Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. 1
  5. 2
  6. 3
  7. 4
  8. 5
  9. 6
  10. 7
  11. 8
  12. 9
  13. 10
  14. 11
  15. 12
  16. 13
  17. 14
  18. 15
  19. 16
  20. 17
  21. 18
  22. 19
  23. 20
  24. 21
  25. 22
  26. 23
  27. 24
  28. 25
  29. 26
  30. 27
  31. 28
  32. 29
  33. 30
  34. 31
  35. 32
  36. 33
  37. 34
  38. Danksagung
  39. Die Autorin
  40. Die Romane von Helena Hunting bei LYX
  41. Impressum

HELENA HUNTING

Inked Armor

Lass mich fliegen

Ins Deutsche übertragen
von Beate Bauer

Zu diesem Buch

Nach einer bewegten Vergangenheit geprägt von Drogen, Alkohol und Schmerz ist Hayden Stryker endlich zur Ruhe gekommen. »Inked Armor«, sein eigenes Tattoo-Studio, lässt ihm keine Zeit mehr für Eskapaden und ist seine größte Leidenschaft. Bis Tenley Page, die neue Aushilfe im Café seiner Tante direkt gegenüber, seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch Tenley kann das heiße Prickeln, das Haydens Blicke allein in ihr auszulösen vermögen, gerade wirklich nicht gebrauchen, und sie versucht sich so gut es geht von dem geheimnisvollen Tätowierer fernzuhalten. Doch als sie eines Tages seine Kunstwerke sieht, weiß Tenley augenblicklich, dass Hayden derjenige ist, der ihr zurück ins Leben helfen wird …

Mein lieber Mann; du bist mein Anker,
mein weicher Landeplatz und der Grund dafür,
dass das hier möglich geworden ist.
Ich liebe dich. Für immer.

1

HAYDEN

Ich hatte Kopfschmerzen. Die leichte Gereiztheit hatte sich nach einer unruhigen Nacht in schlechte Laune verwandelt. Die Heerscharen von Erstsemestern, die den Shop in letzter Zeit frequentierten, und das naive Mädchen, das gerade auf meinem Stuhl saß, raubten mir den letzten Nerv.

Ich massierte meine Schläfe, um das dumpfe Pochen, das im Laufe des Tages entstanden war, zu lindern. Noch zehn Minuten, und das Tattoo wäre fertig, falls ich die nötige Konzentration aufbrachte. Es kostete mich Überwindung, denn ich war angespannt. Nach dem Einhorn stand kein Termin mehr an, aber es war noch über eine Stunde bis Ladenschluss. Wenn ich Pech hatte, würde ich mit einer weiteren College-Tussi, die irgendeine Zeichentrickfigur gestochen haben wollte, hier festsitzen.

Am liebsten hätte ich meine Kundin schnell abgefertigt, um die Straße zu überqueren und im Antiquariat und Café meiner Tante Cassie zu verschwinden. Denn Kaffee bei Serendipity holen war in den letzten vier Wochen, seit Cassie das neue Mädchen eingestellt hatte, zu meiner Lieblingsbeschäftigung geworden. Sie war der Grund dafür, dass ich so abgelenkt war. Trotz meines erhöhten Kaffeekonsums hatte ich sie seit fünf Tagen nicht zu Gesicht bekommen, und das wollte ich ändern. Sofort.

Ich wischte mit einem feuchten Tuch über die frische Tinte. Das Mädchen auf meinem Stuhl war ziemlich schweigsam, seit ich damit begonnen hatte, den Umriss zu stechen, was in Ordnung war. Ich war nicht in Plauderstimmung. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Summen der Tätowiermaschine. Das Geräusch störte mich nicht. Es entspannte mich, wie gute Musik.

Es war das überflüssige Zeug, das nervte: das dumme Geschwätz der Teenager, das nervöse Tappen eines Fußes auf dem polierten Holzboden und die penetrante Stimme des Nachrichtensprechers, der die Katastrophen des Tages verkündete. Der nasale Klang seiner Stimme ging mir wahnsinnig auf die Nerven. Doch ich konnte auch nicht weghören, getrieben von dem Wunsch zu erfahren, dass das Leben anderer Leute noch viel schlimmer war als meins.

»Kannst du das bitte leiser machen?«, rief ich Lisa zu, unserer Buchhalterin und Piercerin.

»Einen Moment.« Sie winkte ab, griff jedoch bereits nach der Fernbedienung.

Die anderen Tätowierer arbeiteten ebenfalls konzentriert. Ich schien der Einzige mit Konzentrationsstörungen zu sein. Die Glocke über der Tür bimmelte und rettete mich davor, mich noch mehr zu ärgern. Lisa wechselte den Sender, woraufhin schwere Rockbeats den Raum erfüllten, während der Boden unter den Bässen vibrierte. Sie dämpfte die Lautstärke auf ein angemessenes Niveau.

Ich hielt inne und blickte auf, wobei ich darum betete, kein weiteres fades College-Mädchen vor mir zu haben, das mit abweichendem Verhalten liebäugelte. Der nächste Kunde wäre meiner. Und dann würde ich es nicht zu Serendipity schaffen, bevor der Laden schloss.

Meine schlechte Laune war wie weggeblasen, als ich Cassies neue Mitarbeiterin sah. Sie hielt einen Stapel Bücher wie einen Schild gegen die Brust gepresst, ihr langes Haar war vom Wind zerzaust. Sie sah rasch weg, als sich unsere Blicke trafen.

Ihr Name war Tenley. Das wusste ich nicht, weil man uns einander vorgestellt hatte – obwohl wir uns ein paarmal unterhalten hatten –, sondern weil Cassie ihn mir auf meine Frage hin verraten hatte. Cassie, die eine unerschöpfliche Informationsquelle war, hatte mir außerdem verraten, dass Tenley aus Arden Hills, Minnesota, stammte und an der Northwestern ihren Master machte. Sie verhielt sich allerdings überhaupt nicht wie einer der typischen Besserwisser einer Elitehochschule. Nach dem zu urteilen, was sie mir erzählt hatte, schien sie ziemlich uneitel zu sein. Aber zugegebenermaßen hatte sie mir nicht besonders viel erzählt.

Das erste Mal hatte ich sie vor knapp einem Monat gesehen. Ich war zu Serendipity hinübergegangen, um meine Tante zu besuchen und einen Kaffee zu trinken, was nicht ungewöhnlich war. Die Neue in Cassies Laden war es hingegen allemal. Sie saß hinter dem Tresen, ein Lehrbuch über abweichendes Verhalten vor sich aufgestellt, sodass nur ihre Augen zu sehen waren. Sie war so vertieft in ihre Lektüre, dass sie nicht einmal das Türläuten hörte, das mein Kommen signalisierte.

Ich erschreckte sie, als ich nach Cassie fragte, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Ihr Lehrbuch kippte um und mit ihm ihr halb voller Kaffee, der die Seite mit brauner Flüssigkeit tränkte. Als ich mich erbot, beim Aufwischen zu helfen, stammelte sie wirres Zeug und fiel beinahe vom Stuhl. Sie war wunderschön, auch wenn sie rot geworden war. Cassie tauchte aus dem hinteren Ladenteil auf, um zu sehen, was los war. Damit war die erste Kontaktaufnahme beendet.

Die nächsten Male war sie entweder im Keller, wo sie unzählige Kisten mit Ankäufen durchsah, oder hinter Bücherstapeln zwischen den Regalreihen versteckt. Cassie hielt mich nicht davon ab, in die Abteilung mit den Philosophiebüchern zu gehen, um herauszufinden, ob es, abgesehen von dem Mädchen namens Tenley, irgendetwas Interessantes gab. Ich traf sie im Schneidersitz auf dem Fußboden an, einen Stapel Bücher neben sich, den sie alphabetisch sortierte, bevor sie die Bücher wieder ins Regal stellte. Ich war bereits in ihr Organisationstalent verliebt.

Ich räusperte mich, um sie diesmal nicht zu erschrecken. Es half nichts. Sie japste nach Luft und griff sich an den Hals, als sie mich sah. Sie war umwerfend: Ihr dunkles Haar war so lang, dass es beinahe den Boden berührte, sie hatte zarte Gesichtszüge und graugrüne Augen, die von dichten Wimpern umrandet waren. Ihre Nase war gerade und ihre Lippen voll und rosa. Es sah nicht so aus, als trüge sie Make-up.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte ich, was stimmte. Ich starrte sie ebenfalls an. »Ich bin Cassies Neffe, Hayden.«

Sie ließ ihren Blick von meinen Füßen nach oben wandern und hielt bei den Tätowierungen auf meinen Armen inne, bevor sie weitermachte. Dann stellte sie ihre langen, schlanken Beine nebeneinander, stützte sich am Regal ab und stand auf. Dabei zuckte sie zusammen, als hätte sie lange gesessen und wäre davon ganz steif. Sie war viel kleiner als ich und von schmaler Gestalt.

»Du hast den Tattooladen auf der anderen Straßenseite«, sagte sie.

»Das stimmt.« Ich nickte in Richtung der Regale. »Ich suche Die Geburt der Tragödie

Sie sah mich neugierig an, dann suchte sie die Reihen ab, wobei sie einen Finger über die Buchrücken gleiten ließ. »Ich habe in letzter Zeit keinen Nietzsche gesehen, aber wenn ich ein Exemplar finde, könnte ich es dir bringen … zu Inked Armor, meine ich.«

Ich lächelte bei dem Gedanken an sie in meinem Laden. »Gern. Du kannst auch vorbeikommen, wenn du kein Exemplar findest.«

»Ähm … Ich hab nicht … vielleicht.« Sie senkte den Blick und beugte sich vor, um die restlichen Bücher vom Boden aufzuheben. »Ich sollte die hier einsortieren.« Ihr Haar schwang herum, als sie sich umdrehte. Der Geruch nach Vanille hing in der Luft, als sie um die Ecke verschwand, und ich fühlte mich an Cupcakes erinnert. Die zweite Begegnung war schon besser gewesen. Ich war fasziniert, was mir selten passierte. Nur sehr wenig konnte meine Aufmerksamkeit erregen.

Es dauerte eine Weile, bis ich Tenley erneut begegnete. Als ich diesmal den Laden betrat, hörte sie die Glocke. Sie saß an der Kasse. Vor ihr lag aufgeschlagen ein Skizzenbuch. Neben ihr befand sich ein Bücherstapel, auf dem ein Tablett mit Cupcakes stand. In einer Hand hielt sie einen Tuschestift. In der anderen einen Cupcake. Ich hatte eine Vorliebe für Cupcakes.

Sie biss gerade ab, ihre Lippen waren geöffnet, ihre Zähne im cremigen Zuckerguss versunken. Sie gab ein leises, genussvolles Stöhnen von sich, ein Geräusch, das ich vielleicht einem Orgasmus zugeordnet hätte. Zumindest war es das, was das Geräusch in meiner Vorstellung auslöste. Ihre Augen, die sie genüsslich geschlossen hatte, klappten beim Geräusch der Tür auf. Hastig legte sie den Cupcake weg und bedeckte ihren Mund mit der Hand, während sie kaute.

»Klingt, als wäre er lecker.«

Ich lächelte, als ihr Gesicht eine verräterische Röte annahm. Sie schluckte nervös und wischte sich mit der Hand über den Mund, die Augen auf den Tresen gerichtet. Ich blickte auf das aufgeschlagene Skizzenbuch. Eine einzelne Feder, detailgenau gezeichnet, bedeckte die Seite. Flammen züngelten an ihr empor und versengten sie, während Rauchfahnen aufstiegen.

»Bist du Künstlerin?«

Sie schlug das Buch zu und zog es näher zu sich heran. »Es sind nur Kritzeleien.«

»Ziemlich präzise Kritzeleien, wenn du mich fragst.«

Sie legte das Skizzenbuch in eine Schublade unter dem Tresen. Mit hochgezogenen Schultern linste zu mir hinauf, die Andeutung eines Lächelns im Gesicht.

»Tenley, kannst du mir mal helfen?«, rief Cassie aus dem hinteren Teil des Ladens.

»Ich komme schon!« Sie wandte den Blick ab. »Ich hab deinen Nietzsche noch nicht gefunden, aber ich halte weiter danach Ausschau.«

»Danke, dass du an mich gedacht hast.«

»Kein Problem, wirklich. Bedien dich.« Sie zeigte auf das Tablett mit den Cupcakes und verschwand dann mit einem Winken im hinteren Teil des Ladens.

Es war unmöglich, zu Cupcakes Nein zu sagen, also nahm ich einen und verschlang die glasierte Süßspeise mit drei großen Bissen. Er war köstlich. Ich schnappte mir ein Post-it, kritzelte eine Nachricht darauf und klebte es an den Teller.

Als klar war, dass sie nicht so bald zurückkommen würde, ging ich quer durch Serendipity, um nebenan Kaffee zu holen. Auf dem Rückweg durchquerte ich den Laden erneut, doch am Tresen saß nicht Tenley, sondern Cassie. Ich nahm noch einen Cupcake, weil sie so gut waren.

Das war vor fünf Tagen gewesen, daher meine Ungeduld mit der Kundin, die ich gerade bearbeitete. Doch anscheinend brauchte ich mir keine Sorgen mehr zu machen, weil sie auf einmal in meinem Laden stand, obgleich sie sich ziemlich unwohl zu fühlen schien.

Ihre Nervosität gab mir die Gelegenheit, sie erneut eingehend zu betrachten. Sie trug ein langärmeliges schwarzes Shirt und dunkle Jeans. Ihr schmaler Oberkörper ging in leicht gerundete Hüften und schlanke Beine über, die Füße steckten in einem Paar schäbiger dunkelroter Chucks, als wären ihr ihre Schuhe völlig egal. Wie üblich war sie ungeschminkt. Ich hätte gern gewusst, ob sie irgendetwas Bemerkenswertes unter ihren Sachen trug. Wenn die Art, wie sie in der Nähe der Tür verharrte, ein Zeichen dafür war, dass sie sich in dem Ambiente unwohl fühlte, hatte sie mit Tattoos keine Erfahrung.

»Tenley!« Lisas überschwängliche Begrüßung erregte ihre Aufmerksamkeit und gab ihr etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. »Hat Cassie dir erzählt, dass ich neuen Schmuck bestellt habe?«

Ein unverfälschtes Lächeln erhellte Tenleys Gesicht, als sie an den Empfang trat, wo Lisa saß. Es ärgerte mich, dass sie kaum in meine Richtung schaute, doch sie war von Lisas herzlicher Begrüßung abgelenkt.

Wenn Lisa zu Serendipity ging, um Kaffee zu holen, schien Tenley nach Lisas jüngsten Berichten ironischerweise immer da zu sein. Anscheinend hatten sich die beiden angefreundet, was leicht nachvollziehbar war.

Lisas zuckerwatterosa Haare und ihr Outfit im Fünfziger-Jahre-Stil verfehlten ihre Wirkung nie. Sie war der Sonnenschein in Menschengestalt, mit einem Nasenring, einem Monroe-Piercing und einem Oberarmtattoo. Eine Mischung aus June Cleaver und einem Suicide Girl. Lisa hatte eine enge Beziehung zu ihren Freunden, was bedeutete, dass sie einigen Mädchen aus ihrer Vergangenheit nur schwer aus dem Weg gehen konnte. Deren Einfluss war nicht unbedingt gut für sie. Die meisten waren noch immer im Drogenmilieu, das sie zum Glück hinter sich gelassen hatte. Eine neue Freundin konnte nicht schaden, und Tenley schien – wenn auch ein wenig unsicher – ziemlich normal zu sein.

Tenley legte die Bücher mit den Rücken zu mir auf den Tresen. Anscheinend hatte sie meinen Nietzsche gefunden. Ich konnte mich auf schwierige Lektüre gefasst machen.

»Ich wollte die nur für Hayden abgeben.«

Tenley sah nicht zu mir herüber, als sie meinen Namen sagte. Ich hätte es gewollt. Ihre sinnliche Stimme und ihr sexy Körper bescherten mir augenblicklich eine Erektion. Was unangenehm, aber nicht überraschend war, wenn man bedachte, wie attraktiv und faszinierend ich sie fand.

Das war nicht das erste Mal, dass sie in den Laden kam. Cassie hatte sie am Tag nach der Sache mit dem Cupcake mit zwei Büchern rübergeschickt. Leider war ich mit einem Kunden im Separee beschäftigt gewesen, weshalb ich sie verpasst hatte. Jetzt, da sie hier war, in meinem Umfeld, wollte ich mit ihr sprechen. Sie dazu bringen, mir auch so ein Lächeln wie Lisa zu schenken. Obwohl das vielleicht ein bisschen viel verlangt war; ich verströmte nicht gerade Wärme.

»Ich bin in fünf Minuten fertig, falls du warten willst«, sagte ich in der Hoffnung, dass sie anbiss.

Tenleys Blick glitt über meine Arme und verharrte bei den Tattoos. Sie kam nie weiter als bis zu meinem Mund. Jawohl, ich machte sie noch immer nervös. Sie wies mit dem Daumen über die Schulter. »Cassie erwartet mich zurück.«

»Ich bin sicher, sie hält es auch ein paar Minuten ohne dich aus.«

Tenley blickte über die Straße. Durch das Fenster konnte ich Cassie an der Kasse sitzen sehen, wahrscheinlich über einem Stapel Papierkram. Wie um meine Worte zu bestätigten, blinkte das »Geschlossen«-Neonschild.

Sie wandte sich wieder an Lisa. »Ich kann doch den Schmuck bestimmt mal sehen.«

Die Antwort war vielleicht nicht an mich gerichtet, doch ich fasste sie so auf. Lisa hakte sich bei Tenley unter und führte sie zum Piercingraum, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ich sah sie darin verschwinden und setzte meine Arbeit fort.

Nach Tenleys letztem Besuch war ich zu Serendipity rübergegangen, um ihr zu danken, doch sie hatte bereits Feierabend gemacht. Cassie hatte versprochen, die Nachricht zu übermitteln. Sie hatte mir auch gesagt, wann Tenley wieder arbeiten würde. Nicht, dass das nötig gewesen wäre; ich hatte Tenleys Arbeitsplan auswendig gelernt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Cassie das arme Mädchen mit jemandem wie mir verkuppeln würde – ich hätte sie am liebsten zum Frühstück verspeist. Ich stellte sie mir nackt vor, ausgestreckt auf meinem Küchentisch. Mir gefiel die Idee.

Trotz der Ablenkung wurde ich schließlich mit dem Tattoo des Mädchens auf meinem Stuhl fertig. Für das, was es war, sah es gut aus. Sobald ich damit fertig war, erklärte ich ihr die Nachsorge und schärfte ihr ein, sich die nächsten paar Monate von der Sonnenbank fernzuhalten. Den künstlichen Orangeton, der an die Oompa Loompa erinnerte, hatte sie sicher nicht daher, dass sie Ende September in Chicago herumlief.

Als wir uns unterhielten, bestätigte sich meine Vermutung: Sie war ein Erstsemester an der University of Chicago, und sie war zum ersten Mal von zu Hause weg. Sie hatte sich sogar einen gefälschten Ausweis besorgt, den sie mir stolz zeigte, als könnte sie mich damit beeindrucken. Ich machte mir nicht die Mühe, ihr zu sagen, dass sie abgezockt worden war, denn der Ausweis war schlecht gemacht. Sie würde es herausfinden, sobald sie ihn irgendwo vorzeigte. In den letzten paar Wochen hatte meine Kundschaft hauptsächlich aus Variationen dieses Mädchens bestanden. Langsam wurde es langweilig.

College-Kids benahmen sich zu Beginn des ersten Jahres am schlimmsten, wenn sie gerade mal ihre Freiheit erlangt hatten. Nichts schrie mehr nach Nonkonformismus als eine strategisch geplante Rose auf einer Brust. Ich wies selten jemanden ab, doch es tat meiner Künstlerseele jedes Mal weh, wenn eines dieser Kids irgendeinen verrückten Entwurf wählte und mich bat, ihn auf seinen Körper zu applizieren.

Chris, einer meiner Partner, war mit seiner Kundin vor mir fertig. Er war bereits an der Kasse und überprüfte den Terminplan, als ich meine Kundin abrechnete und sie verabschiedete. Ich wartete darauf, dass er irgendeine Bemerkung machte. Chris war leicht zu durchschauen, wenn er etwas im Schilde führte.

»Das hat wohl wahnsinnig Spaß gemacht. Hat sie dir ihre Nummer zugesteckt?«

Ich reagierte nicht darauf. Ihre Nummer war sowieso im System, aber ich würde privat keinen Gebrauch davon machen. Abgesehen von ihrer affektierten Art, galt im Laden eine Regel, die nicht gebrochen werden durfte: Kundinnen wurden nicht flachgelegt. Sowohl Chris als auch ich hatten auf die harte Tour gelernt, warum so was geschmacklos war, vor allem, wenn es sich um dieselbe Kundin handelte. Selbst dann, wenn es nicht zur selben Zeit stattfand.

»Gehen wir heute Abend was trinken? Vielleicht im Dollhouse? Ich weiß gar nicht mehr, wann du das letzte Mal dort warst«, sagte Chris, als er die Seite im Terminkalender umblätterte, um die morgige Besetzung zu überprüfen.

»Kommt darauf an. Kommen Lisa und du mit?«, rief ich Jamie zu, dem dritten Partner im Bunde. Jamie und Lisa waren ein Paar, seit wir den Laden eröffnet hatten. Wo sie hinging, ging auch er hin.

»Vielleicht. Frag sie, wenn sie mit Tenley fertig ist«, antwortete Jamie, der noch einen Kunden hatte.

Wenn Lisa dabei war, kam das Dollhouse nicht infrage. Lisa wäre nicht daran interessiert, zugedröhnten, fast nackten Frauen dabei zuzusehen, wie sie Stangen fickten. Vor allem, weil einige von ihnen frühere Kolleginnen waren.

Ich konnte das Dollhouse aus anderen Gründen nicht leiden, nicht zuletzt wegen der Leute, mit denen Chris dort verkehrte. Damen, der Typ, bei dem wir gelernt hatten, bevor wir Inked Armor eröffnet hatten, ging dort ein und aus.

Er hatte sich damals als Riesenarschloch entpuppt, und daran hatte sich nichts geändert. Ganz der Geschäftsmann dealte Damen nebenbei mit Drogen. Er zog seinen Nutzen daraus, dass das Dollhouse dicht genug bei seinem Tattoo-Studio lag, um sich ein paar Nebeneinkünfte zu verschaffen. Die Krönung war jedoch, dass die Managerin vom Dollhouse, Sienna, ihre Tänzerinnen dazu ermunterte, sich die Drogen reinzupfeifen, die er im Angebot hatte, und gern einen Anteil am Profit einsteckte. Abgesehen von meiner Verachtung für ihre moralische Verkommenheit hatte ich eine lange Geschichte mit Sienna, an die sie mich jedes Mal, wenn wir uns begegneten, gern erinnerte. Ich hatte sie über ein Jahr nicht gesehen und war nicht besonders scharf darauf.

»Alles klar, Alter?«, fragte Chris.

Ich zuckte die Achseln. »Ja. Alles in Ordnung. Hab nur genug von den Erstsemestern.«

Der Strom an College-Kids trug vielleicht dazu bei, doch sie waren nicht das eigentliche Problem. Jedes Mal, wenn Chris einen Besuch im Dollhouse vorschlug, lehnte ich ab. Ich fand nicht, dass ich ihm eine Erklärung schuldete, trotzdem wollte er eine. Ich war jedoch nicht bereit, sie ihm oder sonst jemandem zu geben. Weitere Überlegungen, wohin man gehen könnte, wurden vereitelt, als die Tür zum Piercingraum aufging und Lisa, dicht gefolgt von Tenley, herauskam.

»Na, wie siehtʼs aus?«, fragte Chris, als sie zum Tresen kamen.

»Seht selbst.« Lisa trat beiseite und gab den Blick auf Tenley frei.

Chris stieß einen leisen Pfiff aus. »Sehr sexy.«

Ich hätte ihm am liebsten eine verpasst. Was keinen Sinn ergab. Chris flirtete mit allem, was Titten hatte. Es hatte nichts zu bedeuten, trotzdem hatte ich das irrationale Bedürfnis, ihn mir vorzuknöpfen. Ich schob mich zwischen Chris und Tenley, um ihm den Blick zu versperren und sie selbst in Augenschein zu nehmen. »Lass mal sehen.«

Tenley schien mein Interesse zu erschrecken, also schenkte ich ihr mein harmlosestes Lächeln. Sie sog scharf die Luft ein, als ich ihr einen Finger unters Kinn legte. Während ich mit meinem Daumen an ihrem Kinn entlangglitt, drehte ich ihren Kopf zur Seite. Ich hatte das Gefühl, unter ihrer Haut flösse Strom. Die elektrische Ladung fuhr durch meine Blutbahn bis zu meinem Schwanz. Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um die Flut von obszönen Bildern, die mir durch den Kopf schossen, zu stoppen.

Während ich die Intensität unserer harmlosen Berührung genoss, betrachtete ich die Konturen ihres Gesichts. Der winzige Diamant war kunstvoll auf dem rechten Nasenflügel platziert. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, ihre Lider gesenkt, was sie besonders schüchtern wirken ließ. Das rasche Pochen ihres Pulses verriet mir das Gegenteil.

Ich war fies. Sie fühlte sich unwohl, und ich war der Grund dafür, doch ich wollte sie nicht loslassen. Es war irgendwie seltsam.

»Sie hat den genommen, der dir so gefällt«, sagte Lisa und stieß mich in die Rippen.

Es war ihre unverblümte Art, mir zu sagen, dass ich sie in Ruhe lassen sollte. Ich ignorierte sie. Ich strich Tenley das Haar über die Schulter. Es war so weich und seidig wie ihre Haut, als es zwischen meinen Fingern hindurchglitt. Die Sorte Haar, in dem ich gern mein Gesicht vergraben oder das ich gern um meine Hand gewickelt hätte. Ich strich es ihr hinters Ohr, wodurch eine Reihe Ringe an ihrer Ohrmuschel zum Vorschein kam. Ein kleines Anzeichen von Rebellion, was eine geheime Vorliebe verriet. Interessant. Vielleicht war sie ja eine heimliche Abweichlerin.

Schüchtern erwiderte sie meinen neugierigen Blick. Ich sah ihre Unsicherheit, und sie machte einen Schritt zurück und beendete unseren Kontakt. Ein leichtes Zittern durchfuhr sie. Wenn ich ihr nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wäre es mir gar nicht aufgefallen. Tenley legte ihre Finger auf die Stelle, wo meine gewesen waren, wobei ihre ansonsten makellosen Gesichtszüge einen verwirrten Ausdruck annahmen. Das machte sie noch faszinierender.

»Ich sollte wohl zurückgehen.«

»Schon?« Was für eine Enttäuschung. Ich klopfte auf die Bücher, die ordentlich gestapelt auf dem Tresen lagen. »Sag Cassie Danke dafür, dass sie dich mit denen hier vorbeigeschickt hat.«

Ich würde mich das nächste Mal, wenn ich sie sah, persönlich bei Cassie bedanken und mehr über das Mädchen herauszufinden versuchen. Sie hatte etwas an sich, das mir gefiel, abgesehen davon, dass sie umwerfend aussah und eindeutig auf Metall stand.

»Kein Problem.« Tenley bewegte sich langsam in Richtung Tür und von mir weg. »Was bekommst du von mir?«, fragte sie Lisa.

Bevor Lisa antworten konnte, mischte ich mich ein: »Mach dir deswegen keinen Kopf. Das geht aufs Haus, wenn du versprichst, wieder vorbeizukommen.«

Chris schnaubte.

»Aber es war nicht nur …«

Lisa schnitt ihr das Wort ab. »Es ist in Ordnung. Wir klären das beim nächsten Mal. Ich komme morgen im Serendipity vorbei.«

»Okay.« Tenley nickte, ihr Gesicht war feuerrot, als sie jeden, nur nicht mich ansah.

Das war scheiße. Anscheinend war ich mal wieder viel zu weit gegangen. Sie verabschiedete sich hastig und stürmte aus dem Laden und über die Straße, wobei sie beinahe stolperte. Nachdem sie gegangen war, standen wir da und starrten die Tür an. Na ja, ich stand da und starrte die Tür an, während die anderen mich anstarrten.

Lisa durchbrach das Schweigen als Erste. Sie boxte mich gegen die Schulter.

»Aua. Wofür war das denn?«

»Ist das dein Ernst? Was zum Teufel ist los mit dir?«

Ich schenkte ihr einen gewollt verständnislosen Blick. Wahrscheinlich hatte das wieder zu sehr nach … mir ausgesehen. Doch Tenley war scharf, und ich fand sie faszinierend. Vielleicht weil sie sich in meiner Gegenwart so verdammt unwohl zu fühlen schien und bei Chris und Lisa völlig entspannt war. Vielleicht war es die Spur von Rebellion, die sich unter ihrem Haar versteckte. Ich hatte noch immer vor, es mit einem richtigen Gespräch zu versuchen. Eins, das aus mehr als ein paar Sätzen bestand.

»Alter. Du hast ein Problem.« Chris schnaubte und versteckte ein Grinsen hinter seiner Faust. Ich hätte es ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen.

»Was ist los?«, fragte ich und blickte zwischen ihm und Lisa hin und her. Ich begriff, dass ich in Tenleys persönliche Distanzzone eingedrungen war, doch ansonsten konnte ich keinen Fauxpas erkennen.

Chris zeigte auf meinen Schritt und kicherte. Ja, mein Verstand war nicht der Einzige, der Tenley interessant fand. Ich hoffte sehr, dass sie es nicht bemerkt hatte, denn mein Hemd war überhaupt nicht dazu geeignet, es zu verbergen.

»Das ist einfach daneben.« Lisa schlug die Hände vor die Augen. »Krieg dich gefälligst in den Griff.«

»Damit warte ich wohl besser, bis ich zu Hause bin.« Der Masturbationswitz war unangemessen, doch ich musste kontern.

Lisa ignorierte die kindische Bemerkung. »Sie will auch ein Tattoo, weißt du?«

»Oh? Wo? Welches Design?« Chris war viel zu neugierig.

Ich zeigte mit dem Finger auf sein Gesicht. »Du fasst sie nicht an. Denk nicht mal daran.«

Meine besitzergreifende Art war unberechtigt. Wir wählten die Kunden nach unseren Fähigkeiten aus. Chris hatte sich auf Schriften und Tribal Art spezialisiert, Jamie hatte ein Talent für Porträts, und ich hatte die ganze Palette von düster und bedrohlich bis zart und weiblich drauf. Egal, welche Körperkunst Tenley wollte, einer von uns könnte es tätowieren.

»Hast du den Entwurf gesehen?«, fragte ich.

»Nein. Aber ich hätte sie beinahe davon überzeugt, ihn vorbeizubringen, damit du einen Blick darauf werfen kannst. Doch dann hast du es ruiniert, als du ihr auf die Pelle gerückt bist und versucht hast, sie zu ficken.«

»Ich hab nicht versucht, sie zu ficken.«

»Wenn keiner da gewesen wäre, hättest du’s getan.«

Angesichts meines aktuellen Zustands war es schwer, etwas dagegen einzuwenden. »Ich wollte nicht fies sein.«

»Ich sehe Tenley morgen und betreibe Schadensbegrenzung. Wenn ich sie dazu bringen kann, den Entwurf vorbeizubringen, musst du mir versprechen, die Finger von ihr zu lassen.«

»Das wird wohl kaum möglich sein, wenn ich sie tätowieren soll, oder?«

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.«

Lisa schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe. Als wollte man einen Sack Flöhe hüten.«

Ich lachte. Sie hatte nicht ganz unrecht. Wenn es darum ging, sich an die Regeln zu halten, war ich nicht sehr geduldig. Die Leute hielten an gesellschaftlichen Normen fest, weil sie besorgt waren, was andere wohl dachten. Mir war das scheißegal. Meistens jedenfalls. Es gab eine kleine Schar Auserwählter, deren Meinung sich auf meine Entscheidungen auswirkte. Tante Cassie gehörte dazu, und Lisa ebenfalls. Aus diesem Grund würde ich versuchen, mich von meiner besten Seite zu zeigen, was Tenley betraf, aber ohne dafür zu garantieren.

2

TENLEY

Als ich die Tür zu Serendipity aufstieß, bimmelte die Glocke über meinem Kopf. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Hayden hat mich gebeten zu warten, und der Schmuck, den Lisa bestellt hatte, war gekommen.« Ich berührte die Stelle an meiner Nase, die im Vergleich zu den beiden anderen Stellen ein Kinderspiel gewesen war. Diese hatte ich gar nicht erwähnt.

»Ooooh! Hübsch!«, sagte Cassie ehrlich begeistert. »Du hast also mit Hayden geredet?«

»Ein bisschen.« Ich war noch immer ganz benommen. Hayden war alarmierend attraktiv. Jedes Zusammentreffen mit ihm traf mich bis ins Mark.

»Und?«, wollte Cassie wissen.

»Und was?«

»Wie war’s?«

»Er ist äh …« Ich blies die Wangen auf und stieß die Luft aus. Ich versuchte ein passendes Adjektiv zu finden, um ihn angemessen zu beschreiben, doch keins von denen, die mir einfielen, schien zu passen.

»Hat er einen so guten Eindruck gemacht?«

»Es war nicht … Er ist nicht … Es war interessant.« Was sollte ich sonst über einen Tattookünstler sagen, der in seiner Freizeit Autoren wie Nietzsche las? Außerdem hatte ich Angst davor, die Intensität unserer Begegnung in Worte zu fassen. Ohne etwas zu sagen, konnte ich wenigstens so tun, als hätte ich mit seiner Reaktion auf mich und meiner auf ihn gerechnet.

»Interessant?«, sagte sie ungläubig.

»Mm-hm.«

»Wirklich? Das ist alles?«

»Warst du auf ein besseres Schlagwort aus?« Ich verbarg mein Unbehagen hinter Sarkasmus.

»Du liest nur zum Spaß Literatur aus dem 11. Jahrhundert, und das Beste, was dir einfällt, ist ›interessant‹?«, neckte sie mich.

Ich warf verzweifelt die Hände in die Luft. »Du hattest recht, okay? Er ist total überwältigend. Und wunderschön, jenseits von Gut und Böse, ein rattenscharfer Typ. Zufrieden?«

Cassie brach in Gelächter aus. Sie schnaubte sogar. »Das ist wirklich viel passender als ›interessant‹.«

»Oh mein Gott, ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe. Du bist seine Tante.« Vor Verlegenheit lief ich rot an. »Du darfst ihm das nicht erzählen.«

»Warum nicht? Ich glaube, er wäre geschmeichelt.« Sie lächelte amüsiert.

»Das bezweifle ich sehr.« Hayden schien mir nicht der Typ zu sein, der auf Schmeicheleien aus war.

Sie zuckte mit einer Schulter und nahm die Geldtasche. »Du weißt, dass er dauernd wegen dir hier reinkommt.«

»Das tut er nicht.«

»Oh doch, das tut er«, widersprach sie. »Vielleicht findet er dich ja auch rattenscharf.«

»Lass es bitte, ja?« Ich weigerte mich zu glauben, dass Hayden mich attraktiv fand. Es kam mir lächerlich vor.

Sie schüttelte den Kopf und schenkte mir ein verschmitztes Lächeln. »Wahrscheinlich nicht, nein.«

Das Geplänkel erinnerte mich an die Highschool und die Gespräche mit meinen Freundinnen über hübsche Jungs. Ich erinnerte mich an die Schmetterlinge im Bauch und die Hoffnung, vielleicht bemerkt zu werden, und die Aufregung, wenn es tatsächlich passierte. Ich sehnte mich nach dieser Unschuld zurück, nach der einfachen Schwärmerei eines Schulmädchens. Mein Leben war jetzt so anders. Hayden hatte mich ganz bestimmt bemerkt. Ich war mir nur nicht sicher, ob das etwas Gutes war.

»Bitte erzähl es ihm nicht. Es wäre mir einfach zu peinlich.«

Cassie überraschte mich, als sie mich fest umarmte. Nachdem sie mich wieder losgelassen hatte, strich sie mir mit den Händen übers Haar. Ich vermisste auf einmal meine Mutter.

»Ich werde nichts sagen«, versprach sie mir aufrichtig.

»Danke«, antwortete ich und versuchte mich von der plötzlichen Traurigkeit nicht herunterziehen zu lassen.

Nachdem wir den Laden abgeschlossen hatten, gab es nichts anderes zu tun, als in das Gefängnis meiner Wohnung zurückzukehren. Ich ging auf dem abgetretenen Holzfußboden auf und ab, zu aufgedreht, um mich von den Banalitäten im Fernsehen ablenken zu lassen. Obwohl ich mich daran gewöhnt hatte, allein zu sein, war die Einsamkeit heute Abend eine echte Herausforderung.

Zum Teil war Hayden dafür verantwortlich, dass ich nicht zur Ruhe kam. Egal, wie oft ich mit ihm sprach, meine Reaktion war immer gleich intensiv. Ein Blick hatte genügt, um zu wissen, dass er keine Angst davor hatte, gegen die Regeln der Gesellschaft zu verstoßen. Hayden verkörperte alles, was ich nicht war, aber sein wollte. Ich hatte mein Leben lang versucht, keine Grenzen zu überschreiten, nur um mich dann davon eingeschränkt zu fühlen. Hayden missachtete gesellschaftliche Konventionen. Allein seine Gegenwart machte das deutlich. Ich fand ihn faszinierend, weshalb ich versuchte, Distanz zu wahren.

Trotzdem hatte ich eine Bestandsaufnahme seiner Piercings gemacht, als er meine inspizierte. Ein Viperbite-Piercing betonte die linke Seite seines Munds, ein Industrial saß schräg in seiner Ohrmuschel, und ein geschwungener schwarzer Barbell bohrte sich durch seine rechte Braue. Sein dunkles Haar war ein einziges Wirrwarr, an den Seiten kurz und oben etwas länger. Die Frisur sah aus wie ein abgewandelter Irokesenschnitt, obwohl er seine Haare nie so trug. Sein kurzärmliges Shirt gewährte einen Blick auf seine von Tattoos bedeckten Arme, die seine Geschichte erzählten. Trotz der Tattoos und Piercings, oder gerade wegen ihnen – ich konnte es nicht sagen –, war er der schönste Mann, den ich je gesehen hatte.

Die Idee von sofortiger Anziehung war mir absurd vorgekommen, bis Hayden kürzlich aufgetaucht war. Ich hatte das immer für einen Mythos gehalten, eine Möglichkeit zu erklären, weshalb Leute es manchmal zuließen, ihren niederen Instinkten zu folgen. Jetzt hatte ich es verstanden. Mein gesamter Körper hatte auf die kurze, harmlose Berührung reagiert, als er mein Kinn angehoben hatte, um meinen Nasenring besser betrachten zu können.

Wie bei einem Nachbeben spürte ich noch jetzt eine leichte Vibration auf meiner Haut. Am besten ignorierte ich die Anziehung, die Cassie für gegenseitig hielt. Mein Leben war bereits chaotisch genug.

Als ich auf die Uhr blickte, stellte ich fest, dass ich in einer Stunde einundzwanzig wurde, doch ich sah keinen Grund, meinen Geburtstag zu feiern. Ich wollte eine Möglichkeit, den Schmerz in meiner Brust zu lindern, doch ich hatte nichts da, was mir Erleichterung verschafft hätte. Die Hausbar meiner Eltern zu plündern hatte Priorität gehabt, als ich von Arden Hills nach Chicago gezogen war, aber die Flaschen, die ich mitgebracht hatte, waren längst leer.

Ungeöffnete Post der letzten Tage lag auf dem Tresen. Als ich sie durchsah, hielt ich bei einem großen Umschlag mit vertrautem Schriftzug auf der Vorderseite inne. Trey hatte sich nicht gemeldet, seit ich umgezogen war – wieso auf einmal die Mühe?

Mit zittriger Hand fuhr ich mit dem Finger unter den Klebestreifen und riss das dicke Papier auf. Drin lag eine fröhliche Karte, die mir »HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM GEBURTSTAG!« wünschte. Treys krakelige Unterschrift bedeckte den Platz unterhalb des Standardtexts. Ich drehte den Umschlag auf den Kopf, woraufhin irgendwelche Vertragsunterlagen herausfielen. Die Karte war ein Trick gewesen. Eine handgeschriebene Nachricht war an der ersten Seite befestigt.

Tenley,

ich hoffe, es geht dir gut an diesem Tag. Da du nun anspruchsberechtigt bist, was dein Erbe betrifft, möchte ich dich dringend bitten, die offiziellen Papiere anbei durchzusehen. Falls du dem großzügigen Angebot zustimmen solltest, wird das Eigentum, das dir laut Connors Testament zusteht, auf mich übertragen. Da du dich entschlossen hast, Arden Hills zu verlassen, um dich anderen Dingen zu widmen, halte ich es für das Beste, wenn du das Eigentum meines Bruders veräußerst. Da ich der einzige lebende Erbe des Hoffmann-Nachlasses bin, ist es sinnvoll, dass ich mich um das gesamte Erbe kümmere. Betrachte es als eine Möglichkeit, die Angelegenheit zu vereinfachen. Sobald du das Dokument unterzeichnet hast, schick es bitte an die beiliegende Adresse meines Rechtsanwalts, dann wirst du vollumfänglich ausgezahlt.

Viele Grüße

Trey

Ich las den Brief ein halbes Dutzend Mal und begriff noch immer nicht, wie Trey auf eine so anmaßende Forderung kam. Sein unsensibles Verhalten empörte mich. In einem Zustand der Betäubung, den ich schon vor Monaten losgeworden zu sein glaubte, blätterte ich den Schriftsatz durch. Auch wenn das Kauderwelsch nicht viel Sinn ergab, war die Absicht klar. Trey wollte sich das Haus unter den Nagel reißen, das für Connor und mich bestimmt gewesen war. Es war ein Geschenk von Connors Eltern gewesen. Hätte unser Flieger es nach Hawaii geschafft, wären wir jetzt verheiratet.

Treys ungelegener Brief erinnerte mich daran, dass ich noch immer da war und versuchte, mein zertrümmertes Leben in Ordnung zu bringen, während sich die Welt weiterdrehte.

Ich ging in meinem Wohnzimmer auf und ab und überlegte, ob ich Trey anrufen und zur Rede stellen sollte. Aber in meinem derzeitigen Zustand würde ich wahrscheinlich etwas sagen, was ich später bereuen und er mir zum Vorwurf machen würde. Wie zwei Männer, die von denselben liebevollen Eltern großgezogen worden waren, so unterschiedlich sein konnten, war mir unbegreiflich. Conner war einfühlsam und geduldig gewesen, während Trey unsensibel und stur war. Selbst bei der Beerdigung war er teilnahmslos und seine Grabrede ohne jede Emotion gewesen. Zuerst hatte ich es dem riesigen Verlust zugeschrieben, doch auch in den darauffolgenden Wochen zeigte er keinerlei Anzeichen von Trauer. Und jetzt forderte er die eine Sache ein, die mein Leben hätte sein sollen, und nicht nur ein Fragment meiner Vergangenheit.

Ich spürte einen Stich, ein vertrautes Schuldgefühl, als ich mir das Haus vorstellte. Hätte ich vor vielen Monaten eine andere Entscheidung getroffen, wäre ich jetzt nicht allein.

Die Enge meiner Wohnung war erstickend; ich musste raus. Ich zog mich um und überprüfte mein Spiegelbild am Waschtisch. Der Schlafmangel rächte sich. Kein Make-up dieser Welt konnte die dunklen Ringe unter meinen Augen verbergen. Ich kramte im Medizinschrank nach dem Abdeckstift, wobei ich die fast vollen Tablettenfläschchen zu ignorieren versuchte. Eines mit Angstlösern fiel heraus und ins Waschbecken. Ich nahm sie und rollte das Fläschchen zwischen meinen Handflächen. Es war lange her, dass ich mich der künstlichen Entspannung hingegeben hatte, die sie bewirkten.

In den ersten Monaten nach dem Absturz war es nur bergab gegangen. Medikamente gegen die Schmerzen und die nicht enden wollende Angst hatten die Welt in Nebel getaucht. Als ich sowohl mit den körperlichen als auch psychischen Schmerzen besser umgehen konnte, hatte ich nicht mehr so viele Medikamente gebraucht. Mit dem Umzug nach Chicago hatte sich die Situation weiter verbessert.

Aber heute Abend stand ich auf der Kippe. Und falls ich zusammenbrach, war niemand da, um mir dabei zu helfen, die Scherben wieder einzusammeln.

Mit zitternden Fingern nahm ich den Deckel ab und schüttelte eine kleine, weiße Pille heraus. Ich legte mir die Tablette unter die Zunge, ob ich den Frieden nun verdiente oder nicht. Der bittere Geschmack nach Chemie entspannte mich fast sofort, Frieden war nicht länger unerreichbar, während sich die Tablette auflöste.

Trotz der anfänglichen Versuche, allein zu bleiben, bedeutete die Einsamkeit eine größere Herausforderung, als ich erwartet hatte. Ich hatte es nicht geschafft, Lisa so auf Distanz zu halten, wie ich beabsichtigt hatte. Fast jedes Mal, wenn ich arbeitete, kam sie ins Serendipity, um einen Plausch mit mir zu halten. Zuerst waren es nur Höflichkeiten und Empfehlungen gewesen, doch schließlich waren daraus Unterhaltungen über Bücher, Piercings und manchmal sogar über Hayden geworden. Man kam leicht mit ihr ins Gespräch.

Außerdem hatte ich vor ein paar Tagen meine Nachbarin Sarah auf der anderen Seite des Flurs besucht, die mich auf einen Drink eingeladen hatte. Ich versuchte mir einzureden, dass ich das tat, um nicht unhöflich zu sein, doch in Wahrheit war ich einsam.

Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie, in dem ich außer Geld und einem Ausweis eine schwarze Karte fand. Ian, einer der wenigen Studenten an der Northwestern, mit denen ich geredet hatte, hatte sie mir Anfang der Woche gegeben. Gäbe es keine Gruppenarbeit in meinem Seminar, wäre ein Austausch mit meinen Kommilitonen für mich nicht existent. Ians E-Mail-Adresse war auf die Rückseite der Karte gekritzelt, die von The Elbo Room stammte, einer Bar ein paar Blocks entfernt. Der Name kam mir bekannt vor, und ich erkannte sie als jene Bar wieder, in die Lisa letzte Woche mit mir hatte gehen wollen. Ich hatte abgelehnt, weil ich mir Sorgen gemacht hatte, dass ich mich in ihrer Gegenwart zu wohlfühlen würde. Doch in Anbetracht des Piercings, das ich mir heute hatte stechen lassen, schien das bereits passiert zu sein.

Heute Abend war The Elbo Room genauso brauchbar wie jede andere Bar, um ein paar Shots zu kippen, bis hoffentlich das Vergessen eintrat. Ich schloss die Tür hinter mir und blickte hinüber zu Apartment B. Sarahs Schlaf-wach-Rhythmus ließ darauf schließen, dass sie irgendwo in der Nähe kellnerte, doch ich hatte nicht daran gedacht zu fragen. Ich klopfte trotz der geringen Chance, sie anzutreffen. Als niemand reagierte, machte ich mich auf den Weg.

Obwohl es nach elf war, war Inked Armor noch immer erleuchtet, das »Geschlossen«-Zeichen blinkte neonfarben. Durch das Fenster konnte ich Lisa sehen, die am Tresen lehnte. Hayden saß vornübergebeugt an seinem Platz – wahrscheinlich arbeitete er an einem Entwurf. Er warf den Bleistift hin und streckte sich, wobei er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. Ein Teil von mir wünschte sich, dass er aus dem Fenster blicken und mich bemerken würde … Doch ich wusste, dass die Suche nach einer echten Verbindung zu jemandem – vor allem heute Abend und vor allem zu jemandem wie Hayden – das Letzte war, woran ich denken sollte. Also wandte ich mich ab und ging in Richtung Downtown.

Der Türsteher ließ sich meinen Ausweis zeigen und sah mich prüfend an. Mein Hoodie-Tank-Jeans-Outfit passte nicht so richtig zu den zwölf Zentimeter hohen Absätzen und Miniröcken der Mädchen, die vor mir reingingen. Mein Verstoß gegen den Dresscode schien jedoch nicht allzu schlimm zu sein, weil er ein halbherziges »Herzlichen Glückwunsch« murmelte und mich vorbeiwinkte.

Ich zwängte mich durch die dicht gedrängte Menge, um an den Tresen zu gelangen. Die Wärme so vieler Körper auf so engem Raum war erdrückend. Ich zog den Hoodie aus und stopfte ihn in meine Messenger Bag. Ian zog hinterm Tresen eine Show ab, indem er mit Flaschen jonglierte, bevor er deren Inhalt in aufgereihte Schnapsgläser goss. Sein weiches Gesicht verriet, wie jung er war. Manche mochten ihn attraktiv finden, doch was mich betraf, war er einfach nur ein Junge, der den Mann markierte. Davon gab es viele auf dem Campus.

Hayden hingegen markierte gar nichts. Vielleicht erklärte das meine Faszination für ihn. Er war einfach er; keine Ausflüchte, keine Heuchelei. Was immer das Leben für ihn bereitgehalten hatte – nach dem wenigen zu urteilen, was mir Cassie erzählt hatte, war es nicht leicht für ihn gewesen. Diese spärlichen Informationen verstärkten mein Interesse nur noch.

»Tenley!« Ian riss mich aus meinen Gedanken und holte mich in die überfüllte Bar zurück. »Ich freu mich, dass du gekommen bist! Bist du mit Freunden da?«

Ich schüttelte den Kopf. Außerhalb des Seminars und der Arbeit hatte ich nicht viel Kontakt. Cassie gehörte zu den Wenigen, mit denen ich mich regelmäßig unterhielt. Doch als Chefin und Vermieterin zählte sie eigentlich nicht.

Ich setzte ein Lächeln auf, obwohl ich mich in der verschwitzten, betrunkenen Masse unwohl fühlte. »Drei Shots Wodka, außer wenn du einen mit mir trinken willst, dann vier.«

»In Ordnung, die Sorte Mädchen gefällt mir.«

Ians scheinbare Vorliebe für Mädchen, die Schnaps pur tranken, war leicht befremdlich. Er stellte vier Schnapsgläser auf den Tresen und goss sie voll. Wir stießen beim ersten Shot an, und ich kippte auch die Restlichen weg, wobei ich kaum Luft holte. Ich genoss das Brennen, als mir der Alkohol durch die Kehle rann.

»Willst du deine Sachen bei mir lassen?« Sein berechnendes Lächeln ließ das Angebot eher eigennützig als freundlich klingen.

»Danke, ich bleib nicht lang.«

Die Bar war brechend voll, und ich wusste, dass ich den anderen, die gern etwas trinken wollten, den besten Platz wegnahm. Die Leute drängelten, wobei sie mit Ellbogen und Armen stießen und schubsten. Trotz der Tablette und des Wodkas fühlte ich mich bei dem engen Kontakt unwohl. Ian kümmerte sich um den nächsten Gast, weshalb ich ihm zuwinkte und ging.

Ein vertrauter Song dröhnte aus den Lautsprechern, der Bass vibrierte in meinen Knochen. Connor hatte diese Art von Musik gehasst. Er hatte sie zu aggressiv gefunden. Doch unser voneinander abweichender Geschmack, was Musik – und fast alles andere – betraf, war kein Thema mehr. Ich konnte jetzt hören, was ich wollte. Die heftigen Schuldgefühle, die solchen Gedanken jedes Mal folgten, nahmen mir den Atem, und die Wirkung der Tablette ließ nach, bevor der Alkohol überhaupt seine Wirkung entfaltete und meine Sinne vernebelte. Ich schob mich durch die Bar, wobei mir der Körperkontakt immer mehr Unbehagen bereitete.