Singen lernen

Systematische Anleitung
zur Entwicklung
der eigenen Singstimme

von
Karin Maack



Titelgrafik: ©2007 James Steidl
James Group Studios inc.
Abbildungen im Innenteil: Karin Maack
Copyright © 2018 Karin Maack

Erstveröffentlichung 2013
Alle Rechte vorbehalten

www.karinmaack.de


Einleitung

Dieses Buch wurde zum einen für alle geschrieben, die gerne singen – und wissen wollen, wie es eigentlich richtig funktioniert; zum anderen für diejenigen, die schon Gesangsunterricht haben, sich aber zwischen unterschiedlichen, vielleicht sogar gegensätzlichen Methoden verloren fühlen. Um die Grundlagen des Singens zu erlernen, ist es unerheblich, ob Sie in einem Konzertchor, einem Gesangsverein oder einer Band singen oder ob Sie eine solistische Tätigkeit anstreben. Außerdem spielt es erst einmal keine Rolle, ob Sie Musicals oder Oper, Popmusik oder Jazz, Chansons oder Oratorien singen. Trotz der unterschiedlichen Stile sind die Grundlagen des Singens prinzipiell die gleichen.


Meine eigene Gesangsausbildung habe ich in Stuttgart erhalten. Am Ende meines Musikstudiums war meine Gesangstechnik allerdings eine Ansammlung unverdauter Halbwahrheiten. Also wurde es nichts mit der Sängerkarriere. Ich habe dann fünf Jahre lang Klavier unterrichtet und zwei Gesangvereine geleitet. Aber das Wichtigste für lange Zeit danach wurde meine Familie. Erst viel später wurde mir klar, wie sehr mich das Singen trotz allem immer noch fasziniert, und ich begann, wieder an meiner Stimme zu arbeiten. Ich bin kein Naturtalent und das Singen ist mir nicht zugefallen – das heißt, dass ich erst eine genaue Vorstellung von dem haben musste, was ich tun wollte, bevor ich es nach vielem Ausprobieren und Üben tun konnte. Also habe ich nun, da ich singen kann, auch eine genaue Vorstellung davon, wie es funktioniert. Dieses Wissen würde ich gerne an Sie weitergeben.


In diesem Buch habe ich immer zuerst die physiologischen und akustischen Fakten erklärt. Erst danach kommen manchmal auch Übungen. Davon gibt es nicht allzu viele, denn die Tonfolgen, die man zum Üben verwendet, halte ich nicht für das Wichtigste. Wichtig ist, dass man genau versteht, was man tut, und dann lernt, auf seinen Körper zu hören. Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg!

1. Atmung


Bevor man einen einzigen Ton singen kann, muss man einatmen. Das anschließende Ausatmen während des Singens dauert viel länger, als bei der normalen Atmung. Es lohnt sich also, die gesamte Atemtätigkeit etwas genauer zu betrachten. Dabei geht es zuerst um die Ausatmung, denn erst nach der Ausatmung setzt der Reflex zum Einatmen ein.

1.1 Ausatmung

Der Reflex, der die Atmung bestimmt, entsteht erst in zweiter Linie aus dem Bedürfnis des Körpers nach Sauerstoff – zuerst will der Körper Kohlendioxid loswerden. Die Ausatmung geschieht eigentlich von selbst, da elastische Fasern in der mit Luft gefüllten Lunge dafür sorgen, dass diese sich wieder zusammen zieht; außerdem entspannen sich die Einatmungsmuskeln. Die Bauchmuskulatur hilft nur bei einer forcierten Ausatmung, zum Beispiel beim Husten. (Auch beim Singen kommt die untere Bauchmuskulatur zum Einsatz – davon mehr in Kapitel 4.)


Für den Anfang ist nur wichtig, dass die Luft beim Ausatmen von selbst entweicht und dass man nichts dazu tun muss. Allerdings ist es auch wichtig, gründlich auszuatmen und nicht mit halbvoller Lunge wieder einzuatmen – denn dringender, als der Körper neuen Sauerstoff braucht, muss er eben das Ausscheidungsprodukt Kohlendioxid loswerden. Man darf beim Singen also nicht „auf Vorrat“ einatmen, ohne dass man wirklich wieder Luft benötigt, weil man sonst die Ausatmung behindert und sich nach einer Weile atemlos fühlt, obwohl man mit Luft voll gepumpt ist. Darum sollte man bei Atemübungen immer mit einer bewussten und gründlichen Ausatmung beginnen, indem man die Bauchmuskeln nach innen einzieht.



1.2 Bauchatmung

Die wichtigsten Einatmungsmuskeln sind die äußeren Zwischenrippenmuskeln und natürlich das Zwerchfell. Das Zwerchfell besteht aus einer großen Sehnenplatte in der Mitte und einem seitlichen Muskelkranz. Wenn man weiß, dass sich das Herz direkt auf dieser Sehnenplatte befindet, ist es leicht, sich deren Lage vorzustellen.


Komplizierter ist das mit der Zwerchfellmuskulatur: Sie ist vorne an der Innenfläche des unteren Brustbeins befestigt, sowie seitlich und hinten an der Innenfläche der sechs untersten Rippen. Die Sehnen der hinteren Zwerchfellmuskulatur reichen bis zu den Lendenwirbeln. Bei der Einatmung ziehen sich die Zwerchfellmuskeln zusammen und senken auf diese Weise das Zwerchfell ab, so dass sich die Lunge darüber ausdehnen und mit Luft füllen kann. Dadurch werden die Bauchorgane verdrängt und wölben sich nach außen.


Am leichtesten ist das zu erfahren, wenn man die eigene Atmung im Liegen beobachtet: Legen Sie sich auf den Rücken, atmen Sie kräftig aus und warten Sie kurz, bis die Einatmung reflektorisch einsetzt. Die Zwerchfellmuskeln spannen sich an, so dass sich der Bauch bei der Einatmung mühelos nach oben wölbt. So atmen Babys, und das ist auch die normale Ruheatmung. Wenn man bequem und in nachlässiger Haltung sitzt, kann diese Art der Atmung normalerweise auch noch ohne Probleme funktionieren.


Diese tiefe Zwerchfellatmung wird von vielen Gesangsschulen gelehrt. Allerdings ist das Atmen im Stehen etwas komplizierter. Wenn man aufrecht steht, ist nämlich die vordere gerade Bauchmuskulatur im Idealfall leicht angespannt – und zwar um die Bauchorgane zu stützen und damit auch die Rückenmuskulatur zu entlasten. Die Einatmung würde dann also durch die Grundspannung der Bauchmuskulatur behindert. Zwar könnte man die Bauchmuskeln während des Einatmens völlig entspannen, dadurch würde aber der Rücken belastet und die Bauchmuskulatur zunehmend schlaff werden – was sie natürlich auch beim Singen überhaupt nicht sein soll (d. h. auch die Bauchmuskulatur wird für die Feinheiten der Tongebung gebraucht und muss flexibel zwischen Spannung und Entspannung wechseln können – mehr dazu im Kapitel 4).


Nun gibt es Gesangslehrer, die der Meinung sind, die sängerische Atmung entwickle sich in einem beständigen Kampf zwischen Zwerchfell und Bauchmuskeln. Stimmt, das kann passieren: wenn man nämlich das Zwerchfell bewusst nach unten drückt und dabei verhindern will, dass dabei eine Bauchpresse mit Druck am Kehlkopf entsteht, wie es sonst nur beim Stuhlgang und beim Gebärvorgang der Fall ist. Wenn man das verhindern will, dann muss man mit der Bauchmuskulatur sehr stark dagegen halten. Das wäre eigentlich das, was man Atemstütze nennt – aber damit darf man nicht anfangen. Die Gefahr, die gesamte Bauchmuskulatur zu verspannen, ist einfach zu groß. Beim Singen muss aber der gesamte Atemapparat möglichst flexibel und beweglich sein, so dass es überhaupt nicht in Frage kommt, irgend einen Teil davon gewaltsam zu fixieren. Es muss also noch eine weitere Möglichkeit der Singatmung geben.

1.3 Flankenatmung

Diese weitere Möglichkeit ist die so genannte Flankenatmung – wobei „Flanken“ kein anatomischer Begriff ist. Bei dieser Atmungsweise sind außer dem Zwerchfell auch die äußeren Zwischenrippenmuskeln tätig, die, wie der Name schon sagt, zwischen den Rippen liegen und miteinander verbinden. Durch das Anheben der Rippen erweitert sich der Brustraum. Diese Atemtechnik wendet man automatisch an, wenn man mit den Armen körperlich anstrengende Arbeit verrichtet. Außerdem hat die Flankenatmung auch den optischen Vorteil, dass sich der Bauch dabei nicht nach vorne wölbt, sondern sich der gesamte Leib zur Seite ausdehnt und der Brustkorb breiter wird. Die wichtigsten Vorzüge dieser Art der Einatmung sind aber, dass man die Luft auf diese Weise problemlos einige Zeit anhalten kann, ohne dass – wie bei der reinen tiefen Zwerchfellatmung – ein Gefühl der Überdehnung eintritt, und dass man einen größeren willentlichen Einfluss auf die Atmung hat, ohne gleich die natürlichen Atemreflexe durcheinander zu bringen.

1.4 Körperhaltung

Es kann nicht überraschen, dass auch die allgemeine Körperhaltung einen großen Einfluss auf das Atmen hat. Alles, was die Beweglichkeit des Zwerchfells und der Rippen einschränkt, stört beim Singen. Das ist zum Beispiel dann besonders leicht der Fall, wenn sich jemand beim Singen auf der Gitarre selbst begleitet. Um es klar und deutlich zu sagen: Beim Singen ist eine aufrechte Haltung des Körpers notwendig (auch wenn es Sänger gibt, die im Liegen genauso perfekt singen können wie im Stehen – das sind die wenigen großen Könner). Bei einer geraden Haltung ist auch und vor allem der obere Brustkorb aufgerichtet, was unmittelbar eine positive Wirkung auf die Luftröhre und den Kehlkopf hat.


Wie kommt man nun zu einer geraden Haltung? Das ist für die meisten Menschen nicht ganz so einfach, wie es sich vielleicht anhört. Die meisten von uns verbringen viel zu viel Zeit in schlechter Haltung am Schreibtisch, vor dem Computer, im Auto oder auch am Klavier. Man muss sich eine gerade Haltung wirklich wieder antrainieren. Aber wie? Ganz bestimmt nicht, indem man – wie oft von Lehrern im Gesangsunterricht gefordert – die Arme seitlich auf Brusthöhe anhebt und hofft, der Brustkorb werde sich dann schon auch aufrichten. Im günstigsten Fall tut er das zwar, das ergibt sich aber keinesfalls automatisch. Also Brust raus, Bauch rein? Auch nicht, denn dabei entsteht meistens nichts anderes als ein Hohlkreuz.


Es gibt allerdings eine einfache Methode, die auf jeden Fall funktioniert: Man muss den Nacken gerade halten; in der Halswirbelsäule darf kein Knick sein. Wenn man die Halswirbelsäule nach hinten nimmt und sie sich dabei über den Kopf hinaus verlängert vorstellt, richtet sich automatisch auch der Brustkorb auf. Damit beugt man außerdem einer Verspannung der Nackenmuskulatur vor.

1.5 Atemübung

Wenn Sie nicht gewöhnt sind, beim Atmen den unteren Brustkorb zu erweitern, ist es am Anfang vielleicht schwierig. Sie können sich dabei aber helfen: Blockieren Sie bei den Atemübungen anfangs die Schultern, indem Sie die Arme auf einen Tisch aufstützen. Ansonsten