Ralf Kramp
Drei geheimnisvolle Schlüssel
Ralf Kramp, geboren 1963, lebt in der Eifel. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane für Erwachsene, und mit »Wenn Goldfinger rauskommt« begann er eine Reihe von Geschichten für junge Krimileser unter dem Titel »Das schwarze Kleeblatt«.
»Das schwarze Kleeblatt«
1. Auflage 2005
2. Auflage 2008
3. Auflage 2013
© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Umschlagillustration: Ralf Kramp
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-937001-48-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-219-8
Für Felix und Moritz
Lauter oller Kram
Unerwarteter Besuch
Aufregung hinter dem Karussell
Ein Abschied
Und eine Reise
Onkel Friedbert
Alte Bekannte
Bücher, Bücher, Bücher
Die Liste
Erwischt
Hilfe aus der Ferne
Eine heiße Spur
Arlette bekommt Besuch
Endlich Essen
Das Buch
Viele, viele Fotos
Der dritte Schlüssel
An der Schoßpforte
Finale in der Erft
Und noch ein Abschied
Manchen passiert nie etwas, anderen dafür andauernd. Ich schätze, ich bin so ein Fall, der ständig von einer haarsträubenden Geschichte in die nächste hineinstolpert. Nicht, dass es mich stören würde, nein, nein. Bisher bin ich ja immer glimpflich davongekommen. Und Abenteuer reizen mich nun mal.
Viele sagen, dass bei uns in der Eifel so gut wie nie was passiert, dass es bei uns öde und langweilig ist. Das bringt mich jedes Mal auf die Palme, denn Tatsache ist nun mal, dass sich hier eine ganze Menge abspielt.
So zum Beispiel diese Geschichte im letzten Sommer. Jungejunge, wenn ich daran zurückdenke …
Es war der Tag, an dem »der Magenmilde« so gut gelaunt war, dass er unseren Unterricht kurzerhand ins Museum verlegt hatte.
Unser Museum in Bad Münstereifel beherbergt eine ganze Menge oller Sachen, die uns etwas über die Geschichte unseres Städtchens erzählen sollen.
»Der Magenmilde« ist unser Geschichtslehrer Dr. Hag, ein alter Berliner mit schlohweißem Haar. »Hag, genau wie der Kaffee, mit einem A«, sagt er immer, und wir nennen ihn, wenn er gut drauf ist, »der Magenmilde«, »der Reizarme« oder auch »der Koffeinfreie«.
Hag war also, wie gesagt, bester Dinge. Die Ferien standen bevor, und er hatte beschlossen, uns die letzten Schulstunden mit einem Ausflug ins Heimatmuseum zu versüßen.
Der alte Bau, in dem das Museum untergebracht war, war angeblich fast neunhundert Jahre alt, und dafür ist er eigentlich noch ziemlich gut in Schuss.
»Das ist bestimmt sehr interessant«, freute sich mein Freund Olli und knuffte Steffi mit dem Ellenbogen in die Seite.
Olli ist der Schlaumeier unserer Klasse. Hinter seinen dicken Brillengläsern zwinkern immer lustig die kleinen Äugelchen.
Steffi, die bereits das Urlaubsfieber gepackt hatte, nickte abwesend. Sie war damit beschäftigt, mindestens alle fünf Minuten auf die Uhr zu sehen. »Wir fahren nach Spanien«, schwärmte sie nun schon seit Wochen und ging Olli und mir damit mittlerweile gehörig auf den Keks. »Da scheint den ganzen Tag die Sonne.«
Olli kratzte sich an seinem rötlichen Bürstenkopf und grinste schief. »Da würde ich ja doch nur im Schatten rumliegen. Das wäre nix für mich. Ich fahre für ein paar Tage zu meinem Onkel in die Vulkaneifel.«
»Super spannend«, sagte ich ironisch.
»Ich kann ja auch nix dafür. Meine Eltern sind für eine halbe Woche verreist, meine Brüder sind mit Freunden nach Holland, und zu Hause wollen sie mich natürlich nicht allein lassen.«
»Warum nehmen sie dich denn nicht mit?«, fragte Steffi und guckte schon wieder auf die Uhr.
»Oh nein, ohne mich. Ich will nicht. Sie besuchen meine Oma in Norddeutschland, und die küsst mich immer so ab und hat nur ein winziges Gästezimmer. Dann schon lieber ein paar Tage bei Onkel Friedbert.«
Ich trat betrübt in das Museum hinein. Wirklich klasse. Alle verreisten, nur ich konnte wieder zu Hause hocken. Seit dem Kauf unseres Hauses in Buchscheid vor einem Jahr sparten meine Eltern an allen Ecken und Enden. Und deshalb musste dieses Jahr leider auch der Urlaub dran glauben.
Für nächstes Jahr hatte Paps uns einen »Wahnsinnsurlaub« versprochen. »Mindestens dreimal um die Welt.«
Mom hatte sich dabei grinsend an die Stirn getippt. Wahrscheinlich würde es wieder nur Belgien werden, aber immerhin.
Sechsundzwanzig Schüler drängelten sich durch den kleinen Eingangsraum des Museums, und der Museumsleiter, ein großer, dicker Mann mit Stoppelfrisur, ließ aufmerksam den Blick über unsere Köpfe schweifen. Er schien jemand zu sein, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte.
Er hätte sich besser auf die konzentriert, die vorneweg gelaufen waren, noch bevor der »Magenmilde« seine übliche »Ich möchte euch bitten, nichts anzufassen«-Predigt vom Stapel gelassen hatte.
Unter dieser lärmenden Vorhut, die bereits die Ausstellungsräume geentert hatten, war nämlich ausgerechnet Lollo, die großmäuligste Tussi, der ich je begegnet bin. Und die wiederum war die kleine Schwester von Steve, dem durchgeknallten Motorradfreak, der uns in unserem Dorf Buchscheid seit Jahr und Tag mit seiner Gang piesackte, wo er nur konnte. Ein echtes Spatzenhirn! Und seine jüngere Schwester stand ihm in nichts nach. Pink gefärbte Haare, schreckliche Klamotten – Lollo war der Totalausfall in unserer Klasse. Sie hätte auf der Landkarte Deutschland nicht mal zeigen können, wenn man ihr den Finger drauf festgeklebt hätte, und in Mathe reichte ihr Grundwissen gerade mal bis zum Einmaleins mit fünf. Dafür hatte sie allerdings eine reichlich große Klappe, und wenn irgendwo was schief ging, konnte man ziemlich sicher sein, dass Lollo ihre schwarz lackierten Finger mit im Spiel hatte.
Deshalb beschlich mich schon so eine leise Ahnung, als sie in den Museumsräumen verschwunden war, bevor der »Reizarme« nachkommen konnte.
»Langsam Kinder, langsam«, rief Hag und wedelte mit dem Arm.
»Was ist dein Onkel Friedbert denn für ein Mensch?«, fragte ich Olli. »Mann, Steffi, guck nicht dauernd auf die Uhr.«
»Nur noch sieben Stunden, Tim«, sagte sie grinsend.
»Onkel Friedbert ist ganz nett«, sagte Olli und wischte sich die Brille. Der große Pulk war mittlerweile im Inneren des Museums angelangt, und wir konnten nachrücken. »Er hat unglaublich viele Bücher.«
»Wird ja immer spannender.« Ich gähnte herzhaft, und gleichzeitig tat mir Olli leid, der bestimmt nicht in großen Jubel ausgebrochen war, als er sein Reiseziel erfahren hatte.
Der Museumsleiter, Herr Bongart, begann jetzt mit seiner Führung.
In diesem Moment blitzte etwas, und ich zuckte zusammen. Links neben mir hatte Marcel Keutgen begonnen, Fotos zu machen. Marcel war Mitarbeiter der Schülerzeitung und hatte sich fest vorgenommen, später einmal ein großer Journalist zu werden.
Wo war Lollo? Sie verhielt sich erstaunlich still. Normalerweise dauerte es bei solchen Ausflügen höchstens fünf Minuten, bevor eine Katastrophe losbrach und Hag sie vor die Tür setzte.
Aber der Vortrag des Museumsleiters wurde unerwarteterweise nicht gestört. Wir erfuhren viel über die römische Wasserleitung, die einst von Trier bis Köln gereicht hatte, und über die Geschichte der Stadt Bad Münstereifel, über ihre Klöster und ihre Grafen. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich für diese alten Geschichten sehr interessiere, aber ich hörte aufmerksam zu. Wer konnte schon wissen, ob der »Magenmilde« uns nicht nach den Ferien abfragen würde.
Immer wieder blitzte es kurz auf, wenn Marcel ein Foto machte, und rechts neben mir reckte Steffi fortwährend den Arm nach oben, um das Zifferblatt ihrer Uhr zu erkennen.
Olli hatte die Augen hinter seinen fingerdicken Brillengläsern weit aufgerissen und klebte förmlich an Herrn Bongarts Lippen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Olli sich so sehr für Geschichte interessierte. Je länger ich ihn kannte, umso erstaunter war ich, was alles an Wissen in seinen kugelrunden, rothaarigen Kopf hineinpasste. Der Mensch nutzt nur zwanzig Prozent seines Gehirns, so hatte ich gelernt. Bei Olli war ich mir sicher, dass er sich irgendwann einen zusätzlichen Wissensspeicher hinter die Ohren nähen lassen würde.
Wäre das ein Rundgang durch die »Enterprise«, dann wäre ich selbst mit Sicherheit noch aufmerksamer gewesen. So aber erfreute ich mich nur von Etage zu Etage an den wunderbaren alten Sachen, an den fetten Holztruhen und an den klotzigen Kanonenkugeln, an den Vitrinen, in denen die Metallgegenstände und die Mineralien lagen, und der Vortrag rauschte an meinen Ohren vorbei.
Irgendwann gelangten wir dann wieder ins Erdgeschoss, und ich beobachtete aus den Augenwinkeln heraus, dass im Vorraum bereits andere Besucher standen. Zwei Männer in schwarzen Anzügen, die angesichts der großen Schülergruppe kurzerhand auf dem Absatz kehrt machten und wieder hinausgingen.
Da wurde es plötzlich still um mich herum, und ich sah die Augen aller Mitschüler auf mich gerichtet.
»Und?«, fragte Hag lächelnd. »Was meinst du, Tim?«
Erwischt. Man kann träumen soviel man will, selbst tagsüber, mit offenen Augen, selbst mitten im Schulunterricht. Man darf nur eins nicht: sich erwischen lassen.
»Hast du nicht zugehört?«, fragte Hag, und das Lächeln wich aus seinem Gesicht. »Soll das heißen, dieser wunderbare Vortrag ist ganz und gar an dir vorübergegangen?« Immer wenn er sauer wurde, hörte man deutlich heraus, dass er aus Berlin kam.
»Ich … äh …« Hilfe suchend sah ich zu Steffi hinüber, die in diesem Moment allerdings nur die Armbanduhr an ihr Ohr hob, um zu lauschen, ob sie nicht vielleicht stehen geblieben war.
»Wasserleitung«, zischte Olli links neben mir.
Toll. Was sollte ich denn mit diesem Hinweis anfangen?
»Wasserleitung … äh … ja, Wasserleitung«, stammelte ich, und Hag guckte jetzt sehr verwirrt.
Gerade als er den Mund öffnen wollte, um mir eine weitere, verheerende Frage zu stellen, auf die ich ebenso wenig eine vernünftige Antwort haben würde, geschah das, was ich schon die ganze Zeit erwartet hatte.
Wir alle hörten einen Schrei.
Er kam von oben und klang eindeutig nach Lollo. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Poltern, das klang, als purzele etwas die Treppe hinunter, dann kam aus der Tür vom ersten Stock eine dicke eiserne Kanonenkugel gerollt, hinterher eine Schaufensterpuppe in einer Schützenuniform, die Arme und Kopf verlor, verschiedene Fahnenstangen samt Fahnen, die zu Boden polterten und schepperten, dann eine Armbrust, ein Schemel und zwei Bilderrahmen, deren Glas zersplitterte, und schließlich Lollo mit den bunten Haaren, die inmitten der Trümmer auf dem Hosenboden landete, uns mit großen Augen anstarrte und schließlich blaffte: »Was glotzt ihr so blöd?« Und dann kam ihr Standardsatz: »Ich war das nicht!«
Hag brauchte einen Moment, um sich vom »Magenmilden« in die »Koffeinbombe« zu verwandeln. Aber dann legte er richtig los. Er schrie etwas von »Undankbarkeit«, womit er zweifellos uns alle meinte, weil wir anscheinend seinen Ausflug nicht zu schätzen wussten, und von »unglaublicher Blödheit, womit eigentlich nur die dämliche Lollo gemeint sein konnte, die lässig ihren Kaugummi kaute und sich aus den Trümmern der Ausstellungsstücke erhob.
Mit nicht enden wollendem Gezeter entließ uns Hag schließlich aus dem Gebäude und auch gleichzeitig in die Ferien, und zum ersten Mal war ich Lollo fast ein wenig dankbar, weil sie ja schließlich meinen Hals gerettet hatte. Aber das würde ich dieser dummen Kuh natürlich nie sagen.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel, als ich mich am Nachmittag auf das Rad schwang, um in unser Nachbardorf Pitscheid zu fahren. Dort wohnte Olli zusammen mit seinen älteren Brüdern, den Zwillingen Robbi und Nobbi, und den Eltern auf einem Bauernhof. Und dort war auch auf einem alten Scheunenboden über der Garage unser Hauptquartier untergebracht. Das Hauptquartier des »schwarzen Kleeblatts«, wie wir uns stolz nannten.
Mein Hund Fiete, ein riesiges Vieh, zusammengewürfelt aus allerlei Rassen, kennt viele Wörter. Sein Lieblingswort ist »Fressen«. Ganz egal, wie leise man es auch ausspricht, ob man es flüstert oder zischelt, Fiete hört es sofort und führt auf der Stelle einen wilden Tanz auf, bei dem er manchmal die halbe Wohnung demoliert.
Bei »Wurst« oder »Schinken« oder »Kaninchen« geht es ähnlich. Und auch bei »Spazieren« rastet er völlig aus. Dann wirbeln die Haare durch die Luft, dann spritzen die Sabbertropfen durch die Gegend und Stühle kippen um. Seither buchstabieren wir zu Hause solche Wörter nur noch.
»Ich fahre mal kurz S - P - A - Z - I - R - E - N«, rief ich Mom zu, die gerade die Windel meiner kleinen Schwester wechselte.
»Falsch!«, kam ihre Stimme zurück. »Mit I - E!«
»Was?«
»Spazieren schreibt man mit I - E!«
Zack! Eins der Zauberwörter war gefallen, augenblicklich kam Fiete in den Hausflur geschossen, schnappte mit einem »Happs« die Hundeleine vom Garderobenständer und tanzte wie ein Derwisch im Kreis.
Ich musste unwillkürlich lachen und vergrub meine Hände in seinem dichten, grauen Fell. »Schon gut, alter Verbrecher, schon gut. Ich hätte dich ja sowieso mitgenommen!«
Also machten wir uns beide auf den Weg nach Pitscheid, um Olli zu besuchen, der am nächsten Tag zu seinem Onkel verreisen würde.
Von Steffi hatte ich mich noch an der Bushaltestelle gebührend verabschiedet, nachdem wir vom Museum in Bad Münstereifel zurückgekommen waren.
Ein wenig ärgerte es mich, dass sie so gar kein bisschen traurig zu sein schien, dass wir uns nun für zwei Wochen nicht sehen würden.
»Meine Haut braucht endlich Sonne«, hatte sie gesagt und wieder auf die Uhr geguckt. Und Olli und ich hatten uns an die Stirn getippt.
Als ich nun Pitscheid und den Hof der Familie Ohlert erreicht hatte, trabte Fiete bereits die Holztreppe zum Hauptquartier hoch, während ich mein Rad abstellte.
Olli erwartete mich bereits.
Er schraubte gerade an irgendeinem Gerät herum. Das macht er eigentlich immer. Egal, ob es kaputt ist oder nicht. Olli will eben gerne wissen, wie die Dinge von innen aussehen.
Das, was er jetzt vor sich hatte, sah nach einer Mikrowelle aus.
»Prima«, sagte ich beim Eintreten. »Die fehlt uns noch.«
Der Raum war voll von Gerätschaften aller Art. Computer, Funkgeräte, Fernseher … All dies waren Dinge, die zuvor Ollis älteren Brüdern gehört hatten und die jetzt uns zur Verfügung standen.
Ich holte mir eine Limo aus dem Kühlschrank. »Dein Onkel«, sagte ich und warf mich auf das ausrangierte alte Sofa. »Der hat viele Bücher. Willst du denn die ganze Zeit nur lesen? Wird dir das denn nicht langweilig?«
Olli zuckte mit den Schultern. »Onkel Friedbert ist nett, aber glaub bloß nicht, dass ich nicht viel lieber mit Steffi und dir hier bei uns was unternommen hätte.«
Er schraubte die Rückwand wieder an das Gerät. Dann steckte er den Stecker ein und schaltete das Ding an.
Zu Fiete gewandt, der mit lang heraushängender Zunge den leise vor sich hin rauschenden Apparat betrachtete, sagte Olli: »Darin machen wir dir im Winter dein Dosenfutter warm.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür.
Wir hatten beide erwartet, dass Ollis Mutter im Türrahmen erschien, die uns häufig was zum Knabbern brachte oder selbst gebackenen Kuchen.
Es hätte auch einer von Ollis Brüdern sein können, oder der olle Jakob Birkenbusch, Steffis Onkel, den wir zum Ehrenmitglied unserer Detektivtruppe ernannt hatten, weil er ein alter Polizeihauptkommissar war.
Alle diese Personen hätten es sein können, und doch war es jemand anderes.
Jemand, mit dem wir nun wirklich nicht gerechnet hatten.