Standby um die Welt: Geschichten vom Fliegen und Nichtfliegen

Was tun, wenn man für eine Airline arbeitet, sich aber kein reguläres Flugticket leisten kann? Man fliegt ›standby‹ als Anhalter mit.

Dafür sollte man abenteuerlustig sein, denn man weiß nie, ob man mitkommt, wohin man mitkommt, oder ob man irgendwo landet, wo man definitiv nie hinwollte.

Hertha Hansen erzählt eine Mischung aus Standby-Flugerfahrungen und Reiseerlebnissen vor Ort: von amerikanischen Wegbeschreibungen, japanischen Toilettenschlappen, verschluckten Bordkarten und Flügen im Cockpit; von Deutschland nach Europa, Nordamerika, Asien und Afrika bis nach Neuseeland Standby um die Welt.

Prolog

»Aber den Job nicht nur wegen dem Fliegen nehmen!« Mein zukünftiger Chef schaute mich streng an.

Ich schüttelte vehement den Kopf. Sogar mit gutem Gewissen, da ich panische Angst vorm Fliegen hatte.

Als mir der Arbeitsvertrag für das Bodenpersonal zugeschickt wurde, in dem gerade mal die Hälfte meines bisherigen Gehalts stand, revidierte ich meine Meinung. Wenn Fluggesellschaften schon schlecht zahlen, dann sollte man wenigstens so viele günstige Flüge wie möglich mitnehmen. Vielleicht sollte ich es als eine Art Therapie sehen: Wenn man nur oft genug fliegt, verschwindet die Flugangst irgendwann.

Diese Theorie erwies sich zwar als Irrtum, aber ich sollte in den nächsten Jahren in Situationen kommen, in denen meine Angst, nicht mitgenommen zu werden, größer war als meine Angst, ein Flugzeug zu betreten.

Kaum hatte ich die Probezeit bestanden, kaufte ich mein erstes Standby-Ticket.

Mein erstes Mal

FRA – ICN – SEL – CJU – SEL – ICN – FRA

(Frankfurt – Seoul – Jeju – Seoul – Frankfurt)


Standby-Passagiere können nicht einfach am Flughafen auftauchen und sich in den nächstbesten Flieger setzen. Auch wir müssen vorab ein Ticket erwerben, selbst wenn dies nur einen Bruchteil des regulären Preises kostet. Doch auch für Standby-Reisende kommen die vollen Steuern und Gebühren oben drauf, die je nach Anflugort und -strecke ein Vielfaches des Flugpreises betragen können. Unterm Strich zahlt man – insbesondere auf kurzen Strecken – manchmal trotzdem mehr als bei Billigairlines und hat den zusätzlichen Nervenkitzel, ob man überhaupt mitfliegt. Denn das bedeutet Standby eben auch: Warten, ob noch ein Platz frei ist – oder eben nicht.

Wegen dieses Fliegen-oder-Nichtfliegen-Roulettes ist es sinnvoll, sich auch Tickets für Ausweichstrecken und -airlines zu besorgen, für den Fall, dass man beim gewünschten Flug nicht mitgenommen wird. Nicht genutzte Flugstrecken können später wieder erstattet werden. Ich lernte schnell, dass man – je nach Risikobereitschaft - neben Plan A auch immer Tickets für Plan B bis X mitnehmen sollte.

Zusätzlich benötigt man ein Listing, d.h., man muss sich bei den entsprechenden Airlines online oder telefonisch für die gewünschten Flüge anmelden. Eine reine Formalität, damit die Fluggesellschaften ihre Auslastung besser planen können; irgendeinen Anspruch, mitgenommen zu werden, hat man dadurch nicht. Im Falle eines fehlenden Listings wird dies aber trotzdem gerne gegen einen verwendet.

Meine Kollegen von der Kranich-Airline, deren Logo auch auf meinem Mitarbeiterausweis prangte, erzählten mir wahlweise Horrorstorys, wo sie überall schon stehen gelassen wurden oder empfahlen mir, es gar nicht erst zu versuchen. Nur eine Kollegin gab mir einen guten Tipp: »Für das gleiche Geld sitze ich doch lieber bequem!«

Übersetzt: Nimm für Langstrecken lieber ein Business Class Ticket, das kostet nach Versteuerung etwa genauso viel wie ein Economy Class Ticket. Dafür sitzt man angenehmer, das Essen ist besser, und die Wahrscheinlichkeit, stehen gelassen zu werden, ist geringer als bei Economy, da es auch noch die Möglichkeit eines Downgrades gibt, bevor man ganz abgeladen wird.

Dass es nicht unbedingt erwünscht war, dass wir Business oder gar First Class flogen, wusste ich anfangs nicht und ignorierte es später beharrlich.

Zu wissen, wo man hin will, reicht übrigens nicht: Um buchen zu können, benötigt man zwangsläufig das richtige Airport-Kürzel. Jeder Airport hat einen Code, der aus drei Großbuchstaben besteht. Lustig wird es, wenn eine Stadt mehrere Airports hat (z.B. New York) oder es mehrere Städte mit demselben Namen gibt, die auch alle über einen Flughafen verfügen (z.B. San José). Ich wäre mehr als einmal beinahe im falschen Land gelandet.

Eigentlich sollte mein erster Standby-Flug nach Australien gehen. Mein Chef wollte mir allerdings nur anderthalb Wochen Urlaub genehmigen. Zu kurz für Australien, vor allem, wenn man nicht sicher sein kann, ob man überhaupt planmäßig hin und wieder zurück kommt. Man gewöhnt sich beim Standby-Fliegen schnell an, immer einen oder zwei Tage Puffer einzubauen.

Ich schaute mir unser Streckennetz an. Südkorea lag etwa auf halber Strecke nach Australien. Zwar war ich noch nie dort gewesen und wusste nichts über das Land, aber Seoul wurde von Lufthansa angeflogen.

»Das passt!«, beschloss ich und genehmigte mir als ersten Standby-Flug gleich meinen Jahresurlaubsflug.

Jahresurlaubsflug bedeutet, dass man zwar auch Standby reist, allerdings mit einer höheren Priorität. Bei den »normalen« Standby-Tickets werden die Plätze nämlich in der Reihenfolge der Betriebszugehörigkeit vergeben. Jedenfalls, wenn die Mitarbeiter am Gate nicht mauscheln. Auf den beliebtesten »Rentnerstrecken« braucht jemand, der gerade erst die Probezeit überstanden hat, bei Überbuchung gar nicht erst zu erscheinen. Mit einem Jahresurlaubsflug hingegen, den es nur einmal im Jahr gibt, kann man alle Rentner auf die hinteren Wartelistenplätze verweisen. Allerdings nur auf Lufthansa-Flügen, mit anderen Airlines gibt es dieses Abkommen nicht.

Der Hinflug war in unserem System mit einem gelben Smiley ausgewiesen, was so viel bedeutete wie: mittelmäßig gute Chancen mitzukommen. Rote Smileys standen für schlechte Chancen, grüne Smileys gab es erst gar nicht. Der geplante Rückflug lächelte ebenfalls gelb. Ich erstellte ein Listing und packte meinen Koffer, wohlweislich einen kleinen, damit ich ihn als Handgepäck mit an Bord nehmen konnte. Warum? Das meiste Gepäck geht Standby-Reisenden verloren. Da währt die Freude, dass man selbst mitgekommen ist, nur kurz, wenn stattdessen der Koffer stehen geblieben ist.

Ich näherte mich mit gemischten Gefühlen dem Check-In. Dort saß eine junge Kollegin, die gerade eingearbeitet wurde. Für uns beide war es der erste Jahresurlaubsflug. Sie war sehr nett und stellte mir, nach Rücksprache mit ihrer Teamleiterin, sofort eine Bordkarte für einen Sitzplatz in der Business Class aus. Ich strahlte: So einfach hatte ich mir Standby-Fliegen nicht vorgestellt.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass diese Behandlung die absolute Ausnahme war. So aber war das Schwierigste am ganzen Flug, die diversen Sitzeinstellungen inklusive Massagefunktion und Video-on-Demand zu durchschauen und bei den immer wieder auftretenden Turbulenzen das weiße Tischtuch nicht zu bekleckern.

In Seoul angekommen, vertraute ich mich dem öffentlichen Nahverkehrssystem an. Mein Busfahrer in die City, dessen einziger Fahrgast ich war, forderte mich mit Handzeichen auf, mich anzuschnallen, und bretterte dann mit einer Mischung aus Vollgas und Vollbremsungen los, abwechselnd links und rechts überholend, unter anderem einen Laster, auf dessen Ladefläche eine nagelneue Couch stand – unbefestigt und ungesichert.

Nach einiger Zeit hat man die koreanischen Verkehrsregeln verinnerlicht: Eine rote Ampel bedeutet »langsamer fahren«, ein Schild mit Geschwindigkeitsbegrenzung bedeutet nichts und ein Schild mit Geschwindigkeitsbeschränkung in Verbindung mit einem Radargerät »sofortige Vollbremsung«! Durch Baustellen fährt man am besten mit Vollgas, um möglichst schnell aus der potenziellen Gefahrenzone zu kommen, und Handys am Steuer sind nur verboten, wenn man dabei von der Polizei erwischt wird.

Mein gebuchtes Hostel lag in Isadong, einem bei Touristen beliebten Stadtviertel mit Geschäften, Restaurants und Garküchen. Die letzten Meter waren in Ermangelung von Straßennamen und einer eher lückenhaften Wegbeschreibung etwas schwierig, aber dafür hat selbst das kleinste Hostelzimmer ein eigenes Bad und einen eigenen Fernseher, der mindestens 40 Kanäle hat. Leider alle auf Koreanisch.

Auch der Changdeokgung Palast war gleich um die Ecke. Dort traf ich einen Kollegen, der sich als Pilot der Abendmaschine nach München outete und die letzten Stunden vor seinem Rückflug noch eine kurze Sightseeing-Tour machte.

Seoul ist eine große und hektische Stadt, bietet aber auch immer wieder Ruheoasen. Die Wiesen am Ufer des Han-Flusses sind zum Sonnenuntergang besonders bei Liebespärchen und jungen Leuten beliebt. Der Pizzabringdienst auf dem Mofa lieferte das Essen ganz selbstverständlich zum Kunden mitten auf die Wiese.

Für den nächsten Tag hatte ich mir aus dem Lonely Planet Reiseführer eine Halbtagestour ausgesucht, die u.a. Bosin-gak (kleiner Schrein mit großer Glocke), Jongno Tower (futuristisches Hochhaus mit toller Glasarchitektur), Lotte Department Store (luxuriöses Kaufhaus) sowie Namdaemum Tor und Namdaemum Market (Gewirr von Gassen, in denen alles mögliche Nützliche und Unnützliche verkauft wird) umfasste. Irgendwo in diesen Marktgassen habe ich mich dann so hoffnungslos verlaufen, dass ich beschloss, die Tour an dieser Stelle abzubrechen und mich erst einmal ins Nanta Theater zu setzen. Das schien die koreanische Antwort auf ein Musical zu sein, bei dem vier als Köche verkleidete Schauspieler wild durch ein Küchenbühnenbild tobten und percussionmäßig mit so ziemlich allem, was ihnen in dieser Küche in die Hände kam, auf alles Mögliche und Unmögliche um sich herum einschlugen. Außerdem wurde gehackt und jongliert was das Zeug hielt, und es flog jede Menge Gemüse durch die Luft. Die Story war auch ohne Worte verständlich.

Erholung inmitten der City bot die Uferpromenade des Cheonggye Stream. Die Wege bestanden aus Holzplanken oder verschiedenen Steinen. Man konnte sich in den Schatten setzen und Springbrunnen oder das vorbeifließende Wasser ansehen, über Steine das Flüsschen überqueren, die Füße im Wasser baumeln lassen oder sich einfach nur hinsetzen und Koreaner beobachten. Letzteres war übrigens eine sehr beliebte Beschäftigung der Koreaner, die dann aber doch verwundert waren, als plötzlich ein Tourist da saß und mitguckte.

Während die älteren Koreaner gerne in der Sonne saßen und nichts taten, wirkte die koreanische Jugend sehr technikaffin: Jeder hatte entweder ein Handy am Ohr kleben, drosch in den Spielsalons auf einen Monitor ein oder saß auf der Straße und spielte Computerspiele.

Alleine in ein Restaurant zu gehen, ist in Korea eher unüblich. Deshalb verabredete ich mich mit zwei Deutschen, die ich im Hostel getroffen hatte, und einer jungen Koreanerin namens Kim in einem typisch koreanischen Restaurant. Was wir nicht wussten, war, dass Koreaner auch Hund essen. Den gab es dort in allen möglichen Variationen: gekocht als Suppeneinlage, gebraten mit Gemüsen und im scharfen Eintopf. Angeblich gut zur allgemeinen Stärkung und für die Potenz. Dazu wurde der unvermeidliche Kimchi gereicht, fermentierter Chinakohl mit Chili-Gewürzpaste. Das koreanische Essen ist sehr scharf, aber als Ausländer bekommt man es meistens etwas milder zubereitet.

Im National Folk Museum bekam ich am nächsten Morgen von einem männlichen Guide, ebenfalls namens Kim, eine sehr ausführliche und kostenlose Führung auf Deutsch. Danach hatte ich einen guten Einblick in die Lebensweise während der Joseon-Dynastie.

Nachmittags nahm ich die U-Bahn zum nationalen Flughafen von Seoul. U-Bahn fahren in Seoul ist relativ problemlos, da alle Stationsnamen auch auf Englisch geschrieben sind und Umsteigemöglichkeiten in der Bahn durch Vogelgezwitscher vom Band angezeigt werden.

Mein Plan war, nach Jeju weiterzufliegen, einer Vulkaninsel vor der Südküste Koreas. Innerkoreanisch zu fliegen war relativ unproblematisch. Flugpläne schienen allenfalls auf dem Papier zu existieren, aber Jeju wurde fast im Viertelstundentakt von diversen Airlines angeflogen. Ideal für Standby. Ich nahm einfach die nächste Maschine, die angezeigt wurde, in diesem Fall Korean Airlines.

So entspannt wie die Flugpläne waren auch die Handgepäckbestimmungen: fast jeder schleppte seine erlaubten 18 kg Handgepäck mit in den Flieger, und ich hatte versehentlich noch eine halbvolle 1,5-Liter-Wasserflasche in der Hand, an der sich auch niemand störte.

Das Hotel in Seogwipo fungierte parallel als Backpacker und Love Motel, was in Korea aufgrund der oftmals recht engen Wohnverhältnisse aber völlig normal ist. Einschlägige Dienstleistungen gibt es übrigens nicht dort, sondern beim Friseur: Je mehr bunte Rollen sich über der Tür drehen, desto schöner die Mädchen und desto teurer der Besuch.

Jeju gilt als das Hawaii Asiens und ist vor allem bei Flitterwöchnern und Konferenzteilnehmern beliebt. Dementsprechend ist die touristische Infrastruktur eher unterentwickelt: Es gibt zwar viel zu sehen, aber keiner will einen hinbringen.