Handelnde Personen
Yvolar |
ein alter Druide |
Alphart |
ein Wildfänger |
Leffel Gilg |
ein Bauer aus dem Unterland |
Erwyn |
ein Menschenjunge |
Urys |
ein Zwerg |
Mux |
ein Kobling |
Walkar |
ein Bärengänger |
Rionna |
Prinzessin von Iónador |
Galfyn |
Häuptling des Falkenclans |
Herras |
sein Waffenmeister |
Alwys |
König der Zwerge |
Barand |
Marschall von Iónador |
Salmuz |
Anführer der Wilden Männer |
Fyrhack |
der letzte Feuerdrache |
Kaelor |
ein Eisriese |
Lorga |
Anführer der Erle |
Klaigon |
Fürstregent von Iónador |
Éolac |
sein Seher |
Muortis |
Herrscher des Eises |
74
Das vereinte Heer der Menschen war auf dem Weg nach Süden.
Niemals wieder seit den glorreichen Zeiten Danaóns hatte man in Allagáin eine Streitmacht wie diese erblickt: Recken in schimmernden Rüstungen, die Seite an Seite mit den blaugesichtigen Kriegern des Waldes marschierten, die Soldaten Iónadors in Rüstung und Helm und die Waldkämpfer in ledernen Harnischen; an Standarten flatterten die bunten Banner der Freiherren, daneben wurden die Feldzeichen der Clans getragen; Lanze und Bogen, Schwert und Axt hatten zusammengefunden, um gemeinsam jenem Feind die Stirn zu bieten, der ihrer aller Existenz bedrohte. Der Falke des Waldes und jener der Berge riefen nunmehr mit einer Stimme.
Der Streitmacht voraus eilte die Vorhut, die unter dem gemeinsamen Kommando Meinrads von Kean d’Eagol und Geltars, des Anführers des Schlangenclans, stand und sich aus Kriegern beider Seiten rekrutierte; an der Spitze des Hauptheers jedoch ritten jene, deren Begegnung im Tal des Allair das sinnlose Töten verhindert und die Zusammenlegung der beiden Armeen überhaupt erst möglich gemacht hatte: Barand und Galfyn.
Dass beide den Falken in Wappen und Banner trugen, war ihnen als ein Omen erschienen, als ein günstiges Vorzeichen und als Beweis dafür, dass der Druide Yvolar die Wahrheit sprach. Beide hatten geheime Zweifel an der Richtigkeit ihrer Mission gehegt, doch erst die Weisheit des Druiden und die Macht des Drachen hatten sie davon abgehalten zu tun, was ihre Herren ihnen aufgetragen hatten. In Barands Fall war dies Klaigon gewesen, der verräterische Fürstregent von Iónador; über Galfyns Handeln hatte ein anderer, doch nicht weniger gestrenger Herr bestimmt: der Zorn der Rache.
Dennoch hatten beide eingesehen, dass ihre Bestimmung nicht darin bestand, im Tal des Allair einen sinnlosen Tod zu sterben, sondern dass es einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen galt – und diesem Feind wollten sie begegnen.
Iónador, die Goldene Stadt, war durch Verrat in Feindeshand gefallen – das allein war schon schlimm genug. Die Nachrichten jedoch, die Fyrhack der Drache herantrug, gaben immer noch mehr Anlass zur Sorge. Die Grenzburgen wurden angegriffen; Falkenstein und Kean d’Eagol hielten sich noch, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Tore und Mauern dem Ansturm der Feinde nachgeben würden. Die Türme auf dem Bálan Bennian, jenem hohen Grenzwall, der Allagáin über Generationen hinweg vor den Kreaturen Dorgaskols beschützt hatte, waren bereits niedergerissen.
Es hatte Barand seine ganze Überzeugungskraft gekostet, seine Ritter davon abzuhalten, in ihre Ländereien zurückzukehren, um diese gegen die Erle zu verteidigen; auch er selbst wäre am liebsten nach Seabon Leac geritten, um seinen Leuten und seiner Familie bei der Verteidigung der Burg beizustehen oder notfalls mit ihnen zu sterben. Aber ihm war klar, dass dies ein Fehler gewesen wäre, noch dazu einer, der dem Feind in die Hände spielte. Denn nur ein vereintes Heer, das seine Stärke bündelte, konnte Iónador zurückerobern – und selbst diese Aussicht war verschwindend gering.
Barand gab sich keinen Illusionen hin. Er kannte die Mauern der Goldenen Stadt, hatte selbst dabei geholfen, die Verteidigungsanlagen auszubauen, sodass sie schier unüberwindlich waren. Es war der erste Auftrag gewesen, den Klaigon ihm nach seiner Ernennung zum Marschall und Obersten Heeresführer erteilt hatte. Wie hätte Barand ahnen sollen, dass der Fürstregent zu diesem Zeitpunkt bereits dunkle, verräterische Pläne geschmiedet hatte?
Iónador musste den Klauen der Erle entrissen werden, davon hing alles ab. Nicht nur, weil die Goldene Stadt ein Symbol war, weit über die Grenzen Allagáins hinaus bekannt, das für Frieden, Wohlstand und Freiheit stand, sondern auch aus strategischen Gründen. Wenn das feindliche Heer über den Bálan Bennian gekommen war, so bedeutete dies, dass sich der Feind in Iónador sammelte. Die Erle hatten die Goldene Stadt zu ihrem Hauptquartier gemacht, und von dort aus führten sie weitere Angriffe, die Troch, Íaron Bennan und Búron Dunán gelten würden sowie den anderen Burgen des Hinterlandes. Dies musste verhindert werden, um jeden Preis.
Das Schicksal Allagáins würde sich einmal mehr in Iónador entscheiden …
Búron Dunán war eine Wasserfeste, die sich westlich des Allair befand, auf einer Halbinsel inmitten eines länglichen Sees – und damit auf der Marschroute des vereinten Heers. Der Burgherr befand sich unter Barands Rittern, und freilich wäre auch er am liebsten heimgekehrt, um den Ansturm des Feindes in Gesellschaft der Seinen zu erwarten. Er hielt Barand jedoch nicht nur die Treue, sondern tat noch ungleich mehr als dies.
Um ein gutes Beispiel zu geben, ritt er mit zwei Getreuen der Streitmacht voraus und erteilte seinem Gesinde den Befehl, die Kornkammern seiner Burg zu räumen und alles Vieh zu schlachten, das sich in den Stallungen befand, auf dass das Heer versorgt werde und die hungrigen Mäuler der Soldaten gestopft. Auf die Frage, warum er dies tat und seiner Sippe damit jede Möglichkeit nahm, den grimmen Winter zu überstehen, entgegnete der Herr von Búron Dunán: »Wenn unsere Soldaten nicht gestärkt in den Kampf ziehen, wird kein Mensch jemals wieder das Frühjahr erleben.«
Nachdem das Heer an den Ufern des von Eis bedeckten Sees die Nacht verbracht hatte, setzte es seinen Marsch fort und folgte weiter dem Lauf des Allair. Bitterkalter Wind strich durch die Senken und nagte an der Entschlossenheit der Männer, und der Marsch durch den zerstampften Schnee war eine Qual. Nur schleppend kam die Steitmacht voran, selbst die Reiter bewegten sich nur langsam vorwärts. Oder war es mehr als die ungünstige Beschaffenheit des Bodens, die das Vorankommen des Heeres hemmte? Rannten die Waldkrieger und die Soldaten Iónadors bereits gegen ein Hindernis an, das der Feind errichtet hatte?
Besorgt schauten Barand und Galfyn in die Mienen ihrer Männer und sahen Furcht und Verzweiflung darin. Je weiter es nach Süden ging, desto langsamer schleppte sich das Heer dahin. Wo war die Entschlossenheit der Männer geblieben, wo ihr Wille, sich der feindlichen Streitmacht zu stellen?
Schon gab es unter den Clanführern manche, die den Rückzug forderten, die nicht einsehen wollten, weshalb ein Waldkrieger sein Leben im Kampf für Iónador wagen sollte, wo man doch kurz zuvor noch in den Krieg gegeneinander gezogen war. Noch konnte Galfyn sie beschwichtigen, aber es war fraglich, wie lange noch. Auch Barands Ritter wurden, je weiter es nach Süden ging, von immer mehr Zweifeln befallen; Búron Dunán hatte sie besänftigt und ihre Mägen gefüllt, aber würden sie durchhalten? Würde es noch ein schlagkräftiges Heer sein, das Barand und Galfyn vor die Mauern Iónadors führten, oder nur noch ein versprengter Haufen, der dem Untergang geweiht war?
Die Zweifel wuchsen mit den Schatten, als die Sonne dem Horizont entgegensank. Nur vereinzelt vermochten ihre Strahlen die dichte Wolkendecke zu durchdringen, fahle Funken Hoffnung, die auf die Erde fielen, um sogleich in Schnee und Eis zu verlöschen.
Das Böse hielt Einzug in Allagáin.
75
Die Kälte, die tief unter der gewaltigen Bergmasse herrschte, unterschied sich von jener an der Oberfläche. Gegen diese Kälte half keine Kleidung und kein wärmendes Feuer; sie war unbarmherziger als der Eiswind über den Hügeln, schneidender als der Frost, der Flüsse und Seen erstarren ließ, tödlicher als die längste Winternacht.
Die Kälte war von solcher Bitterkeit, dass sie nicht nur alles Leben, sondern auch den Geist gefrieren ließ. Wer dieses unterirdische Reich betrat, dem ließ sie das Blut in den Adern gefrieren. Zischend, heulend strich sie durch Höhlen und Grotten, getrieben vom Atem des Untiers, das ihr Urheber war. Überall breitete sie sich aus, drang auch in den letzten Winkel Urgulroths, um von dort emporzusteigen in die Welt. Der eisige Tod, der Allagáin erstickte, nahm hier seinen Anfang.
Als Erwyn die Augen öffnete, konnte er zunächst nicht sehen.
Seine Hände und Füße spürte er kaum noch vor Kälte, die ihre nadelspitzen Zähne nicht nur in seine Haut und seine Knochen senkte, sondern auch in sein Herz. Furcht ergriff von ihm Besitz, die ihn nur noch mehr zittern ließ, und er vermochte nicht festzustellen, wo die Kälte endete und die Angst begann. Dunkelheit umgab ihn, die durchsetzt war mit unheimlichen Geräuschen.
Das Pfeifen kalter Luft.
Das Klirren von Eis.
Unheimliche Schreie.
Und schließlich das Schnauben einer Kreatur, die älter und gefährlicher sein musste als alles, was Erwyn kannte. Mit jedem Atemzug, den sie tat, nahm die Kälte zu, auch wenn das kaum noch möglich zu sein schien.
Der Eisdrache …
Erwyn entsann sich der finsteren Kreatur, von der Yvolar ihm berichtet hatte, und mit der Erinnerung an den Druiden kehrte auch jene an die jüngsten Ereignisse zurück, obschon sie dunkel und verschwommen waren. Der Junge entsann sich, dass plötzlich riesenhafte Gestalten aus dem Nebel aufgetaucht waren. Die Schreie seiner Gefährten und das Gebrüll der Ungeheuer klang ihm noch in den Ohren.
Etwas hatte ihn gepackt und hinfortgerissen, mit derartiger Wucht, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Was seither geschehen oder wie viel Zeit verstrichen war, wusste er nicht. Und wären da nicht das grässliche, alles durchdringende Schnauben gewesen und die tödliche Kälte, so hätte der Junge wohl auch keine Ahnung gehabt, wo er sich befand. So jedoch stand ihm die schreckliche Erkenntnis nur zu deutlich vor Augen.
Er war in Urgulroth.
In Muortis’ finsterem Reich.
Panik bemächtigte sich seiner. Er wollte sich bewegen, wollte aufspringen und fliehen, aber er konnte nicht. Nicht etwa, weil Fesseln oder Ketten ihn hielten, sondern weil die furchtbare Kälte dafür sorgte, dass seine Glieder ihm den Dienst verweigerten. Arme und Beine gehorchten ihm nicht, er spürte sie kaum; wirkungsvoller als jede Fessel hinderte ihn die Kälte an der Flucht.
Der Boden, auf dem er lag, war knochenhart und so kalt, dass es Erwyn fast den Atem nahm. Ob es sich um Stein handelte oder ob er tatsächlich auf purem Eis lag, hätte der Junge nicht zu sagen gewusst – in seiner elenden Lage spielte es auch keine Rolle. Er war verschleppt worden und gefangen, und der Schöpfer allein wusste, was man mit ihm vorhatte. Er hörte das Klappern seiner eigenen Zähne, die vor Kälte und
Furcht aufeinanderschlugen. Um sich mit dem Klang seiner Stimme ein wenig Mut zu machen, zwang er sich dazu, ein Wort zu sprechen – das tonlose Krächzen, das aus seiner Kehle drang, erschreckte ihn jedoch mehr, als dass es ihn tröstete.
»Yvolar …«
Es war ein leiser, zaghafter Hilferuf. Weder nahm der Junge an, dass er darauf Antwort erhalten, noch dass er überhaupt von jemandem gehört würde – umso überraschter war er, darauf ein leises, scheußliches Lachen zu vernehmen, von solcher Eiseskälte, dass selbst der Firn davon erbebte und in winzigen Splittern auf Erwyn herabrieselte. Splitter, in denen sich ein mattgrünes Leuchten brach …
»W-wer ist da?«, fragte der Junge erschrocken. Noch immer hörte sich seine Stimme an wie die eines Fremden. Ihr Widerhall geisterte unheimlich umher, schien bald näher, dann wieder weit entfernt zu sein. »Y-Yvolar …?«
Die Stimme lachte erneut. Dann sprach sie, und ihr Klang, dunkler als jede Nacht und kälter als jeder Winter, gab Erwyn das Gefühl, sein Innerstes würde zu Eis erstarren.
»Was«, fragte sie, »versprichst du dir davon, diesen Namen an diesem Ort auszusprechen? Glaubst du denn, der alte Narr könnte dir noch helfen?«
Erwyn bebte am ganzen Körper. Gehetzt warf er den Kopf hin und her und versuchte herauszufinden, wo in der Dunkelheit, die sich allmählich lichtete, sich der Urheber der Stimme befand, die zum Entsetzen des Jungen kein Echo hatte. Im Gegenteil – ganz nah schien sie zu sein, in seinem Ohr, in seinem Bewusstsein.
Eine weitere schreckliche Erkenntnis durchzuckte den armen Erwyn:
Die Stimme ist in mir …
Zu gern hätte er der Stimme widersprochen, hätte ihr gesagt, dass der weise Yvolar keineswegs ein Narr sei, und sie gefragt, wo er selbst sich befand und aus welchem Grund.
Aber er konnte es nicht.
Sein Lebtag lang hatte Erwyn nichts anderes getan, als in den schützenden Wänden Glondwaracs zu sitzen und Lieder von großen Abenteuern zu singen. Wie sehr hatte er davon geträumt, sie selbst zu erleben, den Staub der dunklen Bergwerksstollen von seinen Füßen zu schütteln und hinauszuziehen in die große Welt.
Was für ein Narr er gewesen war!
»Sylfensohn«, ließ sich die Stimme erneut vernehmen, ätzend vor Spott, »kleiner Erbe Ventars … Was weißt du schon von meiner Macht? Was vom wahren Wesen der Dinge? Überhaupt nichts! Einem alten Narren bist du gefolgt, blindlings und ohne zu wissen, worauf du dich einlässt. Hast dich in die Welt begeben, ohne auch nur zu ahnen, was dich erwartet. Hast dich Hals über Kopf ins Abenteuer gestürzt, ohne einen Schimmer, mit wem du es zu tun bekommst.«
Schritte waren zu hören.
Der unheimliche Sprecher trat vor, und im grünlichen Schimmern, das stetig zunahm – oder gewöhnten sich Erwyns Augen nur allmählich an den spärlichen Schein? –, gewahrte er eine Gestalt. Noch waren ihre Konturen undeutlich und verschwommen, aber selbst im trügerischen Halbdunkel konnte der Junge erkennen, dass sie von hünenhafter Größe war. Das schwarze Gewand, das sie trug und das alles Licht ringsum zu schlucken schien, reichte bis zum Boden, eine weite Kapuze verhüllte ihr Antlitz.
»B-bitte«, hauchte der Junge atemlos. »K-kommt nicht näher …«
»Weshalb nicht? Fürchtest du dich etwa, Sylfensohn?« Erneut erklang jenes Gelächter, das kälter war als Eis. »Das solltest du, denn du befindest dich in meinem Reich und in meiner Gewalt. Grund genug für dich, zu verzweifeln!«
»W-wer seid Ihr?«
»Kannst du dir das nicht bereits denken? Hat dein vor Angst schon halb rasender Verstand es dir nicht längst gesagt? Sieh mich an und zittere, elende Kreatur – denn ich bin Muortis, der Herrscher der Finsternis, Gebieter über Nebel und Eis.«
Die schwarze Gestalt breitete die Arme aus, sodass Erwyn das Gefühl hatte, von der Dunkelheit eingehüllt zu werden. Es war, als würde er in einen gähnenden Abgrund starren. Die grässliche Präsenz des Bösen umlauerte ihn wie eine Natter, schien nur auf den Augenblick zu warten, in dem sich sein Verstand eine Blöße gab, um unvermittelt zuzubeißen und ihn zu vergiften, ihn hinabzureißen in die kalte Kluft des Wahnsinns.
»N-nein – nein …«, presste er stockend hervor, was sein finsteres Gegenüber nur noch mehr zu amüsieren schien.
»Da liegst du nun vor mir, kleines Sylfensöhnchen, und zitterst um dein Leben. Wenn der alte Narr dich jetzt nur sehen könnte, dieser törichte Greis, den du als Yvolar kennst. Schon viel zu lange weilt er auf Erden und verpestet die Gedanken der Sterblichen mit dem, was er für die Wahrheit hält. Dabei ist er nichts als ein Scharlatan.«
»Y-Yvolar«, wiederholte Erwyn ängstlich den Namen des Druiden. »Ist er …?«
»Keine Sorge, mein kleiner Freund. Der alte Narr ist wohlauf, ebenso wie die Sterblichen, die so töricht sind, ihm auf seiner sinnlosen Mission zu folgen. Ich sehe keinen Nutzen darin, sie zu vernichten, denn sie können mir nicht mehr gefährlich werden.« Wieder lachte Muortis. »Glaubst du denn, mir bliebe etwas verborgen? Denkst du im Ernst, ich hätte all die Jahrtausende schlafend verbracht? Der Druide mag dir das erzählt haben – eine Lüge wie alles, was er von sich gibt. Ich habe mich zurückgezogen und meine Kräfte gesammelt, das ist wohl wahr. Aber während ich dies tat, habe ich die Welt beobachtet. Ich habe Spione ausgesandt, und du darfst mir glauben, dass es unter den Sterblichen mehr als genug gab, die willens und bereit waren, mir zu dienen.«
»Ich weiß«, entgegnete Erwyn in einem Anflug von Trotz. Wie der Finstere über seinen Mentor Yvolar sprach, erregte seinen Widerwillen. »Meister Yvolar hat mir gesagt, dass Ihr die Menschen mit falschen Versprechungen lockt.«
»Ich gebe ihnen das, was sie sich ersehnen«, bestätigte der Herr des Eises. »Was ist falsch daran? Der eine wünscht sich ein großes Haus mit festen Wänden, ein anderer des Nachbarn Weib, der Nächste so viel Wein und Fleisch, wie sein feister Wanst nur fassen kann. Gier, mein unbedarfter junger Freund, ist eine starke Antriebsfeder – solltest du das noch nie erfahren haben?«
»Noch nie«, behauptete Erwyn. »Und ich will es auch nicht.«
»Sei unbesorgt, dazu wird es nicht kommen. Denn während deine Gefährten nichts sind als wertlose kleine Maden, die ich jederzeit zertreten kann, stellst du eine Gefahr dar, die ich nicht unterschätzen darf. Nur ein Erbe Ventars, ein Nachkomme des ach so heldenhaften Danaón, kann mir Einhalt gebieten – du, mein unbedarfter Freund!«
Erwyn war nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Schon zuvor hatte der Nebelherr angedeutet, seine Identität zu kennen, aber in diesem Moment erst wurde dem Jungen klar, was dies tatsächlich bedeutete: Muortis wusste, was Yvolar vorhatte! Er kannte den Plan des Druiden – und war dabei, ihn zu vereiteln!
»Ja«, stimmte der Finstere zu, für den Erwyns Gedanken offenbar ein offenes Buch waren, »damit hast du nicht gerechnet, nicht wahr? Weder du noch einer deiner einfältigen Freunde – und schon gar nicht der alte Tor, der euch anführt. Wie sollte er auch? Sein Leben lang war er damit beschäftigt, das Wesen der Welt zu erforschen und Dinge zu ordnen, die nicht zu ordnen sind. Schon einmal musste er diese Erfahrung machen, doch statt aus seinen Fehlern zu lernen, wiederholt er sie. Die Menschen wollen keine Ordnung und keinen Frieden. Chaos und Zerstörung sind es, wonach ihre Gesinnung verlangt. Ich gebe ihnen, was sie wollen.«
»Aber I-Ihr zerstört alles. Die Welt, in der wir leben …«
»Die Welt hat es nicht besser verdient. Glaubst du denn, meine Armeen könnten die Sterblichen bezwingen, wenn diese nicht längst aufgehört hätten, an sich und ihre Welt zu glauben? Selbstvergessen und maßlos, wie sie sind, haben sie sich selbst dem Untergang geweiht. Weder auf das Morgen noch auf das Gestern ist ihr Blick gerichtet, sondern einzig auf das Hier und Jetzt. Mit einer Ausnahme: Du, mein Freund, bist die Verbindung zur Vergangenheit, zu einer Zeit, in der mir die Menschen noch die Stirn bieten konnten – zu einer Zeit, an die sie heute jedoch nicht mehr glauben. Selbst Danaón konnte mich nicht ganz bezwingen, aber durch sein angeblich so heldenhaftes Opfer wurde ich in die Tiefen Urgulroths gebannt, von wo ich erst zurückkehren konnte, nachdem ich neue Kräfte gesammelt hatte und die meisten von Ventars Erben die sterbliche Welt verlassen hatten. Du bist der Letzte von ihnen. Yvolar hat stets gewusst, dass alle Hoffnung der Menschen auf dir ruhen würde, sollte ich jemals zurückkehren – und ich wusste es ebenfalls.«
»D-das ergibt keinen Sinn«, widersprach Erwyn, der sich wieder ein wenig gefangen hatte. »Wenn Ihr die ganze Zeit über von meiner Existenz wusstet, wieso habt Ihr mich dann nicht längst töten lassen?«
»Weil es einfacher für mich war zu warten.«
»Zu warten? Worauf?«
»Törichter Knabe – darauf, dass dich der alte Narr direkt zu mir führte!«
Muortis’ Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Erwyn war wie vom Donner gerührt.
Sollte das die Wahrheit sein?
Hatte der Herrscher des Eises tatsächlich von Yvolars Plänen gewusst? Hatte er die ganze Zeit über nur darauf gelauert, dass der Druide den Erben Ventars zu ihm führte? Hatte er Yvolar ohne dessen Wissen zu seinem Werkzeug gemacht?
»Nur alle sieben Jahre«, fuhr Muortis zu Erwyns wachsendem Entsetzen fort, »erscheint die Zwergenzwing in der Welt der Sterblichen, und selbst dann ist es nicht leicht, sie zu betreten. Lange Zeit waren meine Kräfte zu schwach, und ich hatte nicht die Möglichkeit, eine Armee aufzustellen, die groß und schlagkräftig genug gewesen wäre, Alwys und seine elende Gnomenbrut zu besiegen. Also wartete ich ab, bis die Zeit reif war. Reif, um zurückzukehren. Reif, um meine Feinde zu bezwingen. Verstehst du, was ich meine, Dochandar?«
»Ich verstehe … «, murmelte Erwyn niedergeschlagen. Muortis kannte also sogar seinen Sylfennamen, was bedeutete, dass er tatsächlich alles wusste. Damit war jedwede Hoffnung dahin; Yvolars Pläne waren kläglich gescheitert. Mehr noch: Während der Druide geglaubt hatte, zum Besten der Menschen zu handeln, hatte er dem Herrscher des Bösen in Wahrheit noch in die Hand gearbeitet.
Wie eine dunkle, mondlose Nacht senkte sich Verzweiflung über den Jungen. Tränen traten ihm in die Augen und wurden auf seinen Wangen sofort zu Eis.
»Ein Jammer, nicht wahr?«, spottete Muortis. »Und dabei hattest du gedacht, zu Höherem geboren zu sein. Törichter kleiner Junge! Hast du das wirklich geglaubt? Dass du mir, dem Herrscher der Nebel und des Eises, gefährlich werden könntest? Aber tröste dich, der alte Mann hat sich ebenso täuschen lassen wie du. Nur aus einem Grund habe ich ihn am Leben gelassen: Ich will sein Gesicht sehen, wenn die Welt in Kälte erstarrt und er erkennen muss, dass all sein Streben vergeblich war; wenn er als Letzter der Alten gezwungen ist, mitanzusehen, welches Schicksal die Sterblichen erleiden, die zu schützen er einst feierlich geschworen hat. Ich spreche von Rache, Dochandar. Und von Bestimmung und Erfüllung. In der kalten Glut von eisigem Feuer wird dein unnützes kleines Leben verlöschen – und damit alle Hoffnung, die der Druide in dich setzte.«
Maßloses Entsetzen packte Erwyn. Der Nebelherr jedoch warf den Kopf in den Nacken, und dröhnendes Gelächter drang unter der Kapuze hervor, um das Eis in der Höhle erzittern zu lassen.
76
Die Gefährten waren nur noch ein kurzes Stück weitermarschiert. Unterhalb eines Felsens, der ein wenig Schutz versprach, hielten sie inne. Die Stimmung war gedrückt, niemand sprach ein Wort. Nachdem sie mit Urys bereits ein Kamerad verlassen hatte, hatten sie nun auch noch Erwyn verloren – und mit ihm alle Hoffnung, ihre Welt zu retten.