René Descartes
Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen
Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences
René Descartes wurde am 31. März 1596 als drittes Kind des Gerichtsrats Joachim Descartes und seiner Frau Jeanne Brochard in La Haye en Touraine geboren. Seine Mutter starb, als Descartes gerade einmal ein Jahr alt war. Seine Kindheit verbrachte er daher bei seiner Großmutter mütterlicherseits und einer Amme. Mit acht Jahren kam Descartes in das Jesuitenkolleg Henri-IV de La Flèche, in dem er als Musterschüler galt. Anschließend studierte er in Poitiers Jura und machte dort 1616 sein Examen.
Anstatt eine juristische Karriere anzustreben, trat Descartes, dem bislang erlernten Buchwissen überdrüssig geworden, zunächst dem Militär bei und gab sich auch dem gesellschaftlichen Leben und seinen Vergnügungen hin. Ansonsten genoss er eher Zeiten der Ruhe, Abgeschiedenheit und des Nachdenkens. Schließlich spürt er in sich das Fundament eines neuen Denkens reifen, in dem er die Möglichkeit sah, Erkenntnisse ganz von Anfang an, also beginnend mit der größtmöglichen Einfachheit, zu gewinnen.
Die Ideen, die ihm im Rahmen einer Art plötzlicher Eingebung gekommen waren, veranlassten ihn zu einer Wallfahrt nach Loretto im österreichischen Burgenland, die er im Jahr 1624 antrat. Nach seiner Rückkehr lebte Descartes zunächst bis 1628 in Paris, zog dann aber bald nach Holland, wo er die größere geistige Freiheit sah. Hier brachte er, abgesehen von diversen Reisen durch Europa, die nächsten 20 Jahre zu und beschäftigte sich mit einer analytischen Methode, mithilfe der er beabsichtigte, die Basis für eine neue Mathematik, Philosophie und Naturlehre zu schaffen.
Seine erste Veröffentlichung stellten die „Philosophischen Essays“ dar, die 1637 erscheinen. Es folgten die „Méditations sur la philosophie première, dans laquelle sont démontrées l’existence de Dieu et l’immortalité de l’âme“ (Meditationen über die Erste Philosophie, in der die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird), und die Schrift „Principia philosophiae“ (Grundlagen der Philosophie), beide zunächst auf Lateinisch und erst einige Jahre später ins Französische übersetzt. Bei zeitgenössischen Theologen lösten die Schriften intensive Ablehnung hervor.
Im Spätsommer 1649 reiste Descartes auf Einladung der jungen Königin Christina von Schweden nach Stockholm. Mit Christina von Schweden stand er seit 1645 im Briefkontakt, und sie wünschte, dass Descartes ihr seine Philosophie näher erklären möge. Anfang Februar 1650, noch immer in Stockholm, erkrankte Descartes, vermutlich an einer Lungenentzündung. Nach nur zehn Tagen, am 11. Februar 1650, starb er.
Die Schriften von Descartes wirkten nach seinem Tod noch lange nach – und zwar zunächst in einem ganz anderen Sinne als beabsichtigt. Im Jahr 1663 wurden sie vom Heiligen Stuhl in Rom auf den „Index Librorum Prohibitorum“, das Verzeichnis der verbotenen Bücher gesetzt. Es bestand der Vorwurf, seinen naturwissenschaftlichen Studien ließen keinen ausreichenden Raum für die Existenz Gottes, wobei die Jesuiten sich als lauteste Kritiker hervorgetan hatten. Es folgten weitere Verbote, darunter noch 1691 ein Bann gegen die Verbreitung seiner Lehren an französischen Schulen.
Später wurde Descartes‘ Gedanken von vielen Philosophen aufgegriffen und weiterentwickelt. Der Einfluss seiner Schriften ist heute groß, allgemein anerkannt wird der unschätzbare Einfluss, den seine von der Einfachheit der Schlüsse geprägte Methode auf die Geschichte der Geistes- und Naturwissenschaften hatte.
„... wenn ich auch annahm, dass ich träumte, und dass alles, was ich sah oder vorstellte, falsch sei, so konnte ich doch keinesfalls leugnen, dass die Vorstellungen davon sich in meinem Denken befanden.“
Bereits während seiner Zeit im Jesuitenkolleg in La Flèche hatte Descartes sich heimlich mit Philosophie und den Naturwissenschaften beschäftigte, in denen sich seinerzeit revolutionäre Wendungen abzeichneten. Da derart umwälzlerische Gedanken bei den Jesuiten nicht gern gesehen waren, musste Descartes seine Studien jedoch heimlich betreiben. Der nach außen vorbildliche Schüler übte sich also bereits früh darin, einen aufsässigen Geist zu entwickeln.
In seinen späteren Jahren schätzte Descartes meist die einsamen Stunden, in denen er sich Gedanken zur Beschaffenheit der Welt und zu letzten Prinzipien machen konnte. Er zog es dabei vor, seine Zeit nie zu lange an einem Ort zu verbringen und wechselte deshalb in der Regel spätestens nach zwei Jahren seinen Wohnsitz. Den Kontakt zu anderen Gelehrten hielt er dabei über seinen Freund Marin Mersenne (1588 -1648), einen in Paris lebenden Theologen, Mathematiker und Musiktheoretiker.
Unter anderem abgeschreckt durch die Machtdemonstration der Inquisition an Galileo Galilei (1564 - 1641), dem 1633 der Prozess gemacht wurde, da er an Kopernikus und Kepler anknüpfend ein heliozentrisches Weltbild vertrat, zögerte Descartes mit der Veröffentlichung seiner Gedanken lange. Erst 1637 brachte er auf das Drängen von Freunden hin die „Philosophischen Essays“ heraus, zu denen auch der „Discours de la méhode“ gehört.
Damit gelang es Descartes bereits, auch wenn er vor allem seitens der Kirche zunächst auf heftigen Widerstand stieß, philosophiegeschichtlich den Grundstein für das neuzeitliche Denken zu legen. In seinen späteren Werken beschäftigte er sich zum einen damit, seine Gedanken zu präzisieren und thematisch weiter in die Tiefe zu gehen, zum anderen wandte er die Methode im Detail auf eine Reihe von unterschiedlichen wissenschaftlichen Gebieten an.
Descartes philosophische Methode orientiert sich an der Mathematik, die stets bemüht ist, von möglichst wenigen, möglichst einfachen Setzungen ausgehend zu komplexeren Aussagen zu gelangen. Zur Begründung der so gewonnenen Erkenntnisse sind also keine weiteren (spekulativen) Annahmen erforderlich. Ausgangspunkt ist für Descartes, dabei stets, nur das für wahr anzunehmen, was nicht bezweifelt werden kann. Dabei zweifelte er auch die durch die Sinne vermittelten Eindrücke zunächst einmal an.
Seine erste aus diesen Überlegungen resultierende fundamentale Erkenntnis ist, dass wer zweifelt, auf jeden Fall denke, und dass wer denke, existieren müsse – das berühmte „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich). Ausgehend davon baut Descartes in jeweils möglichst kleinen Schritten und unter Einhaltung einfacher Regeln seine Gedankengebäude auf. Descartes ging dabei noch weit über die Philosophie der Renaissance und des Humanismus hinaus, die bereits in der Zeit von etwa 1400 bis 1600 begonnen hatte, sich vom Einfluss der kirchlichen Lehren immer mehr zu lösen. Die Theologie nämlich hatte zahlreiche Annahmen ungeprüft als gegeben vorausgesetzt und so die Entwicklung neuer Gedanken oft bereits im Ansatz verhindert.
Die (vermeintlichen) Sicherheiten des Glaubens mochte Descartes dennoch nicht ganz aufgeben. Doch ist seine Argumentation, etwa zu dem Problem, ob es einen Gott gebe, vergleichsweise schwach, und wirft die Frage auf, ob diese nicht vielleicht auch als Zugeständnis an die zu seiner Zeit sehr mächtigen Kirche zu sehen ist. So etwa schreibt er im vierten Abschnitt seiner „Methode“: „... Demnächst schloss ich aus meinem Zweifeln, dass mein Wesen nicht ganz vollkommen sei. Denn ich erkannte deutlich, dass das Erkennen eine größere Vollkommenheit als das Zweifeln enthält. Ich forschte deshalb, woher ich den Gedanken eines vollkommeneren Gegenstandes, als ich selbst war, empfangen habe, und erkannte, dass dieses von einer wirklich vollkommeneren Natur gekommen sein müsse.“
Wer sich heute mit Descartes Gedanken beschäftigt, wird feststellen, dass sie, vor allem mit dem Ringen um Einfachheit im Denken, nichts an Aktualität verloren haben. Insbesondere scheint seine eigentlich doch sehr einfache Methode, durch einen Prozess schrittweiser Ableitungen von einfachen Tatsachen ausgehend zu tieferen Einsichten zu gelangen, heute vielerorts gerne ignoriert zu werden oder schlicht unbekannt zu sein. Ganz im Gegenteil macht sich die Unart, Glaubenssätze zu predigen anstatt logisch zu argumentieren, zunehmen wieder auf der Welt breit, wie allein der Blick auf das Tagesgeschehen leicht offenbart.
Wer die Vorzüge klaren Denkens und Argumentierens schätzt, dem sei Descartes Abhandlung nur wärmstens empfohlen. Hier liegt sie in einer neu bearbeiteten Fassung vor, die, wie alle Werken der ofd edition, nicht automatisiert kopiert, sondern sorgfältig editiert und der aktuellen Rechtschreibung angepasst wurde. Die bessere Lesbarkeit und Gestaltung verhelfen so zu einem ungetrübten Lese- und auch Erkenntnisprozess.
Da diese Abhandlung zu lang ist, um sie mit einem Male durchzulesen, so kann man sie in sechs Abschnitte teilen. In dem ersten wird man dann mancherlei Betrachtungen in Bezug auf die Wissenschaften finden; im zweiten die Hauptregeln der von dem Verfasser gesuchten Methode; in dem dritten einige aus dieser Methode abgeleitete Regeln der Moral; in dem vierten die Gründe, aus denen er das Dasein Gottes und der menschlichen Seele beweist, welche die Grundlagen seiner Metaphysik bilden; in dem fünften eine Reihe von Erörterungen über naturwissenschaftliche Fragen, insbesondere die Erklärung des Herzschlags und einigen anderen schwierigen Gegenständen der Medizin; ferner den Unterschied zwischen den unsrigen und den Tierseelen, und im letzten einiges, was nach des Verfassers Ansicht nötig ist, um in der Erkenntnis der Natur weiter als bisher vorzuschreiten, sowie die Gründe, welche ihn zu schriftstellerischen Arbeiten bestimmt haben.
Der gesunde Verstand ist das, was in der Welt am besten verteilt ist; denn jedermann meint damit so gut versehen zu sein, dass selbst Personen, die in allen anderen Dingen schwer zu befriedigen sind, doch an Verstand nicht mehr haben, als sie sich zu wünschen pflegen. Da sich schwerlich alle Welt hierin täuscht, so erhellt dies, dass das Vermögen, richtig zu urteilen und die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden, worin eigentlich das besteht, was man gesunden Verstand nennt, von Natur bei allen Menschen gleich ist, und dass mithin die Verschiedenheit der Meinungen nicht davon kommt, dass der eine mehr Verstand als der andere hat, sondern dass wir mit unseren Gedanken verschiedene Wege verfolgen und nicht dieselben Dinge betrachten. Denn es kommt nicht bloß auf den gesunden Verstand, sondern wesentlich auch auf dessen gute Anwendung an. Die größten Geister sind der größten Laster so gut wie der größten Tugenden fähig, und auch die, welche nur langsam gehen, können doch weit vorwärts kommen, wenn sie den geraden Weg einhalten und nicht, wie andere, zwar laufen, aber sich davon entfernen.
Ich selbst habe nie meinen Geist im Allgemeinen für vollkommener als den anderer gehalten, aber oft habe ich mir die schnelle Auffassung oder die scharfe und bestimmte Vorstellungskraft oder das gleich umfassende und schnelle Gedächtnis Anderer gewünscht. Nach meiner Einsicht dienen diese Eigenschaften nur zur Vervollkommnung des Geistes; denn wenn auch die Vernunft oder der Verstand allein uns zu Menschen macht und von den Tieren unterscheidet, so möchte ich doch glauben, dass dieser in jedem ein Ganzes ist, und hierin den Philosophen beitreten, welche das Mehr oder Weniger nur bei den Akzidenzen annehmen, aber nicht bei den Formen oder Naturen der Einzelnen einer Gattung.
Aber ich scheue mich nicht zu sagen, dass ich viel Glück gehabt und seit meiner Jugend mich auf Wegen befunden habe, welche mich zu Betrachtungen und Regeln geleitet, aus denen ich eine Methode gebildet habe, die mir geeignet scheint, allmählich meine Kenntnisse zu vermehren und sie nach und nach auf den höchsten Punkt zu erheben, welchen die Mittelmäßigkeit meines Geistes und die kurze Dauer meines Lebens zu erreichen gestatten. Denn ich habe schon solche Früchte von ihr geerntet, obgleich ich nach dem, wie ich mich kenne, mehr zu Zweifeln als zu anmaßenden Behauptungen neige. Betrachte ich die verschiedenen Handlungen und Unternehmungen der Menschen mit dem Auge des Philosophen, so scheinen sie mir alle eitel und unnütz. Ich empfinde deshalb eine hohe Befriedigung über die Fortschritte, die ich bereits in der Erforschung der Wahrheit gemacht zu haben glaube, und hoffe so viel von der Zukunft, dass unter allen Beschäftigungen der Menschen, als solche, die von mir erwählte mir allein als wahrhaft gut und wertvoll erscheint.
Trotzdem kann ich mich irren, und es ist vielleicht nur Kupfer und Glas, was ich für Gold und Diamanten nehme. Ich weiß, wie leicht man sich in eigenen Angelegenheiten täuscht, und wie verdächtig selbst die günstigen Urteile der Freunde uns sein müssen. Aber ich werde mit Vergnügen in dieser Abhandlung die von mir vorgeschlagenen Wege schildern und mein Leben wie in einem Gemälde aufrollen, damit jeder selbst urteilen könne. Wenn mir von diesen Urteilen später etwas zu Ohren kommt, so soll es ein neues Mittel der Belehrung für mich werden, was ich zu den von mir geübten hinzufügen werde.
Meine Absicht ist also hier nicht, die Methode zu lehren, die jeder zur richtigen Leitung seines Verstandes zu befolgen habe, sondern ich will nur zeigen, wie ich den meinigen zu leiten gestrebt habe. Wer Lehren geben will, muss sich für klüger halten als die, an welche er sich richtet, und bei dem geringsten Versehen trifft ihn der Tadel. Ich biete daher diese Schrift nur als eine Erzählung oder, wenn man lieber will, als eine Fabel dar, wo neben nachahmenswerten Beispielen sich vielleicht auch manche finden, denen man mit Recht nicht folgen mag. So hoffe ich, dass sie manchem nützen und niemandem schaden werde, und dass alle mir für meine Offenheit Dank wissen werden.
Ich bin seit meiner Kindheit in den Wissenschaften unterrichtet worden, und da man mir versicherte, dass dadurch eine klare und sichere Kenntnis von allem zum Leben Nützlichen gewonnen werde, so entstand in mir das dringende Verlangen, sie zu erlernen. Sobald ich jedoch die Studien vollendet hatte, nach deren Abschluss man unter die Klasse der Gelehrten aufgenommen zu werden pflegt, änderte sich meine Ansicht gänzlich. Denn ich sah mich von so viel Zweifeln und Irrtümern bedrängt, dass ich von meinen Studien nur den einen Vorteil hatte, meine Unwissenheit mehr und mehr einzusehen. Und dennoch befand ich mich in einer der berühmtesten Schulen Europas, in welcher, wenn es irgendwo gelehrte Männer gab, dergleichen sein mussten. Ich hatte alles gelernt, was die Anderen daselbst lernten; ich hatte sogar mich nicht mit den Wissenschaften, die man uns lehrte, begnügt, sondern alle Bücher durchgelesen, die von den seltensten und wissenswürdigsten Dingen handelten und mir in die Hände fielen. Daneben kannte ich die Urteile anderer über mich, und ich wusste, dass man mich nicht unter meine Mitschüler stellte, obgleich manche darunter die Stelle unserer Lehrer auszufüllen bestimmt waren. Auch hielt ich dieses Jahrhundert für so frisch und fruchtbar an guten Köpfen als irgendein vorhergegangenes. So nahm ich mir die Freiheit, die Anderen nach mir zu beurteilen und an keine solche Lehre in der Welt zu glauben, wie man sie früher mich hatte hoffen lassen.
Ich verachtete jedoch deshalb die Arbeiten nicht, mit denen man in den Schulen sich beschäftigte. Ich erkannte, dass die hier gelehrten Sprachen zum Verständnis der alten Bücher nötig sind; dass die Zierlichkeit der Fabeln den Geist weckt; dass die merkwürdigen Taten in der Geschichte ihn erheben und, mit Einsicht gelesen, das Urteil bilden helfen. Das Lesen der guten Bücher gleicht einer Unterhaltung mit ihren Verfassern als den besten Männern vergangener Zeiten, und zwar einer auserlesenen Unterhaltung, in welcher sie uns nur ihre besten Gedanken offenbaren. Ebenso hat die Beredsamkeit ihre Macht und unvergleichliche Schönheit; die Dichtkunst hat ihre Feinheiten und entzückenden Genüsse; die Mathematiker zeigen ihre scharfsinnigen Erfindungen, welche ebenso wohl den Wissbegierigen befriedigen, wie den Künsten zustattenkommen und die menschliche Arbeit erleichtern. Ebenso enthalten die moralischen Schriften viele nützliche Belehrungen und Ermahnungen zur Tugend; die Gottesgelehrtheit lehrt den Himmel gewinnen; die Philosophie gewährt die Mittel, über alles zuverlässig zu sprechen und von den weniger Gelehrten sich bewundern zu lassen; die Rechtswissenschaft, die Medizin und die anderen Wissenschaften bringen ihren Jüngern Ehre und Reichtum; endlich ist es gut, wenn man sie alle geprüft hat, um ihren wahren Wert zu erkennen und sich vor Betrug zu schützen.
Indes meinte ich schon zu viel Zeit auf die Sprachen und selbst auf die alten Bücher, ihre Geschichten und Fabeln verwendet zu haben; denn die Unterhaltung mit Personen aus früheren Jahrhunderten ist wie das Reisen. Es ist gut, wenn man mit den Sitten verschiedener Völker bekannt wird, um über die unsrigen ein gesundes Urteil zu gewinnen und nicht zu glauben, dass alles, was gegen unsere Gebräuche läuft, lächerlich oder unvernünftig sei, wie dies leicht von dem geschieht, der nichts gesehen hat. Verwendet man aber zu viel Zeit auf das Reisen, so wird man zuletzt in seinem eigenen Vaterlande fremd, und bekümmert man sich zu sehr um das, was in vergangenen Jahrhunderten geschehen, so bleibt man meist sehr unwissend in dem, was in dem gegenwärtigen vorgeht. Außerdem lassen die Fabeln vieles für möglich halten, was es nicht ist, und selbst die zuverlässigsten Geschichtsschreiber verändern oder vergrößern die Bedeutung der Ereignisse, um sie lesenswerter zu machen, oder sie lassen wenigstens die geringen und weniger glänzenden Umstände beiseite, so dass der Überrest nicht mehr so bleibt, wie er ist. So geraten die, welche ihr Verhalten nach diesen Beispielen einrichten, leicht in die Tollheiten unserer Ritterromane und fassen Pläne, die ihre Kräfte übersteigen.
Ich schätzte die Beredsamkeit hoch und liebte die Dichtkunst; aber ich hielt beide mehr für Geschenke der Natur als für Früchte des Fleißes. Wer den besten Verstand hat und seine Gedanken am richtigsten ordnet und am klarsten und verständlichsten ausdrückt, wird seine Aussprüche am besten verteidigen, wenn es auch in schlechtem Dialekt geschieht, und er nie die Beredsamkeit gelernt hat. Ebenso sind die, welche die ansprechendsten Einfälle haben und sie am zierlichsten und gefühlvollsten schildern können, die besten Dichter, auch wenn die Dichtkunst ihnen unbekannt geblieben ist.
Ich erfreute mich vorzüglich an der Mathematik wegen der Gewissheit und Sicherheit ihrer Beweise; allein ich erkannte ihren Nutzen noch nicht. Ich meinte, sie diene nur den mechanischen Künsten, und wunderte mich, dass man auf ihren festen und dauerhaften Grundlagen nichts Höheres aufgebaut hatte. Umgekehrt erschienen mir die moralischen Schriften der alten Heiden wie prächtige und großartige, aber auf Sand und Schmutz erbaute Paläste. Sie erheben die Tugend hoch und lassen sie als das Wertvollste von allen Dingen der Welt erscheinen, aber sie lehren sie nicht genug erkennen, und oft ist es nur eine Unempfindlichkeit oder ein Stolz oder eine Verzweiflung oder ein Vatermord, was sie mit dem schönen Namen der Tugend belegen.
Ich verehrte unsere Gottesgelehrtheit und mochte gleich jedem Anderen den Himmel verdienen; als ich indes erkannte, dass der Weg dahin den Unwissenden ebenso offen steht wie den Gelehrten, und dass die geoffenbarten Wahrheiten, welche dahin führen, unsere Einsicht übersteigen, so wagte ich es nicht, sie meiner schwachen Vernunft zu unterbreiten; denn das Unternehmen ihrer Prüfung verlangt zu seinem Gelingen eines außerordentlichen Beistandes des Himmels und einer mehr als menschlichen Kraft.
Von der Philosophie kann ich nur sagen, dass, obgleich sie seit vielen Jahrhunderten von den ausgezeichnetsten Geistern gepflegt worden ist, dessen ungeachtet kein Satz darin unbestritten und folglich unzweifelhaft ist. Ich war nun nicht anmaßend genug, um zu hoffen, dass es mir besser wie den Anderen gelingen werde. Ich überlegte, wie vielerlei verschiedene Meinungen über einen Gegenstand von den Gelehrten verteidigt werden, während doch die wahre nur eine sein kann, und deshalb galt mir selbst das Wahrscheinliche für falsch.
Was aber die übrigen Wissenschaften anlangt, die ihre Grundsätze von der Philosophie entlehnen, so meinte ich, dass man auf so unsicheren Unterlagen nichts Dauerhaftes errichten könne, und weder die Ehre, noch den Gewinn, den sie versprachen, konnten in mir den Wunsch, sie zu lernen, erwecken; denn, Gott sei Dank nötigten meine Verhältnisse mich nicht, aus der Wissenschaft ein Gewerbe für meinen Unterhalt zu machen. Ich verachtete zwar nicht den Ruhm, wie ein Kyniker, aber ich machte mir wenig aus einem solchen, den ich nur mit Unrecht verdiente. Endlich kannte ich bereits den Wert falscher Lehren hinlänglich, so dass die Versprechen der Alchemisten und die Weissagungen der Astrologen und die Betrügereien der Zauberer und die Kunststücke und Lobpreisungen derer mich nicht täuschen konnten, die ein Geschäft daraus machen, mehr zu wissen, als sie wissen.
Ich gab deshalb, sobald mein Alter mich der Aufsicht meiner Lehrer enthob, das Studium der Wissenschaften gänzlich auf. Ich verlangte nur noch nach der Wissenschaft, die ich in mir selbst oder in dem großen Buche der Natur finden würde, und benutzte den Rest meiner Jugend, zu Reisen. Ich sah die Höfe und die Kriegsheere, verkehrte mit Leuten jeden Standes und Temperamentes, sammelte mancherlei Erfahrungen, erprobte mich in den Widerwärtigkeiten des Schicksals und betrachtete alle vorkommenden Dinge so, dass ich einen Nutzen daraus ziehen konnte. Es schien mir, dass ich viel mehr Wahrheit in den Betrachtungen finden konnte, die jeder über die Dinge anstellt, die ihn betreffen, und deren Ausgang ihm bald die Strafe für ein falsches Urteil bringt, als in denen, welche der Gelehrte in seinem Zimmer über nutzlose Spekulationen anstellt, die ihn höchstens umso eitler machen, je mehr er sich dabei von dem gesunden Verstande entfernen muss; denn umso mehr muss er Geist und Kunst aufwenden, um sie annehmbar zu machen. Ich hatte von jeher das eifrige Verlangen, den Unterschied des Wahren und Falschen zu erkennen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und im Leben mit Sicherheit vorzuschreiten.
Selbst bei der Betrachtung der Sitten Anderer fand ich nichts Zuverlässiges; ich sah hier beinahe dieselben Gegensätze wie früher in den Meinungen der Philosophen. Der wichtigste Vorteil, den ich daraus zog, war die Einsicht, dass selbst die ausschweifendsten und lächerlichsten Dinge bei großen Völkern allgemeine Annahme und Billigung finden können, und dass ich mich nicht zu sehr auf das verlassen dürfe, was mir selbst durch Beispiel und Gewohnheit beigebracht worden war.
So befreite ich mich nach und nach von vielen Irrtümern, die unser natürliches Licht verdunkeln und den Ausspruch der Vernunft uns weniger hören lassen; und nachdem ich so mehrere Jahre in dem Studium des Buches der Welt verbracht und einige Erfahrung zu sammeln versucht hatte, fasste ich eines Tages den Plan, auch mich selbst zu erforschen und alle meine Geisteskraft zur Auffindung des rechten Weges anzustrengen. Dies gelang mir auch, glaube ich, nunmehr viel besser, als wenn ich mich nie von meinem Vaterland und von meinen Büchern entfernt gehabt hätte.
Ich war damals in Deutschland, wohin die Kriege, welche noch heute nicht beendet sind, mich gelockt hatten. Als ich von der Kaiserkrönung zum Heere zurückkehrte, hielt mich der einbrechende Winter in einem Quartiere fest, wo ich keine Gesellschaft fand, die mich interessierte und wo glücklicherweise weder Sorgen noch Leidenschaften mich beunruhigten. So blieb ich den ganzen Tag in einem warmen Zimmer eingeschlossen und hatte volle Muße, mich in meine Gedanken zu vertiefen.
Einer der ersten dieser Gedanken ließ mich bemerken, dass die aus vielen Stücken zusammengesetzten und von der Hand verschiedener Meister gefertigten Werke oft nicht so vollkommen sind als die, welche nur Einer gefertigt hat. So sind die von einemeinem