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Thomas Kernert wurde 1956 in München geboren und studierte Philosophie und Geschichte.

Seit 1984 ist er freier Autor für Hörfunk und Printmedien. Er lebt in Puchheim bei München.

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1. Auflage

Originalausgabe

© 2016 Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Ralf Lay, Mönchengladbach

Umschlaggestaltung: Stephan Heering, Berlin

Umschlagmotiv: iStockphoto/alzee

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-17915-1
V002

www.riemann-verlag.de

Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser

Erste Blicke

1. Auf Frauenchiemsee

2. Mit Irmingard und Tassilo im Klosterladen

3. Im DEZ

4. Auf Mauritius

5. In Fröttmaning

6. In Ruhpolding

Essentials

1. Im Erdinger Moos

2. Bei Augsburg

3. In Weltenburg

4. Unter dem Pflaster

5. In Amberg

6. Auf der A 9, Kilometer 521

7. In Dorfen

8. In Bayrischzell

9. Im Trachten-Outletstore

Sozialverhalten

1. In Landshut

2. Bei den Wittelsbachern

3. In Münchham

4. Im Wilden Westen

5. In Lohberg

6. Bei den Abbas

7. Im Hofoldinger Forst

Privates

1. Auf der Eckbank

2. In der Badewanne

3. Im Schlafzimmer

4. Im Garten

5. Bei Buddha

Ästhetik, Humor und Verkehr

1. In Regensburg

2. In Königsberg

3. In Bamberg

4. Im Gesicht

5. In Lübeck

6. In einer stillen Seitenkapelle

7. In Passau

8. Am Rhein

9. An der Grenze

10. In Altötting

11. In Olching

12. In Oettingen

13. An der Eschenrieder Spange

Konflikte

1. Bei den Indianern

2. In Ascha

3. Am Boden

4. Im bairischen Hemdladen

5. Beim Franz

6. Bei Asterix

7. In Gröbenzell

8. In Gammelsdorf

9. Am Kreuz

10. In der Nähe von Bad Reichenhall

Erste Hilfe

1. Beim Bäcker

2. Beim Metzger

3. Im Norden

4. In Paris

5. In Friedberg

6. In Zorneding

7. Auf der Wies

8. Vor dem Spiegel

9. Hinter der Maske

Simulationen

1. In Panama

2. In Freiburg

3. Beim Baden

4. Auf der Liste

5. In Elmau

6. In Pisa

7. In China

8. In Gelsenkirchen

Einrahmungen

1. In Neuburg

2. In the Air

3. In Haidhausen

4. In Neuschwanstein

5. In Deggendorf

6. Im Münchner Kessel

7. In Klein-Venedig

8. In Langenzenn, Lichtenegg und Lichtenfels

9. Im Bild

10. Auf der Wiesn

11. Im Schottenhammel

Ehrenrunde

1. In Mariabrunn

2. Bei den Siegern

3. In Oberaudorf

4. Bei den Fröschen

5. In Nördlingen

6. Noch einmal in Mauritius

Liebe Leserin, lieber Leser,

um Sie gleich von Anfang an für dieses Buch zu begeistern, versichere ich Ihnen: Es handelt selbstverständlich nicht von dicken Lederhosen. »Dicke Lederhose«, das klingt nach RTL oder Bild.

Warum aber dann dieser Titel?

Weil dieses Buch selbstverständlich von dicken Lederhosen handelt! Der Grund ist ganz einfach: Niemand steht, geht und sitzt so rund und dick in seinen Lederhosen wie der Bayer.

Sie schließen daraus, dass dieses Buch ein Widerspruch sei?

Sie haben recht. Aber schminken Sie sich diesen Einwand schnellstmöglich ab. Wer mit Widersprüchen Schwierigkeiten hat, sollte sich sowohl von Bayern als auch von diesem Buch fernhalten.

Hinzu kommt ein epistemologischer Grund: Bayern besteht in erster Linie nicht aus Maßkrügen, Ansichtskarten und dummen Sprüchen, sondern aus Menschen. Ihnen gebührt Respekt. Nicht der vordergründige Respekt widerspruchsfreier »Armchair-Anthropology«, sondern der frische Kuhfladen im Gesicht, frei nach dem Motto Herbert Achternbuschs: »Solange etwas, das den Menschen betrifft, logisch bleibt, ist es oberflächlich!«

Puchheim, im Juni 2016

Erste Blicke

Erstes Kapitel, in dem der Rundheit Bayerns zunächst auf einer Insel, dann in einem Einkaufszentrum, dann in einem tropischen Nest und schließlich, nach einer kurzen Betrachtung heiliger Klangkörper, in einem Pornofilm gehuldigt wird.

1. Auf Frauenchiemsee

Zu den größten Irrtümern bezüglich Bayerns zählt die Annahme, dass Bayern ein Land sei. Sicherlich, man kann Bayern auf einer Landkarte mühelos lokalisieren, gefunden hat man damit jedoch nichts. Auch kann man sich in ein Verkehrsmittel setzen und durch Bayern fahren, gesehen hat man es trotzdem nicht. Man kann sogar aussteigen, sich in einem einschlägigen Trachtengeschäft einschlägig einkleiden, ins Hofbräuhaus pilgern, ein Almochsengulasch verspeisen, fünf Maß Bier hinterherschütten und irgendwann vom Stuhl kippen – gespürt hat man den Fußboden vom Hofbräuhaus, doch nicht Bayern.

Was aber ist Bayern dann? Ein Traum, ein Mythos, ein Irrtum, ein guter Witz, ein schlechter Scherz, eine clevere Idee, ein Versehen? »Nix Gwiss woaß ma ned«, lautet die bayerische Variante jener berühmten sokratischen Phrase, mit der der alte Grieche einst die prinzipielle Unmöglichkeit eines absoluten menschlichen Wissensbesitzes konstatierte, mit der er aber gleichermaßen das Nichtwissen auf paradoxe Weise relativierte. »Nix Gwiss woaß ma ned« bestreitet zwar endgültige Gewissheit, nicht aber das Recht auf spekulative Abenteuer. Schließlich weiß man in Bayern auch: »Zwoamoi schiaf is aa grod!«

Ganz in diesem die euklidische Geometrie sprengenden Sinn vertritt das vorliegende Buch die ziemlich steile These, dass Bayern ein eckiger Kreis sei. Das klingt dubios und ist es auch, weshalb wir zunächst einmal ganz entspannt zum Chiemsee fahren und mit einem Schiff der Chiemsee-Schifffahrt zur Fraueninsel übersetzen wollen. Frauenchiemsee gehört zur nicht ganz ungefährlichen Kategorie der sogenannten oberbayerischen Kleinode. Natürlich ist es Sommer und Ferienzeit und Samstag und herrlichstes Wetter, weshalb man vor lauter Menschenleibern weder den Chiemsee noch die Chiemgauer Berge oder das Schiff sehen kann, das den Besucher zur Fraueninsel übersetzt, die ebenfalls nicht sichtbar ist. Eingezwängt zwischen transpirierenden Bäuchen und Rücken wird man sodann mit sanfter Gewalt auf einem schmalen Weg unaufhörlich vorwärtsgeschoben, vorbei an Gartenzäunen, Bootshäusern, voll besetzten Biergärten, voll besetzten Wiesen, voll besetzten Bänken und voll besetzten Schiffsstegen.

Nach etwa einer halben Stunde beschleicht einen erstmals ein seltsames Gefühl, eine Art Déjà-vu-Effekt: Irgendwie glaubt man, Gartenzäune, Bootshäuser, voll besetzte Biergärten und ebensolche Wiesen schon einmal gesehen zu haben. Und auch den kleinen überlaufenen Töpferladen erkennt man wieder … Spätestens nachdem man zum dritten Mal die Außenfassaden eines klosterartigen Gebäudes passiert hat, beginnt man zu erahnen, dass man sich ganz offensichtlich im Kreis bewegt. Also hält man, eingezwängt zwischen fremden Bäuchen und Rücken, Ausschau nach einer Möglichkeit, diesem Circulus vitiosus zu entkommen und erst einmal zu pausieren. Allein die Bäuche und Rücken lassen einem keine Chance. Unaufhörlich nötigen sie einen weiter und weiter und weiter. Und auch die voll besetzten Biergärten, die voll besetzten Wiesen, die voll besetzten Bänke und die voll besetzten Stege reduzieren die Chancen, einen Abstellplatz für seinen eigenen, mittlerweile ebenfalls heftig transpirierenden Körper zu ergattern, auf null. Also geht man weiter und weiter und weiter.

Und weiter: Nach der zehnten Umrundung denkt man an ein Formel-1-Rennen, nach der elften an den Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«, nach der zwölften an Buddhas Lehre vom ewigen Kreislauf des Seins, aus dem auszubrechen nur dem Erleuchteten gelingt, nach der dreizehnten an nichts mehr. Und so findet man sich irgendwann auf dem Abfahrtssteg der Chiemsee-Schifffahrt wieder, wo man, eingekeilt zwischen schwitzenden Bäuchen und Rücken, zwei Stunden lang in absoluter Bewegungslosigkeit verharrt, bevor man schließlich in der Abenddämmerung auf einem unsichtbaren Schiff Frauenchiemsee wieder verlässt.

2. Mit Irmingard und Tassilo im Klosterladen

Zu Hause angekommen empfiehlt es sich unbedingt nachzulesen, woran man einen herrlichen Sommertag lang vorbeigelaufen ist: Da wäre zum Beispiel die Benediktinerinnenabtei Frauenwörth, ein Frauenkloster, dessen Geschichte bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht. Die selige Irmingard, Schutzpatronin des Chiemgaus, verbrachte dort ihr knapp 35 Jahre währendes gottgefälliges Erdendasein. Als Tote musste sie anschließend freilich gut 900 Jahre lang ohne Kopf in ihrem Marmorsarg liegen. Ein Bischof hatte ihn, den Kopf, im 11. Jahrhundert zur Verehrung ins nahe Kloster Seeon bringen lassen, von wo er erst im 20. Jahrhundert wieder zurückkehrte. Heute ruhen ihre vollständigen, DNA-geprüften Gebeine in einem edlen Glasschrein. Unter Wallfahrern besitzt die selige Irmingard Kultstatus.

Kultstatus besitzt auch Tassilo III., der Stifter von Frauenwörth und letzte Agilolfingerherzog. Er war einer der mächtigsten Bayernherzöge aller Zeiten. Seine zahlreichen Klostergründungen legen beredtes Zeugnis davon ab. Er war aber auch einer der bayerischsten Bayernherzöge aller Zeiten, ein Umstand, der sich vor allem darin äußerte, dass er an akuten Subordinationsschwierigkeiten litt. Lehensrechtlich an Karl den Großen gebunden verweigerte er sich diesem wiederholt und kochte lieber sein eigenes, bayerisches Süppchen. Dem großen Karl gefiel das gar nicht, und so kam es zum offenen Streit, an dessen Ende Tassilo seiner Herzogswürde verlustig ging und »gemöncht«, will heißen kahl rasiert, in ein Kloster gesteckt wurde. Klöster waren damals nicht nur heilige, sondern auch sichere Orte, sprich Staatsgefängnisse. Die selige Irmingard war übrigens eine Urenkelin Karls des Großen. So klein kann die Welt mitunter sein: Ein paar Hektar Land im Chiemsee genügen, um hautnah mit Bayerns Heiligkeit, Bayerns Kopflosigkeit, Bayerns Renitenz sowie Bayerns seltsamem Verhältnis zu anderen in Berührung zu kommen.

Wobei das Benediktinerinnenkloster nur knapp ein Drittel der Insel beansprucht und mitnichten die Hauptattraktion darstellt. Glaubt man den Bildern in diversen Reiseführern und einschlägigen Internetplattformen, so besteht der Rest – der selbstverständlich alles andere als ein »Rest« ist – aus einer atemberaubenden Mischung aus Dorfidylle und Gemütlichkeit. Natürlich nur, sofern keine Besucher anwesend sind, die, wenn sie denn da sind, prinzipiell in Heuschreckenformation über die Insel herfallen, weshalb es von jener Dorfidylle und jener Gemütlichkeit der Insel folgerichtig nur Fotos geben kann. Fotos, auf denen einsame Ufer zu blauen Blicken und einsame Wiesen zu grünen Träumen einladen. Fotos, deren bukolische Intensität fast schon wehtut. Fotos, die jeden zivilisierten Romantiker augenblicklich dazu zwingen, sich auf diese Insel zu wünschen, um dort im dottergelben Spätnachmittagslicht in einem der Biergärten zu sitzen und mit dem lieben Gott oder ersatzweise einem urigen Eingeborenen zu plaudern. Doch ist er dann dort, sind alle dort, und die Fotos – sind weg.

Was unweigerlich die Frage aufwirft, warum dennoch so viele Menschen die Fraueninsel besuchen? Ist es Naivität? Oder gar vorsätzliche Realitätsverweigerung? Kann man als durchtrainierter, mit allen Wassern der postmodernen Imagewerbung gewaschener Konsument ernsthaft noch an sentimentale Fotos glauben? Und schlimmer noch: Kann man als realitätsoffener, selbstkritischer Wochenendausflügler auch nur für einen Sekundenbruchteil den Gedanken hegen, an einem sonnigen Bilderbuchsamstag ein Ausflugsziel der nicht ganz ungefährlichen Kategorie »oberbayerisches Kleinod« in besinnlicher Einsamkeit anzutreffen? Oder aber geht es dem Gros der Besucher womöglich gar nicht um ein derartiges Unterfangen, sondern lediglich um den banalen Vollzug eines touristischen Rituals, das im geduldigen Abklappern von im Reiseführer aufgelisteten »Sehenswürdigkeiten« besteht? Herrenchiemsee, die andere große Inselattraktion im Chiemsee mit ihrem Märchenschloss, ihrem Schlosspark, ihrer Spiegelgalerie und ihrem »Tischlein deck dich«, liegt quasi »um die Ecke«. Da bietet sich ein Abstecher an. Digitalkameras sind immer hungrig. Warum nicht nach dem verrückten Märchenkönig noch ein bisschen Irmingard und Tassilo auf die Speicherkarte laden, eingerahmt von mittelalterlichem Trödel und einem gut sortierten Klosterladen, der neben Holzkreuzen, Bienenwachskerzen und Meditations-CDs (»Klänge des Labyrinths«) eine beeindruckende Kollektion an Kräuterlikören und Magenbittern führt? »Maßvoll genossen erfreuen sie das Herz und sind der Gesundheit zuträglich«, belehrt ein Schild an einem der Verkaufstresen.

Keine Frage, Romantiker, Wochenendausflügler und Touristen sind grundsätzlich zu allem fähig. Ausgerüstet mit den unterschiedlichsten Motiven suchen sie Glück, Unterhaltung oder Klosterlikör. Und finden sich, sofern sie Frauenchiemsee an einem sonnigen Feriensamstag die Ehre erweisen, doch nur Bauch an Rücken, Rücken an Bauch, mit anderen Romantikern, Wochenendausflüglern und Touristen in einer anonymen, heftig transpirierenden Menschenmasse wieder, welche langsam und geduldig, Schritt für Schritt, voll besetzte Biergärten, voll besetzte Wiesen und voll besetzte Bänke umkreist, immer und immer wieder. Wenn das nicht gaga ist!

Und das Erstaunlichste daran: Sie tun es ohne Murren, ohne Klagen, ohne Anzeichen von Protest. Friedlich, fast meditativ, umrunden sie das ovale Eiland zehnmal und öfter. Blickt man in ihre Gesichter, so entdeckt man nur höchst selten Groll oder Hader, ja noch nicht einmal die Schatten stiller Resignation. Im Gegenteil: Die meisten Gesichter präsentieren sich erstaunlich aufgeräumt, egal, ob sie aus Bayern, Brandenburg oder Asien stammen. Nicht nur der Schweiß glänzt in ihnen, sondern auch ein gewisses unterschwelliges Behagen. Gut möglich, dass sie subliminal ihr Kreisen genießen, dass ihr orbikulares Gehen sie gar in eine Art Trance versetzt, in der sie ebenso deutlich wie verschwommen etwas zu erahnen vermögen, was sich durchaus »bayerisch« anfühlt. Auch wenn dieses »Bayerische« weder im Gewand historischer Sehenswürdigkeiten noch als ländliche Pittoreske in Erscheinung tritt und auch auf keiner Landkarte lokalisiert und in keinem Text dezidiert nachgelesen werden kann, so ist es doch ganz offensichtlich fähig, Geist und Gemüt sowohl von Bayern als auch von Nichtbayern auf geheimnisvolle Weise zum Drehen zu bringen.

3. Im DEZ

Verlassen wir an dieser Stelle Frauenchiemsee und seine geheimnisvoll kreisenden Massen und beamen wir uns in den Norden der einstmals Freien Reichsstadt Regensburg, nach Weichs und ins dortige DEZ. Was immer das DEZ soziologisch und mentalitätsgeschichtlich ist, es ist mit hundertprozentiger Sicherheit kein »bayerisches Kleinod«, sondern genauso öde wie alle Einkaufszentren in Deutschland, Europa und weltweit. Eine gewisse Berühmtheit besitzt das DEZ, das Donau-Einkaufs-Zentrum, lediglich insofern, als es, 1967 gegründet, zu den Pionieren der Langeweile in Deutschland gehört. Auf einer Mietfläche von 82 000 Quadratmetern befinden sich 135 Handels- und Dienstleistungsunternehmen, die täglich von gut 30 000 Konsumenten besucht oder besser »frequentiert« werden. Mit Bayern hat das DEZ weniger noch als der Marmorkuchen mit Carrara zu tun.

Und natürlich ist auch das Konsumieren, ästhetisch betrachtet, keine spezifisch bayerische Tätigkeit. Konsumenten sehen weltweit alle ziemlich gleich aus: hektisch und eckig. Während die Konsumartikel einfach nur Dinge sind, die träge und selbstgefällig in ihren Regalen oder Vitrinen liegen, besteht die Rolle des Konsumenten darin, wie ein Clown kreuz und quer zwischen ebendiesen Regalen oder Vitrinen umherzuirren. Je länger und intensiver er dies tut, desto mehr verliert er seine natürliche menschliche Gestalt und wird – hektisch und eckig.

Sehr anschaulich lässt sich das Verhältnis zwischen Dingen und Konsumenten auch in den zahlreichen Schnellimbissen studieren, die in Einkaufszentren wie Schimmelpilze wachsen. Tote, träge Nahrungsmittel werden dort von hektischen Kiefern zu unförmigem Brei zermalmt und von ungeduldigen Kehlen gierig verschluckt. Fast scheint es, als würden sich die Konsumenten derart an den Fressalien für ihr deformierendes Herumirren rächen wollen. Vergeblich freilich, denn das Bild, das die Besitzer jener Kiefer und Kehlen bei ihrer vermeintlichen Vergeltungsaktion abgeben, ist – hektisch und eckig.

Dies fällt immer dann ganz besonders grausam auf, wenn sich, wie und warum auch immer, ein Nichtkonsument in einen DEZ-Schnellimbiss verirrt und dasitzt, als befände er sich nicht in einem hektischen, eckigen DEZ-Schnellimbiss, sondern in einem runden, sonnigen Biergarten, allein mit sich und seinem Weißbier. Keine Frage, so ein Typ kann nerven. Nicht nur, weil er stundenlang einen nicht für das stundenlange Verweilen vorgesehenen Schnellimbiss-Sitzplatz blockiert, sondern auch und vor allem, weil seine kantenlose Bierruhe beunruhigt. Letztere ist so extrem rund, dass sie alles um sich herum ganz besonders eckig und DEZ-artig aussehen lässt. Andererseits fasziniert er auch. Was macht diesen vor Seelenruhe strotzenden Kerl so unverschämt rund? Und wer ist er überhaupt?

Natürlich, er könnte ein Buddhist sein. Aber Buddhisten sitzen erstens nicht oder nur höchst selten vor Weißbiergläsern herum, und zweitens handelt dieses Buch von Bayern, weshalb die Vermutung naheliegt, dass es sich bei unserem vermeintlichen Buddhisten um einen Bayern handelt (einen »bayerischen Sokrates« vielleicht). Eine Kugel ist ein völlig gleichmäßig in sich ruhender Körper ohne Ecken und Kanten. Ein Weißbier trinkender Bayer (beziehungsweise »bayerischer Sokrates«) ist ebenfalls ein völlig gleichmäßig in sich ruhender Körper ohne Ecken und Kanten. Nicht, weil er bis zum Brechreiz mit Lebensmitteln angefüllt wäre und dadurch eine konzentrische Körperform angenommen hätte, sondern weil seine Körpersprache, seine Gesten rund sind. Letztere sind rund, weil ihr Mittelpunkt, die Seele, in einer stabilen Lage ruht und sich das Gehirn in einer Art Sleep-Modus befindet und somit keine Impulse für hektische oder eckige Bewegungen aussendet. Alles harmoniert mit allem, das Sitzfleisch mit der Sitzunterlage, die Hände mit dem Weißbierglas, das Weißbier mit den Geschmackspapillen. Der unförmige Gedanke, dass auch der Bayer existenziell zur instabilen Gattung der DEZ-Konsumenten gehören könnte (und dies faktisch auch tut), getrieben von stets neuen Bedürfnissen nach neuen Dingen, kann von einer Kugel vor einem Weißbierglas nicht gedacht werden, weshalb man darüber schweigen muss.

Schweigen, um auf einer anderen, höheren respektive tieferen Ebene weiterreden zu können. Selbstverständlich nicht über Konsumartikel oder das DEZ, sondern über Rundes. Zum Beispiel über … die Zeit. Für den Sokrates-Schüler Platon war die Zeit einst nur ein schwaches Abbild der Ewigkeit. Über ihre grundsätzliche Gestalt machte er keine genaueren Angaben. Für Christen, Marxisten und Kapitalisten hingegen besitzt die Zeit eine ziemlich eindeutige Gestalt: Sie ist eine Linie, eine ansteigende Linie. Am Anfang erschuf Gott die Welt, am Ende wird er sie richten. Am Anfang verdinglichte der Herr den Knecht, am Ende wird der Sozialismus die Menschheit von allen Klassen und Rassen befreien. Am Anfang sammelte der Mensch Beeren, am Ende wird er im Apple-Store digital rundum versorgt werden. Auch im DEZ ist die Zeit eine ansteigende Linie: Ein Sonderangebot jagt das nächste; und wer morgen noch mehr konsumieren will, muss heute schon ordentlich zugreifen.

Unseren runden, seelenruhigen Bayer scheint das nicht zu interessieren. Auf die Frage, was er als Nächstes zu tun beabsichtige, würde er ganz bestimmt keine Einkaufsliste präsentieren. Höchstwahrscheinlich würde er nur freundlich grinsen und uns sodann mit einem alten Beckenbauer-Klassiker beglücken: »Schaumamal!« – »Schaumamal« heißt sinngemäß übersetzt: Es kommt, wie es kommt; und wenn’s anders kommt, kommt’s auch! Der reine Nettoinformationsgehalt von »Schaumamal« deckt sich in etwa mit der Geste des Schulter- beziehungsweise Achselzuckens. Letztere ist eine ritualisierte Ausdrucksbewegung, die angeblich das »Abwerfen einer Last« imitiert. Welche Last wirft der runde Bayer ab? Die Last der linearen Zeit? Muss er die abwerfen? Fühlt er sie überhaupt?

Eine Linie scheint für ihn die Zeit eher nicht zu sein. Und auch kein Fluss, der gnadenlos fließt und jede verpasste Gelegenheit definitiv mit sich fortreißt, sondern eher ein Rad, das sich dreht. Auf Tag folgt Nacht, und auf Nacht folgt Tag; auf Sommer folgt Winter, und auf Winter folgt Sommer. Nach der Wiesn ist vor der Wiesn. Alles wiederholt sich und wird dabei größer und runder. Die Flusszeit führt zum Herzinfarkt, die Radzeit zur heiteren, leicht adipösen Gelassenheit.

Wer dick und gelassen ist, kann warten. Die Redewendung »Schaumamal« appelliert deshalb auch und vor allem an die Kunst des Wartens. So gesehen ist das Achselzucken des gelassen Wartenden keine Geste des Abwerfens, sondern eher eine Geste des Vertrauens in die Radzeit. Dass diese Geste in der heute alles beherrschenden Flusszeit, in der sich die Welt angeblich in fünfzehn Minuten irreversibel verändern kann, mitunter auf Missverständnisse stößt, überrascht nicht. Die Beschleunigung ist zum Tyrannen der postmodernen Existenz (und zum Lieblingsthema vieler Soziologen und Philosophen) geworden. Niemand kann noch mickrige vierzig Minuten auf eine Münchner S-Bahn warten, ohne gleich finstere Mordpläne zu schmieden. Niemand kann noch eine lächerliche Stunde lang in der Warteschleife einer Hotline hängen, ohne dabei einen Heulkrampf zu bekommen.

Der sokratische Radzeit-Bayer kann. Zumindest an guten, an Radzeit-Tagen … Er kann es, weil er das Warten über Jahrhunderte hinweg systematisch erlernt hat. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, heißt es. Das Sein, welches das bayerische Bewusstsein die längste Zeit über bestimmt hatte, war die Agrikultur. Seit den Tagen der Kelten und Römer formte der gezielte Anbau von Nutzpflanzen Leben, Denken und Fühlen der endemischen Bevölkerung. Und er tat dies auch dann noch, als die meisten Nachbarvölker bereits ihre ersten intensiven Erfahrungen mit der urbanen Massenzivilisation hinter sich gebracht hatten. Bayern war und blieb »Bauernland«, das Land der sanft wogenden Rapsfelder, der friedlich vor sich hin dampfenden Misthaufen, der Bauernquadratschädel und der vollbusigen Sennerinnen. Zwar nahm die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe auch hierzulande in den letzten 200 Jahren kontinuierlich ab, dennoch hatte das »soziale Gefüge der ländlich-dörflich-bäuerischen Welt«, so Max Spindler, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein Bestand. Böse Zungen behaupten gar, dass besagte »ländlich-dörflich-bäuerische Welt« bis heute in den Kandidatengesichtern auf den Landtagswahlplakaten von CSU und SPD Bestand habe.

Will heißen: Bis heute ist der repräsentative Bayer, zumindest physiognomisch, ein Bauer, ein Pflanzer. Was aber macht ein Pflanzer? Antwort: Ein Pflanzer pflanzt und wartet. Genauer gesagt: Er er-wartet. Sein Warten ist mitnichten ein sinn- beziehungsweise zweckloses Vor-sich-hin-Brüten, sondern eine sehr genau kalkulierte Tätigkeit. Es ist ein produktives Warten. Als in der Radzeit lebendes Wesen weiß der Pflanzer genau, dass sich alles wiederholt, dass auf den Tag die Nacht, auf den Winter der Sommer, auf die Saat die Ernte folgt. Ebendeshalb sät er, ebendeshalb erntet er.

Die Geste des erwartenden Wartens hat indes nicht allein die Gesichter, sondern mit ihnen den gesamten seelischen Apparat des Bayern affiziert. Allein ein so hingebungsvoll pflanzendes, erntendes und sich im Kreis drehendes Volk wie das bayerische konnte beispielsweise jenes imposante Gottvertrauen entwickeln, das im Freistaat bis heute wirksam ist. Um den rechten Glauben musste hier nie ernsthaft gerungen werden, weshalb die bayerische Frömmigkeit stets locker, lustig und allgegenwärtig blieb. Zwar erlitten auch hierzulande einst heilige Männer den Märtyrertod, doch nur, damit ihre Reliquien umso gnadenreichere Wunder vollbringen konnten. Zwar sagen sich auch hier seit einiger Zeit Frauen und Männer von der einzig rechtmäßigen Kirche los, doch nur, um von der gesparten Kirchensteuer den Jahresbeitrag für den einzig rechtmäßigen FC Bayern berappen zu können. Die über die Jahrhunderte gewachsene positive Grundhaltung Bayerns ist unerschütterlich rund.

Irgendwann meldet sich die lineare DEZ-Zeit dann doch wieder zurück: Flauschige Lautsprecherstimmen erinnern freundlich, aber bestimmt an die bevorstehende Ladenschließung und verabschieden sich von ihren »sehr verehrten« und »lieben« Kunden. Man blinzelt ins Grelle und schaut leicht fassungslos den sich leerenden Shoppingkorridor hinunter. Kann das sein? Eingeschlafen im DEZ! Der große Pflanzer und Radzeit-Sokrates ist selbstverständlich längst verschwunden. Also steht man hektisch und eckig auf und hastet Richtung Ausgang.

4. Auf Mauritius

Abwesenheit ist mitunter die beste Form der Anwesenheit. Erst abwesend von einem Ort kann man wirklich beurteilen, was einem ein Ort bedeutet. Erst abwesend lassen sich auch dessen versteckte Eigen- und Abarten erahnen. Heidegger würde sagen: Erst abwesend west der Ort an. Fritz aus Berlin würde sagen: Erst in Istanbul weiß man, wie gut der Döner bei Tadim am Kottbusser Tor schmeckt!

Weshalb wir an dieser Stelle nicht nach Frauenchiemsee zurückkehren, sondern in den Indischen Ozean, nach Mauritius fliegen wollen. Warum ausgerechnet nach Mauritius? Vor einiger Zeit veranstaltete die Wochenzeitung Die Zeit ein faszinierend schräges Gedankenspiel: Die Frage lautete: »Wie müssten die deutschen Bundesländer heißen, wenn sie den Namen eines Landes zu tragen hätten, das genauso hoch beziehungsweise moderat verschuldet ist wie sie?« Als Maßstab wurde die Pro-Kopf-Verschuldung veranschlagt. Brandenburg entpuppte sich als Slowenien, Sachsen als Jordanien, Bremen als Frankreich und Bayern – mit der bundesweit niedrigsten Pro-Kopf-Verschuldung – als Mauritius.

Doch nicht nur als schräger Schuldenimitator Bayerns taugt dieses idyllische Eiland im Indischen Ozean. Während das kantige Sachsen und das sandige Jordanien zwei ziemlich unterschiedliche Länder sind und einem zu Bremen so gut wie nichts einfällt, was die Heimat von »Kohl und Pinkel« mit dem lukullischen Frankreich verbinden könnte (am ehesten vielleicht noch die sogenannte Bremer Franzosenzeit Anfang des 19. Jahrhunderts, als Bremen acht Jahre lang unter französischer Besatzung stand), können Mauritius und Bayern zumindest eine weitere, sehr markante Gemeinsamkeit vorweisen: Beide besitzen einen hohen Klischeefaktor. Mit seinen Bacardi-Stränden, seinen Martini-Sonnenuntergängen und seinen roten und blauen Briefmarken erfüllt Mauritius zweifelsfrei alle erforderlichen Kriterien für einen erlesenen »Tropical-Island-Traum«. Mauritius steht für bunte Hochglanzexotik im luxuriösen All-inclusive-Ressort. Und Bayern? Den Mangel an Palmenhainen, Hibiskusgirlanden und klebrigen rumhaltigen Getränken gleicht Bayern mit deftiger Nadelwaldromantik sowie würziger Blasmusik aus. Bayerns »Schwarzer Einser« ist ähnlich alt wie die »Blaue Mauritius«. Und wenn Bayern seinen Stimmungsturbo hochfährt, dann blüht der metaphysische Alpenkitsch. Am Westufer des Starnberger Sees sitzend, stammelte der metaphysisch stark angetrunkene Berliner Alfred Kerr einst folgende Worte in sein Notizheft: »Bernried! Unvergessliches – im Schatten alter Bäume; dem Irren und Streben entrückt. Das alte kleine Schloß steht zwischen dem Wasser und ansteigend schweren Wiesen. Das Kirchlein auch. Allerhand Häusel sind hie und da verstreut, jedes mit Blumen, jedes einsam. Die Leut’ dort, denk ich mir, leben nicht wach, sondern in einer Art Halbtraum – so schön ist es! Friedvoll und düster zugleich. Vermählung von Herrlichkeit und Trauer. Von Glanz und Dahingleiten!«

Bayern und Mauritius, zwei weltberühmte Klischeefabrikate, knapp 9000 Kilometer voneinander entfernt: Für den Bayern ergibt sich daraus die interessante Möglichkeit, in der Fremde gewissermaßen zu Hause zu sein. Auch wenn diese Fremde weder jodelt noch Wadlstrümpfe trägt, präsentiert sie sich in ihrer Klischeehaftigkeit doch sehr bayerisch. Wodurch der Bayer am anderen Ende der Welt erlebt, wie herrlich die Welt sein kann, wenn sie genau so ist, wie man glaubt, dass sie sein müsse: Bacardi-Strände, Martini-Sonnenuntergänge, rote und blaue Briefmarken … So oder so ähnlich und doch ganz anders muss sich der Nichtbayer fühlen, wenn er an einem lauen Sommerabend entspannt durch Bernried flaniert oder die Fraueninsel umkreist.

Apropos »umkreisen«: Sowohl auf Mauritius als auch in Bayern kann man sich so richtig rund fühlen. Sowohl auf Mauritius als auch in Bayern ist es kein Problem, die lineare Zeit vorübergehend zu vergessen und sich ganz der schönen runden und behaglichen Urlaubs-Radzeit hinzugeben. Freilich ist sowohl in Mauritius als auch in Bayern die Zeit nur eine Koordinate im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum. Will sagen: Im Zweifelsfall kann die Zeit noch so rund daherkommen, fühlt sich der dazugehörige Raum wie das DEZ in Regensburg-Weichs an, so bleibt man als Alltagsbayer, vor allem aber als Brandenburger, Sachse oder Bremer, ein eckiger DEZ-Kunde. Andererseits: Gleicht er, der Raum, Frauenchiemsee, so fühlt man sich augenblicklich wie in Mauritius. Wie also muss der ideale Klischeeraum beschaffen sein?

Antwort: »Ganz einfach – so wie Mauritius und Frauenchiemsee.« Legen Sie dazu am besten die Umrisse von Mauritius und Frauenchiemsee einmal übereinander. Was stellen Sie fest? Abgesehen von ihrer Größe – Mauritius umfasst gut 2000 Quadratkilometer, Frauenchiemsee lediglich 15 Hektar – sind sie fast deckungsgleich. Bei beiden handelt es sich um relativ ovale, fast runde Gebilde mit einem etwas spitzeren Norden und einem etwas bauchigeren Süden. Beide sind von Wasser umgeben. Beide sind Juwelen. – Zufall?

Natürlich nicht. Die runde Zeit braucht den runden Raum. Nur in dieser Konstellation lässt sich etwas so Rundes wie Behagen generieren beziehungsweise konservieren. Behagen ist Zuflucht. Nur im Runden fühlen sich die Triebkräfte der Zurückgezogenheit wohl. Nur das Runde bietet jenen intrauterinen Schutz, den die Tiere in ihren vorzugsweise runden Behausungen oder Nestern empfinden. Das runde Nest, der runde Nestraum, verspricht Geborgenheit im Vertrauten, im Klischeehaften. »Das Nest-Haus ist niemals jung«, heißt es in der berühmten Poetik des Raumes des französischen Philosophen und Literaturtheoretikers Gaston Bachelard. »Man kehrt dahin zurück, man träumt davon zurückzukehren, wie der Vogel in sein Nest zurückkehrt.«

Kehren wir, an einem Traumstrand am Indischen Ozean liegend, wie ein Vogel nach Bayern zurück. Trotz seiner Landesfläche von gut 70 000 Quadratkilometern ist Bayern extrem kleinräumig. Bayern gilt innerhalb Deutschlands als Flächenstaat, tatsächlich jedoch ist es eine Art Nest, genauer gesagt: eine dichte Ansammlung von Nestern, jedes mehr oder minder kreisrund und mit einem Kirchturm in der Mitte. Selbst die Landeshauptstadt, bekanntermaßen eine der am schnellsten wachsenden Metropolen Europas mit dem Mietpreisniveau eines Juwelierhändlers an der Fifth Avenue, ist ein Nest und wird immer ein Nest bleiben. Man positioniere sich nur einmal an einem beliebigen Samstagvormittag in ihrem merkantilen Zentrum, auf dem Viktualienmarkt. Der Viktualienmarkt ist extrem teuer und wird von vielen Kaschmiranzugträgern und Innenstadtyuppies regelmäßig heimgesucht. Sein Angebot an exotischen Früchten und Gewürzen, die mit Bayern absolut nichts zu tun haben, ist beachtlich. Der Versuch, mit einem Marktbesucher ins Gespräch zu kommen, ist nur möglich, sofern man Japanisch, Chinesisch oder wenigstens Südstaatenamerikanisch beherrscht. Und trotzdem imitiert alles hier ziemlich überzeugend ein Nest: der runde Platz, die Häuser rundherum, die niedrigen Buden und Stände, die runden Marktweiber, der extrem burschikose Ton, mit dem besagte Marktweiber ihre Kunden verwöhnen, die unter alten Rosskastanien stehenden Biertische, an denen die Zeit zu vertrödeln so behaglich ist, dass man sitzen bleibt und sitzen bleibt und sitzen bleibt …

Und schon befindet man sich wieder an einem tropischen Bacardi-Strand, flach hingestreckt, liebkost von UV-Strahlen und angenehmen Gedanken, im Ohr die Geräusche der Meeresbrandung und den Sprechgesang gut gelaunter Strandhändler, die einem bunte Badetücher, Kokosnüsse und bunte Briefmarken feilbieten. Nestraum und Radzeit paaren sich in Herz und Seele, und heraus kommt ein behagliches Grunzen. Sie ist schon verdammt schön, die Welt, wenn sie so ist, wie sie sein soll. Und weil das Wunderbare meistens nicht allein kommt, hat man plötzlich auch noch eine Vision und begreift, warum in Frauenchiemsee die Massen klaglos im Kreise herumgehen und warum der »Schaumamal«-Bayer selbst im DEZ eine so gute Figur abgibt, warum nirgendwo anders die Kartoffeln größer sind und die Misthaufen und Klischees herrlicher dampfen. Der Grund ist ganz einfach: weil Bayern als Ganzes rund ist! Rund ist die bayerische Radzeit, rund ist der bayerische Nestraum, rund ist die bayerische Gottesfurcht, rund ist die bayerische Landwirtschaft, rund ist die bayerische Bierruhe, rund ist die bayerische Wampe, rund ist der bayerische Semmelknödel.

Semmelknödel? Gibt es auf Mauritius Semmelknödel? »Kaum irgendwo auf der Welt ist die Palette an indischen, kreolischen, chinesischen und französischen Menüs größer als hier«, versichert der einschlägige Reiseführer streberhaft. Die pommes d’amour, die Liebesäpfel, freilich sind keine Knödel, sondern stinknormale Tomaten; und auch die boulettes chinoises, kleine frittierte Teigkügelchen, besitzen wenig Überzeugungskraft. Zu Semmelknödeln verhalten sie sich in etwa so wie Tischtennisbälle zu Massivholzmöbeln. Ihre Rundheit besitzt kein Volumen, keine Potenz, keine Substanz. Die chinesische Bulette ist rund, weil es der Zufall so will. Der Semmelknödel hingegen ist rund, weil es seine Bestimmung a priori ist. Er ist, im Kant’schen Sinn, ein Produkt der reinen Geometrie, geboren aus dem reinen runden Raum und der reinen runden Zeit. Wer in einen Semmelknödel beißt, beißt in Bayern. Und wer zwei Wochen lang keine Möglichkeit dazu hat, bekommt irgendwann, selbst auf Mauritius, dem tropischen Alter Ego Bayerns – Heimweh! Jetzt heißt es warten, erwarten. Wem das Runde schlägt, der muss tapfer sein …

5. In Fröttmaning

Zu den großen weltberühmten Manifestationen des Runden gehört in Bayern neben dem Semmelknödel beziehungsweise seinen Derivaten – dem Kartoffel-, dem Leber-, dem Speck- und dem Zwetschgenknödel – noch ein weiteres Phänomen, das man sehr leicht übersieht, da es weder sichtbar noch schmeckbar und begeh- oder betastbar ist. In Mauritius jedoch fehlt es in weiten Teilen des Landes, weshalb es ähnlich wie der Semmelknödel, der keine boulette chinoise ist, virulent werden und Entzugserscheinungen auslösen kann. Die Rede ist vom Klang der Kirchenglocken. Der Freistaat ist kirchenglockenklangmäßig hervorragend aufgestellt und ausgerüstet. Von so gut wie jedem Punkt aus lassen sich zur Viertelstunde, zur halben Stunde, zur vollen Stunde, zur Messe am Morgen, zur Messe am Mittag, zur Messe am Abend, zum Angelusgebet, zur Maiandacht und zu den diversen Taufen und Beerdigungen Glocken vernehmen. Fast pausenlos weht ihr Klang über Wiesen und Wälder, durch Schluchten und Täler, unter Autobahnbrücken hindurch und in die Gehörgänge der verzweifelt um Schlaf Ringenden hinein. Und wenn an einem sonnigen, samtig weichen Herbstnachmittag der Anblick Bernrieds und Tausender anderer Dörfer zwischen Aschaffenburg und Berchtesgaden das Auge des Betrachters mit Tränen der Wonne füllt, so fehlt nur noch der sanft vibrierende, summende, sich kreisförmig ausbreitende, runde Klang einer entfernten Kirchturmglocke, und selbst marxistisch-leninistisch durchtrainierte Atheisten fallen andächtig auf die Knie und stammeln: »Heilig, heilig, heilig …« Wie viele mit glockenförmigen Klangkörpern bestückte Kirchen Bayern genau zählt, weiß allein der liebe Gott. Böse Zungen behaupten: eine pro Einwohner.

Auch Fröttmaning hat eine Kirche, was insofern bemerkenswert ist, als es Fröttmaning selbst eigentlich gar nicht mehr gibt. Das alte, im Jahr 815 erstmals urkundlich erwähnte Dörfchen (»… in loco Freddimaringa …«) existiert nur noch dem Namen nach. An seiner Stelle befinden sich heute ein Schuttberg, ein Klärwerk, ein riesiges Autobahnkreuz, ein gigantisches Parkhaus für rund 11 000 Pkws sowie ein noch gigantischeres Fußballstadion für den gigantischsten aller Fußballclubs, den FC Bayern München. Natürlich, auch die Münchner »Allianz Arena« ist rund, schrecklich rund sogar. Nicht umsonst wurde sie bereits zu einer der hässlichsten Wettkampfstätten der Welt gekürt. Mit ihrer Schwimmreifenästhetik beweist sie, dass auch in Bayern der schlechte Geschmack niemals in Seenot geraten, geschweige denn untergehen wird. Oberflächlich betrachtet könnte man sie für ein Nest halten, aber das ist sie mitnichten. Ihre Rundheit ist nicht beschützend, sondern totalitär. Sie erzeugt keinen behaglichen, sondern einen geschlossenen Raum, in dem sich eine brüllende Menge ganz auf sich und die 22 Männer auf dem Rasen konzentrieren und alles andere vergessen kann. Diese Rundheit gibt es in ähnlicher Form überall auf der Welt, in London, Madrid, Rio oder Tokio; und sie dient überall dem nämlichen Zweck: dem Zweck des Ausschlusses. Wo ein Fußballstadion steht, heißt die Losung: »Alles andere vergessen und nur noch an das eine Runde denken, das in eins der zwei Eckigen muss.«

Die bayerische Rundheit ist von entschieden anderer Art und Funktion. Weder Frauenchiemsee noch der Semmelknödel wollen ausschließen. Ihr Bestreben ist diametral entgegengesetzt: Sie wollen einladen, animieren, verführen, becircen. Wenn Bierzelte längst wegen Überfüllung geschlossen werden, empfängt Frauenchiemsee seine Gäste immer noch klaglos. Wenn die braune Bratensoße noch so verdächtig grün schimmert, versucht der Semmelknödel trotzdem, eine sexy Pose einzunehmen. Und auch wenn das DEZ seine Besucher in eckige hektische Monster verwandelt, genügt ein rundes »Schaumamal«, und alle 90-Grad-Winkel zerfallen zu Staub. Mit anderen Worten: Bayern ist eine Einladung an die Welt, sich positiv manipulieren zu lassen. Bayerns Rundheit will alle und jeden umarmen. Die flächendeckend effizienteste Art der akustischen Umarmung ist das bayerische Kirchenglockennetz.

Dass die Kirche von Fröttmaning noch steht, gleicht einem Wunder. Seit Fröttmaning zu München gehört, seit 1931, stand sie dem urbanen Fortschritt eigentlich immer nur im Weg. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als man die nördlichen Teile der Stadt mit viel Eifer von einer bewohnbaren Kulturlandschaft in eine unbewohnbare Wüstung umgestaltete, bereitete sie nichts als Probleme: Ihretwegen musste das Autobahnkreuz anders geplant werden, der Schuttberg musste anders gelegt und die Rettungsstraße für die Allianz Arena anders konstruiert werden. Das hat sie nun davon: Die Heilig-Kreuz-Kirche von Fröttmaning, die älteste Kirche Münchens, steht immer noch. Und um sie herum tobt das 21. Jahrhundert in voller Laut- und Lichtstärke: Keine 500 Meter vom Anstoßpunkt in der Allianz Arena entfernt wird sie mal in nuttiges Rot, mal in kränkliches Blau, mal in leichenblasses Weiß getaucht.

Dabei ist sie eigentlich eine ganz schlichte Seele, nichts Besonderes, architektonisch eher eine gedrungene Bäuerin und ganz bestimmt keine schicke Spielerbraut in High Heels. Sich zu profilieren liegt ihr völlig fern, auch wenn der sie umgebende Friedhof in jedem Heimatfilm eine Hauptrolle übernehmen könnte. Gottesdienste finden in ihr nur noch ganz selten statt, im Sommer einmal pro Monat. Dann allerdings ertönen ihre beiden neuen Glocken (die alten, aus dem 15. Jahrhundert stammenden wurden irgendwann geklaut), und wenn man Glück hat, keine Fußballfans grölen, der Verkehr auf der nahen Autobahn ausnahmsweise einmal nicht heult und der Wind richtig steht, so kann man sie, vor der Allianz Arena stehend, aus der Ferne hören.

Zwei Welten prallen dann frontal aufeinander: hier der introvertierte Koloss aus Beton, Stahl und Tetrafluorethylen, dort die wie Seifenblasen durch die Luft schwebenden, sanft verhallenden Glockenklänge; hier das trotz seiner geometrischen Rundheit eckige Monstrum, dort ein gehauchtes, sanftes, fast jenseitiges Lächeln, das den Raum nur für Sekunden erfüllt und gleichwohl akustisch zu entschleunigen vermag. Und schon entkrampft sich das Eckige – selbst in Fröttmaning, wo es so eckig ist, dass es schon wieder rund ist – und wird locker, leicht und auf eine ästhetisch ziemlich komplexe Weise fast schön. Ja, es ist ein Wunder, und es hat keinen Sinn, dieses Wunder zu leugnen: Bayerns Kirchenglocken können schartige, nachhaltig verwüstete Landschaften mit ein paar Schallwellen harmonisieren und rund machen, müssen folglich substanziell mindestens so rund wie Semmelknödel sein. Quod erat demonstrandum!

6. In Ruhpolding

Der Super-GAU ist erreicht, wenn plötzlich alles nur noch rund ist. Wenn man in einem ganz normalen Wirtshaus sitzt und nur noch kreisende Traumbilder, Trugbilder, Wahnbilder wahrnimmt: Bilder von fröhlichen, fetten Menschen, die in geselliger Runde zusammensitzen und sich kugelige Speisen einführen. Menschen mit voller, runder Gesichtsbildung, starker Nackenmuskulatur und barocken Bauchpartien, gekleidet in fesche Dirndl oder Miesbacher Trachtenanzüge. Menschen, die einander herzlichst zugetan sind, weil sie in einer vokalreichen, mit urigen Diphthongen und rollenden, runden »R«s angereicherten Sprache kommunizieren. Menschen, deren Denkstil feist, deren Problembewusstsein kantenlos und deren Humor ziemlich geräuschvoll ist.

Umrahmt werden diese Menschen von einer fast paradiesischen Flora und Fauna: Edelweiß, Enzian, Geranien, Kuckucksuhren, Flaschenöffner mit Hirschgeweihgriffen, König-Ludwig-Tassen. Ein dichter Ring von Benediktinerabteien, Schützen- und Fingerhaklervereinen sowie bissigen Dackeln sorgt für die Sicherheit, ohne die keine Nestwärme entstehen könnte. Lüftlmaler, Herrgottsschnitzer sowie sandalentragende Mundartdichter kämpfen im Schichtbetrieb für den Stillstand der Zeit. Großkarierte Tischdecken, runde Soßenflecken und die Dekolletés übergewichtiger Kellnerinnen unterstützen sie dabei. Und über allem thront, zur höheren Ehre Gottes und der bayerischen Tourismusindustrie, das mit locker-leichten Sahnewölkchen bestückte Blau des bayerischen Himmels.

Kurzum: Der Super-GAU ist erreicht, wenn man sich, wie und warum auch immer, nach Ruhpolding verirrt hat, in die Hölle des bayerischen Paradieses. Mindestens eine Million Menschen aus aller Welt tun dies Jahr für Jahr. Ruhpolding lebt zu 80 Prozent vom Tourismus. Zum Vergleich: In Venedig sind es lediglich 50 Prozent. Schuld an dieser Bayern gewordenen Katastrophe soll angeblich ein gewisser Josef Lumberger gewesen sein, der einem gewissen Carl Degener 1932 den arglosen, gleichwohl verhängnisvollen Rat gegeben hatte: »Wenn du mal einen schönen Urlaub machen willst, dann fahr nach Ruhpolding!« Josef Lumberger war damals der Wirt der Bahnhofswirtschaft von Landshut, Carl Degener ein Berliner Reisebüroinhaber, der sich darauf spezialisiert hatte, Preußen in großer Stückzahl von Berlin ins österreichische Golling und zurück zu transportieren. Da er bei seinen Reisen nach und von Golling stets in Landshut umsteigen musste, hatte er dort den Bahnhofswirt Josef Lumberger kennen- und schätzen gelernt. Als der böse Hitler 1933 Österreich seine Muskeln zeigen wollte, indem er den deutschen Österreichtourismus mit einer »Ausreisegebühr« von 1000 Mark pro Nase belastete, suchte Carl Degener, der seine 79-Mark-Wochenurlaube in Gefahr sah, nach einer deutschen, sprich bayerischen Lösung des Problems und erinnerte sich an – Josef Lumbergers Tipp.

Und so kam es schließlich zum Ernstfall: Am 22. Mai 1933, kurz vorm Zwölfuhrläuten, klingelte beim Goldschmiedemeister Kögel in Ruhpolding das Telefon. Am Apparat war Carl Degener, der sich erkundigte, ob das Dorf in der Lage sei, kurzfristig 500 Berliner aufzunehmen und sie mit Nahrung, Blasmusik und Schuhplattlerdarbietungen zu versorgen. Das Dorf kratzte sich kurz am Kopf und telegrafierte knapp zurück: »Ruhpolding einverstanden.« Seitdem geht es rund in Ruhpolding – und nicht nur dort, sondern auch überall anderswo, wo man leichtsinnigerweise die Herausforderung angenommen hat, sich 500 Berlinern (sowohl die Zahl »500« als auch das Nomen »Berliner« sind hier metaphorisch gemeint) in vermeintlich typisch bayerischer Rundheit zu präsentieren. Seitdem ist alles rundherum rund: die Maßkrüge, die Bierfilzl, der Klosterlikör, die Weißwürste, die Lederhosen, die Wiesn, die Volksmusik, die CSU, der Bayerische Rundfunk, die bayerische Schulpolitik, die bayerische Umweltpolitik, die bayerische Polizei, die bayerische Justiz, die bayerische Schweinefleischindustrie etc. pp. Aus Bayern wurde ein – Porno.

»Liebesgrüße aus der Lederhose« hieß der erste Bayernporno 1973. Und er war – wen wundert’s? – ein ebenso runder Erfolg wie Ruhpolding 1933. Das Rammeln im Heuschober oder in karierter Bettwäsche simulierte Nestwärme, die abgestandenen Witze Radzeit. Einer der letzten »großen« Lederhosenfilme erschien 1992 und hieß »Kokosnüsse und Bananen«. Er spielte nicht auf Mauritius. – Oder doch …?