Buch
Machen Städte krank? Schadet Stadtleben unserer Psyche? Macht nur Landleben glücklich? Provokante Fragen mit brisantem Hintergrund. Denn 2050 werden rund siebzig Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Immer mehr Millionenstädte verändern das Gesicht der Erde. Sie sind die Zentren unserer Gesellschaften. Die Menschen profitieren von der Vielfalt, den kulturellen Ressourcen und den Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung. Gleichzeitig prägen Dichte, Lärm, Hektik, Gewalt und Anonymität den urbanen Alltag. Der Arzt und Psychiater Mazda Adli fragt, wie unser Gehirn auf die permanenten Reize in der Stadt reagiert und ob uns sozialer Stadtstress krank machen kann. Urbanisierung, so sein Fazit, wird sich für unsere Gesundheit als mindestens so relevant erweisen wie der Klimawandel. Gesunde Städte zu formen wird deshalb eine immer dringendere sozial- und gesundheitspolitische Notwendigkeit. Adli plädiert für eine Neurourbanistik, einen interdisziplinären Ansatz für Wissenschaft, Kultur und Politik, um neue Visionen für unsere Städte zu entwerfen. Er sagt: Städte sind gut für uns – wir müssen nur lernen, sie zu lebenswerten Orten zu machen.
Autor
Mazda Adli ist Psychiater und Psychotherapeut. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Charité. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stehen die Stress- und Depressionsforschung. Nach dem Medizinstudium war er Assistenzarzt an der Klinik für Psychiatrie der Freien Universität Berlin und anschließend Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité am Campus Mitte. 2009 war Adli als Executive Director einer der Initiatoren des World Health Summit. 2010 habilitierte er sich an der Charité. Sein neuestes Projekt ist das Interdisziplinäre Forum Neurourbanistik, das er gemeinsam mit der Alfred Herrhausen Gesellschaft sowie Neurowissenschaftlern, Architekten und Stadtforschern gegründet hat.
MAZDA ADLI
Warum Städte uns krank machen.
Und warum sie trotzdem gut für uns sind
Mit Illustrationen
von Florian Dengler
C. Bertelsmann
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
© 2017 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16933-6
V001
www.cbertelsmann.de
»Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.«
(Jeremia 29:7)
»Denn das ist das Erstaunliche, daß die große Stadt trotz aller häßlichen Gebäude, trotz des Lärmes, trotz allem, was man an ihr tadeln kann, dem, der sehen will, ein Wunder ist an Schönheit und Poesie, ein Märchen, bunter, farbiger, vielgestaltiger als irgendeines, das je ein Dichter erzählte, eine Heimat, eine Mutter, die täglich überreich verschwenderisch ihre Kinder mit immer neuem Glück überschüttet.«
August Endell: Die Schönheit der großen Stadt (1908)
Inhalt
1. Stress und Stadt. Und warum die Stadt trotzdem gut für uns ist
Wäre unser Gehirn eine Stadt
Gesundheitsrisiko Stress
Und dennoch: Stadt!
Die ideale Stadt?
2. Keiner will ihn, alle haben ihn. Was ist eigentlich Stress?
Guter Stress, schlechter Stress
Stress als Lebensretter
Wenn der Stress nicht aufhört
Interview Florian Holsboer: »Die pauschale Verteufelung von Stress ist Unsinn.«
3. Die Herausforderungen des Zusammenlebens. Sozialer Stress
Kampf um Hierarchie und Territorium
Wenn sozialer Stress krank macht
Wie der Stress in den Kopf kommt
Stadtstress im Gehirn
4. Wenn die Stadt nervt. Die Plagen des gestressten Großstädters
Das Tempo der Stadt
Lärm in der Stadt
Die Qual der Wahl
Interview Martina Löw: »Klischees sind gutes empirisches Material.«
5. Platz da! Stress im Straßenverkehr
Die Grenzen der autogerechten Stadt
Überlebensstrategien im Verkehrsgewühl
Interview Enrique Peñalosa: »… dann sollten auch alle das gleiche Recht auf den Straßenraum haben.«
6. Die dunklen Ecken der Stadt.
Wenn die Stadt Angst macht
Angsträume in der Stadt
Erlernte Hilflosigkeit
Sehen und gesehen werden
Wenn die Kameras aufpassen
Wenn der Schrecken bleibt
7. Wir Stadtkinder. Vom Aufwachsen in der Stadt
Stadtleben und die Gehirnentwicklung bei Kindern
Warum die Stadt dennoch gut ist für Kinder
Zwischen Bonn und Teheran
Interview Richard Sennett: »Städte ermöglichen Menschen, mit ihrer Unvollkommenheit zu leben.«
8. Eine Geschichte ohne Ende.
Warum es uns in die Städte zieht
Ich war noch niemals in New York …
Urbanisierung – eine globale Erfolgsgeschichte
Megacitys – Verstädterung ohne Grenzen
Berlin ist nicht Mumbai
Warum muss es Stadt sein?
Interview Niklas Maak: »Die Stadt wird zombifiziert.«
9. Macht Stadtluft krank?
Stadt und Gesundheit
Gesundheitliche Herausforderungen in der Stadt
Gesünder auf dem Land?
Psychische Erkrankungen
Healthy Cities Movement
Mehr Grün!
Interview Joan Clos: »Die Urbanisierung hat viel Gutes bewirkt.«
10. Zu viel, zu dicht, zu allein.
Sozialer Stress in der Stadt
Die Stadt als Ort der Verrohung?
Soziale Dichte
Einsam fühlt man sich nur unter Menschen
Die offene Stadt
Interview Jana Krüger: »Diese Dorfetikette ist nach wie vor da.«
11. Der Stress der anderen.
Fremdsein in der Stadt
Integrationsmaschine Stadt
Integrationssackgasse Stadt
Vielfalt als Ressource
12. Mit Smartphone und Geruchskarte.
Wie sich unsere Wahrnehmung in der Stadt messen lässt
Mental Map
Ein Stadtplan der Emotionen
Mit Sensoren durch die Stadt
Gerüche der Stadt
Interview Jürgen Mayer H.: »Nicht umsonst gibt es viele
Architekten, die gern Ärzte geworden wären.«
13. Was wirklich zählt. Das soziale Kapital der Stadt
Und wo wohnst du?
Der Wert des Sozialen
Schattenseiten des Sozialkapitals
Mehr Zivilität!
Zivilität im Stadtbild
Interview Rainer Hehl: »Wenn man sich selbst als Akteur begreift, wird die Stadt lebendig.«
14. Großstadtskills. Von der Kunst, in der Stadt zu leben
Aneignungs- und Partizipationsbereitschaft
Alleinseinkönnen ohne Einsamkeit
Umgang mit Anonymität
Mobilitätskompetenz
Komplexitätstoleranz
Psychische Flexibilität
Online-Virtuosität
Interview Barrie Kosky: »Als hätten sie eine Operntablette
genommen.«
15. Die ideale Stadt – oder lieber doch nicht?
Städte für Menschen
Verhandlung des öffentlichen Raums
Nebeneinander, Miteinander
Vertrauen und Kontrolle
Freiräume – Freiheit im Raum
Nichts ist beständiger als der Wandel
Dank
Anmerkungen
Bibliografie
Personenregister
Orts- und Sachregister
Abbildungsnachweis
1.
Stress und Stadt. Und warum die Stadt trotzdem gut für uns ist
Wäre unser Gehirn eine Stadt
Wäre unser Gehirn eine Stadt, wäre es ein unerträglicher, total unübersichtlicher Großstadtmoloch, eine Megacity ungeheuren Ausmaßes, in der niemand leben wollte: breite Straßen, schmale Gässchen, völlig chaotische Kreuzungen mit häufig wechselnden Vorfahrtsregeln und einem Verkehr, der einen buchstäblich in den Wahnsinn treiben kann. Wäre unser Gehirn eine Stadt, wäre das Tempo in diesem hyperaktiven urbanen Gewebe nicht auszuhalten. So scheint es auf den ersten Blick. Wenn man aber einmal nachmisst, Elektroden am Kopf anbringt und die Hirnströme in einer Elektroenzephalographie (EEG) erfasst, dann werden doch so etwas wie eine Ordnung und eine Struktur erkennbar. Was man auf diese Weise durch die dicke knöcherne Schädeldecke erkennt, lässt sich vergleichen mit dem Blick von der Spitze eines hohen Turms auf die Stadt darunter. Das schon von Weitem vernehmbare ungeordnete Gewummer, also das EEG-Signal, folgt – wenn man genau hinhört – einer Regelmäßigkeit und einem bestimmten Rhythmus.
Je mehr wir uns mit dem Gehirn beschäftigen, desto komplizierter und undurchschaubarer wird dieses Wunderwerk – trotz moderner Hirnforschung, trotz der Riesenfortschritte der Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten. Unser Gehirn ist ein hochkomplexes Organ, es besteht aus knapp 100 Milliarden Neuronen, die vielfach miteinander verschaltet sind. Es ist tatsächlich wie in einer Stadt: Manchmal wirkt das Geschehen völlig unorganisiert, und dann folgt es doch wieder einer unfassbaren Ordnung.
Eine zentrale Aufgabe des Gehirns ist es, dafür zu sorgen, dass sich sein Besitzer an Gegebenheiten seiner Umwelt anpassen kann. Dazu muss es diese Umwelt genau registrieren und auswerten. Es bekommt mit, wo sein Träger lebt. In seiner stabilen Schädelbehausung bestens geschützt, reagiert das Gehirn äußerst empfindlich darauf, in welcher Umgebung es sich befindet, ob Gefahr besteht oder nicht, ob Tag ist oder Nacht, ob sein Besitzer allein ist oder unter vielen Menschen, unter Freunden oder Familie oder unter Fremden. Es ist ihm keineswegs egal, ob er sich durch Hongkong, Berlin oder São Paulo kämpft oder morgens von Gänsen auf einem holsteinischen Bauernhof angeschnattert wird. Das Gehirn reagiert auf den Augenblick, aber auch auf größere Zeiteinheiten und wertet aus, ob wir dauerhaft Bewohner einer großen Stadt sind, ob wir auf dem Land leben, in einer armen oder einer reichen Gegend zu Hause sind und ob wir uns dort überwiegend wohlfühlen. Und das Gehirn als Ort des Gedächtnisses merkt sich dauerhaft, unter welchen Bedingungen wir aufgewachsen sind – und zwar nicht nur als Gedächtnisinhalt, über den man später einmal erzählen kann. Auch seine Funktion und vermutlich auch seine Struktur verändern sich dadurch.
Gesundheitsrisiko Stress
Der Ort, an dem wir wohnen, geht uns buchstäblich auf die Nerven. Und so fragen wir uns ständig, ob wir eigentlich dort, wo wir leben, an der richtigen Stelle sind, ob unsere Gehirne tatsächlich ideal konfiguriert sind für ein Dasein in München oder Düsseldorf, in Nauen oder Schwäbisch Hall, in Böddenstedt oder Geldersheim. Viele treibt die Frage um, ob sie eher Stadt- oder eher Landmenschen sind. Die Großstädterin mit kleinen Kindern durchsucht vielleicht gerade die Wochenendzeitungen und Immobilienportale im Internet nach einer neuen Bleibe im ruhigen Vorort oder am grünen Stadtrand. Ein anderer kann sich als interessierter Kulturmensch ein Leben außerhalb der Stadt gar nicht vorstellen. Und wieder ein anderer weiß als Landbewohner ganz genau, warum er Lärm, Gestank und Gedränge der Stadt meidet und für keinen Preis der Welt ein Leben näher an der Natur gegen ein Leben in den dichten Straßen der Städte eintauschen würde.
Tatsächlich erleben wir die Stadt immer wieder als einen Ort, wo wir uns besonders angespannt fühlen und dem wir lieber schnell entfliehen würden. Die Dichte, die vielen unachtsamen Menschen, der laute Verkehr, die Hektik – die Stadt macht uns zu schaffen, und es gibt wohl kaum einen Stadtmenschen, der nicht jeden Tag von einem kleinen Stresserlebnis erzählen könnte. Jeder verbindet mit dem Stress in der Stadt eigene Erfahrungen. Übrigens ganz gleich, ob er in der Stadt oder auf dem Land lebt. Dabei ist »Stadtstress« ein Begriff, der ambivalente Empfindungen erzeugt. Nicht ausschließlich negativ, nicht eindeutig positiv, nein: Der Begriff scheint bei den meisten einen interessanten Mix aus Meinungen, Emotionen und Erinnerungen an früher Erlebtes zu evozieren.
»Stress« und »Stressfolgen« beschäftigen uns, seitdem sich die Arbeitswelt so stark verändert hat. Nicht umsonst hat der Begriff »Burn-out« seit Mitte der 2000er-Jahre eine beispiellose Karriere durchlaufen. Gemeint ist damit der Dauerstress im Beruf. Wir stehen vor neuen Herausforderungen, die durch die Beschleunigung und Verdichtung einzelner Arbeitsprozesse bedingt sind, aber auch durch die elektronische Reizüberflutung und die damit verkürzten Aufmerksamkeitsspannen, durch eine rasante Zunahme der Berufe im Dienstleistungssektor, durch zunehmende Konkurrenzorientierung und durch die Abhängigkeit von immer schwieriger zu überschauenden und kontrollierenden globalisierten Unternehmen. All das bringt Unsicherheit, Sorgen und eben Stress mit sich, all das, was wir als »Jobstress« bezeichnen. Das Thema ist von höchster Relevanz, da Stress unserer seelischen und körperlichen Gesundheit unter bestimmten Umständen schadet. Stressfolgekrankheiten wie die Depression werden zu Volkskrankheiten, und das weltweit. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation ist Stress eines der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts.
Es gibt einige Indizien dafür, dass die Stadt daran nicht ganz unschuldig ist. Wir wissen mittlerweile, dass die Gehirne von Stadtbewohnern anders auf Stress reagieren als die der Landbewohner. Das Gehirn des Städters scheint eine höhere Stressempfindlichkeit zu haben – und die wächst sogar mit der Größe der Stadt, in der man lebt oder aufgewachsen ist. Menschen, die in Großstädten ihre Kindheit verbracht haben, tragen ein höheres Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen, zum Beispiel Schizophrenie.1 Heute haben wir neurowissenschaftliche Hinweise darauf, dass der Stress, der in der Stadt entsteht, dabei eine entscheidende Rolle spielt.
Und dennoch: Stadt!
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich wohne für mein Leben gern in der Großstadt. Das habe ich schon immer getan und werde es voraussichtlich auch immer tun. Städte faszinieren mich, und ich werde in diesem Buch von meinen Erlebnissen in ihnen erzählen, von meinen Erfahrungen in Berlin, der Stadt, in der ich heute wohne und wo ich in an einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie arbeite, aber auch von meinen Beobachtungen in anderen Städten, die ich besucht und in denen ich gelebt habe.
Was macht den Reiz des Stadtlebens für mich aus? Ich mag die Nähe von Menschen, die ich nicht kenne, von Nachbarn, die in den Wohnungen meines Hauses und den Häusern rings um mich leben und mit denen ich Blickkontakt habe. Mir gefällt das Gefühl, dass meine Straße von Passanten gern genutzt wird, und auch die vielen durchfahrenden Autos stören mich nicht. Ich finde es angenehm, nicht nach dem sozialen Leben suchen zu müssen, wenn ich aus der Haustür trete, sondern es gleich dort vorzufinden. Ich mag die Kultur der Stadt, die Theaterbühnen, die drei staatlichen Opernhäuser, die vielen Museen, Cafés, Geschäfte, Märkte, Plätze und Parks. Für jeden seelischen Aggregatszustand finde ich die richtige Form von Stimulation, wenn ich sie benötige. Aber natürlich bin auch ich immer wieder gestresst von der Stadt. Wenn ich mich in ihr nicht einigermaßen bequem fortbewegen kann, wenn es im Verkehr nicht schnell genug vorangeht, strengt mich das an. Es stresst mich. Dann wird mir klar – und wahrscheinlich auch meinem sozialen Umfeld –, dass man als Stressforscher und Psychiater vor solchen mentalen Verkrampfungen nicht immun ist. Jedenfalls bin ich es nicht.
Und deswegen mag ich es gelegentlich auch ganz anders. Ich mag es, wenn ich das großstädtische Getriebe hinter mir lassen und ins Umland von Berlin fahren kann. Diese kleinen Fluchten tun mir gut. Regelmäßig zum Beispiel fahre ich ins Ruppiner Land. Dort besuche ich einen Freund, der in einem alten Herrenhaus in Garz wohnt, achtzig Kilometer von der Stadt entfernt. Ein Sommertag in Garz: Ich stehe auf der Veranda des Hauses, die Vögel zwitschern in tausend Tonhöhen und schaffen ein klangvolles Gewölbe über meinem Kopf. Wenn man genau und lange genug hinhört, erkennt man, wie sich der Vogelgesang mit der Tageszeit langsam ändert. Dazwischen ist gelegentlich ein lang gezogenes Fauchen zu vernehmen, wenn sich der Wind seinen Weg durch die Baumreihen bricht, die links und rechts von mir den Park säumen und in der Ferne auf einen Teich zulaufen. Links von mir steht ein großer Walnussbaum. Eine weiß gestrichene Sitzgruppe darunter wartet auf Menschen, die Schutz vor der Sommersonne suchen. Daneben hängt eine Schaukel, die der Landschaft so etwas wie Patina verleiht. Überhaupt scheint alles hier aus der Zeit gefallen zu sein. Hinter dem Walnussbaum öffnet sich eine Hainbuchenhecke zu einem prachtvollen barocken Heckengarten. Hinter mir streckt das Gutshaus seine weißen Flügel aus. Es zeigt ein freundliches Gesicht. Die Eindrücke dieser entrückten Idylle inmitten der märkischen Kulturlandschaft haben sich mir tief eingeprägt. Aber dann frage ich mich auch: Würde ich diese Landschaft auch dann so schön finden, wenn ich hier immer wohnen würde? Oder mutet es mich so an erst im Kontrast zum oft lauten und grauen Berlin?
Mir geht es da wie anderen auch: Es gibt immer wieder sehnsüchtige Momente nach dem Leben im Grünen, aber richtig vorstellen kann ich es mir dann doch nicht. So ähnlich funktioniert es wohl auch mit dem medialen Revival des Landlebens. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen in die Städte ziehen und die ländlichen Regionen unter Bevölkerungsschwund leiden, hat das »Landleben« zumindest in den Medien Konjunktur. Die Fernsehkanäle sind voll von Filmen und Serien, die das Dasein auf dem Dorf porträtieren, ringsum Tiere und grüne Natur.2 Daneben schießen unzählige Zeitschriften aus dem Boden, die die Lust am Landleben besingen. Sie heißen Landleben (»Lebensstil mit Liebe zur Natur«), Landlust (»Die schönen Seiten des Landlebens«), Liebes Land (»Die beste Art zu leben«), Landidee (»Land erleben und genießen«) oder Mein Schönes Land (»Gutes bewahren, Schönes entdecken«). Aber diese ländliche Hochglanzwelt ist kein Spiegel gesellschaftlicher Lebensrealität, sondern Ausdruck einer Sehnsucht, ein Traum, den sich die wenigsten erfüllen können und vielleicht auch gar nicht wollen.
Der allgemeine Trend sieht jedenfalls anders aus: Junge und zunehmend auch ältere Menschen in Deutschland zieht es in die Städte, wo sie sich bessere Chancen erhoffen, Chancen auf ein interessanteres kulturelles oder Bildungsangebot oder eine bessere Gesundheitsversorgung. Und viele derjenigen, die sich vielleicht sogar ein Leben auf dem Land vorstellen könnten, sind oft gar nicht in der Lage, dies mit ihrer beruflichen Situation in Einklang zu bringen: Die Städte der westlichen Länder sind die Tore zur globalisierten Welt, dort, vor allem im Dienstleistungssektor, finden sich auch die Jobs, auf die wir angewiesen sind. Rund drei Viertel der Arbeitsplätze in Deutschland zählen mittlerweile zu diesem Sektor. Und da hängt die Entscheidung für einen Wohnort auch sehr schnell von der Nähe zu einem Flughafen oder einem ICE-Bahnhof ab.
Keine Frage, es zieht uns in die Städte. Und das ist ein globales Phänomen. Überall auf der Welt lassen die Menschen das »platte Land« hinter sich. Natürlich sind die Motive der Bewohner der westlichen Länder und derjenigen der Entwicklungs- und Schwellenländer sehr unterschiedlich. Der reiche Rentner aus Schleswig-Holstein, der nach Hamburg zieht, um die kulturelle Vielfalt der Stadt zu genießen, ist nicht zu vergleichen mit dem Wanderarbeiter in China, für den die Stadt die einzige Überlebensperspektive darstellt und der, wie viele andere, bereit ist, einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Menschen ziehen in die Städte, weil sie ihnen Bildung versprechen, Wohlstand, eine sichere Zukunft für die Kinder. Die Stadtbewohner nehmen dafür in Kauf, in gesichtslosen Hochhäusern zu leben, in modernen Trabantenstädten oder in den endlosen Peripherien riesiger Metropolen.
Tatsächlich hat die Stadt mit dem rasanten Anstieg der Weltbevölkerung in den letzten Jahrzehnten eine völlig neue Dimension erreicht. Mittlerweile ist jeder zweite Mensch weltweit ein Stadtbewohner. Immer mehr Städte werden zu Megacitys. Das sind Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Forscher sprechen inzwischen von den Endless Cities – den Städten, die keine Begrenzung mehr haben, sondern ungesteuert, informell und ohne Infrastruktur in die Fläche wachsen. Im Jahr 2050 werden nach Einschätzung der Vereinten Nationen rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Viele Staaten werden sich in Zukunft hauptsächlich durch ihre Millionenstädte definieren. Sie sind die Triebwerke unserer modernen Gesellschaften.
Die Urbanisierung ist die markanteste Veränderung der Menschheit auf der Erde. Was bedeutet es, wenn sich das Zusammenleben der Menschen auf immer kleinerem Raum verdichtet? Was bedeutet diese Veränderung für das Leben auf unserem Planeten? Das sind Fragen, die in Zukunft immer drängender werden. Wir können davon ausgehen, dass sich die Urbanisierung für unsere Gesundheit als mindestens so relevant erweisen wird wie der Klimawandel. Deshalb werde ich in diesem Buch immer wieder den Blick über unseren europäischen Tellerrand werfen, werde beispielsweise von den Wohnbedingungen der zahllosen Arbeitsmigranten in Hongkong berichten, die dort unter unvorstellbaren Bedingungen leben. Auch werden wir vom Leben in einer brasilianischen Favela hören. In erster Linie jedoch richtet sich der Fokus auf unsere westlichen Großstädte, auf das, was uns in unseren Städten beschäftigt. Ich werde von mir erzählen und von persönlichen Erfahrungen berichten, die mein Verhältnis zur Stadt und mein Interesse an ihr geprägt haben. Es sind Erfahrungen, die mich zu dem Stadtmenschen gemacht haben, der ich heute bin, Erinnerungen an Kuriositäten, an Schönheit gleichermaßen wie an Gewalt. Damit ist es auch ein sehr persönliches Buch.
Und dabei werde ich vor allem immer wieder von Berlin erzählen – von der Stadt, in der ich lebe, die spannend und vielfältig ist, eine Stadt mit Brüchen und Kanten, eine ständige Herausforderung. Tatsächlich erfahren nicht wenige Bewohner und Besucher die deutsche Hauptstadt als eine aufregende, aber auch anstrengende Metropole – was sie für einen Stressforscher zum perfekten Betätigungsfeld macht. Viele Berliner klagen darüber, dass der Stress immer größer wird, dass man zur Rushhour selten einen Sitzplatz in der U- oder S-Bahn findet, dass immer mehr Touristen die gewohnten Wege versperren, dass die Staus länger werden und die Berliner Autofahrer immer häufiger auf die Hupe drücken. Gleichzeitig befindet sich Berlin aufgrund seiner Vielfalt und seiner Unfertigkeit in einer Art Dauerpubertät, die uns fasziniert. Fast hat man den Eindruck, als würde uns diese Stadt, die sich ständig entwickelt und entfaltet, anstecken, sodass wir es ihr in dieser Hinsicht gleichtun.
In Berlin und in anderen europäischen Metropolen wie Wien, London oder Paris, die als Kultur- und Wissenschaftsstädte zu den attraktivsten Lebensräumen weltweit gehören, lässt sich erfahren, warum wir von Städten angezogen werden und was wir in ihnen suchen, aber auch, was uns abschreckt und manchmal Angst einjagt. Die dort anzutreffende kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt steigert unsere Lebensqualität, und vor allem junge Menschen können sich in einer Großstadt frei entfalten. Zugleich aber stoßen wir auf engem Raum auf große Kontraste und Spannungen. Wohlstand bis hin zu unermesslichem Reichtum liegt nicht weit entfernt von Armut und Elend. Das führt zu großen Diskrepanzen, nicht nur hinsichtlich Lebensqualität, Bildung und Einkommen, sondern auch zu einem teils beträchtlichen Gefälle im Hinblick auf Gesundheitszustand und Lebenserwartung.
Die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und Einsamkeitserfahrung in Städten kann sich zu krank machendem sozialen Stress summieren. Das ist der Stress, der uns am stärksten beeinträchtigen und unserer Gesundheit erheblich schaden kann. Ja, Lärm oder Dreck in der Stadt belastet uns, was uns aber besonders zu schaffen macht, ist der Stress, den wir im sozialen Miteinander erleben. Das Problem wird vor allem dort virulent, wo es Menschen betrifft, die bereits durch andere Risikofaktoren gefährdet sind. Das können neben einem vorbestehenden genetischen Risiko auch soziale oder demografische Faktoren sein, etwa ein fortgeschrittenes Alter oder ein Migrationshintergrund. Solche Faktoren können dazu führen, dass man von vielen Aspekten des urbanen Lebens und seinen Vorteilen ausgeschlossen ist.
Die ideale Stadt?
Die Wissenschaft hat erst in den letzten Jahren das Themenfeld »Stress und Stadt« für sich entdeckt. Es gibt deshalb noch viel zu wenig gesichertes Wissen darüber, was der seelischen Gesundheit und dem psychischen Wohlbefinden von Menschen in der Stadt dient und was nicht und wie die Risikopopulationen in der Stadt beschaffen sind, um die es sich in erster Linie zu kümmern gilt. Es gibt erste Forschungsansätze, die Überlegungen der Neurourbanistik etwa, die auf der Grundlage von Erkenntnissen von Neurowissenschaften, Medizin, Stadtplanung, Sozialwissenschaften und Architektur versucht, das Thema aus einer übergreifenden Forschungsperspektive in den Blick zu nehmen.3 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus diesen Disziplinen haben in Berlin eine Gruppe gegründet, die sich für eine solche Forschung stark macht. In der Neurourbanistik geht es darum, ein besseres Verständnis davon zu gewinnen, welche Faktoren Stadtstress bewirken und wo die gesundheitsfördernden Aspekte des Stadtlebens zu finden sind. Gesunde Städte sind aus neurourbanistischer Perspektive eine sozial- und gesundheitspolitische Notwendigkeit.4
Aber wir stehen noch am Anfang. Deswegen ist dieses Buch ein erster Versuch, einige Fakten und Gedanken zum Thema »Stadt und Stress« zu sortieren. Es soll dazu anregen, sich intensiver mit den emotionalen Herausforderungen des Stadtlebens auseinanderzusetzen. Regelmäßig treffe ich auf Menschen, die sich von diesem Thema angesprochen fühlen. Viele können dazu etwas beitragen, können von eigenen Erfahrungen erzählen und haben Fragen zu stellen. Und da die Perspektiven so unterschiedlich sind, habe ich für dieses Buch mit Menschen gesprochen, die in der Stadt leben, sie beobachten, erforschen und gestalten. Ich habe Interviews geführt mit Architekten, Stadtplanern und Stadtsoziologen, einem Bürgermeister, einem Psychiater, einem Opernintendanten und mit einer Frau, die, wie so viele Menschen, beides kennt, das Land- und das Stadtleben.
Was ist es, was uns an dem Thema so beschäftigt? Gewiss, so mancher sucht ganz praktisch nach Tipps und Tricks, wie er mit den Herausforderungen des Stadtlebens besser klarkommen kann. Doch ich vermute, dass hinter dem Interesse noch mehr steckt, nämlich die Suche nach der besseren, vielleicht sogar der idealen Stadt. Und wenn dem so ist, wie könnte diese ideale Stadt aussehen? Die Antworten auf diese Frage gehen weit auseinander. Der eine hätte gerne mehr Grün, der andere mehr Theater, ein Dritter vielleicht flexiblere Geschäftsöffnungszeiten, der Nächste mehr Polizei und Videoüberwachung, wieder ein anderer mehr Fahrradwege. Aber in den Grundkriterien wären wir uns alle einig: Wir wollen in einer Stadt leben, die uns ernährt, beschützt, stimuliert und uns nicht allein lässt, wenn wir Unterstützung brauchen. Vielleicht sähe unsere Idealstadt dann so aus: schöne Gebäude, lebendige Straßen, ruhige, helle Wohnungen, effizienter öffentlicher Nahverkehr, genug Platz für alle, Blick ins Grüne aus möglichst vielen Perspektiven, sauber und sicher, wirtschaftlich prosperierend, kulturell blühend und historisch relevant.
Doch einmal abgesehen davon, dass es dieses Utopia nicht geben kann, eine Stadt, wo alles zu jeder Tages- und Nachtzeit und an jedem Ort stimmt – mit dieser Antwort können wir uns nicht zufriedengeben. Es spricht zu viel dafür, dass es mit Eigenschaften wie Sauberkeit, Sicherheit und Schönheit nicht getan ist, dass solche Vorstellungen über Städte zu kurz greifen, weil sie eben vielleicht doch nicht ganz so ideal sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Aber was ist es dann? Dieser Frage will ich in diesem Buch nachgehen.
Wir wollen verstehen, welchen Einfluss die Stadt auf unser Leben hat, wie sie zur seelischen Belastung werden, aber auch, wie sie uns guttun kann. Und überhaupt: Wäre eine solche Idealstadt wirklich das Richtige für uns? Würde uns diese makellose Welt auf Dauer genügen? Was braucht unser Gehirn, was braucht unser Geist, um in einer Stadt Anregung und Regeneration gleichermaßen zu finden?
Um es noch einmal zu betonen: Ich sage all das als überzeugter Großstädter. Keinesfalls will ich das Stadtleben dämonisieren. Mir tut die Stadt gut. Die großen Städte, in denen ich gelebt habe, haben mich zu dem gemacht, der ich bin: Köln hat mich offen und kommunikativ werden lassen. Bonn hat mich gelehrt, dass auch kleine Städte ein Miniaturabbild der großen Welt sein können. Teheran hat mir gezeigt, dass Städte die größten denkbaren Gegensätze aufnehmen können. San Francisco hat mir erstmals die amerikanische Großstadtvision aus bizarren Wolkenkratzern vor dem glitzernden pazifischen Wasser und einem meist stahlblauen Himmel vor Augen geführt. In Wien habe ich gelernt, dass man in der Großstadt den kulturellen Herzschlag eines Landes hören kann. Paris hat mich als jungen Medizinstudenten erfahren lassen, dass sich eine Metropole bezwingen lässt, wenn man sich seine Nachbarschaft, sein Quartier, erobert. Und in Berlin habe ich gelernt, wie mediterran Deutschland sein kann, ein echtes »Draußenland«, in dem sich ein beträchtlicher Teil des urbanen Lebens auf öffentlichen Plätzen, in Parks und auf den breiten Bürgersteigen abspielt.
Städte sind gut für uns. Aber eben nicht unter allen Umständen. Wir sollten daher verstehen, welche Konstellationen und Lebensbedingungen es sind, welche die Stadt zu dem gelobten Land machen, das wir uns erhoffen. Die Stadt sollte uns wohlgesonnen sein. Sie muss unsere fremde Herkunft und unsere unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen respektieren, gleichzeitig die Gemeinschaft fördern und uns in dieser Gemeinschaft einen Platz bieten. Das ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Wir sehen das an den täglich neuen urbanen Katastrophen, die sich vor allem an den Rändern der Weltmetropolen abspielen, oder an den Fehlentwicklungen, etwa der Errichtung von gigantischen Stadtanlagen im Niemandsland, wie man es gegenwärtig in China beobachten kann.
Die Welt wird zu einer urbanen Welt. Und das hat Folgen, nicht nur für das Antlitz unserer Städte, sondern auch für unsere Gesundheit. Deswegen sollten wir herausfinden, wie wir unsere Städte zu einem guten Ort machen können.
2.
Keiner will ihn, alle haben ihn.
Was ist eigentlich Stress?
Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah, tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich.
Das sind Eindrücke aus dem Paris des Fin de Siècle. Sie stammen aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, dem berühmten Tagebuchroman von Rainer Maria Rilke. Darin lässt Rilke seine Figur Malte immer wieder von Paris erzählen, der Stadt, in der Malte lebt. Paris war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinter London und New York die drittgrößte Metropole der Welt. Als Rilke seinen Roman schrieb, war die Industrialisierung bereits weit fortgeschritten, die Großstädte wuchsen rasant, und sie technisierten sich. Der Verkehr nahm zu, die ersten elektrisch betriebenen Straßenbahnen ersetzten die Pferdeomnibusse, Ampeln wurden aufgestellt. Für Ruhe und müßiges Innehalten blieb kein Platz: »Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden.« Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Stadt vergrößerte sich, es herrschten unwürdige Zustände, es gab Armut und Dreck. Malte beschreibt die Stadt als einen Ort des Überlebenskampfes. Warum die Menschen hierherkamen, er verstand es eigentlich nicht: »So, also hierher kommen die Leute, um zu lieben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.« Die Szene zeigt eindrücklich: Für Malte Laurids Brigge war Paris mit Lärm, Unruhe, Anspannung, Unsicherheit, in unserem heutigen Sprachgebrauch: mit Stress, verbunden.
Ich habe es selbst erlebt, als ich im Herbst 1992 nach Wien zog. Die erste Zeit dort war für mich eine Phase großer Anspannung. Es war ein kalter, nasser Herbst, und Wien zeigte sich von einer sehr tristen Seite. Manche Städte sind bekannt dafür, im Winter besonders unfreundlich zu sein. Wien gehört dazu. »Eine wie alte leblose Stadt, ein wie großer, von ganz Europa und von der ganzen Welt allein- und liegengelassener Friedhof ist Wien«, schreibt Thomas Bernhard in seiner Erzählung Das Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohns und evoziert damit die oft zitierte Morbidität der österreichischen Hauptstadt. Manch wolkenbedeckter Wintertag lässt die baumlosen Straßen mit ihren hohen Fassaden schier in einem schmutziggrauen Häusermeer versinken.
Dazu kam: Das Wien der 90er-Jahre wirkte auf mich wie eine deutsche Stadt aus den 60er-Jahren. Fürchterlich unmodern, von der übrigen Welt isoliert und vergilbt. Für jeden amtlichen Vorgang musste man erst in einer der vielen Trafiken (wie in Österreich Kioske und kleinere Verkaufsstellen genannt werden) Bundesstempelmarken lösen. Die großen Straßen, die alten Gebäude – die Stadt ließ zwar ihre einstige Pracht erahnen, war aber gleichzeitig abgewrackt und verstaubt. Ich wohnte in einer kleinen Einzimmerwohnung im 16. Wiener Gemeindebezirk, die Toilette befand sich auf dem Gang, die sich die Bewohner der Nachbarwohnung und ich teilen mussten. Mir gegenüber wohnte eine mannslustige Alkoholikerin, vor der mich meine Vermieter gleich warnten. Manchmal hörte ich sie auch laut die ganze Nacht mit imaginierten Gesprächspartnern diskutieren. Beim Versuch, in den kälter werdenden Herbsttagen den Ölofen in meiner Wohnung in Gang zu setzen, verwandelte sich das Ding innerhalb weniger Minuten in eine Art glühenden Schmelzofen. Als die Feuerwehrleute eintrafen, war die Wohnung auf beinahe 50 Grad aufgeheizt. Sie löschten den Ofen, klebten ein Sicherheitssiegel drauf, und ich durfte ihn nicht mehr benutzen, bis ein Fachmann ihn geprüft und wieder freigegeben hatte. Das zog sich hin, und ich erlebte die kältesten zwei Wochen meines Lebens. Um nicht zu frieren, ging ich ins Theater. Das hat damals meine große Theaterliebe entfacht. Das Bild der grauen, verrußten Stadt wich dem angenehm staubigen Geruch des Theaterparketts.
So fing ich an, die Stadt für mich zu erobern, ihren Charme zu entdecken und mich auf ihren Lebensrhythmus einzustellen. Nach einigen Wochen gab ich die kleine Wohnung auf und zog in eine Wohngemeinschaft. Doch die erste Zeit in Wien blieb in keiner guten Erinnerung. Es war purer Stress. Ich fühlte mich einsam und der Stadt ausgeliefert.
Guter Stress, schlechter Stress
Ein Beispiel aus der Literaturgeschichte, ein Beispiel aus eigener Erfahrung – der Großstadtstress, der hier beschrieben wurde, entspricht unserer landläufigen Vorstellung von Stress. Der Begriff ist negativ besetzt: Alles ist zu eng, zu laut, zu schnell, zu anonym, und es gibt zu wenig Kontrolle über die eigene Situation. Doch Stress hat immer auch eine andere Seite. Interessanterweise ist der Begriff in der englischen Sprache nicht so eindeutig negativ belegt wie in der deutschen. Wir verbinden mit Stress vor allem körperliche oder seelische Belastung, Unsicherheit und Angst. Auf Englisch kann das Wort auch für Erregung, Anregung oder Betonung stehen. Die physiologischen Definitionen sind ebenfalls eher neutral. Der aus Wien stammende Hans Selye hat das Phänomen 1936 an der Universität von Montreal beschrieben. 1950 verwendete er erstmals den Begriff »Stress« dafür.1 Die Definitionen der Psychologen beziehen sich auf die Reaktion des Organismus auf eine Anforderung – völlig unabhängig davon, ob wir diese als gut oder als schlecht bewerten. Wenn wir an »Stadtstress« denken, ist es hilfreich, sich dieser doppelten Bedeutung bewusst zu sein. Stadtleben kann belasten, es kann aber auch anregen, stimulieren und wach machen und dadurch unsere individuelle Entwicklung befördern.
Die Qualität von Stress und damit seine Auswirkung auf unsere Gesundheit hängen stark von der subjektiven Beurteilung des Einzelnen ab. Der amerikanische Psychologe Richard Lazarus hat darauf das nach ihm benannte Stressmodell aufgebaut.2 Steht man einer Situation gegenüber, von der man glaubt, sie aus eigener Kraft bewältigen zu können, so stimuliert der Stress die Energiereserven und die geistige Leistungsfähigkeit. In so einem Fall kann man sich darauf verlassen, dass man sich nach erfolgreicher Bewältigung der Aufgabe wieder erholen und die Reserven auffüllen kann.
Ein einfaches – und harmloses – Beispiel ist die Teilnahme an einem Wissensspiel, ein Quiz oder irgendein Wettbewerb, bei dem die Mitspieler mit einer Mischung aus Wissen und Kombinationsgabe etwas möglichst schnell erraten müssen. Vielleicht verspüren die Teilnehmer dabei Aufregung und Anspannung, vielleicht auch Unsicherheit über den Ausgang des Spiels. Aber in erster Linie werden sie positiv stimuliert. Eine solche Herausforderung macht den meisten sogar Spaß. Der Stress wird als notwendig, ja sogar als angenehm empfunden. In einer »ernsteren« Situationen befindet sich der Konzertpianist, der vor einem mit Spannung erwarteten Auftritt steht, oder der Wissenschaftler, der seine Forschungsergebnisse in einem Vortrag erstmals den Fachkollegen vorstellen muss. Die meisten empfinden in solchen Momenten den Stress ebenfalls als stimulierend. Die Aufregung beflügelt und kitzelt eine Höchstleistung heraus, die unter »normalen« Bedingungen kaum zu erbringen wäre.
Einige von uns entwickeln aber in solchen Situationen ein Gefühl der Angst – gerade dann, wenn die eigenen Fähigkeiten zu sehr in Zweifel gezogen werden. Es kommt zu Lampenfieber. Das ist eine Form von sozialer Angst, also Angst vor Bewertung, Bloßstellung und Blamage. Lampenfieber in seiner harmlosen Ausprägung kennen die meisten Menschen, die vor Publikum auftreten sollen, sei es mit einem musikalischen Vortrag, einer Rede oder einem Kunststück. In ihrer übersteigerten Ausprägung kann soziale Angst die Betroffenen allerdings massiv behindern. Die Hände zittern, die Knie werden weich, der Mund wird trocken, und das Gehirn reagiert mit einem Blackout – man verliert den Faden. Rund 50 Prozent der Musiker, so schätzen Studien, leiden unter mehr oder weniger belastendem Lampenfieber. Die Pianistin Martha Argerich, der Tenor Enrico Caruso oder der Stargeiger Nigel Kennedy – sie alle litten oder leiden unter krankhafter Auftrittsangst. Solch eine soziale Angst kann übrigens recht gut durch den Einsatz von verhaltenstherapeutischen Strategien behandelt werden. Man arbeitet dann an der subjektiven Bewertung von belastenden Situationen, die von den Betroffenen meist als viel zu ungünstig eingeschätzt werden, was am Ende zu einer Fehleinschätzung bezüglich deren Bedrohlichkeit führt. Das Ziel ist eine realistischere und günstigere Beurteilung der eigenen Fähigkeiten. Auch Muskelentspannungs- und Atemtechniken helfen dabei.
Wie eine Situation bewertet wird, ob sie herausfordert und die Kräfte mobilisiert oder ob sie ängstigt und mutlos macht, hängt sehr stark von der eigenen Persönlichkeit ab. Gelassene und selbstbewusste Persönlichkeiten sind meist eher optimistisch und machen ihr Selbstwertgefühl nicht vom Bestehen einer Aufgabe abhängig. Es gibt sogar Menschen, die eine richtige »Sehnsucht« danach entwickeln, im Mittelpunkt zu stehen und ein bewunderndes Publikum um sich herum zu haben. Man spricht dann von histrionischen Persönlichkeiten (lateinisch histrio = Schauspieler). Der Volksmund hat dafür den Begriff »Rampensau« erfunden. Einem solchen Menschen kann eigentlich gar nichts Besseres passieren als der Auftritt auf einer möglichst großen Bühne.
Ängstliche Menschen hingegen neigen eher dazu, die Dinge pessimistisch zu beurteilen und ihr Leistungsvermögen ungünstig einzustufen. Sie sind häufiger perfektionistisch und pedantisch. Da sie ihre eigenen Fähigkeiten negativ einschätzen, müssen sie alles zu 120 Prozent beherrschen, sich bis zur letzten Minute auf eine Prüfung vorbereiten und am besten den ganzen Prüfungsstoff auswendig gelernt haben.
Stress als Lebensretter
In der Regel wirkt akuter Stress als mehr oder weniger plötzliches Ereignis auf den Organismus ein. Das führt zu körperlichen und psychischen Veränderungen, die uns dazu befähigen, auf eine Belastung oder Bedrohung schnell und angemessen zu reagieren. Das ist der akute Stress. Er sichert unser Überleben, stimuliert uns und versetzt uns in die Lage, eine Leistung abzurufen, die wir unter Ruhebedingungen nicht so ohne Weiteres erbringen könnten. Die Stressantwort unseres Organismus dient dazu, dass wir Gefahren richtig begegnen und uns damit den Herausforderungen der Umwelt anpassen können.3
Unsere Urahnen, die als Jäger und Sammler die Erde bevölkerten, haben bei Bedrohung durch ein Raubtier Stress empfunden. Drohte Gefahr, wurde eine Fight-or-flight-Reaktion ausgelöst. So konnten sie sich körperlich und geistig auf Flucht oder Angriff einstellen und waren der Gefahr nicht schutzlos ausgeliefert. Diejenigen unter unseren Vorfahren, bei denen das Raubtier keinen Stress ausgelöst hatte, mussten wohl mit ihrem Leben bezahlen. Da ist die Evolution gnadenlos – wenig anpassungs- und überlebensfähige Lebewesen werden ausgemerzt. Unsere Fähigkeit, Stress zu empfinden und richtig zu reagieren, hat im Lauf der Evolution zu einer immer besseren Anpassungsfähigkeit an unsere Umwelt geführt. Dies ist übrigens im Tierreich genauso.
Wer unter akutem Stress steht, läuft schneller, springt weiter und kann schwerere Lasten heben. Akuter Stress führt innerhalb von Sekunden zur Aktivierung des sogenannten Sympathikus, der ein Teil des vegetativen Nervensystems ist und für die Ausschüttung der Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark sorgt. Der Alarm versetzt uns innerhalb kürzester Zeit in erhöhte Reaktionsbereitschaft. Die Muskeln der Blutgefäße verengen sich, der Blutdruck steigt, der Herzschlag wird schneller, die Nackenmuskeln spannen sich an. Die Gerinnungsfähigkeit des Blutes nimmt zu, damit wir nicht gleich verbluten, falls wir uns im Kampf verletzen. Im Gehirn führt akuter Stress dazu, dass unsere Neuronen stärker feuern.
Etwas verzögert, also innerhalb von Minuten, wird ein zweites Hormonsystem hochgefahren, das die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol zur Folge hat. Wir bezeichnen dieses Hormonsystem auch als Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Das ist die zweite Stressachse neben der oben beschriebenen, die mit der Aktivierung des Sympathikus beginnt. Was passiert hier? Wenn im Gehirn, genauer gesagt: in den Neuronen des Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns), Stress registriert wird, kommt es zur Produktion des Stimulationshormons Cortisol Releasing Hormone (CRH). Das CRH legt dann über die Blutbahn den kurzen Weg zur Hyphophyse, auch Hirnanhangdrüse genannt, zurück. Diese befindet sich innerhalb des Schädels an der Unterseite des Gehirns. Dort regt CRH die Ausschüttung des Vorläuferhormons Adrenocortikotropes Hormon (ACTH) an. ACTH reist wiederum mit der Blutbahn durch den Körper zur Nebennierenrinde und sorgt dort dafür, dass das eigentliche Stresshormon Kortisol in die Blutbahn ausgeschüttet wird. Jetzt stellt sich der Energiehaushalt des Körpers auf die Stresssituation ein und ändert kurzzeitig die Energieversorgung. Überall werden Energiereserven mobilisiert, der Blutzuckergehalt steigt an.
Gleichzeitig wird mit der Ausschüttung von Kortisol ein geniales Rückmeldesystem aktiviert: Spezielle Zellen des Hypothalamus und der Hypophyse verfügen über Rezeptoren, die sensibel auf Kortisol reagieren. Sobald sie einen kritischen Kortisolpegel im Blut registrieren, regeln sie die Ausschüttung des Stimulationshormons CRH beziehungsweise des Vorläuferhormons ACTH herunter. Sie funktionieren wie der Thermostat bei einer Heizung. Die erhöhte Kortisolkonzentration im Blut führt dazu, dass die Ausschüttung sowohl von CRH als auch von ACTH gedrosselt und damit eine automatische Kortisolbremse in Gang gesetzt wird.
Wenn der Stress nicht aufhört
Die akute Stressreaktion hilft uns, auf eine reale oder angenommene Bedrohung angemessen und schnell zu reagieren. In dieser Hinsicht ist Stress eine absolut sinnvolle und notwendige Reaktion des Körpers. Problematisch wird es allerdings, wenn der Stress nicht aufhört und der Körper in permanenter Alarmbereitschaft bleibt.4 Dann wird der Stress chronisch. Stadtstress, der unsere Gesundheit beeinträchtigt, ist chronischer Stress, genauer gesagt: chronischer sozialer Stress.
posttraumatische BelastungsstörungPTBS
Chronischer Stress macht krank. Neben den genannten psychischen Erkrankungen kann es zu einer Reihe von körperlichen Beeinträchtigungen kommen. Die dauerhafte Aktivierung beider Stressachsen führt zu einer Anspannung der Muskeln und damit Verengung der Herzkranzgefäße. Die erhöhte Verklumpungsneigung der Blutplättchen (Thrombozyten), die für die Gerinnung zuständig sind, vergrößert die Gefahr von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Der Zusammenhang zwischen Dauerstress und Herzinfarktrisiko wurde in Studien vielfach gezeigt.5
Auch das Immunsystem wird auf Dauer durch chronischen Stress torpediert. Die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten steigt, und damit auch das Risiko für Atemwegsinfekte, Herpes oder Wundinfektionen, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine bereits bestehende Immunschwäche kann ebenfalls unter chronischem Stress zunehmen. So kann Stress bei Menschen mit HIV-Infektion den Krankheitsverlauf verschlechtern.6 Stress führt auch dazu, dass Zellen vorzeitig altern und sich das Gewebe nicht mehr so gut regenerieren kann.7
Chronischer Stress zieht außerdem eine Reihe von Stoffwechselveränderungen nach sich: Die Zellen im gesamten Organismus reagieren schlechter auf das Stoffwechselhormon Insulin. Die Folge: Glukose wird nicht mehr zur Energieversorgung in die Zellen aufgenommen. Der Blutzucker bleibt im Blut – was zunächst sinnvoll ist, da er zur Energiegewinnung verfügbar bleibt. Auf lange Sicht wirkt sich der hohe Blutzuckergehalt jedoch negativ aus: Das Resultat ist ein Stoffwechsel, wie wir ihn von Diabetespatienten kennen. Und nicht zuletzt: Die anhaltenden Belastungen des chronischen Stress führen sehr häufig zu gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen, etwa verstärktem Konsum von Nikotin oder Alkohol.
Aber auch den Umgang mit chronischem Stress kann man lernen und damit die eigene Situation verbessern. Ich rate meinen Patienten oft, sich zu überlegen, warum sie einer Stressursache, die über längere Zeit anhält, nicht wirklich ausgeliefert sind. Denn sie können etwas dafür tun, um sich – etwa trotz Ärger in der Arbeit oder eines ehelichen Dauerzwists – weniger belastet zu fühlen. Zum Beispiel können sie sich Verbündete suchen, mit deren Hilfe sie eine Lösung finden, oder sie können ihre Selbstfürsorge verbessern. Oder wir trainieren gemeinsam Gelassenheit und Selbstbewusstsein – denn beides lässt sich üben. Das bedeutet zwar nicht, dass damit das Problem aus der Welt geschafft ist. Aber wenn man beginnt, sich dem Stress nicht einfach nur schutzlos ausgeliefert zu fühlen, verliert er seine chronische Eigenschaft und damit seinen giftigen Stachel.