Rainer Brüderle
Jetzt rede ich!

Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg

Rainer Brüderle
Jetzt rede ich!

Ein Gespräch mit
Hugo Müller-Vogg

eISBN: 978-3-95768-122-5
© 2014 Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek/München
Internet: www.lau-verlag.de

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Umschlagentwurf: Atelier Versen, Bad Aibling

Inhalt

Zu diesem Buch

1. "Wir haben fertig":
Der 22. September und die Folgen

2. Fehlstart ins Wahljahr:
Spitzenkandidat wider Willen

3. Von hinten erschossen:
Sexismus-Skandal ohne Sexismus?

4. Wahlkampf:
Kampf ums Überleben

5. Stolperer im Wahlkampf:
Die FDP geht am Stock

6. Wahlkampf-Endspurt:
Du hast keine Chance, nutze sie

7. Blick zurück mit Stolz:
"Wir haben’s gemacht"

8. Blick zurück ohne Stolz:
Albträume in der Traumkoalition

9. Blick zurück im Zorn:
Liberale unter sich

10. Blick nach vorn:
Die FDP wird noch gebraucht

Personenregister

Zu diesem Buch

Selbst in einem gewissen Abstand zur Bundestagswahl 2013 fallen einem zwei Vorstellungen immer noch schwer: Ein Deutscher Bundestag ohne Freie Demokraten und eine FDP ohne Rainer Brüderle, jedenfalls ohne Brüderle in einem herausragenden Amt. Denn fast zwei Jahrzehnte lang, seit seiner ersten Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden im Jahr 1995, gehörte Rainer Brüderle zu den führenden Politikern der Freien Demokraten. Der joviale Mann aus Mainz war in dieser Zeit der wirtschaftspolitische Kopf seiner Partei, einer ihrer einflussreichsten und bekanntesten Politiker.

Die Kabarettisten liebten ihn, weil er noch schneller spricht, als er denkt, dabei ganze Silben und halbe Worte verschluckt. Die politischen Gegner in Parteien und Medien taten ihn seines pfälzischen Dialekts wegen als Provinzler ab. Tatsächlich hat Rainer Brüderle in seinem politischen Leben viel mehr erreicht, als seine Kritiker für möglich gehalten hätten: hauptamtlicher Beigeordneter in Mainz, zwölf Jahre lang Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz, stellvertretender Partei- und Fraktionsvorsitzender, Bundeswirtschaftsminister, Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag.

Für mittelständische Unternehmer, für Freiberufler und Manager war Brüderle der Garant für eine Politik im Sinne Ludwig Erhards, die Wachstum den Vorrang gibt vor Umverteilung und Chancengerechtigkeit vor Gleichmacherei. Unnötige staatliche Reglementierungen und jede gutmenschliche Bevormundung gehen ihm gegen den Strich. Als Bundeswirtschaftsminister hat er mit der Ablehnung staatlicher Hilfen für Opel Rückgrat bewiesen. Er wäre zurückgetreten, wenn ein unfähiges Management mit Steuergeldern subventioniert worden wäre.

Auch wenn „Mister Marktwirtschaft“ stets Klartext redet, ist er kein Ideologe. Er ist eher ein Meister des politischen Pragmatismus. Das bewies er zum Beispiel im Jahr 2000. Als wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion war Brüderle ein scharfer Kritiker der Regierung Schröder-Fischer. Gleichwohl verhalf er der rot-grünen Steuerreform im Bundesrat zur Mehrheit, indem er seine in Rheinland-Pfalz mitregierenden Parteifreunde überzeugte, ein Ja der Landesregierung im Bundesrat mitzutragen. Als Gegenleistung handelte er Rot-Grün unter anderem eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf 42 Prozent ab.

Im Januar 2013 erreichte die politische Laufbahn des „Mister Marktwirtschaft“ ihren Höhepunkt: Die FDP rief ihn zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl aus. Es war freilich eher ein Himmelfahrtskommando als eine Spazierfahrt. Die FDP war zerstritten, hatte die meisten ihrer Wähler von 2009 enttäuscht und rangierte Ende Januar in den Umfragen bei 4 Prozent. Zudem war schon Brüderles Kür zum „Gesicht und Kopf“ der Liberalen mit dem Makel behaftet, dass Philipp Rösler ihm damals plötzlich – entgegen allen Absprachen – den Parteivorsitz angeboten hatte. Brüderle griff bei diesem, von Parteifreunden wie Beobachtern als vergiftet bezeichneten Angebot jedoch nicht zu. Der Liberale ist ein gewitzter und gewiefter Mann der Absprachen und „Deals“, aber kein Hasardeur.

Die Folgen der vom Parteivorsitzenden verpatzten Kür des Spitzenkandidaten hätten sich im Laufe des Wahljahres noch ausbügeln lassen. Doch drei weitere Ereignisse sorgten dafür, dass das Jahr 2013 für Rainer Brüderle zum „bittersten“ seines politischen Lebens wurde, wie er selber konstatiert. Zunächst veröffentlichte der „Stern“ einen offenbar von langer Hand vorbereiteten Artikel, in dem eine „Stern“-Redakteurin den Eindruck erweckte, sie wäre von dem FDP-Politiker belästigt worden.

Kaum war das mediale Beben über Sexismus im Allgemeinen und den angeblichen „Chauvi“ Brüderle im Besonderen verebbt, zog sich der Spitzenkandidat bei einem Sturz schwere Brüche zu. Von da an schleppte sich der FDP-Spitzenmann, eigentlich einer der besten Wahlkämpfer unter den deutschen Politikern, unter Schmerzen von Marktplatz zu Marktplatz, von Termin zu Termin. Dass er durch die Sexismus-Debatte spürbar angeschlagen war, bemerkten alle, die ihn kannten. Jetzt sah jeder, dass Rainer Brüderle auch physisch nicht mehr der alte war. Der Eindruck war nicht hilfreich: Eine Partei kämpft ums Überleben – angeführt von einem angeschlagenen Bannerträger.

Dies alles wäre längst vergessen, wenn die Freien Demokraten am 22. September 2013 erreicht hätten, was ihnen seit 1949 immer gelungen ist: der Sprung über die 5-Prozent-Hürde. Aber als abgerechnet wurde, fehlten rund 100.000 Stimmen. Nicht viele bei 65 Millionen Wahlberechtigten – und doch zu viele. So sitzen zum ersten Mal im Deutschen Bundestag nur noch Umverteilungsparteien, aber nicht mehr in einer eigenen Fraktion organisierte überzeugte Marktwirtschaftler.

Politik ist ein hartes, ja gnadenloses Geschäft. Wie andere Politiker hat Rainer Brüderle gelernt, auch einstecken zu müssen: offene Attacken vom politischen Gegner, als Nachrichten getarnte Angriffe von den Medien, nicht zuletzt auch hinterhältige Manöver von so genannten Parteifreunden. Zu den meisten Vorwürfen und Unterstellungen hat er im Wahljahr 2013 geschwiegen.

In diesem Buch zieht er Bilanz. Hier spricht ein Politiker, der unverändert darunter leidet, dass seine Partei nicht mehr im Bundestag vertreten ist. Rainer Brüderle äußert sich zum ersten Mal zu den „Sexismus“-Vorwürfen, schildert die Umstände seines Sturzes und der langwierigen Genesung, gibt Einblicke in das Innenleben der Freien Demokraten im Schicksalsjahr 2013 und erklärt, warum die FDP als Regierungspartei zwischen 2009 und 2013 nicht „geliefert“ hat, was sie vollmundig versprochen hatte. Rainer Brüderle übernimmt Verantwortung für das Wahldebakel, lehnt aber die Rolle des Alleinschuldigen ab.

Dieser Gesprächsband ist weder eine Biografie noch ein Vermächtnis. Das Buch soll vielmehr einen Beitrag leisten zum besseren Verständnis dessen, was zur bittersten Niederlage der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geführt hat. Rainer Brüderle findet deutliche Worte, wäscht aber keine schmutzige Wäsche.

Das Buch beruht auf vielen ausführlichen Gesprächen, die ich zwischen November 2013 und Februar 2014 mit Rainer Brüderle geführt habe. Im Nachhinein bleiben immer noch Fragen, die man hätte stellen können. Auch fiel manche Antwort nicht so präzise aus, wie der Fragesteller es sich gewünscht hätte. Gleichwohl dürfte dieses Buch seinen Zweck erfüllen: Der FDP-Spitzenkandidat schildert das Schicksalsjahr der Liberalen aus seiner Sicht – offen und authentisch.

Bad Homburg und Berlin, Februar 2014
Hugo Müller-Vogg

1. "Wir haben fertig":
Der 22. September und die Folgen

„Ich bin in diesem Jahr 40 Jahre in der FDP. Das vierzigste Jahr war das bitterste Jahr für mich persönlich. Es war auch das bitterste Jahr für den politisch organisierten Liberalismus in Deutschland. Es war das bitterste Jahr für unsere FDP.

Leider konnte ich meinen Auftrag als Spitzenkandidat nicht erfüllen: Den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag, das Wiedererlangen des Regierungsauftrags.

Es gab in Teilen der Öffentlichkeit geradezu eine Vernichtungssehnsucht gegen uns, auch gegen mich persönlich.

Deshalb möchte ich zunächst einmal „Danke“ sagen. Danke dafür, dass Ihr in großer Zahl zu mir gehalten habt, als ich persönlich angegriffen wurde.

Ich sage auch danke dafür, dass Ihr in großer Zahl zu mir gehalten habt, als ich schwer gestürzt bin und oft unter großen Schmerzen mein Programm absolviert habe.

Meine liberale Familie hat in den schwersten Stunden zu mir gehalten. Das werde ich nicht vergessen. (…)

Klar, wir haben viel aufzuarbeiten nach dieser verheerenden Niederlage. Aber auch dabei geht es um Stil.

Wir sollten uns hier ehrlich die Meinung sagen. Aber wir sollten nicht vergessen: Die FDP wird als politische Kraft gebraucht und nicht als Selbsterfahrungstruppe.“

(Rainer Brüderle auf dem FDP-Bundesparteitag am 7. Dezember 2013 in Berlin)

Als Sie am Nachmittag des Wahlsonntags erfahren haben, die FDP werde wohl unter fünf Prozent bleiben, was ging Ihnen da als erstes durch den Kopf?

Ich wollte es eigentlich nicht wahr haben. Meine Einschätzung war, es ist offen, ob wir weiterhin zusammen mit der CDU/CSU regieren können. Dass wir nicht in den Bundestag kommen könnten, der Gedanke war mir völlig fremd. Das hielt ich für ausgeschlossen. Deshalb dachte ich, dass die Meldungen, die am Wahltag im Laufe des Nachmittags durchsickerten, falsch sind. Bei diesen Wahlnachfragen bleiben ja die Briefwähler außen vor. Erfahrungsgemäß schneiden wir bei den Briefwählern immer sehr gut ab. Am Sonntagnachmittag ging ich also schon davon aus, es wird eng. Aber ich glaubte zu diesem Zeitpunkt immer noch daran, dass wir über die fünf Prozent kommen.

Wie lange hatten Sie noch gehofft? Wann haben Sie aufgegeben?

Innerlich aufgegeben hatte ich gegen 21 Uhr. Anschließend habe ich mich mit meiner Frau und meinen engsten Mitarbeitern zu einem Glas Wein in eine Berliner Weinstube zurückgezogen. Da kam dann so um 23 Uhr die Meldung im Fernsehen: 4,97 Prozent für die FDP. Da keimte plötzlich wieder Hoffnung auf, es könnte klappen. Die noch nicht ausgezählten Stimmzettel kamen aber überwiegend aus den neuen Ländern, wo wir sehr schwach waren. Auch deshalb sah das Endergebnis leider anders aus.

Während des gesamten Wahljahres lag die FDP ja nie stabil und deutlich über 5 Prozent.

Es war mir klar, dass es schwierig würde. Ich hatte gehofft, dass die alles in allem erfolgreiche Bilanz von Schwarz-Gelb sich auch deutlich auf dem Konto der FDP niederschlagen werde. Und dass die Wähler wissen, dass es ohne FDP keine Fortsetzung der bürgerlichen Koalition geben kann. Die Sorge, wir könnten die fünf Prozent nicht schaffen, hatte ich deshalb nicht.

Sie waren der Spitzenkandidat, „Gesicht und Kopf“ der Liberalen. Als feststand, dass die Partei gescheitert ist, hatten Sie da das Gefühl: Ich habe versagt, ich bin schuld?

Als Spitzenkandidat trägt man natürlich Verantwortung für das Wahlergebnis. Da rede ich nicht drumherum. Deshalb habe ich noch in der Wahlnacht die Verantwortung für unser schlechtes Abschneiden übernommen. Es gehört sich einfach, dass man sich zu seiner Verantwortung bekennt.

Erwarteten Sie „mildernde Umstände“, weil Sie gesundheitlich angeschlagen waren?

Ich habe mich bis an die Grenze dessen, was ich vermochte, im Wahlkampf eingebracht. Aber ich hatte nach meinem Sturz im Juni nicht mehr die gleiche Kraft. Ich war angeschlagen, nicht nur physisch. Es wirkten zudem noch die Angriffe des „Stern“ nach. Trotzdem habe ich zu verantworten, dass wir es nicht geschafft haben.

Hätte die FDP mit einem anderen Spitzenkandidaten vielleicht besser abgeschnitten?

Das ist sehr theoretisch. Der Parteivorsitzende wollte die Spitzenkandidatur nicht übernehmen. Und von den Bundesministern hat niemand „hier“ gerufen.

Am Wahlabend saßen Sie im Berliner Congress-Centrum mit anderen Spitzenpolitikern der FDP – Philipp Rösler, Guido Westerwelle, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – zusammen, ehe sie alle auf die Bühne gingen, um bei der Wahlparty die Niederlage einzugestehen. Wie war die Stimmung? Gab es persönliche Vorwürfe, gab es Schuldzuweisungen?

Im Präsidium, das da tagte, war die Stimmung depressiv. Bei Mitarbeitern, die wussten, sie würden ihre Jobs verlieren, flossen auch Tränen. Es ging insgesamt schon sehr emotional zu. Persönliche Vorwürfe oder Schuldzuweisungen gab es nicht, aber auch keine kritische Selbstreflektion. Dafür saß der Schock zu tief. Keiner von uns war auf diese Situation vorbereitet. Deshalb war es nötig und richtig, dass Philipp Rösler und ich schnell vor die Kameras gingen und die Verantwortung für unsere Niederlage übernahmen.

Die Mitglieder des Präsidiums sind an diesem Wahlabend relativ schnell auseinander gegangen. Ist das nicht ein Indiz, dass das Mannschaftsspiel innerhalb der FDP schon seit einiger Zeit nicht mehr so richtig klappte?

Trauerarbeit lässt sich schlecht im Kollektiv bewältigen.

Nun ja, man kann sich auch gemeinsam betrinken.

Das gegenseitige Bestätigen, es sei eine katastrophale Situation, hätte auch nicht weiter geholfen. In dieser Situation musste zunächst einmal jeder mit sich und der Lage klarkommen.

Wo war an diesem Wahlabend eigentlich der FDP-Ehrenvorsitzende Hans-Dietrich Genscher?

Bei uns im Präsidium war er nicht.

Hatte er vielleicht geahnt, dass es so katastrophal endet?

Das ist möglich. Vielleicht hat er sich zu Hause wohler gefühlt als in der hektischen Atmosphäre einer Wahlparty.

Kurz nach 18 Uhr ging der ehemalige Generalsekretär Christian Lindner als Erster vor die Kameras. War das so abgesprochen?

Ja. Es war kurz nach 18 Uhr. Das war bei einem so knappen Ergebnis eine undankbare Rolle. Wir wussten ja noch nicht, wie es wirklich ausgeht. Man kann da viel Falsches sagen.

Christian Lindner wirkte bei seinen ersten Stellungnahmen sehr nüchtern, geradezu unberührt von dem Wahldesaster, das sich da abzeichnete. Er erweckte den Eindruck einer gewissen Distanz zur damaligen FDP-Spitze.

Das mag so sein, ich habe ihn dabei nicht beobachtet. Aber dass das Verhältnis zwischen dem ehemaligen Generalsekretär Lindner und dem Vorsitzenden Rösler nicht das innigste war, ist ja bekannt. Wie es in dieser Lage in Christian Lindner aussah, ließ sich von außen nicht erkennen. Ich glaube, auch er war sehr betroffen, weil die Partei zum ersten Mal nicht mehr in den Bundestag kam.

Lindner sagte noch am Wahlabend, der Liberalismus müsse „neu gedacht“ werden. Er meinte auch, die FDP müsse „wieder als seriöse Kraft“ wahrgenommen werden, mit „differenzierten“ Positionen. Das war doch eine ziemlich deutliche Kritik an der Partei und ihrem Spitzenkandidaten.

Er meinte es wohl anders. Er bezog sich meines Erachtens auf die Zuspitzung des Wahlkampfes 2009 auf die Steuerpolitik, was später zu Enttäuschungen bei den Wählern geführt hat. Schließlich hatte er schon 2009 gemeinsam mit Daniel Bahr und Philipp Rösler ein Buch über den mitfühlenden Liberalismus geschrieben.

Sie spotteten damals über den „Säusel-Liberalismus“.

Ich halte die Einstellung, man müsse die Dinge weicher spülen, statt sie pointiert darzustellen, für falsch. Ich glaube nicht, dass man so zustimmungsfähiger wird. Eine Partei sollte auf den verschiedenen Politikfeldern schon klare Kante zeigen. Es gibt unterschiedliche Arten, Politik zu formulieren. Ich bin für klare Positionen und für eine konsequente Umsetzung.

Ist es nicht so, dass die auf Harmonie bedachten, geradezu konsenssüchtigen Deutschen es lieber gern weichgespült haben? Angela Merkel hat 2013 auch eine Art Säusel-Wahlkampf geführt.

Es ist wohl ein Stück Zeitgeist. Der großen Mehrheit der Deutschen geht es gut, verglichen mit anderen Völkern. Wenn da jemand kommt und sagt, es sei nicht für alle Ewigkeit garantiert, dass alles gut läuft, dann fühlen sie sich gestört. Politik muss aber auch störend sein, darf nicht nur die Befindlichkeit einer Nation und ihrer Stammtische zusammenfassen. Politik muss sich im Gegenteil auf längere Sicht ausrichten, damit das Land erfolgreich bleibt. Es hat mich immer beschäftigt und beschäftigt mich unverändert, dass wir uns zu viel Zeit lassen mit Veränderungsprozessen und wir auf Schwachstellen nicht ehrlich genug hinweisen.

Man lernt ja bei Niederlagen die Menschen kennen – die wahren Freunde und diejenigen, die man fälschlich für Freunde hielt. Gab es für Sie nach dem 22. September auf diesem Gebiet Enttäuschungen oder auch positive Überraschungen?

Beides, auch aufmunternde Worte von manchem, bei dem man es gar nicht erwartet hätte. In der Partei waren wir zunächst alle wie gelähmt vom Schock des Wahlabends. Die Enttäuschung kam erst im Laufe des Abends. Bei der Analyse der Ursachen ging es in der FDP relativ fair zu. Ein nachträgliches innerparteiliches Gemetzel gab es nicht. Auch der Sonderparteitag im Dezember 2013 lief sehr fair ab.

Am Wahlabend und unmittelbar danach: Wer meldete sich da aus anderen Parteien bei Ihnen, wer „kondolierte“ oder tröstete?

Kondoliert zu bekommen tut manchmal mehr weh, als wenn einer gar nichts sagt. Mein Freund Volker Kauder meldete sich in der Wahlnacht per SMS, ebenso Gregor Gysi. In den Tagen danach rief mich auch Frank-Walter Steinmeier an, später auch die Kanzlerin. Sie lud mich etwa zweieinhalb Wochen später zu einem Essen ins Kanzleramt ein.

Hätte man nicht erwarten müssen, dass Angela Merkel sich beim ehemaligen „Wunschpartner“ früher meldet?

Sie ging möglicherweise davon aus, dass zunächst Volker Kauder mit mir spricht – von Fraktionsvorsitzendem zu Fraktionsvorsitzendem.

Das ist jetzt eine sehr formale Antwort.

(Lacht.) Ich habe das Verhalten der Kanzlerin auch als formal empfunden.

Bestätigt dieses Verhalten Angela Merkels nicht, was vielfach schon vor der Wahl vermutet worden ist: Dass sie im Grunde eine Fortsetzung der Koalition von Union und FDP gar nicht wollte, sondern konsequent auf eine Große Koalition zusteuerte?

Politik ist von Interessen geleitet, weniger von Gefühlen, von vermeintlichen oder echten Freundschaften, wobei es in der Politik echte Freundschaften so gut wie nicht gibt. Die Situation im Bundesrat mit seiner rot-rot-grünen Mehrheit sprach gegen eine Fortsetzung der Regierung von Union und FDP. Das war 2009 anders, da hatte Schwarz-Gelb auch im Bundesrat die Mehrheit. Beim Sozialflügel der Union war die FDP nie besonders gelitten – wegen unserer als neoliberal beschimpften Ordnungspolitik. Dabei waren die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft – Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und wie sie alle hießen – Neoliberale. Sie wollten mit staatlicher Ordnungspolitik – im Gegensatz zum zügellosen Manchester-Liberalismus – einen Rahmen setzen, innerhalb dessen man sich frei entfalten kann. Wer aber fast ausschließlich in der Kategorie von „Verteilung“ denkt, der will keine Ordnungspolitik. Für diesen Teil der Union waren wir als Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft oft der falsche Partner. Umso mehr hat mich gefreut, dass Bundespräsident Joachim Gauck im Januar 2013 in seiner Freiburger Rede die Philosophie des Neoliberalismus positiv herausgestellt hat.

Sie sprechen vom Sozialflügel der Union. Ist die CDU/CSU nicht insgesamt nach links gerückt?

Die Sozialausschüsse haben innerhalb der CDU letztlich ebenso wenig Bedeutung wie die Mittelstandsvereinigung oder der Wirtschaftsrat. Die Union ist von einer klassisch-konservativen Partei eher zu einer christlich eingefärbten sozialdemokratischen geworden …

… eine Art katholische SPD.

Das hat es schwer gemacht, innerhalb der Koalition zu einem Konsens zu kommen. Es gab relativ viele Reibungsflächen.

Wenn die beiden Volksparteien sich so ähnlich sind, müsste das einer kleinen Partei mit klaren Positionen nicht zu Gute kommen?

Wenn Menschen sich im Großen und Ganzen wohl fühlen, neigen sie nicht zu Grundsatzdebatten. Auch manche Darbietungen unseres Personals haben die Wähler sicher nicht fasziniert. Zudem haben wir zwischen 2009 und 2013 nur teilweise geliefert, was unsere Wähler erwartet hatten.

Zurück zum Wahlabend. Sie wurden schon vor 17 Uhr, als die Wahllokale noch offen waren, von ARD und ZDF aus der für 20:15 Uhr angesetzten „Elefantenrunde“ der Parteivorsitzenden ausgeladen. Peter Frey, der ZDF-Chefredakteur, begründete das mit dem Hinweis auf Ergebnisse der Wahlnachfrage, die die FDP unter 5 Prozent sahen. Waren Sie da wütend? Oder waren sie gar verletzt?

Ich war perplex, weil ich mit solcher Argumentation nicht gerechnet hatte. Gegen 19 Uhr habe ich meinen Pressesprecher gebeten, beim ZDF anzurufen, ob es dabei bleibe. Ihm wurde die Ausladung bestätigt, und der für den FDP-Vertreter vorgesehene Stuhl im Fernsehstudio abmontiert.

Im Nachhinein kann man sagen: Es blieb Ihnen erspart, als der große Verlierer in der Runde zu sitzen und dort „verprügelt“ zu werden.

Das mag so sein. Aber darum ging es mir nicht. Ich empfand es als ungerecht, ausgeladen zu werden, ehe das Wahlergebnis feststand. Obwohl mir klar war, dass ich in der Runde keine sehr schöne Rolle gehabt hätte.

Sie wurden von der TV-Runde ausgeladen. Dass ihr Stuhl im Studio abmontiert wurde, konnte der Fernsehzuschauer sehen. Die Botschaft dieser Bilder war klar: Die FDP wird abgewickelt.

Es wurde erzählt, in dem einen oder anderen Fernsehstudio sei bei den FDP-Zahlen laut gejubelt worden. Oder nehmen Sie die Publizistin Bascha Mika, die neue Chefredakteurin der „Frankfurter Rundschau“. Die saß im Dezember in einer Talkshow und erzählte, wie sehr sie sich am Wahlabend gefreut habe, dass die FDP endlich aus dem Parlament geflogen sei. Von solchen Journalisten kann man keine faire Berichterstattung erwarten.