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Widmung

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Die Autorin

Impressum

KELLY HUNTER

White Wedding

Begleiter mit gewissen Vorzügen

Ins Deutsche übertragen von

Anita Nirschl

Zu diesem Buch

Dass Nina ihr Leben in Wohlstand aufgab, um mit einem Zirkusartisten durchzubrennen, hat ihre Familie ihr nie ganz verziehen. Wenigstens auf der Hochzeit ihrer Schwester Honey will sie deshalb die Erwartungen erfüllen. Ihr Kollege Alex kommt als gutaussehender Begleiter wie gerufen – und entpuppt sich als die beste Begleitung, die Nina für die Hochzeit hätte finden können.

Für Kimberly, Anna und Ally

Danke für all den Spaß und das Lachen!

1

Offiziellen Gerüchten zufolge war die jüngste Tochter von Richter Moreau mit siebzehn von zu Hause ausgerissen und zum Zirkus gegangen. Inoffizielle Gerüchte munkelten, dass Nina Moreau mit einem knackigen jungen Iren durchgebrannt war, dessen Lächeln heißer gewesen war als ein Südstaatensommer. Keins dieser Gerüchte entsprach jedoch völlig der Wahrheit.

Nachdem Nina bereits den Großteil ihrer siebzehn Lebensjahre mit Ballett, Sportgymnastik und dem Verbiegen ihrer Knochen verbracht hatte, war sie einfach nur dem Ruf des Tanzens gefolgt.

Der Zirkus und Connor Boyd waren lediglich eine nette Zugabe gewesen.

Inzwischen hatte sich Connor, die rastloseste Seele auf diesem Planeten, längst wieder aus dem Staub gemacht. Nina aber war dem Night Circus treu geblieben, und die neuen Freunde, die sie dort gefunden hatte, waren zu einer Art Ersatzfamilie für sie geworden. Der Engländer Alexander Carradice zum Beispiel hatte sich dem Ensemble vor etwa zwei Jahren angeschlossen, um sich um dessen Finanzen zu kümmern. Ein Schreibtischjob, hätte man meinen können, bei dem es eigentlich nicht nötig wäre, das Büro zu verlassen, um herauszufinden, was Künstler oder Helfer brauchten, wie man die Tourbedingungen verbessern oder wie man am besten Werbung für den Zirkus machen konnte. Das gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Trotzdem kümmerte Alexander Carradice sich um all diese Dinge, und obwohl der Zirkus florierte, schien er nur noch mehr Zeit außerhalb seines Büros zu verbringen.

Alex war nicht nur gut aussehend und außerordentlich gut gebaut, er war auch ein scharfer Beobachter und konnte verdammt schroff sein, wenn er schlechte Laune hatte.

Und im Augenblick hatte er eindeutig schlechte Laune.

»Nina, wenn du dich nicht endlich konzentrierst, dann komm runter, bevor du noch abstürzt!«, brüllte er von seinem Beobachtungsposten etwa zwölf Meter unter ihr.

Nina hielt mitten im Aufgang zur nächsten Figur inne. Normalerweise brachte er sie mit seinem aristokratischen englischen Akzent zum Lächeln oder – in seltenen Fällen – zum Dahinschmelzen, aber diesmal warf sie ihm einen finsteren Blick zu. Zugegeben, Luftakrobatik am Vertikaltuch war gefährlich und bedeutete, dass man nur von ein oder zwei dünnen Seidenbändern gehalten in der Luft schwebte. Und ja, sie baumelte hoch über dem Boden und ihr Isabella-Abfaller war schlampig gewesen. Aber sie würde es in einer Minute noch mal versuchen, und diesmal würde sie ihn besser machen. Dafür war das Training schließlich da. »Was ist eigentlich dein Problem, Carradice?«

»Du! Du bist mein Problem«, gab Alex mit nicht weniger finsterem Blick zurück. »Dein Timing ist schlecht, bei deinem letzten Abfaller ist mir fast das Herz stehen geblieben, und nur der Himmel weiß, wo du deinen Kopf hast, da oben hast du ihn jedenfalls nicht. Kat, hol sie runter!«, befahl er.

»Es geht mir hier oben bestens, Kat«, protestierte Nina, aber ihre Kollegin hörte nicht auf sie, sondern auf Alex und senkte die Aufhängung ab.

»Schau mich nicht so wütend an, Nina«, knurrte Alex, kaum dass ihre Füße den Boden berührt hatten. Er war auf sie zu marschiert und ragte drohend über ihr auf. Wie es eben so war, wenn einer über einsachtzig maß, während der andere es gerade mal auf einsdreiundsechzig brachte. Einhalb. »Du bist seit Tagen nicht richtig bei der Sache und treibst mich damit in den Wahnsinn. Ich mache mir Sorgen um dich da oben. Ich weiß, dass deine Konzentration beim Teufel ist. Also entweder sagst du mir jetzt, was los ist, damit wir das in Ordnung bringen können, oder du bleibst unten und lässt stattdessen Kat auftreten. Sie ist so weit. Du nicht.«

»Das hast nicht du zu entscheiden«, schnauzte Nina ihn an, worauf die achtzehnjährige Kat zusammenzuckte und sich noch kleiner zu machen versuchte, als sie ohnehin schon war. »Tut mir leid, Kat.« Nina drehte sich zu ihr um und versuchte, die jüngere Artistin zu beruhigen. »Ich meinte damit nicht, dass du nicht so weit wärst. Du solltest dir mal den neuen Auftrittsplan ansehen.« Nina gestattete sich ein schiefes kleines Lächeln. »Ich glaube, er wird dir gefallen.«

»Jetzt gleich?«, fragte Kat. Nina nickte und sah dem Mädchen nach, wie es zur Tür eilte.

Die Sache war noch lange nicht entschieden.

Kat war am Vertikaltuch einfach nicht so gut wie Nina.

Noch nicht.

»Komm schon, Nina. Raus damit.« Seine Stimme war deutlich sanfter geworden. »Was spukt dir im Kopf herum?«

Müde ließ sie die Schultern sinken. »Eine Hochzeit«, antwortete sie. »Meine Schwester Honey heiratet.«

»Und?«, bohrte er argwöhnisch weiter.

»Und sie möchte, dass ich ihre Trauzeugin bin. Sie hat mir ein Kleid geschickt. Es ist elegant und traumhaft und sitzt wie angegossen, als wäre es für mich gemacht.«

»Ich verstehe ehrlich nicht, wo da das Problem liegt, Nina.«

»Das Problem ist, dass ich seit sieben Jahren nicht mehr zu Hause war. Nicht ein einziges Mal, seit ich mich für dieses Leben hier entschieden habe. Ich habe mich von meiner Familie irgendwie entfremdet.« Sanft zog Nina an dem nachgiebigen und doch starken Seidenband, das sie immer noch in den Händen hielt. »Honey findet jedes Jahr an meinem Geburtstag heraus, wo sich der Zirkus gerade befindet, und lädt mich zum Essen ein. Meine Mutter schickt mir Geld und eine Karte und ruft mich ein paarmal im Jahr an. Mein Vater schickt überhaupt nichts. Und jetzt will Honey mich in ihrer Hochzeitsgesellschaft haben? Da wird nichts draus. Den Stress kann Honey an ihrem Hochzeitstag nicht gebrauchen.«

»Klingt aber, als wäre das bereits beschlossene Sache«, gab Alex zu bedenken. »Das Entscheidungsrecht der Braut.«

»Eher die verrückte Schnapsidee der Braut.«

»Vielleicht geht sie ja davon aus, dass sich alle anständig benehmen.«

»Sieben Jahre, Alex. Mein Vater hat mich seit sieben Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Sein Verlust.«

»Er ist Bezirksrichter. Er verliert nie.«

»Er hat dich verloren.«

Liebenswerte Worte. Worte, die in ihr den Wunsch weckten, ihm noch ein wenig mehr anzuvertrauen. »Ich habe Angst, Alex. Angst davor, nach Hause zu kommen und festzustellen, das alles sich verändert hat – und sich gleichzeitig nichts verändert hat.«

Alex ließ den Blick durch den Übungsraum schweifen, als wäge er verschiedene Möglichkeiten ab. »Möchtest du, dass ich mit dir komme?«, fragte er schließlich. »Als dein Begleiter? Mit familiärer Missbilligung kenne ich mich ein bisschen aus. Und moralische Unterstützung ist meine Spezialität.«

Das mochte ja sein, aber er war auch ein charmanter Verführer und Herzensbrecher und nicht gerade dafür bekannt, vor einer Herausforderung zurückzuschrecken. Er nannte die Dinge beim Namen und übernahm gern die Kontrolle.

»Wenn ich dich mitnehme, dann verursachst du absolutes Chaos«, wandte sie aus tiefster Überzeugung ein. »Du wirst allen Frauen den Kopf verdrehen, und alle Männer werden dich erschießen wollen, und ich bin dann schuld, weil ich dich mitgebracht habe.«

»Ich werde ein perfekter Gentleman sein. So salonfähig, dass du mich gar nicht wiedererkennst«, sagte der Kerl mit den ausgeleierten Jogginghosen und dem verwaschenen T-Shirt. »Die Leute werden sich fragen, wo um alles in der Welt du mich nur aufgetrieben hast. Man wird Schlange stehen, um dir zu gratulieren, dass du dir so eine gute Partie wie mich an Land gezogen hast. Sogar der Richter.«

»Carradice, solange ich noch keinen Ring am Finger trage, habe ich mir gar nichts an Land gezogen. Da sind wir im Süden ein wenig eigen. Und wenn ich mit dir als meinem Date dort auftauche, werden die Leute das nur als Bestätigung dafür sehen, dass ich eine unselige Schwäche für mittellose, nichtsnutzige Zirkuspenner habe.«

Alex lächelte. Was für einen herrlichen Anblick er dabei bot: draufgängerische Sinnlichkeit verpackt in jungenhaften Charme. Er hatte breite Schultern, einen schlanken Körper und haselnussbraune Augen umrahmt von irrwitzig langen Wimpern. Wenn bloß sein dunkelblondes Haar nicht so zerzaust wäre. Gut möglich, dass er nicht einmal einen Kamm besaß. »Oder wir ziehen die Sache durch«, meinte er. »Könnte Spaß machen.«

»Hast du überhaupt einen Kamm?«

»Ich hab sogar mehrere.«

»Benutzt du sie gelegentlich auch mal? Oder hat dir irgendwann mal einer gesagt, dir würde der Gerade-aus-dem-Bett-gefallen-Look verdammt gut stehen?«

Alex grinste noch breiter. So viel zu dem Gerücht, Engländer hätten schlechte Zähne. Seine waren gleichmäßig und strahlend weiß. »Wann ist die Hochzeit denn?«

»Diesen Samstag.«

»Hast du schon Urlaub dafür beantragt?«

Nina nickte. »Wurde heute Morgen genehmigt.« Was ein klein wenig ihre mangelnde Konzentration erklärte. »Zwei Wochen. Kat übernimmt für mich. Die Hochzeit findet in meiner Heimatstadt Bellefleur statt, ganz in der Nähe von Baton Rouge.« Nina hakte das Vertikalband aus der Halterung und rollte es um ihre Hand, mehr aus tröstlicher Gewohnheit als aus irgendeinem anderen Grund. »Ich denke, ich nehme das Auto und fahre schon am Donnerstag los. Dann kann ich mir für die Fahrt ein paar Tage Zeit nehmen. Unterwegs anhalten und eine Verschnaufpause machen.«

»Deinen Mut zusammenkratzen«, analysierte Alex leise. »Deine Verteidigungsmauern stärken.«

Er kannte sie viel zu gut. »Immer noch Lust, mitzukommen?«

»Unter zwei Bedingungen«, antwortete er.

»Nur zwei?« Die Chancen standen zwar gut, dass ihm noch mehr einfallen würden, sobald er erst einmal angefangen hatte, aber bei dem Gedanken, Alex auf der Fahrt dabeizuhaben, begann der Kloß in ihrer Magengrube bereits ein wenig zu schrumpfen.

»Erstens«, sagte er und warf ihr einen einschüchternden Blick zu. »Wer fährt, sucht die Musik aus.«

»Geht in Ordnung. Was ist deine zweite Bedingung?«

»Ich fahre.«