Vorwort
Erstes Treffen: vom Bessermachen
Rheinland und Engagement:
Gemeinsame Wurzeln
Tony Rinaudo, die Aufforstung und der Tellerrand
Siebzehnmal Hoffnung:
Die Sustainable Development Goals (SDG):
Entwicklungshilfe 2.0:
die „Wunschpaten“ und die Selbstermächtigung
Warum Wetter nicht gleich Klima ist
Was ich nicht seh, tut mir doch weh
„O wie schön ist Tuvalu“ oder: Das Wasser steht uns bis zum Hals
Bangladesch und der Tigerwitwen-Alptraum
Ausgerechnet Uganda:
Flüchtlingspolitik mal anders
Innocent oder:
Botschafter für die Hoffnung
Religion:
zwei Seiten einer komplizierten Münze
Vorbilder in Afrika:
Warum kleine Ideen manchmal besser sind als große
Aufbruch nach Südamerika
Das Beatmungsgerät der Welt: der Amazonas, die Abholzung und die Folgen
Schreckgespenst „Kipppunkt“
Zweites Treffen: Vor der eigenen Haustür kehren
Europa und die Klimakrise:
Es bewegt sich was
Wir sind keine Insel:
Warum wir nur gemeinsam durch die Krise kommen
Von einem Extrem ins andere: Warum das Wetter auch bei uns verrücktspielt
Europa stößt an seine Grenzen: Warum Menschen flüchten und was wir damit zu tun haben
Was Chinafliesen mit Billigzwiebeln zu tun haben: Das Problem des globalen Handels
Das Shiftphone:
Nachhaltige Idee aus Deutschland
Der Sturm vor unserer Haustür: Medicanes im Mittelmeer
Wie visionär hätten Sie’s denn gern? Groß denken oder lieber klein handeln?
Smart erdacht: Agrophotovoltaik und andere „kleine Gamechanger“
Drittes Treffen: Fazit – Was können wir denn nun besser machen?
Zuhören, ausreden lassen, zu Ende denken
Die Unwucht der Welt
Eine Kultur der Veränderung
Viertes Treffen: Eine Videoschalte im Sommer
Nachwort
Weitere Informationen
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
Liebe Leserinnen und Leser,
willkommen in der Zeitenwende für nachhaltiges Handeln und eine lebenswerte Zukunft auf einem gesunden Planeten! Dieses Buch gibt uns eine konkrete Vorstellung, wie wir das Klima von morgen heute erträglicher gestalten und Nachhaltigkeit zu unserem Lebensmodell machen können.
Der Klimawandel ist längst Realität: Für unser grenzenloses Bedürfnis nach ständigem „Höher, Schneller, Weiter, Mehr“ haben wir reiche Länder unseren Ressourcenverbrauch auf Rekordhöhen geschraubt: in der Industrieproduktion, der Landwirtschaft, der Stromversorgung, im Verkehr und Transport sowie bei der Klimatisierung von Gebäuden. Der Preis dafür ist alarmierend – und von uns allen zu zahlen: Allein in den letzten 30 Jahren ist der CO₂-Ausstoß global um 60 Prozent gestiegen. Hauptverursacher – mit 80 Prozent – sind fossile Energiequellen wie Öl, Kohle und Gas. Sie treiben die Emission von Treibhausgasen immer weiter an.
Wir müssen umsteuern: Das letzte Jahrzehnt war das heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Erde heizt sich auf, die Polkappen und das Grönland-Eis schmelzen immer stärker ab, Permafrostböden tauen. Vor allem Menschen in Entwicklungsländern spüren die Auswirkungen: Böden veröden, Pflanzen und Tiere sterben, weil es wie in der Sahel-Region seit Jahren kaum regnet. Wirbelstürme, Erdrutsche und Überflutungen vernichten Ernten. Die Folgen sind Armut, Hunger, Unruhen, Flucht. Aus den heute schon 20 Millionen Klimaflüchtlingen weltweit können so in wenigen Jahren 100 Millionen Menschen werden, die ihre Lebensgrundlage verlieren.
2050 werden rund 10 Mrd. Menschen auf der Erde leben. Und diese Menschen brauchen Nahrung und Energie – sie werden mobil sein wollen und online. Dazu müssen wir heute die Weichen stellen. Die Zeit drängt, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel bis zum Ende dieses Jahrhunderts erreichen wollen.
Die Beschlüsse der Pariser Weltklimakonferenz (2015) geben den politischen Rahmen – und wir müssen sie konsequent umsetzen! Unsere nationalen Klimaziele sind wichtig, aber nur eine Seite der Medaille: Denn das Weltklima entscheidet sich in den Schwellen und Entwicklungsländern. Wenn diese Länder auf fossile Energien setzen, sind die Klimaziele nicht zu schaffen. Darum die globale Energiewende!
Allein in Afrika hat die Hälfte der Bevölkerung – 600 Millionen Menschen – keinen Zugang zu Elektrizität. Wenn sie alle auch nur eine Steckdose bekommen sollen, müssen wir Industrieländer ihnen unser Knowhow von klimaneutraler Technologien anbieten! Denn Afrika hat das Potenzial zum Grünen Kontinent der Erneuerbaren Energien zu werden: Der Kontinent kann sich selbst mit Erneuerbaren versorgen – und zentraler Akteur am internationalen Energiemarkt werden.
Deutschland hat Marokko unterstützt, die größte Solarkraftanlage der Welt zu bauen – sie versorgt 1,3 Millionen Menschen mit sauberem Strom. Im nächsten Schritt wollen wir dort die erste industrielle Anlage für Grünen Wasserstoff errichten: Wir möchten den Beweis erbringen, dass eine wettbewerbsfähige Herstellung von PtX-Produken in unseren Partnerländern möglich ist. Schaffen wir diesen Quantensprung, eröffnen sich Afrika auch echte, nachhaltige Jobperspektiven.
Klimaschutz bringt Fortschritt und Entwicklung insbesondere in ärmeren Ländern – und Industrieländern die Chance auf eine klimaneutrale Wirtschaft. Deshalb müssen wir heute weltweit und massiv in Klimaschutz und Klimaanpassung zu investieren: Deutschland wird seinen Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung deutlich erhöhen. Denn nur mit mutigen Investitionen in Technologien und mit Innovationen können wir die Zeitenwende einleiten.
Wir wissen, wie es geht: fossilfrei zu produzieren, Städte energieeffizient zu bauen, den Verkehr ökologisch nachhaltig umzurüsten und die Landwirtschaft klimaresilient und ressourcenschonend umzugestalten, damit sie alle Menschen ernährt.
Klimaschutz ist global gelebte soziale Gerechtigkeit! Und wir Industrienationen tragen eine besondere Verantwortung: Denn nicht die Menschen in ärmeren Ländern haben die Erderwärmung verursacht, sondern wir Industriestaaten mit unseren Fabriken, unseren Autos, unserem Müll.
Deswegen müssen wir konkret Afrika bei der Energiewende unterstützen – mit einer europäischen Investitionsoffensive, mit starken Wirtschaftspartnern und zivilgesellschaftlichem Engagement. Und mit Initiativen wie der Stiftung Allianz für Entwicklung und Klima – 1.000 Unterstützer leisten hier freiwillig Kompensationsleistungen direkt in Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern: So werden beispielsweise Wälder im peruanischen Amazonas-Becken aufgeforstet oder tropischer Regenwald in Uganda renaturiert. Zudem entstehen Jobs und Einkommen für die Menschen dort.
Klimaschutz ist eine Überlebensfrage der Menschheit und betrifft uns alle. Wir sind die letzte Generation, die eingreifen kann – und die erste Generation, die tatsächlich das Wissen, die Mittel und die Instrumente dazu hat. Wir müssen Klima, Natur und Entwicklung zusammendenken und endlich handeln: Jede und jeder, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Jetzt!
Dieses Buch greift Ansätze für nachhaltige Entwicklung aus aller Welt auf, gibt Hoffnung und macht Mut zum „Besser machen“ für eine lebenswerte Zukunft. Tun wir, was wir tun können! Und nutzen diese Chance für eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Trendwende in unserer Einen Welt!
Februar 2021. Ein Wintertag. Der Schnee knirscht vor Kälte unter den Füßen der Menschen, die jetzt – kurz vor Ladenschluss – aus der Lilienapotheke kommen. Nur, wer wirklich muss, geht bei diesen Temperaturen freiwillig vor die Tür. Seit Tagen sagt der Wetterbericht eiskalte Nächte mit bis zu – 20°C voraus. Seit Tagen ist es so kalt. Wetterfrösche im Recht.
Gegenüber der Apotheke liegt ein modernes Bürogebäude. Ein groß gewachsener Mann steigt die vom Schnee geräumten Betonstufen zum Empfang hoch, vorbei an ein paar weiß-orangenen Flaggen. „World Vision“ steht darauf. Und: „Zukunft für Kinder“. Das Gebäude steht in Friedrichsdorf, einer Mittelstadt bei Frankfurt, World Vision ist eines der größten Kinderhilfswerke in Deutschland und der Mann auf dem Weg zum Eingang ist Sven Plöger. Diplom-Meteorologe, gern gesehener Talkshowgast und den Klimawandel erklärender Bestsellerautor.
Plöger ist nach Friedrichsdorf gekommen, um sich in der Zentrale von World Vision Deutschland mit seinem Freund Christoph Waffenschmidt, Deutschlandchef des Kinderhilfswerks, zu treffen. Grund des Meetings – neben dem netten Beisammensein: der Zustand des Planeten. Der Zustand der Gesellschaft. Bestandsaufnahme. Sammeln von positiven Beispielen, sammeln von To-do’s und letztendlich: Motivation aufbauen, um es besser zu machen. Damit das alles doch noch gut ausgeht mit dem Klima und den Menschen.
Ist die Welt noch zu retten? Was muss getan werden? Und wo gibt es bereits tolle Beispiele, lokale Initiativen, die Hoffnungen machen und die andere vielleicht übernehmen können? Denn die Aufgaben sind gewaltig: den Klimawandel auf ein beherrschbares Level bringen, die weltweite Armut zurückdrängen, globale Gerechtigkeit schaffen, Kriege beenden und dauerhaft verhindern, Frieden sichern. Allen Menschen – und das sind knapp acht Milliarden – die Möglichkeit schaffen, ein selbstbestimmtes, gesundes Leben in Frieden und Freiheit zu führen. Dicke Bretter, die gebohrt werden wollen.
Im Eingang des abendlich leeren Bürogebäudes wird Plöger von Waffenschmidt empfangen. Umarmen geht ja nicht, also stößt man die Fußspitzen aneinander. Auch nach fast einem Jahr wirkt das immer noch seltsam. Trotzdem merkt der Beobachter sofort: Da begrüßen sich zwei Menschen, die sich gut kennen und ganz offensichtlich mögen und schätzen. Ohne die Pandemie wären sich die beiden nun in die Arme gefallen, hätten sich kumpelhaft auf den Rücken geklopft und ihrer Freude über das Wiedersehen wortreich Ausdruck verliehen. Das wäre normal gewesen unter zwei Jungs, die sich dem Rheinland verbunden fühlen. Aber was ist nach elf Monaten Corona-Virus noch normal?
Beim Gang durchs leere Bürogebäude werden Neuigkeiten ausgetauscht. Sven Plöger ist seit einigen Jahren Kuratoriumsmitglied bei World Vision, macht immer wieder in der Öffentlichkeit auf die Herausforderungen in Entwicklungsländern – und die wichtige Arbeit des Hilfswerks – aufmerksam. Im dritten Stock erreichen die beiden schließlich den Ort für ihr heutiges Gespräch. Eigentlich hätte es ein Kaminzimmer werden sollen. Prasselndes Feuer, gemütliche Sessel und Rotwein. Dazu Wasser, Tee und ein paar Snacks, damit Geist und Körper wach bleiben. Ein passendes Umfeld, um in einen Flow zu kommen. Ein Flow, in dem die Ideen sprudeln, in dem man sich gegenseitig Assoziationsbälle zuwirft, Gedanken aufgreift, manches weiterdenkt, anderes verwirft und, ja, auch ein wenig rumspinnt. So hätte es ohne Corona ausgesehen.
Stattdessen finden sich Plöger und Waffenschmidt in einem Meetingraum ein. Immerhin einer der ganz modernen Sorte, mit Sitzsäcken und Sitzwürfeln und Sitzschalen. Allesamt quietschbunt. Ein Spielzimmer für Kreative.
Beide lassen sich in zwei der Sitzsäcke fallen und ruckeln sich in eine gemütliche Position, mehr liegend als sitzend. Kurz wird der Abstand der Sitzgelegenheiten gecheckt. Es sind mehr als zwei Meter. Immerhin gibt es auch den ursprünglich angedachten Wein.
Waffenschmidt und Plöger prosten sich zu und dann kann es losgehen. Das Denken. Das Sammeln, das Suchen. Das Bessermachen!
„Wie lange ist es jetzt her, dass wir uns kennengelernt haben, weißt du das noch?“, fragt der Meteorologe den Vorsitzenden des Hilfswerks und prostet ihm zu.
„Auf einen schönen und erfolgreichen Abend.“ Die hastig aufgetriebenen Weingläser stoßen klingend aneinander und Waffenschmidt lässt sich zurück in den Sitzsack fallen.
„Das kommt darauf an, was du als Kennenlernen definierst. Zum ersten Mal getroffen haben wir uns ja in der Kantine der Bavaria-Filmstudios in München. Das müsste so 2015 gewesen sein. Wir waren auf der Suche nach weiteren Kuratoriumsmitgliedern, und eine gemeinsame Bekannte von uns beiden hatte dich schon im Vorfeld angepriesen und gesagt, dass der Plöger total gut passen würde. Umgänglich, menschlich super und hat echt was auf dem Kasten. Du könntest also eine Menge beitragen, war ihr Fazit. Und dann hat sie auch ziemlich schnell den Kontakt hergestellt.“
„Genau“, nickt der Wetterfrosch und erklärt, dass solcherlei Anfragen immer ein zweischneidiges Schwert seien. „Man kann sich einfach nicht überall engagieren.“ Einerseits wäre es zeitlich kaum möglich, andererseits erschiene man in der öffentlichen Wahrnehmung irgendwann unglaubwürdig und hätte schnell den Ruf weg, sich in erster Linie zu engagieren, um das eigene Image aufzupolieren. „Aber World Vision kannte ich bereits und fand gut, was ihr weltweit tut. Zur Sicherheit habe ich dann aber noch meine Mutter um Rat gefragt, die viele, viele Jahre lang in der Entwicklungshilfe tätig war. Ihr Schwerpunkt lag im Bereich Lateinamerika, weil sie fließend Portugiesisch spricht, die Sprache sogar studiert hat und schon in den 1950er-Jahren, als ganz junge Frau, einen Au-Pair-Job in Lissabon hatte. Sie gab grünes Licht und befand eure Arbeit für unterstützenswert. Und so haben du, ich und World Vision zueinandergefunden.“
Waffenschmidt nippt erfreut an seinem Wein. „Na dann: Ein Hoch auf deine Mutter.“ Wieder stoßen beide mit ihren Weingläsern an.
„Ja, ein Hoch auf meine Mutter. Von ihr habe ich auch meinen starken Gerechtigkeitssinn geerbt“, sagt Plöger. „Und insbesondere in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren gab es Entwicklungen, die ich nicht mehr verstehe und die ich für zutiefst ungerecht halte. So fällt es mir zum Beispiel wirklich schwer zu ertragen, dass die 85 reichsten Menschen auf dieser Welt so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen. Das sind etwa 3,5 Milliarden Menschen. 85 zu 3.500.000.000. Nicht 85 Tausend, nicht 85 Millionen. Nur 85. Das werde ich niemals verstehen und akzeptieren können. Und dieses Unverständnis gepaart mit dem Willen, etwas besser zu machen, hat dann dazu geführt, dass wir uns damals in München in den Bavaria-Studios trafen. Wenn ich dazu beitragen kann, dass sich die Verhältnisse, wenn auch anfangs nur im kleinen Rahmen und langsam, peu à peu sozusagen, verändern, dann will ich gern mithelfen. Und da hat es dann ja auch sofort gefunkt zwischen uns beiden.“
Sven Plöger muss schmunzeln. „Das war toll. Ich glaube, das kennt jeder: Man lernt einen Menschen kennen und spürt sofort die gemeinsame Wellenlänge. So war mein Eindruck bei unserem ersten Gespräch. Eineiige Zwillinge, bei der Geburt getrennt. Oder siehst du das anders?“
„Das habe ich auch so empfunden. Da war sofort eine ganz große Herzlichkeit und Offenheit zwischen uns. Wenn Menschen in der Öffentlichkeit stehen und einen Prominentenstatus haben, wirken sie ja manchmal ein wenig unnahbar. Und das hätte ja auch bei einem berühmten Wetterfrosch“, Waffenschmidt muss lachen, „so sein können. War’s aber eben nicht. Unser Kennenlernen war super, eben einfach entspannt und sofort interessant. Und außerdem kommen wir ja aus der gleichen Region. Als Rheinländer ist man sich ja eh zujäwandt.“
Den letzten Satz bringt Christoph Waffenschmidt in authentischstem Rheinländisch über die Lippen. Beide albäärn ein wenisch über dat Rheinlaand unn ihrää Häimaat, werfen sich Schlagworte zu: Wein, Rhein, Kölsch, Karneval und Fröhlichkeit. Die Chemie stimmt zwischen den beiden.
Waffenschmidt steht auf und öffnet ein Fenster. Stoßlüften. Aerosole. In den vergangenen Monaten haben sich neue Routinen entwickelt, die man halt so macht – selbst wenn in diesem Fall die Beteiligten auch einen negativen Schnelltest vorweisen konnten. Sonst wäre dieses Gespräch gar nicht möglich gewesen. Eben noch rheinische Lebensfreude, jetzt wieder kalter Pandemie-Alltag. Nach ein paar Minuten schließt er das Fenster und lässt sich wieder in den Sitzsack fallen.
„Es ist auch erstaunlich – deswegen passt das Bild mit den Zwillingen wirklich gut –, wie ähnlich wir sozialisiert wurden. Bei dir war es die entwicklungshelfende Mutter, die dir ein Gespür für all die Ungerechtigkeiten in der Welt mitgab, bei mir war es ein christlich geprägtes, bürgerliches und politisch aktives Elternhaus. Meine Mutter stammte aus einer Kaufmannsfamilie, mein Vater war in der Landes- später in der Bundespolitik. In unserer Familie war es völlig normal, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und sich für die Allgemeinheit einzusetzen. Diesen Blick auf die Gemeinschaft und den Willen, sie zu gestalten, sie zu verbessern, das habe ich sozusagen schon mit der Muttermilch aufgesogen. Später – 1991 – war es der erste Jugoslawienkrieg, der mich aktivierte. Ich sah einen Fernsehbericht über Fliegerangriffe auf einen Grenzübergang zwischen Österreich und Slowenien. Das war so nah. Österreich kannte ich aus dem Urlaub, und der Gedanke, dass in unmittelbarer Nähe ein Krieg tobt, machte mich wütend, Und letztlich war er der Funke für all mein späteres humanitäres Engagement. Ich bin dann viele Male mit einem 7,5-Tonner voller Hilfsgüter auf den Balkan gefahren. Endlos lange tausend Kilometer mit achtzig Kilometern pro Stunde auf der Autobahn.“
Waffenschmidt hält kurz inne, fixiert einen Punkt an der Wand oder etwas hinter der Wand. Etwas in seiner Erinnerung. „Und jetzt sitze ich hier in Friedrichsdorf, begleite weltweit Projekte, die vor allen Dingen die Auswirkungen von Armut vor Ort lindern sollen und zu einer Verbesserung der allgemeinen Situation beitragen. Und du schreibst Bücher über den Klimawandel, setzt dich dafür ein, dass die Menschen endlich verstehen, wie das alles funktioniert und warum es so wichtig ist, dass wir keine Zeit mehr mit Reden verschwenden und endlich ins Handeln kommen.“
Plöger hakt ein: „Ja, und weiß du was? Diese ganzen Themen, für die wir beide uns da engagieren, sind ja nicht neu, aber ich hatte in den letzten Jahren oft den Eindruck, alle wissen Bescheid, aber es tut sich nichts. Doch jetzt gerade habe ich das Gefühl, dass Bewegung in die Sache kommt. Wenn man in die Geschichte schaut, gab es immer wieder eindeutige Beispiele für plötzliche positive Entwicklungen. Mein intensivstes Erlebnis dieser Art war zweifellos der Fall der Mauer. Sie war in meiner Lebenswelt immer da und obwohl ich als Rheinländer in der Nähe von Bonn lebend ja nun mal denkbar weit vom Geschehen entfernt war, hatte ich im November 1989 tagelang eine Gänsehaut, weil ich merkte, dass hier just in diesem Moment Weltgeschichte stattfand. Hätte im Herbst 1987 jemand behauptet, dass die Mauer in zwei Jahren fallen werde und wir in drei Jahren die Wiedervereinigung Deutschlands erleben, wäre derjenige wohl schlicht zu einem Neurologen oder Psychiater geschickt worden – der könne vielleicht helfen. Die Vorhersage von Ereignissen ist nun einmal viel schwieriger als deren Nachhersage. Wer weiß das besser als ein Meteorologe, denn Wetternachhersage kann jeder!“
Waffenschmidt nimmt diese Vorlage dankbar grinsend auf. „Also, in der Wetternachhersage bin ich wirklich spitze. Gestern zum Beispiel, da hatten wir dieses Hoch, wie hieß es noch? Elfriede? Das hat uns auf jeden Fall ziemlich kaltes Wetter gebracht.“
Plöger schmunzelt, überlegt kurz, ob er das Spiel weiter mitspielen will, entscheidet sich aber dagegen und fährt mit der Vergangenheit fort. Ist wichtiger. „Hört man Historikern zu, findet man schnell heraus, dass es begründet war, darauf zu hoffen, dass der von so vielen Menschen gemeinsam geführte Protest – also der Ruf nach Freiheit – ein Erfolg werden könnte. 1978 hätte das zum Beispiel nicht geklappt, alles braucht also seine Zeit! Die DDR-Wirtschaft lag 1989 am Boden und war kaum noch überlebensfähig, in der damaligen Sowjetunion war Michail Gorbatschow an die Macht gekommen und sah die Notwendigkeit der Neugestaltung, der Perestroika. Und Helmut Kohl hat die historische Möglichkeit begriffen und beherzt gehandelt. Ein bisschen wie bei Greta Thunberg und der sich daraus später entwickelnden Fridays for Future-Bewegung. Greta hat sich zum Klimastreik 2018 vor ihre Schule gesetzt, als es im Land unglaublich viele Waldbrände, Dürre und Hitze gab – alles keine typischen Phänomene für Schweden. Die Menschen machten sich Sorgen darüber und gleichzeitig stand auch noch eine Wahl ins Haus. Hätte es diese Umstände nicht gegeben, so hätte Gretas Klimastreik vielleicht ein jähes Ende durch einen Klassenbucheintrag gehabt und es wüsste heute niemand, wer diese junge Dame ist.“
Waffenschmidt schnauft bestätigend durch die Nase.
„Aber zurück zu uns: Wir sind beide ziemlich behütet aufgewachsen, sowohl innerhalb unserer Familien als auch in der politisch recht ruhigen Bonner Republik“, knüpft der Wetterfrosch wieder beim Anfang an. „Aber das ist wahrscheinlich typisch für unsere Generation, vielleicht ist es sogar menschlich: Wir entwickeln den Impuls, uns zu engagieren und anderen zu helfen, vor allen Dingen dann, wenn wir persönlich berührt werden. Das kann die geografische Nähe der Not sein oder die menschliche Ebene. Wir müssen Verhältnisse, Menschen, Projekte ganz persönlich erfahren, damit wir uns einfühlen können. Das ist auch das Problem der Folgen des Klimawandels. Das Thema ist so groß und abstrakt, so weit weg – sowohl zeitlich wie geografisch – da fällt es vielen Menschen schwer, die Notwendigkeit des Handelns zu sehen.
Und, aber ich denke, da sind wir uns einig, wir müssen optimistisch bleiben. Nicht im Sinne einer naiven Es-wird-schon-alles-irgendwie-gut-gehen-Haltung, mit der wir uns beruhigen. Aber wir können den Optimismus als Grundeinstellung annehmen, als Sichtweise, wie wir auf Probleme schauen. Wie gewichten wir die Dinge in unserem Kopf – das ist die berühmte Sache mit dem halb vollen oder halb leeren Glas. Die Erkenntnis: Eine gesunde Sichtweise macht Krisen kleiner! Es braucht also Optimismus, um nicht handlungsunfähig durch die Welt zu taumeln. Es braucht aber auch Gründe für einen Optimismus und damit auch Gründe für die stets so wichtige Hoffnung. Eine schwierige Situation einfach nur zu ignorieren und dabei zu hoffen, dass alles doch per Zufall anders und besser kommt als zu erwarten ist, ist wenig sinnstiftend. Heute sieht man zum Beispiel, dass viele Vorhersagen der Klimaforschung von vor 30 oder 40 Jahren recht gut eingetroffen sind. Jetzige Klimaprojektionen etwa für 2050 dann so darzustellen, als stochere die Wissenschaft hierbei nun völlig im Nebel herum, und deshalb grundlos zu hoffen, dass vielleicht alles anders kommt, ist wider die Vernunft. Es braucht also immer begründete (!) Hoffnung. Und deren Fundament ist die Suche nach Möglichkeiten, wie man problematische Entwicklungen ernsthaft abmildern kann. Was dabei enorm helfen kann, ist ein freies Denken, jenseits von festgefahrenen Strukturen.
Die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen und die großen Zusammenhänge zu erkennen, haben wir, glaube ich, beide, lieber Christoph. Doch das ist ja kein gottgegebenes Talent, das kann prinzipiell jeder, wenn man ihn dazu ermutigt und schon früh lehrt, out of the box zu denken. Diese Fähigkeit ist enorm wichtig für die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Denn genau so entwickeln überall auf der Welt kluge Köpfe wichtige Projekte. Mal größer angelegt, mal ganz lokal. Aber in Summe sind sie der Schlüssel, um einer der größten Herausforderungen der nächsten Jahre, dem Klimawandel nämlich, entgegenzutreten. Und genau bei solch einem konkreten und ebenso anschaulichen wie beeindruckenden Projekt haben wir beide uns dann ja so richtig kennengelernt. In Äthiopien, bei Tony Rinaudo.“
Tony Rinaudo
ist ein Agrarwissenschaftler, der 2018 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Der 1957 geborene Australier entwickelte in den 1980er- und 1990er-Jahren die Wiederaufforstungstechnik FMNR (Farmer Managed Natural Regeneration) für die Länder entlang der Sahelzone. Diese einfache, kostengünstige und ressourcenschonende Methode arbeitet mit im oberflächlich ausgetrockneten Boden vorhandenen Wurzeln, die in tieferen Erdschichten aber noch Wasser finden. Statt neue Baumsetzlinge zu pflanzen, die viel Pflege und Schutz benötigen, nimmt FMNR scheinbar abgestorbene Baumstümpfe, niedrig gewachsene Büsche und das im Erdreich vorhandene Wurzelsystem in den Fokus. Mit der richtigen Pflege, einem konsequenten Beschnitt und ein wenig Geduld wachsen aus diesen Überresten schnell neue Triebe. Im Gegensatz zu neu gesetzten Jungpflanzen können sie auf das vorhandene Wurzelsystem zurückgreifen, überleben daher viel häufiger und wachsen in kurzer Zeit zu stattlichen Jungbäumen heran.
Mehr als 200 Millionen Bäume sind auf diese Weise schon „wiederbelebt“ worden.
Die Effekte des FMNR greifen auf regionaler und globaler Ebene. Vor Ort sorgen die Bäume für eine bessere Bodenqualität: Das herabfallende Laub düngt, die Wurzeln sichern den Boden vor Erosion. Feuchtigkeit wird länger im Boden gehalten, sogar der Grundwasserspiegel steigt mittelfristig. Durch Stickstoffanreicherung erhöht sich die mikrobakterielle Aktivität. Mehr Insekten siedeln sich an, Fressfeinde wie Vögel folgen. Gleichzeitig beschatten die belaubten Bäume die Erde und vermindern das Aufheizen durch die Sonneneinstrahlung. Das wirkt sich positiv auf die Ernteerträge der Pflanzen aus, die zwischen den Bäumen wachsen. Jedes Grad Celsius über 35 bedeutet 10 % Ertragsminderung.
Bereits im ersten Jahr der Anwendung der FMNR-Methode berichteten Bauern von deutlich gestiegenen Erträgen. Folgeeffekte sind steigender Wohlstand und sinkende Kinderarbeit. Durch die gewonnene Freizeit steigt der Anteil von Kindern, die zur Schule gehen, was zu einem höheren Bildungsniveau führt. Auf globaler Ebene entsteht durch FMNR ein grüner Gürtel entlang der Sahelzone, der die fortscheitende Desertifikation, also die Wüstenbildung auf eigentlich fruchtbarem Land, stoppt, das Klima vor Ort positiv beeinflusst und riesige Mengen CO₂ speichert, das der Hauptgrund für die steigende Erderwärmung und den Klimawandel ist.