Hunde«. Es ging nicht mehr um Konkurrenz, sondern um Angriff, nicht mehr um Marktanteile, sondern um die verlorene Ehre, die zurückerlangt werden musste. Der Exgeneral der japanischen Armee, der zum Geschäftsmann geworden war, hatte wegen dieser Gaijin, wie man Ausländer in Japan abfällig nennt, unter mysteriösen Umständen das Gesicht verloren. Und durch die erlittene Schmach war die Ehre Japans dem Gespött ausgeliefert! Lieber sterben als zurückweichen! Wobei das Sterben nach Möglichkeit eher den Feind betreffen sollte als einen selbst.

Musashis Vorbild und Nobus Gehirnwäsche hatten Thad schließlich davon überzeugt, dass es etwas Ehrenhaftes war, diese niederen Dienste zu verrichten. So war er nicht mehr der Gaijin-Komplize eines Yakuza im Sold eines ehemaligen Foltergenerals, der bei einem renommierten, Nikkei-notierten Unternehmen angestellt war. Nein, er war ein Krieger aus Brocéliande, Sohn Attilas, ein tapferer, getreuer Samurai.

Nachdem sie den Koreaner einmal bis spät in der Nacht eher saftig ausgequetscht hatten, überbrachte ihm Nobu den Dank des Generals. Einen speziellen Dank erster Klasse.

»Wir verlassen morgen Osaka, bis sich keiner mehr an uns erinnert. Ich nehme dich mit nach Kyoto, wo meine Mutter wohnt. Du bist jetzt würdig, Japans Blumen kennenzulernen.«

Nobu brachte Thad nach Miyagawa-cho, in das alte Geisha-Viertel aus der Edo-Zeit. Thad dachte zuerst, das sei eine ähnliche Touristenattraktion wie die Hurenviertel in Moskau oder Amsterdam, nur dass die japanischen Prostituierten eben altmodisch in viele Schichten gekleidet seien. Was, wie er zugeben musste, eine viel originellere Art war, Kunden anzulocken, als mit dieser ausgestellten Nacktheit, die nicht immer begehrenswert war.

Aber Nobu hatte ihn von diesem Irrtum befreit und ihm die Sache lang und breit erklärt: Geishas hätten nichts mit Prostituierten zu tun, sie seien außergewöhnliche Frauen mit Talent für Gesang, Tanz, Musik und Konversation. Das hatte Thad erst einmal bezweifelt. Von Saint-Brieuc bis Singapur hatte er genügend Frauen kennengelernt, die Sängerin, Tänzerin oder Schauspielerin werden wollten. Ihre hochfliegenden Pläne waren gescheitert, ihre Träume vom Ruhm zerplatzt. Für verlorene Illusionen zahlt man auf der ganzen Welt den gleichen Preis.

Doch Geishas – darüber ließ Nobu nicht mit sich reden – waren anders. Jeder ihrer Akte, von der unbedeutendsten Bewegung bis zur aufreizendsten Haltung, gelte dem Mann; der Sinn ihres Lebens bestehe darin, sein schweres Herz leichter zu machen. Die Sorgfalt, mit der sie sich schminkten, die Wahl ihrer Kleidung, die Eleganz ihrer Gesten, wenn sie Tee zubereiteten oder Sake einschenkten, die Perfektion ihrer einstudierten Posen – alles, absolut alles diene nur einem einzigen Zweck: den Mann zu bezaubern und in seinem Status als höheres und selbstverständlich herrschendes Wesen zu bestärken. Und was die Frauen zu leiden hätten, um dahin zu gelangen! Ausführlich schilderte Nobu, wie viele Stunden sie allein mit den Vorbereitungen verbrachten, das Ritual der Farben, wenn sie die verschiedenen Make-up-Schichten übereinander auftrugen, die komplizierte Konstruktion und das unglaubliche Gewicht des Prunkkimonos, der aus bis zu sieben Meter langen und mehr als zehn Kilo schweren Stoffbahnen bestand.

»Stell dir vor, das tragen sie manchmal mehr als zehn Stunden lang, ohne dass sie rumjammern oder irgendwie müde aussehen. Aber man muss sich schon ein bisschen auskennen, um die Einzigartigkeit der Geishas zu würdigen!«

»Und du kennst dich natürlich richtig gut aus!«, spottete Thad.

»Bei mir ist das was anderes, meine Mutter ist Geisha. Eine berühmte und geachtete noch dazu.«

Ohne sich lange bitten zu lassen, erzählte Nobu, wie seine Mutter in der berühmten Okiya Oren im Miyagawa-cho-Viertel aufgewachsen war und diente. Mit ihrer Freundin Kuniko hatte sie nach der schwierigen Lehrzeit den weißen Geisha-Kragen erhalten. Die beiden Freundinnen waren unzertrennlich und liebten einander wie Schwestern. Doch Kuniko zog das große Los. Da sie hübscher, anmutiger und wahrscheinlich auch um einiges durchtriebener als Nobus Mutter war, wurde sie von der Oka-san, der Eigentümerin der Okiya, adoptiert und so zur Atotori, der Erbin und »großen Schwester« aller anderen Mädchen. Nun befand sich Nobus Mutter in der heiklen Lage, derjenigen dienen zu müssen, die bis dahin ihre Gefährtin und ihr gleichgestellt gewesen war. Doch mit ihrem sanften, liebevollen Wesen – so hatten sie alle beschrieben, und Nobu hatte jeden Grund, diesen Zeugnissen aufs Wort zu glauben – fügte sie sich gut in die neue Situation ein. Sie liebte ihre »große Schwester« ohne jeden Anflug von Neid. Frau Kuniko dankte ihr diese Treue, indem sie sie nicht aus dem Hause warf, als sie von einem riesenhaften Fischer von der Insel Hokkaido, der sich für ein paar Wochen geschäftlich in Kyoto aufhielt und mit dem sie eine heimliche Liebe verband, schwanger geworden war. Und als Kuniko ein paar Jahre später selbst zur Besitzerin der Okiya wurde, erlaubte sie Nobu und seiner Mutter zu bleiben – trotz der strengen Regeln (keine Männer, keine Kinder), die seit Jahrhunderten das Leben in solchen Etablissements bestimmen.