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Ein halbes Jahr später.

»War doch toll damals«, sagte Kim verschmitzt, als Andy Krauß auf den Stopp-Knopf drückte. Er hatte die Aufzeichnung, die das Theater ihnen zur Verfügung gestellt hatte, mittlerweile öfter gesehen als die in die Twin Towers einschlagenden Flugzeuge.

»Da haben wir echt was verpasst, Moritz«, sagte Mo Schimmer und prostete Bienenbang zu.

»Ich hätte das besser hinbekommen als ihr Amateure«, sagte er. Mittlerweile war er in der ersten Bewerbungsrunde bei einer Schauspielschule angenommen worden.

»Nicht nur ihr habt das verpasst«, sagte Frau Line mehr in sich hinein als in die Runde.

Björn hatte zur Einweihungsfeier seiner neuen Wohnung geladen, alle waren gekommen: Kim, Andy Krauß, Mo Schimmer, Moritz Bienenbang, Peter Himmel, Peter Glasow, Frau Line, Franz, Michel Abudhabi, Theresa Baal, Richart N. Streit. Überraschenderweise sogar Regine und ihr neuer Freund, der Björn von seiner Physiognomie her erstaunlich glich.

Regine hatte Björn und Frau Line, die generös von einer Anzeige wegen Körperverletzung abgesehen hatte, fast glaubhaft versichern können, dass sie aufgrund der ihr untergeschmuggelten Drogen etwas neben sich gestanden hatte. In der Therapie, die ihr anschließend an die Hamburger Vorfälle vielerseits empfohlen worden war, war sie mittlerweile in ihren Grundschuljahren angekommen.

Frau Line war bei Björn angekommen – immer wenn sie in seiner Nähe war, ansonsten hatten beide alle Freiheiten. Ihm gefiel dieses neue Beziehungskonzept, er befürchtete nur, er könnte dabei irgendwann den Kürzeren ziehen. Aber von festen Bindungen hatte er noch immer genug, der Grund saß ihm gegenüber.

Hanna Tanner war mindestens für die nächsten 15 Jahre verhindert, wäre aber wohl auch nicht eingeladen gewesen. Ein weiteres Video würde sie bald in ihrer früheren Identität als männlicher Klavierkabarettist Manni zeigen. Andy Krauß wollte sich die Überraschung jedoch für den späteren Abend aufsparen.

»In einer Minute sind die ersten Würstchen fertig«, schrie der frühpensionierte Peter Himmel wohlgelaunt vom Grill herüber. Peter Glasow rieb sich vorfreudig die Hände und zwinkerte Kim väterlich zu, die in sich versunken in kreisförmigen Bewegungen ihren angewachsenen Bauch streichelte.

»Wir sollten uns mit dem Film für irgendeinen Underground-Filmpreis bewerben«, schlug Andy Krauß vor.

»Oder zum Tor des Monats«, fügte Regine hinzu.

Ihr Neuer lachte am lautesten, Björn zufrieden in sich hinein. Selbstironie hatte er zuvor noch nie bei ihr festgestellt. Es schien in großen Schritten mit ihr voran zu gehen.

»Björn!«, sagte Regine plötzlich bestimmt. Björn verschluckte sich fast an seinem Bier. Er erwartete das Schlimmste, vielleicht mal wieder einen Antrag oder eine Einladung zu einer Menage à trois.

»Die netten Leute hier haben mir erzählt, du hättest da so Texte über mich geschrieben ...«

Fast das Schlimmste.

»Lies doch mal einen vor!«

»Essen fassen!«, bellte Peter Himmel vom Grill. Die Erlösung.

»Nix da!«, sagte Regine. »Erst der Text.«

»Die Frau gefällt mir immer mehr«, sagte Andy Krauß, der mittlerweile das Streicheln von Kims Bauch übernommen hatte.

»Los, lies den Text für meine Lebensretterin!«

»Ich habe mich aber echt weiterentwickelt seitdem, das ist doch gar nicht mehr –«

»Lies!«, befahl Krauß.

Peter Himmel kam mit der Grillzange angetrottet. »Ex-Kollege Hahne, Sie lesen jetzt diesen Text, sonst verkohlen mir die Würstchen. Das ist ein Befehl.«

Mo Schimmer begann, aufmunternden Applaus zu spenden. Der Rest stimmte mit ein.

»Aber nicht böse sein«, sagte Björn in Regines Richtung und zog einen Packen zusammengefaltete Papierblätter aus seiner hinteren Hosentasche. Er räusperte sich übertrieben und begann:

»Das Verhältnis Brustgröße zu Trikotweite könnte man optimieren.«

Copyright

Impressum

1. Auflage März 2012

©opyright 2012 by Autor

Umschlaggestaltung: [D] Ligo design + development

Coverbild: Marvin Ruppert

Bilder hinten: Fabian Stürtz

Lektorat: Christoph Strasser

Satz: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)

ISBN: 978-3-942920-07-0

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

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Unsichtbar Verlag | Wellenburger Str. 1 | 86420 Diedorf

Titel

Christian Ritter

Dichter schlachten

Ein Poetry Slam Krimi

Allen Slammern der Welt!

Seid nicht böse, wenn ihr nicht vorkommt.

Seid erst recht nicht böse, wenn ihr vorkommt.

Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen liegen auf der Hand.

Inhalt

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1

Das Verhältnis Brustgröße zu Trikotweite könnte man optimieren. Das dachte Björn jedes Mal, wenn Regine ihn zu einem Spiel mitnahm. Die XL-Trikots schlabberten so an den Spielerinnenkörpern herum, dass der früher vermutete erotische Aspekt des Frauenfußballs bestenfalls der Größe der frisch getrimmten Grashalme glich. Und dann winkt sie auch noch ständig. Sie soll Fußball spielen, nicht winken. Kleine Mädchen winken, während sie unbeholfen Sport treiben, als erwachsene Frau sollte man sich das abgewöhnt haben.

Jedes zweite Wochenende die Spiele ansehen zu müssen, war eine Pflicht, die Björn zusehends verdammte.

Sein Trost war, dass die Männer links und rechts von ihm ähnlich resigniert dreinblickten. Hätte einer begonnen, über das klägliche Passspiel oder die erschreckende Konzentration von Chancentoden zu lästern, wären die anderen wahrscheinlich umgehend eingestiegen. Aber die Gefahr, ungewollt die Freundin eines Anwesenden zu beleidigen, war hoch. Also schwiegen sie einig und süffelten ihr Bier. Björn trank Spezi. Regine verstolperte eine gute Chance im Sechzehner, lachte sich darüber schlapp und winkte wieder. Sie hat einfach keinen Kampfgeist, dachte er und wog kurz ab, ob er es laut aussprechen soll. Warum nicht mal vor fremden Männern über die eigene Freundin herziehen? Verdient hätte sie es, in diesem Moment. Seine Hose vibrierte. Er fischte sein Telefon heraus, las die Mitteilung, sah auf und ballte eine Siegerfaust.

Zwei Minuten später startete er auf dem Parkplatz den Motor seines Wagens. Ob der plötzliche Beifall auf dem Sportplatz dem Anschlusstreffer der Heimmannschaft galt, interessierte ihn kein Stück. Er schlug vor Freude auf die Hupe und fuhr an. Vielleicht hätte er Regine irgendwie mitteilen sollen, dass er gehen muss. Na ja, es gab Wichtigeres. Seinen ersten Mord.

2

In Björns Leben gab es drei Frauen: Regine, seine Mutter und Kim. Kim hatte die SMS geschickt. Sie arbeitete mit ihm bei der Kripo, war mit ihm zusammen drei Jahre lang auf der Polizeihochschule in Berlin gewesen. Regine war die jüngste und weiblichste aller Kommissare auf dem Revier und die lebende Antithese zur Annahme, Frauen im Polizeidienst dürften nicht allzu attraktiv sein. Björn übertraf sie altersmäßig nur um zwei Monate, beide waren 27 und erst seit wenigen Wochen im Dienst.

Als Björn den Konferenzraum betrat, saß Kim zusammen mit Peter Himmel und Peter Glasow am runden Tisch. Die beiden Peter waren zusammen 80 Jahre im Dienst, mindestens genauso lang trugen sie ihre Oberlippenbärte. Kims Zugang war für sie ein zweiter oder dritter Frühling gewesen. Um Zuwendung hatte sie nicht lange werben müssen, alles unter 40 ging für die Peters ohnehin als »Jugend« durch. Björn profitierte genauso von dem Sympathiebonus an den Nachwuchs.

Wie sie so zu eng nebeneinander am Tisch saßen, Kim eingerahmt von Glasow und Himmel, die Unterlagen vor sich gestreut, sahen sie aus wie eine Casting-Jury. Björn verzichtete auf einen ausdrucksstarken Walk und setzte sich dazu.

»Ein Mord?«

»Ein Mord«, bestätigte Glasow. »Da freuen Sie sich, was?«

»Ein bisschen.«

»Das junge Fräulein ist auch schon ganz aufgeregt«, ergänzte Himmel trocken.

Kim zeigte keine Reaktion.

»Wie, wo, wer?«, fragte Björn voll Tatendrang.

Himmel schob ihm einen Ausdruck über den Tisch und las sein eigenes Exemplar laut vor: »Dominika Dzierwa, 22 Jahre alt, Studentin der Philosophie und der Germanistik, aufgefunden im Treppenhaus ihres Mietshauses, erdrosselt – mit hoher Wahrscheinlichkeit. Wir haben erst mit ein paar Nachbarn gesprochen. Die Eltern wohnen in Polen. Sie werden grade informiert – mit mittlerer Wahrscheinlichkeit.«

»Soll heißen?«, fragte Björn.

»Sofern die polnischen Kollegen nichts Besseres zu tun haben. Wer weiß.«

Kim und Björn wechselten einen Blick. Himmel registrierte ihn und wurde etwas laut:

»Ich meine nicht, weil sie wodkaselig auf ihren Schreibtischen schlafen! Mann! Sie sind nur grade etwas unterbesetzt, hat der Kollege in Radom gesagt, und niemand reißt sich drum.«

Himmel sah in die Runde, erweckte den Eindruck, noch etwas hinzufügen zu wollen, schwieg dann aber nur.

»Fahren wir zum Tatort?«, fragte Björn.

Himmel lachte kurz auf.

Glasow übersetzte: »Da ist schon genug Tumult. Spusi und Rechtsmedizin sind im Gange und die Kollegen Böhmer und von Wartburg reden mit dem ganzen Haus.«

Björns Euphorie erlahmte für den Moment ein wenig. Im Gegensatz zu den Polen war ihre Abteilung stark überbesetzt. Manchmal kam er sich wie der Praktikant vor. Er beobachtete, wie Glasows Lippen einen weiteren Satz formten: »Sie beide können jetzt Kaffee kochen gehen – und rühren Sie drei Stück Zucker ein.«

»Was?«, fragte Björn zornig.

»Sie beide können den Freundeskreis auskundschaften, habe ich gesagt. Und ihn erst mal finden, noch wissen wir nichts über ihre sozialen Kontakte.«

»Internet!«, fügte Himmel süßlich hinzu, als würde er seinen Enkeln einen kandierten Apfel anpreisen.

»Wird gemacht«, sagte Kim hastig, während sie schon ihren Stuhl zurückschob. Björn schloss sich ihr wortlos an und sie machten sich auf den Weg in ihr Büro. Peter und Peter blieben im Konferenzraum. Der Fernseher dort war mit Pay-TV ausgestattet und schließlich war Samstagnachmittag.

»Sag mir nicht, dass du ernsthaft angepisst bist, weil du nicht zum Tatort darfst!«, sagte Kim, als sie sich an ihre Seite des Doppelschreibtischs setzte.

»Gut, dann sag ich’s eben nicht«, antwortete Björn und fuhr seinen Computer hoch. Er erinnerte sich an einen Satz aus der ersten Vorlesung in der Polizeihochschule: Glauben Sie nicht, dass irgendetwas davon, was sie im Fernsehen sehen, etwas mit Ermittlungsarbeit zu tun hat. Die Leiche hätte er trotzdem gern gesehen.

»Sie lassen dich schon noch mitspielen.«, sagte Kim. Manchmal erschien ihm ihr Mutterkomplex zu sehr ausgeprägt. Er blieb lieber pragmatisch:

»Dann machen wir mal das, was wir am besten können: googeln.«

Eine Minute später griff er zum Handy.

3

Regine hatte ein Tor geschossen. Das Unentschieden wurde in der Umkleidekabine mit Sekt begossen. Der siebte Punkt der Saison bedeutete ein tendenzielles Abrücken von den Abstiegsplätzen. Zwar konnte man in ihrer Spielklasse überhaupt nicht absteigen, solange es aber noch schlechtere Mannschaften als sie gab, gab es auch nach jedem Spieltag einen Grund zu feiern. Regine stand unter der Dusche und reichte die Sektflasche weiter, als Christin mit ihrem Handy in der Tür auftauchte: »Dein Typ will dich sprechen. – Ich bin einfach mal ran gegangen.«

»Sag ihm, ich kann grade nicht.«

Nach ihrem Tor war sie intuitiv in Richtung seines Zuschauerplatzes gerannt, um sich persönlich bejubeln zu lassen. Erst vor der Bande hatte sie bemerkt, dass er gegangen war. Es war ein ziemlicher Dämpfer ihrer Freude gewesen.

»Er sagt, es ist sehr wichtig. – Und es tut ihm leid, dass er abgehauen ist.«

Den zweiten Teil hatte sie dazu gedichtet. Christin war immer für Harmonie.

»Leg ihn auf die Bank. Wenn ich trocken bin, rede ich mit ihm.«

»Sie ist gleich so weit«, sagte Christin ins Telefon und legte es ab.

Björn stöhnte genervt auf.

Früher als erwartet hörte er Regines angeschickerte, trotzige Stimme:

»Wo bist du?«

»Auf dem Revier.«

»Konntest du nicht tschüs sagen?«

»Kannst du bitte mal rausgehen? Es ist wichtig.«

»Ich hab ein Tor geschossen.«

»Bravo. Regine, es ist wirklich wichtig ...«

Das mit dem Tor hätte er wirklich nicht erwartet.

»Jaja, mach dich nur lustig. Warte - - - Bin draußen. Was gibt’s?«

»Setz dich mal am besten irgendwo hin.«

Regine bekam eine Gänsehaut. Nicht nur weil sie nichts als ein Handtuch trug. Wenn Björn so etwas sagte, war er grade nicht ihr Freund, sondern Kommissar Hahne. Sie setzte sich auf den Boden und wartete mit zunehmender Unsicherheit, wie das Gespräch weiter gehen würde.

»Ich sitze.«

»Du bist bei Facebook mit Dominika Dzierwa befreundet.«

»Ähm, ja.«

Es war ein zögerndes Ähm, ein gleichgültiges ja. Björn war froh darüber. Wäre ihr Kontakt allzu intensiv, hätte er zuhause noch den Psychiater spielen müssen.

»Woher kennst du sie?«

»Mal ein Seminar zusammen gehabt.«

»Also nicht eng befreundet?«

»Nö, gar nicht.«

Gut und schlecht, dachte Björn.

»Du weißt auch nicht, mit wem sie zur Zeit zu tun hat?«

»Nö.«

Björn überlegte.

»Kannst du mir dein Facebook-Passwort geben? Ich würde gerne auf ihre Wall schauen ... beruflich.« In das »beruflich« legte er alle Ernsthaftigkeit, die er aufbieten konnte.

»Was soll denn das? Dann werde eben ihr Freund.«

»Zu spät.«

Kurz wurde es still.

»Scheiße, ist sie tot?«

Glauben Sie nicht, dass irgendetwas davon, was sie im Fernsehen sehen, etwas mit Ermittlungsarbeit zu tun hat.

Er verzichtete dementsprechend auf die bedeutsame Pause und bestätigte einfach: »Ja, tot.«

Kim strafte ihn über den Schreibtisch hinweg mit ihrem bösesten Gesichtsausdruck ab und wischte die Hand vor der Stirn.

Regine gab ihm ihr Passwort und versprach widerwillig, die Nachricht für sich zu behalten. »Wir reden später drüber.«, versprach er zum Abschied und ließ sie halbnackt auf dem kargen Katakombenflur des Sportheims sitzen.

Kim war dezent aufgebracht: »Ein-füh-lungs-ver-mö-gen. Schon mal gehört?«

»Sie kannten sich kaum. Regine kann das schon ab.«

»Wir schicken jeden, der vom Mord eines Bekannten erfährt, zum Polizeipsychologen. Das ist Routine. Für deine Freundin gilt das nicht?«

Björn hatte den letzten Satz überhört. Er loggte sich mit Regines Daten ein.

»Treffer«, sagte er. Kim umrundete den Schreibtisch. Dominika Dzierwa war wie erhofft sehr mitteilsam. Ihr letzter Eintrag stammte vom vorigen Nachmittag, 15.20 Uhr: »Heute Abend endlich wieder Poetry Slam!!!« Darunter nur ein Kommentar: »Supi. Ich freu mich. Hole dich um 7 ab.« Geschrieben von ...

4

Sabine Meyer heulte sich in Kims Armen aus. Sie besaß eine Sofakuschellandschaft, auf der es auch drei Basketballspieler hätten lauschig haben können. Mit ausgestreckten Beinen reichte sie nicht an die Sitzkante heran. Kim streichelte und streichelte und flüsterte und tröstete, Björn hatte sich einen blassfarbenen Ikea-Schalenstuhl genommen und sich verkehrt herum darauf platziert, den Blick auf das Sofa gerichtet. Das ging nun schon ein paar Minuten so.

Sabine Meyer, deren Adresse trotz ihres Pauschalnamens leicht zu ermitteln gewesen war, war recht euphorischer Stimmung gewesen, als Björn und Kim bei ihr eingetroffen waren. Sie hatte Kuchen gebacken und zu laut Radio gehört. Sie zählte zu der Sorte Mensch, die nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnet, wenn zwei Kripo-Beamte an der Tür klingeln. Umso härter hatte es sie getroffen, als sie vom Ableben ihrer, wie schnell klar wurde, besten Freundin erfahren hatte. Die Schockstarre hatte sie komplett ausgelassen und direkt losgeheult. Der zuvor angepriesene selbst zubereitete Eistee war verständlicherweise zur Nebensache geworden, also bediente sich Björn selbst, nahm sich ein Glas und drehte den Wasserhahn auf.

»Nein«, schluchzte es bestimmt von hinten. Es war keines der leidenden Neins mehr, die Hilflosigkeit ausdrückten, es war ein Verbotsnein.

»Nein, trinken Sie doch nicht aus dem Hahn.«, sagte Sabine Meyer, streifte Kims Umarmung ab, robbte sich vom Sofa und ging zu Björn in den Küchenbereich.

»Ich hab da so einen Filter, das ist besser.« Björn dachte an seine Mutter. Sie besaß auch einen dieser Wasserfilter und versenkte sogar ständig irgendwelche Salzkristalle darin. Sabine Meyer schenkte drei Gläser gefiltertes Wasser ein und schlurfte zurück auf ihre Liegewiese. Björn folgte mit den Gläsern. »Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«, fragte Kim.

»Ja, klar«, sagte Sabine Meyer, ihre Augen mit dem Ärmel trocknend.

Björn hielt sich raus und trank sein Wasser. »Sie waren zusammen auf dem Poetry Slam?« »Ja.« »Wann sind Sie gegangen?«

»Es ging recht lang. Die haben so lange Pausen gemacht. Es war erst nach Mitternacht vorbei. Wir sind noch eine Stunde geblieben danach.«

»Sind Sie zusammen gegangen?«

»Ja. Bis zu Domis Wohnung zusammen. Sie wohnt ja auf meinem Weg.«

»Haben Sie gesehen, wie sie das Haus betritt?«

»Ja – nein! Sie wollte noch eine rauchen, bevor sie reinging. In ihrer Wohnung raucht sie ja nicht. Ich bin weitergegangen, weil ich so müde ...«

Ihr Blick wurde leer, sie still, der nächste Heulkrampf kündigte sich knarrend in ihrer Kehle an.

Björn übernahm nach seiner Meinung nach angemessener Zeit: »Ist an dem Abend irgendwas Besonderes vorgefallen? War etwas anders als sonst?«

»Nicht wirklich. Wir waren schon öfter beim Slam. Das lief so wie immer. Aber es war schon aufregender diesmal, weil wir in der Jury saßen.«

Björn rückversicherte sich mit einem Blick bei Kim, dass bei ihr kein Erklärungsbedarf bestand. Mit den Rahmenbedingungen eines Poetry Slams waren alle Anwesenden vertraut.

»Waren Sie beide einzeln in der Jury oder zusammen?«

»Zusammen. Eigentlich. Aber Domi hat den Block immer hochgehalten. Ich habe sie beraten. Wir waren uns immer einig. Bis auf einmal. Der eine Text hat Domi gar nicht gefallen. Ich hätte ihm 9 Punkte gegeben, sie hat nur die 6 hochgehalten. Der Moderator hat sie noch gefragt, ob sie vielleicht einen Drehwurm hat, das hab ich mir gemerkt. Aber sie blieb bei der 6. Das Publikum hat sie dann ausgebuht. Sie fand das großartig.«

»Bei welchem Vortrag war das?«

»Beim Text von Andy Krauß.«

»Hat dieser Krauß sie darauf angesprochen? Oder sonst jemand?«

Sie dachte etwas länger konzentriert nach.

»Nö. Wir haben noch mit ein paar Leuten an der Bar geredet, aber die hatten vielleicht gar nicht gesehen, dass wir in der Jury waren. Und so richtig wichtig nimmt die Noten ja eh niemand.«

»Wer weiß«, nuschelte Kim, während sie ihren Notizblock bekritzelte. Kaum ausgeschrieben, fuhr sie deutlicher fort: »Das genügt fürs Erste. Wir können ja noch mal vorbeikommen, wenn wir mehr wissen wollen.« Eine Stimmlage gefühlvoller: »Wir würden Sie gern noch mit einem Polizeipsychologen zusammenbringen.«

»Echt? Das ist ja wie bei Domian.«

Björn huschte ein Lächeln übers Gesicht.

»Ja, echt. Wir bestellen ihn gleich hierher.«

»Das ist wahrscheinlich ganz gut«, sagte Sabine Meyer resigniert. Sie blickte eine Weile verloren vor sich hin, dann bildete sich eine Denkerfalte zwischen ihren Augen.

»Sie haben mir gar nicht gesagt, wie Domi – also, ja, wie denn? Wurde sie erschossen?«

Björn verkniff es sich, sein Wissen darüber auszubreiten, dass die wenigsten Tötungsdelikte mit Schusswaffen begangen werden und sagte nur: »Nein. Sie müssen nicht wissen, wie.«

»Ich will es aber wissen.«, sagte sie trotzig.

Björn machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung Kim. Sie sollte entscheiden. Sie entschied schnell, legte ihre Hand auf Sabine Meyers Schulter und sagte es ihr.

»Erdrosselt? Was ist das? Mit einem Strick?« »Ja, oder etwas Ähnlichem.« Sabine Meyer wurde panisch. Zum ersten Mal schrie sie:

»VON HINTEN? ERWÜRGT VON HINTEN? MIT EINEM STRICK? ODER EINER HUNDELEINE?«

Björn und Kim sahen sich überrascht an. Sabine Meyer atmete schneller, hyperventilierte fast: »Von hinten mit einer Leine? Sagen Sie doch.«

»Ja, zum Beispiel.«, bestätigte Kim unsicher.

Sabine Meyer verlor jegliche Farbe aus dem Gesicht.

»Oh Gott! Oh Gott! Scheiße! Das ist ja ...«

»Ja, es ist grausam«, versuchte Kim sie zu beruhigen.

»Das ist ja wie in dem Text gestern! Dem Text von ...«

Cover

5

Andy Krauß machte auf Höhe der Straßenmusikanten gleich hinter der Porta Nigra halt. Den Fußweg zur Veranstaltungsstätte kannte er dank mehrerer absolvierter Auftritte. Das einzige Manko an Auftritten in Trier ist die beschwerliche ICÖffnungund Regio-Zuganreise ab Frankfurt, dafür sieht man aber die Loreley auf der Strecke. Er hatte noch ein wenig Zeit und wog ab zwischen Eis, Kaffee oder Bier auf dem Weg und lauschte dem dreistimmigen Gitarrenzupfen der mexikanisch anmutenden Musiker. Hätte er sein Aufladegerät nicht zwei Tage zuvor in Nürnberg liegenlassen – die Doppeldusche des Moderators hatte ihn derart fasziniert, dass er keine Augen mehr für seine Reiseutensilien gehabt hatte – hätte sein Handy in diesem Augenblick seinen Klingelton abgespielt: »Space Invaders« von Pornophonique.

6

»Not available at present«, ließ Kim vernehmen. Sie saßen wieder in der Viererrunde auf dem Revier. In der Zwischenzeit hatten sie dem Veranstalter des gestrigen Poetry Slams einen Besuch abgestattet. Er hatte ihnen bereitwillig seine Handykontakte bereitgestellt und sein vorläufiges Schweigen versichert. Im Fernseher lief stumm die Tagesschau.

Björn saß mit Kopfhörern an einem der Dienstlaptops und durchforstete YouTube nach dem betreffenden Text Andy Krauß’. Wie dieser nun genau hieß, hatte Markim Zausel, der Veranstalter und Moderator des Slams, nicht mitteilen können. Er gehe öfter mal während der Vorträge backstage rauchen, hatte er ihnen gestanden. Wenn sie eine Zusammenfassung oder Interpretation des Textes haben möchten, sollten sie seinen Kollegen in Erlangen anrufen, der sei dafür bekannt, das Geschehen auf der Bühne aufmerksam zu verfolgen und virtuos zu kommentieren. Der Erlanger Kollege war allerdings momentan nach Stuttgart unterwegs und hatte sein Handy ausgeschaltet.

Kim erklärte derweil den Kollegen Petern, wie ein Poetry Slam vor sich geht. Sie kannte sich gut aus, vor Jahren in der Schule hatte sie ein Referat zum Thema gehalten und eine 1,3 dafür bekommen. Die sakralen Begriffe »Chicago«, »1986« und »Bauarbeiter« nahm sie dennoch nicht in den Mund, sondern beschränkte sich auf wenige simple Sätze, die keine Nachfrage provozieren sollten. Sollten.

»Also die singen dann?«, fragte Himmel.

»Nein. Hab ich doch gesagt. Das ist verboten. Die reden nur. Also lesen ab oder tragen einen Text auswendig vor.«

»Sie sagen Gedichte auf, Peter«, wollte Glasow erklärend aushelfen.

Kim korrigierte ihn halbwegs, startete die Einführung noch einmal von vorne und wurde sogleich von Björn unterbrochen.

»Ich glaube ich hab’s«, sagte er, zog die Kopfhörer aus der Buchse und drehte den Bildschirm den anderen zu. Zu sehen war das Standbild eines jungen, aufgeschossenen Mannes mit angelocktem, braunem Haar, das ihm wie ein Vorhang beidseitig über Augen und Wangen fiel. Er trug eine Jeans mit großen Löchern im Kniebereich, ein T-Shirt mit bunten Vögeln und stand verkrümmt am Mikrofon. »Andy Krauß – Abschlepper«, war der Titel, Björn startete bei Minute 4.14:

In einer Nacht schleppst du das Leben ab, glaubst du. Vor deiner Wohnungstür wendet sich das Blatt. Das Leben nimmt dich hart von hinten, schnürt dir die Kehle zu. Du zuckst ein letztes Mal, das Leben geht, dreht noch mal um und sagt: »Das gehört auch dazu.«

Nach der doppeldeutigen Stelle waren vereinzelt Lacher zu hören, im Anschluss absolute Stille, bis Krauß vom Mikrofon trat. Der Applaus am Ende des Videos war jäh abgeschnitten.

»Aha«, kommentierte Himmel.

»Soso«, ergänzte Glasow. »Was bringt uns das nun?« Kim war ob der Reaktionen leicht aufgebracht: »Wurde sie nicht vor ihrer Wohnung gefunden? Erdrosselt, die ›Kehle zugeschnürt‹, hinterrücks?«

Peter und Peter nickten.

»Der Text ist eine Anleitung. Vielleicht ist Krauß der Täter.«

»Lassen Sie mal die Kühe im Dorf«, sagte Glasow. Niemand korrigierte ihn. »Jeder ist verdächtig. Jeder, der gestern Abend dabei war. Und jeder, der nicht dabei war und Frau ...«, er spickte auf einen vor ihm liegenden Zettel, »Dzierwa kennt. Das kann auch alles Zufall sein mit diesem Gedicht. Interessanter ist grade die Frage, wie sie überhaupt vor ihre Wohnung kommen konnte.«

Dominika Dzierwa bewohnte eine WG im oberen Stock eines vierstöckigen Mietshauses. Sie war erst mittags von einem Mitbewohner vor der Tür aufgefunden worden. Der Tod war der Rechtsmedizin zufolge zwischen 1 und 3 Uhr nachts eingetreten.

Glasow fuhrt fort: »Sie muss mit ihrem Mörder nach oben gegangen sein, oder er hat sie nach der Tat völlig geräuschlos nach oben befördert. Die Nachbarn haben nichts gehört.«

Björn mischte sich ein: »Er kann auch oben gewartet haben. Sie ist ja höchstwahrscheinlich allein ins Haus gegangen, nachdem ihre Freundin sich verabschiedet und sie noch eine geraucht hat.«

»Höchst-wahr-schein-lich«, betonte Kim nach.

Himmel hatte in der Zwischenzeit ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche gezogen und auf den Tisch gelegt. Er tippte wiederholt auf den Warnhinweis:

RAUCHEN KANN TÖDLICH SEIN.

7

Andy Krauß trat seine Kippe aus. Er hatte sich für das Wegbier entschieden, leerte die Flasche und ließ sie am Rand des Durchgangstors zum Innenhof stehen. Dort erwarteten ihn neben einer Menschentraube, die mit Nachdruck Einlass begehrte (»Tür auf, sonst Zahn raus!«), auch seine Konkurrenten für den heutigen Abend: Mo Schimmer, Franz, Moritz Bienenbang und Frau Line, die auch am Vortag mit ihm aufgetreten waren, standen mit drei nervösen Trierer Erststartern, Hanna Tanner und Pierre Zahnwaran im Kreis. Hanna und die »Locals«, wie man in der Szene sagt, kannte Krauß nicht und reichte ihnen die Hand, für die anderen gab es eine Umarmung zur Begrüßung. Zahnwaran war aus Richtung Norden angereist und hatte bereits vom Verlauf der vorherigen Nacht erfahren. Für ihn war es nicht verwunderlich, dass Krauß sich nicht zur vereinbarten Zeit an Franz’ Auto eingefunden hatte, um gemeinsam nach Trier weiterzureisen. Zwar entsteht bei mehreren gemeinsamen Auftritten hintereinander eine Art Gruppendynamik und Schulausflugsfeeling, jedoch nicht so weit ausgeprägt, dass man es nicht zugunsten einer Spontanübernachtung bei einer Zufallsbekanntschaft hintanstellen könnte. Zur Not – und meist auch ohne Not – findet jeder Slammer auf sich gestellt rechtzeitig ans Ziel. Mit seiner Ankunft eine halbe Stunde vor Beginn bestätigte Krauß diese Regel stummschweigend.

»Gehen wir rein?«, fragte er. Der Slammertross setzte sich unter seiner Führung in Bewegung. Sie drängelten sich an der Kassenschlange vorbei, ernteten ein paar missbilligende Blicke von Zuschauern, die sie noch nicht kannten, und trafen im Backstageraum auf den Moderator, der im Begriff war, seinen Bart zu wichsen.

Wie nun ausgerechnet Käpt’n Zwirbelbart dazu kam, den Trierer Slam zu moderieren, blieb Andy Krauß ein Rätsel, allerdings keines, das er sich genötigt sah zu lösen. Er hatte sich auch nie die Mühe gemacht, sich seinen richtigen Namen zu merken.

Man nahm die bereitstehenden Tische und Sofas ein, Mo Schimmer verteilte Bier aus dem Kühlschrank, ohne zu wissen, ob es eigens für sie oder nur zufällig dort bereitstand. Franz aktualisierte seine Facebook-Statusmeldung via Smartphone, Frau Line lästerte mit Hanna Tanner über slammende Frauen, die bei ihren Auftritten eher ihre Körper als ihre Texte zum Votum stellen, und Moritz Bienenbang brauchte nicht lange, um zwei der Trierer Jungpoeten in einen Freestylebattle zu verwickeln. Ein typisches Slamvorgeplänkel, dachte einer der Anwesenden, bei Aktenzeichen XY würde es heißen »Es war ein Abend wie jeder andere. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass ...«. Michael aus Trier fragte in die Runde, ob der Slam denn pünktlich um neun Uhr anfangen würde und löste gesteigerte Heiterkeit aus.

Ein echter Slam beginnt niemals pünktlich.

8

Björn kam kurz nach Mitternacht nach Hause. Dass er Regine nicht antreffen würde, wusste er. Sie hatte ihm jedes Mal eine Kurzmitteilung geschickt, wenn sie mit ihrer Fußballmannschaft den Standort gewechselt hatte. Die ersten beiden Male hatte Björn zurück geschrieben, dass er noch einige Zeit im Revier beschäftigt sein werde, danach war er davon ausgegangen, Regine könne sich zusammenkombinieren, dass die Antwort noch immer Gültigkeit besitzt. Der Schock über den Verlust ihrer einstigen Kommilitonin scheint nicht übermäßig gewesen zu sein, ihre Mitteilungen klangen beschwingt. Gerade sollte sich die Mannschaft laut Information von 23.23 Uhr im Cosmos befinden und Karaoke singen. Björn stellte sich vor, wie Regine Arm in Arm mit ihrer lesbischen Torfrau auf der Bühne herumwankt, ein hellblaues Plastikmikrofon hält und »Ich will nen Cowboy als Mann« hinein grölt, wobei Gerdi, die Torfrau, immer »Cowgirl« und »Frau« singt. Gut, dass er nicht einen Moment überlegt hat, sich anzuschließen.


Er entschied, diesen besonderen Tag in Gesellschaft einer Flasche Bier auf dem Balkon ausklingen zu lassen. Auf seinen ersten Mord. Er schnappte sich ein Astra aus dem Kühlschrank, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Kurz überlegte er, sein Hemd auszuziehen oder wenigstens aufzuknöpfen, einen verkniffenen Blick über die Stadt schweifen zu lassen und dem zu fassenden Mörder verschworen zuzuprosten. Wir haben eine Verabredung, könnte man dazu raunen, das Spiel beginnt, ginge auch. Aber ohne eine Fernsehkamera vorm Gesicht macht eine solche Aktion wenig Sinn. Außerdem hatte es nur 10 Grad. Er setzte sich in den Klappstuhl und trank.

Auf seinem Handy auf dem Küchentisch kam eine Nachricht von Regine an: »Ich will zurück nach Westerland.« Deutschrockstunde im Cosmos.

9

Trierischen Volksfreund