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Das Buch

»Mehr als das Blei in den Kugeln hat das Blei in den Setzkästen die Welt verändert«, schrieb Georg Christoph Lichtenberg mit Blick auf Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks. Aber der Mainzer Pionier war nicht nur ein genialer Erfinder, sondern auch ein geschäftstüchtiger Medienunternehmer, der um die Bedeutung seiner Erfindung wusste und sie gewinnbringend zu vermarkten verstand. Henchen Gensfleisch, genannt Gutenberg, besticht als ein Mann von eindrucksvoller Modernität.

Wer war dieser Johannes Gutenberg? Handwerker, Gelehrter, Humanist, standesbewusster Bonvivant oder alles zugleich? Seine Lebensgeschichte spiegelt die revolutionäre Umbruchzeit des 15. Jahrhunderts wider und war zugleich Bestandteil und Motor der fundamentalen Umwälzungen dieser Epoche. Glänzend gelingt es dem erfahrenen Biographen Klaus-Rüdiger Mai, Gutenberg und seine Zeit lebendig werden zu lassen und die überraschende Aktualität dieser Jahrtausendfigur sichtbar zu machen.

Der Autor

Klaus-Rüdiger Mai, geboren 1963 in Staßfurt, promovierter Germanist, ist Autor von historischen Sachbüchern und Biographien. Bei Propyläen erschienen von ihm die hochgelobte Familienbiographie »Die Bachs« (2013) und eine Dürer-Biographie (2015).

Klaus-Rüdiger
Mai

Gutenberg

Der Mann,
der die Welt
veränderte

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Propyläen

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ISBN: 978-3-8437-1457-0

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Lektorat: David Bruder
Umschlag und Innengestaltung: Manja Hellpap

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

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Die Brüchigkeit
der Welt

Bild und Urbild

Ein Jahrhundert vor Gutenbergs Geburt kehrte der Venezianer Marco Polo von einer Reise zurück, die zwanzig Jahre seines Lebens eingenommen und die ihn bis nach China geführt hatte. Obwohl sein Reisebericht Furore machte, war er bei weitem nicht der erste Europäer, der Asien erkundete und somit den Horizont des Okzidents erweiterte. Bereits der Franziskaner Wilhelm von Rubruk hatte Mitte des 13. Jahrhunderts im Auftrag des französischen Königs Ludwig des Heiligen eine Gesandtschaft zum Großkhan Mangu von Karakorum, einem Enkel von Dschingis Khan, unternommen und den Christen den Blick tief nach Asien hinein geöffnet. So unterschiedlich diese Welten, China, Persien, Arabien und Europa, auch sein mochten, einte sie doch eine mittelalterliche Ordnung, in der die Vorstellung und das Konzept des Individuums fremd waren und Wissen nur wenigen zugänglich. Die Gelehrten standen in der Regel, wenn sie nicht an einer Universität lehrten oder innerhalb eines Ordens tätig waren, im Dienst eines geistlichen oder weltlichen Herrschers innerhalb einer festgefügten Hierarchie, in der die Menschen gleichsam wie die Planeten im System des alexandrinischen Astronomen Claudius Ptolemäus auf Kristallschalen um ihre Fürsten kreisten. Autoren im modernen Sinne existierten nicht, denn jeder Verfasser deutete nur das Werk eines weit Höheren aus – Gottes, Allahs oder eines Himmelsgottes, der die wahre auctoritas besaß. Allenthalben erläuterte und kommentierte man in Europa noch »den Philosophen«, womit Aristoteles gemeint war, und in China Konfuzius. Es existierte auch kein Urheberrecht – denn wer durfte es wagen, dem großen Urheber, Gott, das Copyright an allem, was auf der Welt existierte, streitig zu machen? Bücher wurden mit viel Fleiß und wachsender Kunstfertigkeit abgeschrieben. Nicht nur ihr Besitz, sondern auch ihre Benutzung stellten einen Luxus dar. Insofern lebte man vom Tejo bis zum Jangtsekiang in einer facettenreichen und vielgestaltigen, letztendlich aber in einer Welt, die allerdings aus vielen Teilen bestand. Das Auseinanderbrechen dieser universalen mittelalterlichen Welt erfolgte selbstverständlich nicht ad hoc, sondern war Ergebnis einer längeren Entwicklung, die man mit der Geschichte der Renaissance und des Humanismus zu umschreiben vermag. Aber wünscht man die Wandlung dieser Welt mit einem Datum und einem Ereignis zu markieren, dann drängen sich die Jahreszahlen 1450 und 1452 in den Vordergrund, gekennzeichnet durch die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern1 und die Drucklegung der 42-zeiligen Bibel durch Johannes Gutenberg in Mainz. Im Grunde wurde mit der drucktechnischen Vervielfältigung der Bibel, dem Gründungsdokument des Okzidents, der Text der Heiligen Schrift dem preisgegeben, was später als Industrie bezeichnet werden sollte. Die technischen Neuerungen schufen wichtige Voraussetzungen für die Durchdringung des Textes mit Hilfe einer historisch-kritischen Methode und bereiteten schließlich den Boden für die Vereinbarkeit von christlichem Glauben und dem Leben in einem laizistisch-demokratischen Staat. Der Anteil des aufgeklärten Christentums an der modernen Entwicklung Europas wird häufig aus ideologischen Gründen unterschätzt, doch entwickelten sich ab der Erfindung des Buchdrucks Okzident und Orient unterschiedlich, beginnt mit ihm der wissenschaftlich-technische, der philosophische und zivilisatorische Aufstieg Europas, dem die übrige Welt nicht folgte. Mit der Vervielfältigung von Wissen im Okzident entstand zugleich die Vielfalt des Wissens selbst, weil immer größere Kreise in den wissenschaftlichen und intellektuellen Bereich einbezogen wurden und sich dadurch wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen, einhergehend mit der geistig-künstlerischen Entwicklung, exponentiell vermehrten. Sicher erreichte auch das handschriftliche Kopieren von Büchern in geistlichen Skriptorien und weltlichen Schreibstuben eine Professionalität und Effizienz, die zu einem beachtlichen Ausstoß an Büchern führte. Aber erst durch die Mechanisierung und arbeitsteilige Organisation des Vervielfältigungsvorgangs selbst wurde der Zugang zu Texten alltäglicher und dadurch im Umkehrschluss auch die Produktion von Texten, das Verfassen schriftlicher Mitteilungen zu einer selbstverständlichen Tätigkeit unter anderen: Zum einen stieg die Zahl an Universitätsgründungen, zum anderen studierten immer mehr Menschen, für die schriftliche Kommunikation alltäglich wurde. Nun wurden auch Dinge aufgeschrieben, die alle Bereiche des Lebens, vom Pflanzenbuch bis hin zu Werklehren und sogar -geheimnissen, umfassten, die man vorher nur mündlich mitgeteilt hatte und die selten den Weg auf das Papier gefunden hatten.2 Langfristig wurde aus der europäischen Gesellschaft zunehmend eine Wissensgesellschaft, in der schriftliche Kommunikation zu einem Vehikel des Fortschritts wurde, eine Kommunikation, die erst Gutenberg möglich gemacht hatte. Bücher galten nicht mehr als Luxus, Wissen wurde erschwinglich, Gelehrte und Schriftsteller wurden zu Autoren und erlangten durch das entstehende Urheberrecht Unabhängigkeit.3 Die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern schuf neue Kommunikationssysteme, vereinfacht gesagt veränderte sie damit auch den Menschen und seine Vorstellungen von seiner Position in der Welt – gegenwärtig wohl vergleichbar damit, wie das Internet Kommunikation und Stellung des Menschen in der Welt modifiziert. Nach heutigen Erkenntnissen wird deutlich, dass »die Menschen ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, nachdem solche Instrumente«, wie eben der Buchdruck oder das Internet, »kontinuierlich angewendet werden«.4 Diese Veränderung von Leben und Lebensgewohnheiten wird auch in der Biographie des Erfinders Johannes Gutenberg deutlich. Im Gleichnis seiner Lebensgeschichte den Bruch im Spätmittelalter aufzuspüren macht das Abenteuer der biographischen Reise aus. In Verbindung damit steht allerdings, dass die Einführung neuer Kommunikationstechniken auf Kosten älterer geht, mit Gewinn auch Verlust verbunden ist und Gutenbergs Erfindung einen wahren Kulturkampf seiner Befürworter und Kritiker entfachte. Denn seine Zeitgenossen begriffen eher noch als wir Nachgeborenen, dass sie an einer Zeitenwende standen. Wenn Martin Luther durch das »Ich« im Glauben das Individuum, die Grundlage unserer Gesellschaft, fand, so sicherte Gutenbergs Erfindung diesem Individuum seine Existenz. Der Mainzer hatte mehr und vor allem grundsätzlicher, als er selbst ahnen konnte, mit seiner Erfindung zur Geburt einer neuen Welt beigetragen. Europa vollzog im Vergleich zum Nahen, zum Mittleren und zum Fernen Osten eine fulminante, vorwärtsdrängende Entwicklung, die den Okzident schließlich im 19. Jahrhundert zur beherrschenden Macht aufsteigen ließ. Die Forschung spricht heute nicht nur von einer Welt, sondern von einer ganzen Galaxis, die ihr Entstehen Johannes Gutenberg zu verdanken habe.5 Analog hierzu sehen manche bereits das Ende der Gutenberg-Galaxis durch das World Wide Web gekommen. Wenn das Gutenbergzeitalter endet, die Ära des gedruckten Buches – bricht damit zugleich die Epoche ab, die mit Gutenberg und mit Martin Luther begann, das große europäische Zeitalter? Zeichnet sich in der Gegenwart nicht ein ähnlich tiefgreifender Medien- und Weltenwechsel ab, wie ihn Gutenberg erlebte und auf den er zudem als Erfinder einen ungeheuren Einfluss nahm? Will man das eine begreifen, muss man das andere verstehen. Der Weg zu Gutenberg zurück führt unweigerlich nach vorn: zum Verständnis aktueller Veränderungen. In das Jahrhundert Gutenbergs zu reisen bedeutet in eine Welt der grundsätzlichen, alles umfassenden, tiefgreifenden Krise aufzubrechen, in eine Welt, die von den Schüben des Wandels anfallartig gerüttelt und geschüttelt wurde, in der man den Teufel noch nicht wegtheologisiert hatte, sondern in der er anwesend war als abgrundtief böser Meister. Und auch Johannes Gutenberg begegnete in seinem Leben dem Teufel leibhaftig in unschöner Regelmäßigkeit, ihm oder einem seiner abscheulichen Gesellen. Vom Teufel angefallen zu werden, von ihm besessen zu sein, konnte dem Menschen des Spätmittelalters zu jeder Zeit, an jedem Ort widerfahren, mit derselben Fatalität, mit der er in einen Hagelschauer oder einen Schneesturm geriet. Und gewiss war dann der Infekt, den er sich im Unwetter zuzog, ein Werk des Teufels, denn von ihm und seinen Gesellen kamen die Krankheiten, während das Heil und mithin auch die Gesundheit als Gottes Geschenk angesehen wurden. Das Ziel der Expedition ist eine Epoche, die der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga »Herbst des Mittelalters« nannte und die reich an Unwettern, Konflikten, an Dynamik und Dramatik war, eine Zeit der an sich selbst irre werdenden Gewissheiten. Denn jene Gewissheiten, auf denen das christliche Dasein beruhte, galten nicht mehr so selbstverständlich und unhinterfragbar. Die Fundamente des Lebens wurden brüchig. Die Ordnungs- und Garantiemächte dieser Epoche, das Papsttum und das universale Kaisertum, hatten sich in einem mit allen Mitteln geführten Kampf gegenseitig abgenutzt. Der Kaiser verlor im Reich zunehmend an Macht gegenüber den Fürsten, die ihre Landesherrschaften ausbauten, und der Papst handelte immer stärker als italienischer Territorialfürst und immer weniger als Stellvertreter Christi und Haupt der Christenheit. Politisch, rechtlich und sozial ergaben sich tiefgreifende Veränderungen. Sie bestimmten Johannes Gutenbergs Leben maßgeblich. Über die Bedeutung der epochalen Erfindung Gutenbergs kann vernünftigerweise kein Streit entstehen, über seine Person dafür umso mehr. Wenn es um Johannes Gutenberg geht, der uns in den Quellen als Henne zur Laden, als Hengin oder Henchen Gensfleisch, genannt Gutenberg, begegnet, wird das Dilemma der Person nicht nur in den unterschiedlichen Namensformen deutlich, sondern auch im ganz ursprünglichen Sinne der Bedeutung von Person. Unter dem Wort prosopon verstanden die alten Griechen die Maske des Schauspielers. Derjenige, den wir sehen, ist nicht der, der er ist. Die Römer verwandten das Wort personare im Sinne von durch etwas hindurchtönen und persona als Maske, aber auch als die Rolle, die jemand im Leben spielt. In diesem Sinne ist die überlieferte Person des Johannes Gutenberg eine Maske, die ihr die Geschichte aufsetzte, eine Legende, die bereits im Augenblicke seines Todes geschaffen wurde. So grundlegend sein Werk wirkte, so wenige biographisch gesicherte Fakten gibt es – und es scheinen auch keine schriftlichen oder bildlichen Selbstaussagen auffindbar zu sein. Ist also Hennes Stimme deshalb zu schwach, durch die Maske des Johannes Gutenberg und durch die Zeitläufe ins 21. Jahrhundert durchzudringen? Weder seine Druckerpresse noch die Werkzeuge, die er nutzte oder sogar erfand, wie das Handgießgerät, der Setzkasten, der Winkelhaken und das Satzschiff, haben sich erhalten. Sie können nur im Analogieverfahren über spätere Werkzeuge rekonstruiert werden. Die ersten Bilder einer Druckerei finden sich in einem Totentanz, einer bildlichen Darstellung der Macht des Todes über das Leben, der um 1500 entstand. Vielleicht darf man angesichts dieser Quellenlage nicht mit den herkömmlichen Mitteln des Biographen und der Geschichtswissenschaft an diese Sphinx herantreten, sondern sollte auf die Methoden der Archäologie vertrauen. Wer sich Gutenberg so nähert, versteht die spärlichen biographischen Spuren nicht allein als Daten, sondern auch als Scherben, die zusammenzusetzen sind. So gesehen hilft die Legende als Blindstück anstelle eben jener nicht gefundenen Scherbe, so dass das Gesuchte vollständig zusammengefügt werden kann. Will man über den Erfinder etwas in Erfahrung bringen, gar ihm biographisch auf die Schliche kommen, bleibt nur, durch die Maske Johannes Gutenberg zu dem Mainzer Patrizier Henne zur Laden durchzudringen, durch die Legende zur Lebensgeschichte. Über lange Zeit bis noch in die Mitte des vorigen Jahrhunderts wuchs die Mär des deutschen Genius, war die große Erzählung von Johannes Gutenberg Schlüsseltext in der Werkstatt der deutschen Identitätsfindung. Suchten die Deutschen in einem vom Aufbruch gekennzeichneten 15. Jahrhundert, in einem von Reformation und Konfessionalisierung durchgerüttelten 16., in einem kriegerischen 17., einem schließlich revolutionären 18. und einem nationalbewegten 19. Jahrhundert, das in die späte Reichsgründung mündete, nach identitätsstiftenden Figuren, kam ihnen aus der Tiefe der Geschichte gleich nach Thuisto, nach Arminius und Albertus Magnus Johannes Gutenberg entgegen. So fruchtbar war die Gutenberg-Legende, dass sie sich sogar in einen Mythos verwandelte. Durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern trat das zerklüftete und zerrissene Deutschland in die moderne Geistes- und Technikgeschichte der christlichen Welt ein, hier beginnt das Selbstverständnis Deutschlands als das eines geistigen Weltreichs, als Land der Dichter und Denker, der Wissenschaftler und begnadeten Techniker. Die Klischees der Effektivität, der verqueren Genialität und der Verbohrtheit finden in dem Mann mit dem langen Bart und der bürgerlichen Mütze mit Pelzbesatz ihr Urbild. Doch das vermeintliche Urbild erweist sich als so unecht wie die Klischees. Bis heute konnte kein Porträt des Mannes aus Mainz ausfindig gemacht werden, das als halbwegs authentisch anzusprechen wäre. Das bislang früheste bekannte Konterfei Gutenbergs findet sich im zweiten Band des 1567 auf Deutsch erschienenen Teutscher Nation Heldenbuch6 des Basler Mediziners und Humanisten Heinrich Pantaleon. Am populärsten wurde das Bild, das der französische Polyhistor André Thevet in den dritten Band seines neunbändigen biographischen Lexikons Wahre Porträts und Lebensgeschichten illustrer Griechen, Lateiner und Heiden, entnommen aus ihren alten wie neuen Gemälden, Büchern, Medaillen7 aufgenommen hatte. Nur trennte den Franzosen bereits ein Jahrhundert von dem deutschen Erfinder. Illuster ist die Gesellschaft allerdings, in der sich Gutenberg auf diesen Buchseiten befindet: Unmittelbar vor ihm stehen die Einträge zum Großhumanisten Enea Silvio Piccolomini, der als Papst den Namen Pius II. annahm, und zu dem Mathematiker Regiomontanus, auf ihn folgen der Humanist und Kardinal der römischen Kirche Pietro Bembo und der Humanist und Philosoph Giovanni Pico della Mirandola. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wuchs, warum wird noch näher zu betrachten sein, das Interesse am gerade entstehenden Buchdruck. Gingen die Fama der Innovation und Erfindung etwa zeitgleich voran? Erzwang die intellektuelle Entwicklung geradezu die Erfindung? In einem Brief Ende 1454, Anfang 1455, der bisher noch nicht aufgefunden werden konnte, schrieb der spanische Kardinal Juan de Carvajal an seinen Amtsbruder Enea Silvio Piccolomini und erkundigte sich nach dem Buchdruck, an dem er offensichtlich sehr interessiert war, wie man aus der Antwortepistel Piccolominis spiegeln kann. Der Weg, auf dem die Information von Gutenbergs Arbeit an der Erfindung von Mainz ins ferne Rom an die Ohren des hochinteressierten Kardinals gelangt war, lässt sich im Gewirr kurialer Verbindungen und Beziehungen aufstöbern. Wigand Menckler war seit 1450 als Anwärter auf eine Pfründe und ab 1452 als Inhaber einer Scholasterei am St.-Viktor-Stift bei Mainz tätig. Dass er Kontakt mit Johannes Gutenberg hatte, ihn kannte, steht außer Frage, denn Gutenberg war Mitglied der Laienbruderschaft von St. Viktor, wie aus dem Liber fraternitatis8 hervorgeht. Menckler war nun nicht nur ein Familiare des deutschen Kardinals Nikolaus von Kues, sondern auch ein enger Mitarbeiter des Spaniers gewesen, so dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Menckler Juan de Carvajal9 über Gutenbergs nützliche Arbeiten unterrichtete. So informiert, wandte sich der Spanier an den Italiener. Enea, der als Rat Kaiser Friedrichs III. vom 5. bis 31. Oktober am Reichstag zu Frankfurt teilnahm, lagen nur ein paar Quinternionen – jeweils fünf der bedruckten und getrockneten Bögen wurden zum Heften übereinandergelegt und ergaben so einen Quinternio – der gedruckten Bibel vor. Was er zu sehen bekam, begeisterte den einflussreichen und gut vernetzten Humanisten so sehr, dass er – während eines Reichstages in Wiener Neustadt – am 12. März Juan de Carvajal antwortete: »Über jenen zu Frankfurt gesehenen erstaunlichen Mann ist mir nichts Falsches geschrieben worden. Vollständige Bibeln habe ich nicht gesehen, vielmehr einige Quinternen mit verschiedenen Büchern (nämlich der Heiligen Schrift) in höchst sauberer und korrekter Schrift ausgeführt; deine Gnaden würden sie mühelos und ohne Brille lesen können. Von mehreren Gewährsmännern erfuhr ich, dass 158 Bände fertiggestellt seien; einige versicherten sogar, es handle sich um 180. Über die Zahl bin ich nicht ganz sicher; an der Vollendung der Bände zweifle ich nicht, wenn man diesen (Leuten) Glauben schenken darf. Hätte ich deinen Wunsch gekannt, dann hätte ich ohne Zweifel einen Band (für dich) gekauft. Einige Quinternen sind hier zum Kaiser gebracht worden. Ich werde versuchen, wenn es sich machen lässt, eine noch käufliche Bibel hierherschaffen zu lassen und sie für dich zu bezahlen. Ich fürchte aber, es wird nicht gehen, sowohl wegen der langen Wegstrecke als auch, weil, wie man berichtet, noch vor der Vollendung der Bände es (für sie schon) bereitstehende Käufer gegeben habe. Dass deine Gnade es aber in so hohem Maße gewünscht hat, Gewissheit über die Sache zu erlangen, schließe ich aus der Tatsache, dass du mir dieses durch einen Kurier mitgeteilt hast, der schneller als Pegasus ist.«10 In diesem Brief begegnet man über die Jahrhunderte hinweg Henne zur Laden, der zu diesem Zeitpunkt bereits Gutenberg genannt wurde, weil er auf dem elterlichen Hof Gutenberg wohnte, in einer kurzen, aber aufregenden Momentaufnahme, einem flüchtigen Vorbeigehen und zugleich dem Anfang der Legende. Der Sekretär des ebenfalls mit Enea befreundeten deutschen Kardinals Nikolaus von Kues, Giovanni Andrea di Bussi, nannte schon kurz nach ihrer Erfindung die Buchdruckerkunst eine ars sacra, eine heilige Kunst, und versuchte sich in Rom selbst in ihr. Dem großen Philosophen Marsilio Ficino diente die Erfindung sogar als Beweis, dass man in einem Goldenen Zeitalter lebte. Die Deutschen wiederum empfanden es als großes Glück, dass es ausgerechnet einem der ihren gelungen war, diese sacra ars zu schaffen, wo sie doch unter der Schmach litten, dass es ausgerechnet der Italiener Enoch von Ascoli war, der im Jahre 1455 die Germania des Tacitus in der Bibliothek der Abtei Hersfeld auffand. Dass etwa zeitgleich Gutenbergs 42-zeilige Bibel erschien und somit den Erfindergeist der Deutschen in alle Welt trug, linderte die Schmach ganz erheblich. Grund genug also für die deutschen Humanisten, den Mainzer zu rühmen. Keine dreißig Jahre später wird der von Friedrich III. zum poeta laureatus, zum Dichterkönig, erhobene Erzhumanist Conrad Celtis im dritten Buch seiner Oden Johannes Gutenberg besingen: »Nicht geringer als Dädalus, glaubt mir, oder als Kekrops, der die Buchstaben fand, ist der, der von Mainzer Bürgern stammt, der Ruhm unseres Namens. Er goss in kurzer Zeit feste Typen aus Erz und lehrte, mit beweglichen Lettern zu drucken. Nichts Nützlicheres, glaubt mir, konnte in allen Jahrhunderten erfunden werden! Nunmehr werden endlich die Italiener die Deutschen nicht mehr stumpfer Trägheit zeihen können, da sie sehen, dass durch unsere Kunstfertigkeit der römischen Literatur vieler Jahrhunderte Dauer zuwächst.«11 War die römische Kaiserwürde durch die translatio imperii auf den deutschen König übergegangen, so wurde durch die deutsche Erfindung der Druckkunst über die Italiener hinweg, man möchte fast sagen, an den Italienern vorbei, der Bogen zur römischen Literatur und zu den Griechen geschlagen, wodurch in einem großartigen Akt der translatio studii die Weisheit und Wissenschaft der Alten direkt auf die Deutschen übergingen. Nichts Vergleichbares hatten aus Sicht des deutschen Humanisten die Italiener Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern entgegenzusetzen. Die herausragende Schöpfung setzt Celtis sofort gleich mit den größten Kulturleistungen, wie etwa der (mythischen) Erschaffung des Alphabetes durch den autochthonen Heros und legendären König von Athen, Kekrops. Diesem wurden neben der Einführung des Alphabetes und der Monogamie die erste Volkszählung und das Erlassen von Gesetzen zugeschrieben. Im Streit zwischen Poseidon und Athene um den Besitz des Landes entschied er zugunsten Athenes. Höhere Weihen, als mit Kekrops gleichgesetzt zu werden, lassen sich nicht mehr denken. Der gleich zu Beginn der Ode erwähnte Dädalus galt als Schutzherr der Handwerker, der Techniker und der Erfinder. Hellsichtig arbeitet der Humanist den Zusammenhang zwischen Schrift und Druck, zwischen Wissen und Medium in seinem Panegyrikus, seinem Lobeshymnus auf Gutenberg heraus, der in Wahrheit ein Hymnus auf den Genius der Deutschen ist, die sich dank Gutenbergs nicht mehr vor den Leistungen der Italiener, die sich als die legitimen Nachfahren der Römer, der antiken Kultur fühlten, zu verstecken brauchten. Indem Celtis Gutenberg auf eine Stufe mit Dädalus und Kekrops, mit dem Techniker und dem Kulturheros stellt, zielt er auf den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Botschaft und Medium. Natürlich ging es dem poeta laureatus vor allem um die ideologische Begleitung und Propagierung des Reichsgedankens, um die Geburt der deutschen patria als Wiedergeburt des Imperium Romanum. Demnach waren die Deutschen zur europäischen Ordnungsmacht berufen, weil aufgrund göttlicher Übertragung die Herrschaft von den Römern auf die Deutschen übergegangen war, und zwar in dreifacher Gestalt: als translatio imperii auf den deutschen König, als translatio studii auf Gutenberg und als translatio artium auf Albrecht Dürer. Die Humanisten um Conrad Celtis und Willibald Pirckheimer formulierten in der großen Krise des Mittelalters programmatisch die Aufrichtung des Universalkaisertums, wie man es bereits bei Dante12 und bei Marsilius von Padua13 beschrieben finden konnte: als integrierende Ordnungsmacht des universellen christlichen Reiches. Zum Protagonisten ihrer Reichsidee kürten sie Kaiser Maximilian I., der auch als der »letzte Ritter« in die Geschichte einging. Wichtiger, geradezu grundlegender Baustein in der Begründung ihres Projekts war das Genie Johannes Gutenbergs. Indes blieb ihr Projekt so erhaben wie vergeblich, ein Schmetterling, der verloren über der deutschen Wirklichkeit flatterte. In Deutschland bildeten sich die Landesherrschaften, in Frankreich, Spanien und England die Nationalstaaten langsam heraus, und niemand außer dem Kaiser und einigen deutschen Humanisten interessierte sich mehr für den Universalismus des Kaisertums, der unrettbar einem verschwindenden Mittelalter angehörte. Aber da der Traum so innig wie weltfremd war, entfaltete er eine nachhaltige Wirkung, nicht nur, aber auch in der Überhöhung des Johannes Gutenberg, der nun zum Sinnbild des Deutschen schlechthin wurde. Spätestens von dieser Ode an wurde aus Henne zur Laden der deutsche Kulturheros Johannes Gutenberg. Legte man auf der Suche nach dem Erfinder des Buchdrucks, bedingt durch eine historisch gewachsene Abneigung gegen alles Nationale, die Ode des Humanisten einfach beiseite, gösse man das Kind mit dem Bade aus. Im Gegenteil, es empfiehlt sich, sie genauer zu lesen, denn in seinem Panegyrikus weist Celtis sehr nachdrücklich darauf hin, dass in Gutenberg der Techniker und der Künstler vereint sind. So wenig man von dem Mainzer auch wissen mag, sollte man den hellsichtigen Hinweis des Humanisten ernst nehmen. Er wird von dem Dichter als Ästhet und als Techniker angesprochen. In der 42-zeiligen Bibel wird Gutenbergs Ästhetentum deutlich. Zwar wurde oft die außerordentliche Schönheit des Druckes anerkannt und gelobt, aber sie wurde zu wenig als Indiz für die Person seines Schöpfers gelesen. Das soll in dieser Biographie versucht werden, Gutenberg auch als Künstler zu begegnen, in dem die Doppeldeutigkeit des Begriffs der ars, als Handwerk und Kunst, als kunst und aventur, zugleich menschliche Statur gewinnt. Celtis kann Gutenberg auch deshalb ganz konkret und unmittelbar mit Kekrops vergleichen, weil der Grieche das Alphabet, also eine Schrift, die auf einzelnen Buchstaben und nicht auf Piktogrammen beruhte, erfand, so wie die einzelne Letter den Nukleus von Gutenbergs komplexer Innovation bildete. Sowohl Kekrops als auch Gutenberg gehen vom Einzelbuchstaben aus, was eine analytische Denkweise voraussetzt. Aber warum Gutenberg? Warum der Mainzer? Von heute aus betrachtet lag die Erfindung des Buchdrucks fast schon auf der Straße, entsprach sie der Notwendigkeit und der Logik der Zeit, aber sie lag auch in einer Logik, die erst durch die Erfindung selbst in Gang kam. Aus der Perspektive des frühen 15. Jahrhunderts stellt sich die Sachlage vollkommen anders dar, denn sonst wäre ein Wettrennen um diese Erfindung ausgebrochen, und es dürften wohl auch mehrere Männer aufgetreten sein, die sich als Erfinder gerühmt hätten. Wie und vor allem warum kommt Henne zur Laden, ein Mainzer Patrizier, ein Mann, der wohl kein Handwerker, wohl kein Gelehrter oder Humanist, sondern, wie gern behauptet wurde, ein standeseitler Bonvivant war,14 dazu, diese epochale Leistung zu vollbringen? Warum wurde der Buchdruck mit beweglichen Lettern nicht in den damaligen Zentren der Kultur und der Wissenschaft, in Paris, in Rom, in Florenz, in Pavia, in Padua oder in Bologna erfunden? Warum in einer Stadt, die zu diesem Zeitpunkt nicht einmal eine Universität besaß? Sollte Conrad Celtis trotz des ideologischen Programms, das seinen Panegyrikus treibt, am Ende doch tiefer gesehen haben, als man gemeinhin glaubt?

Anmerkungen zum Kapitel

1. Korrekt müsste man von »bewegten« und nicht von »beweglichen« Lettern sprechen, denn die Letter wird zwar bewegt, ist aber selbst starr. Da sich der Terminus jedoch eingebürgert hat, soll er auch hier verwendet werden.

2. Vgl. Giesecke, Buchdruck, S. 64: »Visuelle Erfahrungen, die zuvor nur im Gedächtnis gespeichert wurden, schrieb man nun auf und teilte sie anderen mit.«

3. Es ist eine interessante Tatsache, dass mit der technischen Reproduzierbarkeit und der technischen Vervielfältigung von Wissensmedien der Begriff des geistigen Eigentums und daraus folgend der Schutz desselben, das Urheberrecht, entstand, wie analog dazu mit der Ausbreitung des World Wide Web und nun nicht mehr der Reproduzierbarkeit, sondern simpler noch der Kopierbarkeit geistigen Eigentums die Problematik des Urheberrechts in eine grundsätzliche Diskussion geriet.

4. Giesecke, Buchdruck, S. 48.

5. Vgl. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn 1994.

6. Die lateinische Originalausgabe erschien ein Jahr früherunter dem Titel Prosopographia herorum atque illustrium virorum totius Germaniae in Basel.

7. André Thevet, Les vrais pourtraits et vies des hommes illustres grecz, latins et payens, recueilliz de leurs tableaux, livres, médalles antiques et modernes, 9 Bde., Paris 1584.

8. Vgl. Emmrich, »Sankt Viktor«, in: Gutenberg-Jahrbuch 2001, S. 94.

9. Ebd., S. 91.

10. Zit. n. Meuthen, »Quellenzeugnis«, S. 108 ff.

11. Humanistische Lyrik, S. 57 ff.

12. Dante, Monarchia.

13. Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens.

14. Vgl. hierzu Venzke, Gutenberg, S. 95: »Davon abgesehen, bietet sich erneut das Bild des eigensinnigen und unnachsichtigen Junkers, der seine Mitmenschen, wenn nötig, brüskierte, und der zielstrebig auf seinen eigenen Vorteil bedacht war. Skrupellos nutzte Gutenberg den finanziellen Vorteil aus […].« Eine Beschäftigung mit der Mentalität und den gesellschaftlichen Verkehrsformen des ausgehenden Mittelalters lässt eine solche Charakterisierung, die heutige Vorstellungen distanzlos in das 15. Jahrhundert spiegelt, unangebracht erscheinen.

Verlust des Gottvertrauens

Das Leben Hennes zur Laden, genannt Gutenberg, ist – auf den ersten Blick verblüffend – durch die Daten 1420 bis 3. Februar 1468 eingegrenzt worden.15 Der Zeitpunkt des Todes bleibt unumstritten, die erste Angabe dagegen verwundert zunächst. Bei näherem Hinsehen stellt man jedoch sehr schnell fest, dass mit dem Jahr 1420 nicht wie üblich das Geburtsdatum, sondern die erste urkundliche Erwähnung Hennes zur Laden gemeint ist, was auf das Dilemma der Gutenbergforschung hindeutet. Denn zumindest die direkten Quellen, die Kindheit und Jugend betreffen, fehlen. So hilft nur, wie es die prähistorische Archäologie unternimmt, zu graben und mit Analogien und Chronologien zu arbeiten. Und hier gilt es, solange die Grenzen der Plausibilität gewahrt bleiben, nicht allzu skrupulös zu zaudern, will man sich Johannes Gutenberg annähern. In der Quelle von 1420, in der es um eine Erbschaftsangelegenheit geht, wird Henne als volljährig bezeichnet, d. h. er muss um 1420 mindestens 15 Jahre alt gewesen sein. Begreiflicherweise arbeitete sich die Gutenbergforschung an der genauen Datierung der Geburt ab, weil nicht einmal ein Taufeintrag aufzustöbern war. Auch deshalb gelang letztlich keine genauere Festlegung, so dass sich die Historiker aus guten Gründen im Jahre 1900 auf das Jahr 140016 einigten, was den Vorteil bot, dass man sogleich den 500. Geburtstag des Mainzer Kulturheros kräftig feiern und ein Museum für den großen Sohn der Stadt gründen durfte, das 1901 seine Türen öffnete. Wenn die Eltern ihrem zweiten Sohn – der erste hieß nach dem Vater Friele, eine Mainzer Lokalform für Friedrich – nicht etwas gedankenlos den damals sehr beliebten Namen Johannes – in Mainz: Henne, Hennchen oder Hengin – gegeben haben, dann dürfte Henne nach damaligem Brauch am 24. Juni, dem Johannestag, getauft worden sein, also am 24. Juni 1400, und wäre dann am 22. oder 23. Juni geboren. Von diesem unsicheren, aber mit einer Spanne von plus oder minus fünf Jahren dann doch realistischen Geburtsdatum soll im Weiteren ausgegangen werden. Eine Besonderheit in den Mainzer Gebräuchen der Zeit kann immer wieder zu Fehlern führen und erschwert die Recherche: Im 13./14. Jahrhundert setzte sich der Zuname als Nachname besonders in den Städten durch. Oft diente zur Kennzeichnung der vielen Johannesse oder Friedriche der Beruf, ein körperliches Merkmal, der Geburtsmonat oder der Herkunftsort des Betreffenden. In Mainz nannten sich die Patrizier jedoch nach den Stadthöfen, die sie bewohnten. So fand in den Quellen seinen verwirrenden Niederschlag, dass verschiedene Familien, die nichts miteinander zu tun hatten, sich nach demselben Hof benannten, den sie zu unterschiedlichen Zeiten bewohnten. Ein Stadthof, in dem auch Henne das Licht der mittelalterlichen Welt erblickte, bestand zumeist aus zwei mehrstöckigen Bürgerhäusern, aus Gebäuden und Mauern, die einen oder mehrere Höfe umschlossen. Gern nutzten die Mainzer Geschlechter, wie die Patrizier genannt wurden, Eckgrundstücke, so dass zwei bis drei Seiten zur Straße zeigten, denn die Stadthöfe dienten nicht nur dem Leben, nicht nur der Wirtschaft, sondern natürlich auch der Repräsentation. Der Status der Familie, also alles das, was sie nach außen repräsentierte, schützte sie zugleich und machte sie unangreifbar. Das öffentliche Ansehen war bei weitem keine moralische, sondern eine durch und durch existenzielle Kategorie. Wer sich an einer Patrizierfamilie vergriff, forderte das Patriziat heraus, das seine Privilegien und seine Unantastbarkeit kompromisslos verteidigte. Als aber die Macht und das Ansehen der Geschlechter schwanden, verloren sie auch ihre Privilegien. Nicht von ungefähr erinnern die Höfe der Patrizier an die Burgen des niederen Landadels. Denn aus Stein errichtet, dienten auch sie der Verteidigung und dem Schutz, hierin den Geschlechtertürmen italienischer Städte ähnelnd. Zwischen niederem Adel und den Patriziern kam es zu Heiratsverbindungen, und da die Landadligen auch Häuser in der Stadt und die Patrizier Lehen und Höfe im Umland besaßen, glichen sich ihre Lebensweisen an. Aus diesem Grund war es ein Leichtes, Gutenberg als adelsstolzen Junker zu verzeichnen. Zum Leben der Patrizier gehörte auch der Stadtgarten, der entweder als zweiter Hof hinter dem ersten oder zumindest in der Nähe des Domizils der Familie lag und vor allem der Erholung diente. Aufwendige Feste wurden hier gefeiert, Lustbarkeiten aller Art veranstaltet. Mainz war berühmt für seine Gärten. Die Stadthöfe besaßen eigene Brunnen und verfügten neben Wohn- auch über Gewerbeflächen, Scheunen, Lagerräume und Werkstätten. Landgut und Garten versorgten sie mit Lebensmitteln, auch mit den in dieser Zeit wichtigen Kräutern, die man in großer Vielfalt anbaute, denn sie wurden als Würze und als Medizin genutzt. Im Grunde stellten die Patrizier eine Art Stadtadel dar, der vor allem von seinen Privilegien lebte und in seiner wirtschaftlichen Existenz gut mit dem kleineren Landadel am Mittelrhein zu vergleichen ist. Ähnlichkeit wiesen sie in ihrer Herkunft mit dem niederen Adel auf, denn häufig entstammten die Geschlechter der Patrizier der Ministerialität des Erzbischofs. Allerdings standen Angehörige des Landadels nicht nur im Dienst des Mainzer Kirchenfürsten, sondern sie übten als Reichsministerialen auch Ämter für die Könige und Kaiser des Reiches aus. Für Henne zur Laden bedeutete es ein Glück, in eine Familie hineingeboren zu werden, die zur reichen städtischen Oberschicht gehörte. Armut lernte er in seiner Kindheit nicht kennen, dafür aber Anspruch, Würde, Stolz, Eigenschaften, die man in einer höchst unsicheren und volatilen Gesellschaft benötigte, und machte die Erfahrung, wie permanent gefährdet der Besitz und die Stellung seiner Familie waren. Das Leben selbst blieb zudem vom ersten Atemzug an eine unsichere Angelegenheit: Selbst eine unglückliche Zahnentzündung konnte es beenden. Tag für Tag war zu erfahren, dass alles wie auch die eigene Existenz in Gottes Hand lag. Das zweistöckige Gebäude, in dem Hennchen geboren und von einer, wie es scheint, liebenden Mutter umsorgt wurde, lag an der heutigen Ecke Schusterstraße / Christofstraße im ältesten Siedlungskern von Mainz um den Markt, das Fischtor und die Christof- und Karmeliterstraße. Mitten in der Stadt zu wohnen, in ihrem Zentrum zu residieren, gehörte zum Prestige der Geschlechter und repräsentierte ihre Macht und ihren Reichtum. Henne wuchs also auch in der geographischen Mitte seines Standes auf, sah seine Standesgenossen, die fußläufig von ihm entfernt wohnten, beim Kirchgang, in der Messe und beim jährlichen Schwurtag. Die Bürger der Stadt bildeten im Grunde eine Genossenschaft, die alljährlich durch den Schwur aller erneuert wurde. Die Größe des Hofes, der Platz, den er zur Straße hin einnahm, und die zentrale Lage bildeten die Bedeutung der Familie im Gefüge der Stadthierarchie topographisch und architektonisch ab. Wenn der kleine Henne durch die Wohnung seiner Familie im Gutenberghof, der ihr während seiner Kindheit erst zum Teil gehörte, lief, dürfte ihm das Betreten des Repräsentationszimmers oder -saales, in dem der Patrizier Friele Gensfleisch Besucher empfing, allein und an normalen Tagen untersagt gewesen sein. Denkbar ist, dass jenes Prachtzimmer oder jenen Prachtsaal Fresken zierten, denn auch das Haus der Familie Molsberg wurde mit Wandmalereien verschönert, mit Wappen der Molsberg und der angeheirateten Familien auf den Pfeilern zwischen den Fenstern im Saal des Hauses in der Korbgasse, die in den Quellen als »versus curia zu Korbe« auftauchte und in der auch Peter Schöffer später ein Haus besaß. Schöffers Druckerei verteilte sich auf das Haus zum Korb in der Korbgasse und den Hof zum Humprecht in der Schusterstraße.17 Es scheint Brauch gewesen zu sein, die Wohnungen und Häuser zum Zwecke der Darstellung der Position in der städtischen Hierarchie, von Reichtum und Macht zu freskieren. Auch die Kapelle im Wohnturm im ehemaligen Königsteiner Hof verschönerten Malereien. Eingang in die Literatur fand die außergewöhnliche und recht freizügige Bildgestaltung im Haus des Domherrn Graf Johann von Eberstein,18 des Mainzer Stadtkämmerers. Unbeschadet der Tatsache, dass der Domherr ein Geistlicher war, genoss er die detailreichen Darstellungen von Szenen des Wiesbadener Badelebens, wie sie sich in den Badehäusern, in denen auch Feste und durchaus im griechischen Sinne Orgien gefeiert wurden, zutrugen. Frauen und Männer gemeinsam im Bade, so wie der Schöpfer sie geschaffen hatte, Tanzszenen, Bilder von Trinkgelagen, groteske Verkleidungen, sexuelle Rollentausch- und Verwandlungsspiele erfreuten das Auge des Prälaten. Auch Turnierszenen wurden auf den Bildern dargestellt. Und der geistliche Herr versteckte nicht etwa seine offenherzigen Bilder, sondern ließ seine Gäste großzügig am Augenschmaus teilhaben.19 Heinrich von Langenstein, der eine Professur an der Universität von Paris innehatte und dem Prälaten einen Besuch abstattete, schrieb jedenfalls in einer Mischung aus öffentlichem Tadel und stillem Genuss im Kapitel V seines Tractatus unter der Überschrift »De voluptate carnali« (Über die Fleischeslust): »Das heißt, alle Laster weltlicher Irreleitung werden auf drei reduziert, die da sind: Fleischeslust, vergängliche Habgier und Hochmut nichtigen Ruhms. Wie aber kann die Fleischeslust passender dargestellt werden, als auf einem Gemälde des Wiesbadener Badefestes, mit völlig zügelloser Fleischlichkeit, und mit der Schaumigkeit aller sinnlichen Wasserfreuden?« Ausgelassen wird gefeiert, mit Musik und Gelage, man putzt sich heraus, Kosten werden nicht gescheut. »Sobald man angekommen ist, finden sich Gruppen, die Gesellschaft von Weibern wird gefordert, das Bad betreten, die Körper gereinigt, die Seelen befleckt. Man geht und die Trompeten erschallen, die Flöten singen, Reigen entstehen. Dort werden die Schauspiele der Verderbtheit, die von beiderlei Geschlechtern und in unersättlich unkeuscher Haltung ausgeführt werden, nicht vor den keuschen Augen der Zuschauer verborgen. Bei den Weibern wird die Nacktheit der Brüste beschaut, bei den Männern die Unbedecktheit der Hintern, und überall werden unschuldiger Sinn und Fruchtbarkeit beleidigt.«20 Nur »Gottvergessenheit« und keine »Tugend« konnte Langenstein erkennen – ganz so weit freilich werden die Darstellungen in den Häusern der Patrizier nicht gegangen sein. Dass aber der Domherr von Eberstein sich diese Bilder in aller Öffentlichkeit anfertigen lassen durfte und sie auch nicht zu verstecken brauchte, erzählt etwas vom freieren Geist im späten Mittelalter, dem Scham und Zurückhaltung eher fremd waren. Es ist wichtig, dies zu sehen, um zu verstehen, in welchem Geist Henne zur Laden aufwuchs, im Geist einer Gesellschaft, in der alles öffentlich war und alles auch vor aller Augen geschah. Kräftige Farben und ausgestellte und nicht verborgene Leiden bestimmten das Bild der Straßen und Plätze, es ging laut und distanzlos zu. Wichtiger als die ars vivendi war die ars moriendi. Die Kunst des guten Sterbens beschäftigte die Menschen stärker als die zu leben, weil das Leben als kurze Zeit aufgefasst wurde, an die sich die Ewigkeit in der Hölle oder im Himmel anschloss. Zeiten großer Zerknirschung und qualvoller Selbstkasteiung wechselten bei ein und demselben Menschen mit Phasen größten Sündigens. Wie im Einzelnen so existierten in der Gesellschaft nur Extreme, aber keine Mitte. Henne wuchs auf mit der Vorstellung von der Erbsünde, wonach jeder Mensch bereits sündig zur Welt kam, und der Endlichkeit des irdischen Jammertals, in dem man sich nur zur Bewährung befand. Ständig hatte man für sein Seelenheil zu sorgen, was aber mittels guter Werke und Beichte auch zu bewerkstelligen war. Er wuchs auf mit der Überzeugung, dass die Ordnung der Welt Gottes Werk war und er mithin die Stelle auch ausfüllen musste, an die ihn die göttliche Vorsehung gestellt hatte. Wenn die Patrizier ihre Privilegien verteidigten, erfüllten sie damit auch Gottes Willen, denn von wem, wenn nicht von ihm, sollten sie diese doch letztlich erhalten haben? Auch Hennes elterliche Wohnung im Hof zum Gutenberg dürfte aus einem Repräsentations- und einem Alltagsbereich bestanden haben. Wenn der aufgeweckte Junge die Wohnung erkundete, dann wohl allenfalls mit dem Bruder. Ganz abgesehen davon, dass sie frühzeitig von der Mutter in die Hauswirtschaft einbezogen wurde, war die Schwester Else mindestens sechs Jahre älter als Henne, wenn sie 1414 den Patrizier Claus Vitzthum heiratete. Vermutlich starb sie kurz nach der letzten urkundlichen Erwähnung 1443. Wann der Bruder Friele zur Welt kam, ist unbekannt, gestorben ist er im August 1447. Dass auch er vor Henne geboren worden war, ergibt sich aus der Minderung einer Leibrente, die im Erbschaftsausgleich vom Bruder auf ihn übertragen wurde, wobei die prognostizierte höhere Lebenserwartung des Jüngeren den Grund für die Herabsetzung der Summe, die regelmäßig zur Auszahlung kam, bildete. Friele heiratete die Tochter des Patriziers Jeckel Hirtz, die ebenfalls Else hieß, und wohnte mit ihr ab 1434 in Eltville.21 Über das Verhältnis der Brüder findet man recht wenig, und aus den Erbregelungen Antipathien herauslesen zu wollen, ginge zu weit. Im Gegenteil scheinen die Brüder die Verbindung aufrechterhalten zu haben, denn zu seiner Nichte, Frieles Tochter Odilgen, und ihrem Mann Johann Sorgenloch unterhielt Johannes Gutenberg gute Beziehungen. Leider liegen keine Nachrichten vor, ob Henne weitere Geschwister hatte, was bei der hohen Kindersterblichkeit dieser Zeit durchaus vorstellbar ist. Die Hälfte aller Kinder erreichte nicht das zehnte Lebensjahr. Andererseits heiratete der Vater sehr spät und für damalige Verhältnisse mit über 50 Jahren bereits als alter Mann Else Wirich. Von den überlebenden Kindern war Henne das jüngste Kind Elses und wohl auch ihr liebstes, denn sie kümmerte sich später um seine Leibrenten, trat in den Erbvergleichen und Erbregelungen für ihn ein und vertrat ihn vor Gericht. Gutenbergs weiterer Lebensweg, sein Heraustreten aus dem Kreis der Mainzer Patrizier indizieren, dass die Mutter für ihren Jüngsten einen anderen Lebensweg vorsah. Zu Hennes Zeiten hieß die Schusterstraße, in der er Kindheit und frühe Jugend verbrachte, noch Quintinsgasse nach der in der Nähe gelegenen Quintinskirche, der ältesten Pfarrkirche der Stadt Mainz, die 774 erstmals urkundlich erwähnt wurde und um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert die Gestalt einer spätgotischen Hallenkirche erhielt. Getauft wurde Hennchen aber nicht in St. Quintin, sondern in St. Christoph, einer schlichten gotischen Gewölbebasilika mit romanischem Turm. Der aus dem 14. Jahrhundert stammende Taufstein, in dem der Pfarrer den Körper des Kleinen ganz eintauchte, ist ein Steinbecken, das von Löwen getragen wird. Wie oft mag der kleine Henne später im Gottesdienst die Wandmalereien angeschaut haben, von denen sich ein heiliger Christophorus, der den Christusknaben trägt, erhalten hat? Vielleicht stellte der Maler zur Zeit der Taufe des Patriziersohnes das Fresko fertig, vielleicht stiftete die Familie das Bild auch aus Anlass der Geburt ihres Sohnes, zumindest stammt es aus der Zeit um 1400. 222324IIIII25

Anmerkungen zum Kapitel

15. Vgl. Heidrun Ochs in ihrer materialreichen und beeindruckenden Untersuchung zu den Mainzer Patriziern im Spätmittelalter: Dies: Gutenberg, S. 439.

16. Gutenbergs Geburtsdatum könnte theoretisch zwischen 1393 und 1405 liegen.

17. Vgl. Heuser, Namen, S. 315.

18. Henricus de Langenstein, Epistola de contemptu mundi ad Iohannem de Eberstein, http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_02653.html, [Stand: 11. 8. 2016].

19. Vgl. Glatz, Wandmalereien, S. 276 f.

20. Zit. n. Alexander Heising, »Großbürgerliches Wohnen im mittelalterlichen Bingen – Die Stadtgrabung am Carl-Puricelli-Platz 1999/2000« (Übersetzung: S. Beissler, Universität Frankfurt a. M.), in: Dorfey, Stadt und Burg, S. 88 f.

21. Vgl. Ruppel, Gutenberg, S. 28 f.

22. Vgl. Glatz, Wandmalereien, S. 156 f. und 448 f.

23. Der Walpode war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in der Stadt zuständig, ihm unterstand deshalb auch die Marktpolizei, er hatte die Aufsicht über die Spielbank, die Wirtshäuser und Bordelle.

24. Vgl. Ochs, Gutenberg, S. 96.

25. Zit. n. Dumont, Mainz, S. 128.