Cover

Buch

Wie weit müssen wir fahren, um irgendwann einmal anzukommen? Die Antwort auf diese Frage muss jeder selbst herausfinden, doch das Wichtigste ist erst einmal das Losfahren. Denn wer nicht wegfährt, kann auch nicht heimkommen. Für Anika Landsteiner ist Reisen eine Herzensangelegenheit, die sie bereits um die ganze Welt geführt hat. Nur wenn man das warme Nest zu Hause verlässt, kann man sich für die Welt öffnen und das entdecken, was man liebt – auch wenn es manchmal mit Strapazen verbunden ist. Mit ihren Beobachtungen und Gedanken zeichnet sie manchmal das große Bild, manchmal spürt sie Zwischentöne auf – ob auf Dschungelpfaden in Kolumbien oder einem staubigen kalifornischen Highway. Der richtige Zeitpunkt zum Losfahren? Immer genau jetzt!

Autorin

Anika Landsteiner, absolvierte eine Ausbildung zur Schauspielerin, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte. Seit 2010 schreibt sie für verschiedene Online- und Printmedien wie Jolie, ze.tt, welt.de, und Qiio. Außerdem hat sie zwei Jahre das renommierte Münchner Stadtmagazin MUCBOOK geleitet und den Reiseblog Ani denkt entwickelt. Ihr erstes Buch „Gehen, um zu bleiben" erschien 2017, ihr Debütroman "Mein Italienischer Vater" 2018. Zudem moderiert Anika Landsteiner den Podcast ÜberFrauen, in dem sie weibliche Gäste interviewt.

Mehr Infos unter anidenkt.de.

ANIKA LANDSTEINER

GEHEN

UM ZU

BLEIBEN

Wie ich in die Welt zog,

um bei mir anzukommen

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Einige der Namen in diesem Buch wurden zum Schutz oder auf Wunsch

der betreffenden Personen geändert. Die einzelnen Geschichten basieren auf

den Erinnerungen und persönlichen Erfahrungen der Autorin. Mit den im Text geäußerten Meinungen möchte sie zum Nachdenken anregen. Reisen bedeutet, sich sein eigenes Bild zu machen – und diese Subjektivität ist das Schöne daran.

1. Auflage

Originalausgabe Juni 2017

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

Bildnachweis: shutterstock/Arcady

Redaktion: Antonia Zauner

Satz: Satzwerk Huber, Germering

JE · Herstellung: cb

ISBN 978-3-641-20301-6
V003

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

Prolog

Freiheit oder Warum ein Roadtrip ein gebrochenes Herz heilen kann

Scheitern oder Warum ich nicht weglaufe, sondern einfach laufe

(Ent-)Täuschung oder Warum Paris ein launischer, arroganter Lover ist

Sehnsucht oder Warum die Welt gut ist und ihre Menschen es ebenfalls sind

Angst oder Warum Medellíns Geschichte nicht einfach zu erzählen ist, und warum sie genau deswegen erzählt werden muss

Frieden oder Warum ich im Amazonas zurück zu meinen Wurzeln fand

Fremde oder Warum ich in China auf Hagrid traf

Meditation oder Warum ich den Ozean mehr liebe als alles andere

Trägheit oder Warum ich auf Ios unfreiwillig Urlaub machte

Wut oder Warum ich an einen unbekannten Ort reiste

Grenzen oder Warum man bei Angstzuständen einen Käsekuchen zur Hand haben sollte

Vorurteile oder Warum ein Kontinent kein Land ist

Freundlichkeit oder Warum Sansibar mich fest in den Arm nahm

Einsamkeit oder Warum Glück eine Frage des Teilens ist

Heimat oder Warum wir gehen

Danksagung

Für alle, deren Geschichten ein Teil dieses Buches sind.

PROLOG

Das ist meine Stadt.

Ich war sicherlich nicht die Erste, die das beim Anblick New Yorks dachte, und ich wage zu behaupten, dass kaum jemand, der einmal hier oben auf dem Empire State Building stand, sich dem Sog dieser Stadt entziehen konnte.

Das war nicht nur ein Haken auf meiner »Bucketlist«, einer Liste der Dinge, die ich in meinem Leben auf jeden Fall einmal tun oder sehen wollte, das war auch kein Scheißherzklopfen, zumindest nicht nur. Das war ein riesiger Plan, der sich auf einmal wie selbstverständlich vor mir entfaltete. Er erschien mir ganz klar und genauso strukturiert wie das Straßennetz unter mir: Irgendwann, wenn ich älter war, würde ich hier leben. Ich würde morgens mit meinem Coffee to go durch die Straßen hetzen, ich würde bei Regen in Dreiviertelhose und Ballerinas über Pfützen springen, ich würde im Sommer auf den Dächern sitzen und mit Freunden grillen, denn ich würde, ganz einfach, eine von ihnen sein und ich würde die Zeit meines Lebens haben.

New York und ich, wir waren wie füreinander gemacht. Und es war mir ziemlich egal, dass ich mich mit dieser Feststellung in eine Schlange hoffnungsloser Großstadtromantiker einreihte, die bereits im Flugzeug über Manhattan glaubten, hierher zu gehören.

Einen Tag nach meiner Rückreise, als ich vom Jetlag geschlaucht auf dem Sofa lag und schlief, kollidierte das erste Flugzeug mit dem Nordturm des World Trade Centers. Ein paar Minuten später rief mich meine Tante an und sagte mir, ich solle den Fernseher anschalten. Ich sah zu, wie das zweite Flugzeug in den Südturm flog. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich dabei weinte, ob ich an die Eintrittskarte auf meinem Schreibtisch dachte, oder ob ich meine Freundin anrief, die vor ein paar Tagen mit mir dort oben gestanden hatte. Ich war damals vierzehn Jahre alt, doch was diesen 11. September im Jahr 2001 angeht, klafft in meinem Gedächtnis eine große Lücke. Auch an den Tag, an dem das World Trade Center auf dem Sightseeing-Plan stand, erinnere ich mich heute kaum noch. Nur noch an dieses Gefühl, als ich dort oben auf der Plattform stand, während der Wind des Spätsommers durch mein Haar fuhr und ich mich unsterblich in diese Stadt verliebte.

Sechzehn Jahre später blicke ich auf viele bereiste Länder zurück. Auf Nachtzugfahrten durch China und einen Roadtrip durch Kalifornien. Auf zwei Monate Leben in Kolumbiens ehemaliger Drogenhochburg Medellín und knapp drei Monate Auszeit im Warm Heart of Africa, Malawi. Und manchmal, wenn ich ins Flugzeug steige, frage ich mich, welches Leben ich führen würde, hätte ich nach diesem Tag im September einen anderen Weg eingeschlagen. Meine Träume weggepackt, meine Reiselust nie aufkeimen und stattdessen meine Ängste überwiegen lassen.

Zwei Tage vor dem Einsturz des World Trade Centers habe ich New York verlassen, kurz vor den Attentaten in Paris bin ich mit Freunden in der Herbstsonne entlang des Kanals Saint-Martin flaniert und vier Wochen vor den Anschlägen in Brüssel habe ich dort mit einer Freundin in der Innenstadt belgisches Bier probiert.

Was ich damit sagen möchte: Das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn Menschen, die reisen wollen und Spaß daran haben, in andere Kulturen einzutauchen, sich von ihren Ängsten davon abhalten lassen. Die Welt ist nicht zu einem gefährlicheren Ort geworden – wir bekommen tragische Ereignisse in Zeiten von Social Media nur heftiger, schneller und hautnah mit.

Statt zu Hause zu bleiben, sollten wir genau das Gegenteil tun: Wir sollten noch viel mehr rausgehen. Internationale Freundschaften knüpfen und kulturelle Unterschiede nicht nur verstehen lernen, sondern zwischen ihnen Brücken bauen. Neue Geschmäcker mit der eigenen Zunge entdecken und der Nase nach durch stinkende Metropolen laufen. Auf einem Hochplateau oder am Meer zur Ruhe kommen und Tuk-Tuk-Fahrer nach ihrem Lieblingsort fragen. Die Arme ausbreiten, einfach mal atmen, denn so trivial das klingen mag, wir vergessen es viel zu oft, das Atmen. Und, schlussendlich: mehr über uns selbst erfahren.

Reisen ist lehrreich, Reisen wirft uns in Ausnahmesituationen, ohne vorher zu fragen, Reisen macht Spaß, Reisen ist ungemein bereichernd. Im Endeffekt ist Reisen wie Leben im Schnelldurchlauf. Alles, was man erlebt, ist konzentrierter und intensiver. Ein Schatz an Erfahrungen, der bleibt.

Die fünfzehn Geschichten in diesem Buch stehen für fünfzehn Länder, die mich geprägt und verändert, und, ja, mir beim Erwachsenwerden ordentlich unter die Arme gegriffen haben. Die Auswahl dieser Erzählungen war gar nicht so einfach, doch schlussendlich war zurückzublicken, Fotoordner zu durch­wühlen und ehemalige Reisepartner zu kontaktieren, genau die Zeitreise, die es brauchte, um dieses Buch zu schreiben. Und jetzt, so viele Jahre nach meinem ersten großen Abenteuer, kann ich sagen: Ich würde alles noch mal genau so machen. Denn die Momente, in denen ich mich auf dem Jakobsweg mit mir selbst überfordert gefühlt oder die herausfordernden Lebensumstände der Menschen in Benin erlebt habe, sind genauso wichtig wie die Ruhe, die ich beim Tauchen auf Mauritius verspürte oder die Sehnsucht in Indien, jeden Winkel des Landes erkunden zu wollen. Heute verstehe ich diese Reisen als einzelne Puzzleteile, die ineinandergreifen und ausschließlich zusammen meinen Blick auf die Welt geformt haben. Warum ich durch das Reisen zu dem Menschen wurde, der ich heute bin. Und vor allem, warum diese eine Reise nie zu Ende sein wird.

Ich bin mir sicher, dass einige Leser dieses Buchs genauso gerne da raus würden, sich aber nicht trauen. Vor allem junge Frauen fragen mich, ob meine Eltern nicht große Angst um mich hätten. Andere erklären mir, dass es in Deutschland sicherer sei als da draußen. Bekannte fragen sich, wie das finanziell so funktionieren soll. Und jedes Mal denke ich mir: Mach doch einfach mal. Überwinde deine Angst, überwinde deine Vorurteile, überwinde dein Unwissen. Nach Hause kommen geht immer. Bleiben geht immer.

Reisen heißt nicht nur, einhundert Likes auf das Palmenfoto zu bekommen und sich gegenseitig mit exotischen Zielen zu übertrumpfen, um immer ein bisschen höher, schneller, weiter zu kommen als die anderen. Reisen heißt vielmehr, Vorurteile abzubauen, in verschiedenen Sprachen Danke sagen zu können, sich fast vergessene Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Menschenkenntnis anzueignen. Die Welt aus einer Höhe von zehntausend Kilometern zu sehen oder den Blick unter die Meeresoberfläche zu wagen. Und Geschichten zu sammeln, die es wert sind, erzählt zu werden.

Deshalb ist es mir sehr wichtig, die Dinge so darzustellen, wie ich sie erlebt und empfunden habe. Dazu gehören auch Erfahrungen, die man auf den ersten Blick negativ deuten könnte, die im Kern jedoch so viel mehr sind. Ich möchte mit diesem Buch anderen Lust darauf machen, Neues zu entdecken. Für sich selbst, für die eigene Entwicklung, für den persönlichen Blick über den Tellerrand. Lassen wir uns also nicht die Freiheit nehmen, mutig zu sein, unsere eigenen Erfahrungen zu machen, die Hand auszustrecken und eins zu werden. Wir können, wenn wir wollen. Wir müssen keine Angst haben.

Ich gehe, um irgendwann einmal irgendwo bleiben zu können. Vielleicht hier, vielleicht am Ende der Welt. Aber bis ich wirklich irgendwo bleibe, schaue ich mir alles an. Und ist es nicht kostbar zu wissen, dass es abseits dessen, was man kennt, eine vielleicht noch schönere Alternative gibt?

Eine solche Alternative war für mich lange Zeit New York. Um genau zu sein, dreizehn Jahre lang, denn so lange hat es gedauert, bis ich zurückgekommen bin. So verlockend und reizvoll mein zweiter Aufenthalt begann, so schnell wurde ich jedoch ins kalte Wasser der Millionenmetropole geworfen. Ich würde hier nie zu Hause sein. Ich hatte mich verändert. Viele Dinge, die ich als Jugendliche glorifiziert hatte, sah ich mittlerweile skeptisch. So auch New York, denn es ist eine der Städte, die mir klarmachten, dass ich nur zu Besuch war. Tourist.

Doch als ich ganz genau hinschaute, vorbei an den leuchtenden Werbereklamen und glamourösen Broadwayauftritten, da wusste ich, dass sie mir auch nie etwas vorgemacht hatte. Es waren meine Vorstellungen gewesen, während die Realität ganz anders aussah, und das ließ sich nur begreifen, weil ich selbst dort war.

Obwohl ich also irgendwann feststellen musste, dass die Stadt meinen Illusionen nicht gerecht wurde, ist der Zauber nie ganz verflogen. Es war eine schöne Zeit und meine Erinnerungen daran leuchten hell zwischen so vielen anderen Reisen, die herausforderten, ernüchterten, verzauberten.

Der beste Zeitpunkt, um wieder aufzubrechen? Immer jetzt. Alles auf Anfang – alles von vorne.

FREIHEIT
oder
Warum ein Roadtrip ein gebrochenes Herz heilen kann.

USA, August 2010

Wenn mich jemand, damals wie heute, fragen würde, was mich wirklich glücklich macht, dann würde ich Folgendes antworten: ein Roadtrip mit einem Menschen meines Vertrauens in einem Ford Mustang Cabrio V8, Baujahr 67, einem verdammt guten Woodstock-Mixtape und einem Ziel: Kalifornien.

Diesem Bild, meinem persönlichen Sinnbild von Freiheit, bin ich im Sommer 2010 ziemlich nahe gekommen. Zwar fuhr anstelle des schicken Oldtimers ein beliebiger Geländewagen vor, dafür saß aber eine gute Freundin darin, was bedeutete: zwei gebrochene Herzen auf dem Weg von Los Angeles nach San Francisco. Es war der vielleicht kürzeste Roadtrip der Welt, ein Tag Freiheit, und doch veränderte er so viel in mir. Weil er den Grundstein legte für alle Reisen, die noch folgen würden, und in mir die Leidenschaft für das Aufbrechen weckte.

Das Jahr 2010 hatte furchtbar begonnen. Nach einem monatelangen Kampf war im Frühjahr meine fünfjährige Beziehung zerbrochen, und ich brauchte Wochen, um wieder auf die Beine zu kommen. Es war mein Abschlussjahr an der Schauspielschule, und so kam es, dass ich den Sommer über an einem Seminar an der Hochschule für Fernsehen und Film München teilnahm und im Rahmen dessen Kurzfilme drehte. Ich fand zu dieser Zeit langsam wieder zu mir selbst zurück und versuchte, mir klarzumachen, was ich konnte und, vor allem, was ich wollte.

Was ich in erster Linie wollte, war, diese schlimmen Monate mit einem richtig fetten Knall zu beenden, am besten mit einem Urlaub in Kalifornien – ich wollte schon immer dorthin.

Meine Hände am Hollywood Walk of Fame in die von großen Vorbildern legen und durch San Franciscos Haight-Ashbury schlendern, das Viertel, das in den 60er Jahren nicht nur Wohnort von Jimi Hendrix und Janis Joplin war, sondern weltweit zur Geburtsstätte der Hippiebewegung avancierte. Die Golden Gate Bridge im morgendlichen Nebel sehen und mit dem Auto die Küste entlangfahren und das Gefühl von Freiheit spüren, mit dem Kalifornien so viele Menschen anzieht. Ich wollte meine Haare durch die Sonne bleichen sehen und das Salz auf meiner Haut spüren. Für mich waren und sind auch heute noch Tage am Meer Tage von Freiheit, und Tage von Freiheit sind Tage des Glücks. Und von Letzterem kann man nie genug haben.

Ich fragte meine Freundin und Schauspielkollegin Lisa, ob sie nicht mitkommen wolle, doch meine Pläne kollidierten mit ihren, also blieb mir nur die Wahl, meinen Traum aufzuschieben oder spontan zu sein und alleine zu gehen. Aber ganz ehrlich: Ich hatte zu dem Zeitpunkt zu oft Thelma & Louise gesehen, um auch nur eine weitere Sache von jemand anderem als mir selbst abhängig zu machen.

Ich buchte einen Gabelflug, weil ich in Los Angeles starten und in San Francisco meinen zweiwöchigen Urlaub beenden wollte. Als ich beim Sommerfest der Hochschule dem Leiter des Seminars von meinen spontanen Reiseplänen erzählte, steckte er mir einen Zettel mit einem Namen und einer E-Mail-Adresse zu und sagte: »Kommt nicht infrage, dass du da alleine bist. Melde dich bei meinem Freund, er ist Agent. Bei dem kannst du schlafen.«

So weit, so gut, das Glück schien endlich wieder auf meiner Seite und ein Agent in Los Angeles hörte sich für mich nach einem verdammt guten Start an. Also stieg ich ins Flugzeug, landete nach knapp vierzehn Stunden, und als ich mein Handy anschaltete, leuchtete eine SMS von Lisa auf: »Tomatensaft, bitte. Ich komme in einer Woche.«

Erst als ich in der glattgebügelten Siedlung mit den hübschen, kleinen Villen und den dazugehörigen, wie mit dem Lineal gezogenen Vorgärten ankam, kam ich auch wirklich in L.A. an. Es war unerträglich heiß, und das, was ich aus dem Taxifenster hatte sehen können, entsprach genau meiner Vorstellung von der Millionenstadt. Anders gesagt: Zu viele Filme wurden hier gedreht. Wer hollywoodaffin ist, kennt die Stadt schon vor der Ankunft.

Mit dem hinterlegten Schlüssel öffnete ich die Tür und war erst einmal überrascht, wie karg und lieblos das von außen so schöne Haus eingerichtet war. Ein Golden Retriever stürmte auf mich zu und sprang an mir hoch, dabei wirbelten riesige Staubflusen über den Parkettboden. Fast alle Räume waren, bis auf das Nötigste wie ein Bett, Schrank oder ein Tisch im Esszimmer, vollkommen leer. Keine Fotos oder Bilder an der Wand, keine persönlichen Gegenstände bis auf zwei Gitarren. Entweder hatte dieser Mensch keine Persönlichkeit oder er war schlichtweg nie zu Hause – ich wusste nicht, was davon ich trauriger fand, als ich dort stand und den schwanzwedelnden Hund kraulte, der vor Euphorie, eine ihm fremde Person zu sehen, immer wieder so rasant über den Holzboden schlitterte, dass er kaum abbremsen konnte und manchmal gegen Möbelstücke stieß. Er tat mir leid.

Steve, der Agent, stand mir dann am Abend gegenüber und bemühte sich nicht einmal, seine allgemeine Gleichgültigkeit zu kaschieren. Er tippte auf seinem Blackberry herum, während er mich begrüßte, und wir schafften es nicht mal, uns durch etwas Smalltalk zu hangeln, der Versuch eines Gesprächs stoppte irgendwo zwischen Hey, how are you? und der Frage nach dem nächsten Supermarkt.

Obwohl ich ihn unsympathisch fand, bewunderte ich gleichzeitig seine amerikanische Mentalität, mich einfach zu sich einzuladen, ohne mich zu kennen oder sich zuvor zumindest mal kurz mit mir auszutauschen. Es machte für ihn keinen Unterschied, ob ich hier war oder nicht, doch ich war hier und sein Haus war eben kein Hotel. Ich konnte daraus, so unwohl ich mich in seiner Gegenwart fühlte, etwas Positives ziehen. Zumindest für den Moment.

Als er am Abend erneut das Haus verließ und ich nicht wusste, ob und wann er wiederkommen würde, tat ich etwas, worüber ich heute nur schmunzeln kann. Weil ich wegen des Jetlags keinen vernünftigen Gedanken auf die Reihe bekam, fing ich an zu zweifeln, ob ich wirklich in der Villa bleiben sollte. Und aus Zweifeln wurde schließlich Angst, weil ich die Situation nicht einschätzen konnte und mir immer wieder vor Augen führte, dass ich alleine im Haus eines fremden Mannes schlafen würde. Also tat ich das für mich in dieser Situation einzig Richtige: Ich entschied mich für Hilfe zur Selbsthilfe, suchte in der Küche nach einem großen Messer, legte es unter mein Kopfkissen und schlief gegen neun Uhr ein.

Um sechs Uhr wurde ich von Schritten auf dem Flur geweckt. Ich lag mit angehaltenem Atem und unfähig, mich zu bewegen, in meinem Bett und lauschte, wie der Golden Retriever hinter Steve hertrottete. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, döste ich wieder ein, und als Steve eine halbe Stunde später wieder nach Hause kam und ich kurz darauf die Dusche hörte, zog ich mir vor Scham die Bettdecke über den Kopf: Er war mit seinem Hund joggen gegangen. Und das tat man in einem Sommer in Los Angeles so früh oder so spät wie möglich.

Ich brauchte einige Tage, um mich zu akklimatisieren. Die Zeitverschiebung von neun Stunden haute mich um, hinzu kam die Hitze. Und weil ich unter fünfundzwanzig war und ein Mietwagen deshalb für mich fast das Doppelte kostete, verzichtete ich auf diesen Komfort und war damit womöglich der einzige Mensch, der in dieser Stadt jemals eine Strecke zu Fuß gegangen ist.

Ich liebte es, spazieren zu gehen, von mir aus auch stundenlang, aber per pedes durch eine der weitläufigsten Städte überhaupt, das war eine vollkommen absurde Idee. Manchmal, vor allem, wenn ich nach Santa Monica oder Venice wollte, nahm ich den Bus. Ein sagenhaftes Upgrade, das sicherlich nur ich so empfand, denn den Bus nutzen in Los Angeles nur diejenigen, die sich kein Auto leisten können.

Los Angeles ist der Inbegriff von Gegensätzlichkeit. Während dieser langen Fahrten konnte ich mir relativ schnell ein Bild davon machen, dass Los Angeles ein komprimiertes Abbild des amerikanischen Lebens darstellte. Der Größenwahn, die Absurdität und Zerrissenheit können anfänglich schockieren. Die Burger passen kaum in den Mund, niemand, absolut niemand, fährt einen Kleinwagen, überall laufen blondierte Babes mit aufgeblasenen Wannabe-Rockys herum, und alle sehen aus, als seien sie dem Tele-Gym entsprungen.

Der Kontrast zwischen Arm und Reich, zwischen Selbstdarstellung und Unsichtbarkeit ist nicht nur extrem, er ist zudem messerscharf. Freundliche Offenheit steht einer hohen Kriminalitätsrate gegenüber und die allgemeine Oberflächlichkeit einer unerschöpflichen Hilfsbereitschaft. Der Schönheitswahn, der Körperkult und der Wunsch, berühmt zu sein, stecken in jeder von Botox verschonten Falte und das wurde mir spätestens klar, als mir ein Mann nach einem netten Gespräch im Bus seine Visitenkarte in die Hand drückte – er war Stand-up-Comedian und Fan-Akquise sollte man bekanntlich nicht unterschätzen.

Los Angeles ist riesig, genauso wie die Träume seiner Bewohner. Ein Melting-Pot, der alle verschluckt, die nicht schnell genug, nicht gut genug sind, oder einfach nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Doch als ich mich erst mal an den Irrsinn gewöhnt hatte, konnte ich die Stadt als ein unterhaltsames Schauspiel betrachten – und spielte mit. Eine Woche lang war ich Stammgast bei irgendeiner In ’n’ out-Burger-Filiale. Danach ging ich entweder in einem der Second-Hand-Läden, für die die Stadt bekannt ist, shoppen oder fuhr nach Venice Beach. Ich beobachtete die Skater und verglich die Muskeln der Rettungsschwimmer mit meinen Kindheitserinnerungen an Baywatch. Ich zwinkerte den oberkörperfreien Rollerbladern zu, lief durch die luxuriös angelegten Wohnkanäle, fragte jeden Passanten, ob er wisse, wo Emile Hirsch, mein damaliger Lieblingsschauspieler wohne, und grüßte einen alten Rastafari, der so stoned war wie zehn deutsche Dealer zusammen. Keine Frage, es ging schnell: Ich verliebte mich Hals über Kopf in Venice. Vor allem in seine verrückten Bewohner und die Tatsache, dass niemand von ihnen auch nur eine Sekunde darüber nachdachte, seine Andersartigkeit zu verschleiern. Wozu auch, in Venice war sie Voraussetzung.

Abends ging ich oft an den Santa-Monica-Pier und blieb dort bis zum Sonnenuntergang. Einmal saß ich stundenlang dort und hörte einem Musiker zu, den ich unglaublich talentiert fand. Als ich seiner Akustikversion von Leonard Cohens Hallelujah lauschte, während am Horizont die Sonne unterging und sich der Himmel über dem Meer pink färbte, rissen meine frisch verheilten Wunden wieder auf. Das war nicht kitschig, und das war auch nicht romantisch, das tat einfach nur verdammt weh.

Und wenn’s wehtut, ist der Liebeskummer noch nicht vorbei, dachte ich und blieb sitzen, bis es dunkel war.

Als ich nach Hause kam, saß Steve am Tisch und aß. Er bot mir ebenfalls etwas an, wies mich allerdings darauf hin, dass es ein spezielles Diät-Menü sei. Bis zu dem Tag hatte ich keinen Mann getroffen, noch dazu einen sowieso schlanken, der sich ernsthaft auf Diät setzte. Ich sagte ihm nicht, dass ich als Zwischenmahlzeit fette Milkshakes trank und in der Küche ein großes Glas Nutella auf mich wartete, und lehnte dankend ab. Aber ich setzte mich zu ihm, in der Hoffnung, zumindest für ein paar Minuten ein Gespräch mit ihm zu führen. Ich hatte das Bedürfnis, ihm zu zeigen, dass ich Interesse an ihm und seiner Person hatte.

Er erzählte, dass er als Schauspielagent arbeite und zu den Klienten seiner Agentur unter anderem Tommy Lee Jones und Bruce Willis gehörten. Ich nickte und versuchte, mich nicht davon beeindrucken zu lassen, denn genauso brachte er es selbst rüber: als einen ganz normalen Job.

Wir unterhielten uns ein paar Minuten über die deutsche Filmbranche, dann klingelte sein Blackberry, und er verabschiedete sich. Ein Dinner hier, ein Drink da, sein Job spielte sich oftmals außerhalb seines Büros ab. Am nächsten Tag schrieb er mir eine SMS, in der stand, dass er kurzfristig für ein paar Tage nach Argentinien müsse und ob ich so lange seinen Hund sitten könne. Ich sagte zu, checkte meinen Kalender und stellte fest: Steve und ich würden uns genau verpassen und somit nie wiedersehen, denn ein paar Stunden vor seiner Rückkehr würde Lisa hier sein und mich abholen, um zusammen nach San Francisco zu fahren.

Drei Tage später schmiss sie den Motor unseres Mietwagens an, und wir bogen auf den Highway. Ließen den Sumpf von Los Angeles hinter uns und tauchten gleichzeitig ein letztes Mal in ihn ein. Unser Auto wurde eins von vielen, von oben betrachtet waren wir lediglich eine von unzähligen Ameisen.

Lisa stellte ein Bein auf dem Sitz ab und lenkte lediglich mit ihrer rechten Hand. Ich legte meine nackten Füße auf das Armaturenbrett und lackierte mir die Fußnägel.

»Das wollte ich schon immer mal machen«, sagte ich. Wir lachten beide, nicht wegen meiner Füße oder meines Kommentars, sondern weil es uns plötzlich so verdammt gut ging. Ich war so aufgeregt und hibbelig, dass ich mich fühlte wie in einem 90er Streifen, Clueless vielleicht. Als würde der heißeste Typ der Schule vor mir stehen und mir sagen, dass ich das tollste Mädchen der ganzen Highschool sei. Für einen langen Moment, für einen ganzen Tag, im Auto von Los Angeles nach San Francisco, war ich das coolste Mädchen. Sonnengebräunt, mit wehendem Haar und gelb lackierten Fußnägeln. Wer brauchte Therapiestunden mit hässlichen Zimmerpflanzen, wenn man sich selbst heilen konnte?

Ich machte ein Foto von Lisa beim Fahren. Als ich abdrückte, tauchten im Hintergrund drei Palmen auf. Es war, als könnte ich das Glück einfach festhalten, weil es bei solchen Roadtrips einfach immer mit im Auto sitzt. Ich musste dem Glück nicht mehr hinterherjagen, es stieg freiwillig ein.

Wir überholten Trucks, die ich bisher nur aus Filmen kannte. Vorne drin saß immer ein dicker Fahrer mit Bart. Er hieß John oder Bob, meistens Bob, und allen winkte ich zu, wohin auch mit meiner Energie, wohin mit meinen Händen. Sie lachten immer zurück. Ich glaube, sie sind nette Jungs, die Bobs dieser Welt.

Ein paar Stunden nachdem wir Los Angeles verlassen hatten, überfiel uns der Hunger, und wir hielten an einem Diner, das wie ein Klischee in die karge Landschaft geworfen war. Daneben parkte ein Cadillac, blank geputzt, und ich musste mich kneifen.

Drinnen war es ruhig, nur die Ventilatoren surrten monoton. Das Diner war riesig und die Klimaanlage auf unangenehme siebzehn Grad heruntergedreht. Wir setzten uns ganz nach hinten an ein großes Fenster und bestellten, wie sollte es anders sein, Burger und Softdrinks – denn das hier war Amerika! –, und das Pathos eines ganzen Landes überkam mich. Aber das war egal, denn an diesem Tag durfte ich alles, vor allem, mich danebenbenehmen. Ich befand mich schließlich im Liebesschmerz. Ich hatte die Erlaubnis für alles, und ich liebte den Refill.

Die kalifornischen Radiosender machten uns die Auswahl schwer. Sie konkurrierten mit den besten Songs der Rockgeschichte um die Wette, und wir klickten uns durch die Rolling Stones, Bruce Springsteen, Aerosmith, Journey und Pearl Jam. Alles, was ich von meinem Vater als die richtige Musik erklärt bekommen hatte, dröhnte nun in meinen Ohren, und ich wünschte mir, dass heute noch jemand solche Musik machen würde, die so perfekt einfängt, was wir an diesem Tag fühlten. Musik war alles bei dieser Fahrt, denn ohne sie wäre es kein richtiger Roadtrip gewesen, dann wären wir lediglich von A nach B gefahren. Doch so wurde der Weg unbeschreiblich schön, und das Ziel schien so unwirklich, dass wir die Straße, gesäumt mit all den Glücksgefühlen am Wegesrand, brauchten, um uns darauf vorzubereiten.

Die Sonne ging unter, wir waren fast da, und mussten feststellen, dass wir überhaupt nicht vorbereitet waren. Plötzlich lag San Francisco in dichten Nebel gehüllt vor uns. Es war eine unwirkliche Szene, nachdem wir gerade den ganzen Tag durch diese staubtrockene, heiße Landschaft gefahren waren, wo Tumbleweeds über die Straßen fegten und Mundharmonikas in den Ohren nachklangen.

Wir fuhren und fuhren, und es kam mir vor, als würden wir niemals ankommen. In unregelmäßigen Abständen kündigten uns vereinzelte Schilder die Golden Gate Bridge an, und langsam wurde ich nervös.

Lisa drehte den Radiosender lauter und bedeutete mir, die Klappe zu halten. Ich hielt zusätzlich die Luft an. Den Song kannte ich. Die Abfolge dieser Gitarrengriffe, das lange Intro. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf und ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper: »Wish you were here« von Pink Floyd. Der Nebel lichtete sich, und da war sie auf einmal, die verdammt schönste Brücke der Welt.

»Ach du Scheiße«, sagte ich, und krallte meine Finger ins Leder des Sitzes.

»Verdammt, ich muss fahren, ich will nicht fahren, ich will gucken«, rief Lisa neben mir, und ich griff nach ihrer Hand.

How I wish, how I wish you were here, we’re just two lost souls swimming in a fish bowl year after year, kam es aus dem Radio.

Wir fuhren über die Brücke und saugten das Gefühl vollkommener Freiheit ein, und es war egal, ob wir wirklich frei waren, denn wir fühlten uns so, und das war alles, was zählte. Wir schlossen einen Pakt, nicht mehr zurückzuschauen, denn dieser Moment fühlte sich richtig an. Alles hatte wieder seine Ordnung, und was wehtat, war plötzlich aus dem Rahmen herausgefallen. Ich hatte die Trümmer meiner Beziehung abgeschüttelt, mein Bild zurechtgerückt. Am Ende war es gar nicht so schwer gewesen. Vielleicht, weil ich es endlich einfach wollte.

Auf Couchsurfing, ein Portal, über das man einen kostenlosen Schlafplatz bei Einheimischen finden kann, stießen wir auf die Brüder Marty und Matthew aus Orange County, die sich seit Kurzem eine Wohnung in San Franciscos Studentenviertel teilten. Nachdem Marty, der ältere von beiden, uns am Abend die Tür geöffnet hatte, standen wir kurz darauf mit einem grinsenden Amerikaner in einer großen Wohnküche. Mein Blick fiel als Erstes auf einen Kühlschrank, an dem ein Zapfhahn befestigt war.

»Ich braue Bier im Hinterhof«, war Martys Antwort auf meinen Blick, und schon eine Stunde später saßen wir mit ihm in einer Bar und tranken Schwarzbier.

Marty war ein unglaublich herzlicher Mensch, einer von der gleichen Wellenlänge, einer, der uns das Gefühl gab, dass wir willkommen waren und er mehr über uns und unser Leben erfahren wollte. Er selbst suchte im bodenständigen und offenen San Francisco das einfache Leben, das ihm im für sein Spießertum bekannten Orange County verwehrt geblieben war. Allein diese Tatsache machte ihn für mich sympathisch. Er erinnerte mich unweigerlich an den rebellischen Teenager Ryan Atwood aus der klischeebeladenen Serie O.C. California, die ich als Jugendliche immer geschaut hatte.

Am nächsten Morgen stand Eva aus Chicago in der Tür und am Nachmittag stießen auch noch Lisas Freunde, die für einen Verwandtenbesuch in L.A. gewesen waren, zu uns. Marty und Matthew legten weitere Matratzen aus, und so wurde aus einer Übernachtung bei zwei Brüdern schließlich eine Kommune über sieben Tage, die in Kochabenden und Partys mündete, bei denen Eva lediglich einen Badeanzug trug und Dart spielte, während Lisa und ich den anderen deutsche Songs beibrachten.

Kurz vor unserem Abschied bestand Marty darauf, uns San Franciscos Umgebung zu zeigen, und so fuhren wir am frühen Morgen durch dicke Nebelschwaden an seinen Lieblingsstrand, den Stinson Beach. Es war noch kühl, doch wir setzten uns barfuß in den kalten Sand, tranken Kaffee und aßen Toast. Wir waren eine kleine Familie geworden, stellte ich fest, als ich mich so in der Runde umschaute. Und ich glaube, dass auch Marty, obwohl er sich vermutlich freute, bald wieder ein leeres Haus zu haben, uns gerne für längere Zeit um sich gehabt hätte. Zum Abschluss des Tages machten wir noch einen Abstecher ins Sonoma Wine Country und fuhren nach einer Weinprobe bei Sonnenuntergang in den heißen Bergen nicht nur angetrunken, sondern glücklich und sentimental wieder nach Hause.

Als ich an meinem letzten Tag in Kalifornien aufwachte, hatte ich all diese Eindrücke nicht nur gesammelt, sondern tief in mir verstaut. Nach dem unerträglich langen Prozess der Trennung war ich so sehr in meiner eigenen kleinen Welt gefangen gewesen, dass ich fast vergessen hatte, wie schön das Leben sein konnte. Die allgemeine Fabelhaftigkeit. Und das Ungebundensein.

Ich erinnere mich noch ganz genau an einen Abend in einer Bar in San Francisco, als ich zur Tür blickte und mich plötzlich eine Erinnerung an meine vergangene Beziehung so einholte, dass mir schlecht wurde. Ich ging nach draußen und fing so erbärmlich an zu heulen, dass Lisa sich dazusetzte und mitweinte. Wir saßen einige Minuten vor der Tür, unsere Körper schüttelten sich, so lange, bis es irgendwann gut war.

»Was raus muss, muss raus«, sagt meine Mutter immer. Und ich, ich hatte im Sommer 2010 wirklich rausgemusst. Nicht nur nach Kalifornien, nicht einfach nur physisch, sondern raus aus meinem Elend und rein in etwas ganz Neues. Als ich schließlich am Flughafen von San Francisco stand, war ich wieder die Alte. Ich wusste, dass das noch lange nicht alles war, dass jetzt nicht einfach alles wieder gut war, doch nachdem ich wochenlang nur noch funktioniert hatte, fing ich jetzt wieder an zu leben.

Die Frage, die sich mir von da an immer wieder stellte, war: Sollte man also auf Reisen gehen, um ein Beziehungsende zu verarbeiten?

Ich finde, dass das grundsätzlich eine fabelhafte Idee ist, solange man sich sicher sein kann, dass man nicht wegläuft. Probleme überqueren Ozeane und sind manchmal noch vor einem selbst dort. Sie warten überall auf uns.

Reisen stellt keine Lösung dar, Reisen hilft lediglich dabei, Lösungen zu finden. Es ist einfacher, am Strand bei Sonnenaufgang zu philosophieren, was Freiheit wirklich bedeutet, als zu Hause im Bett. Nämlich, dass wir immer machen können, was wir wollen. Und wer uns dabei begleiten darf. Ich für meinen Teil habe in Kalifornien erkannt, dass nichts meinen Kopf so klar werden lässt wie stundenlang mit dem Auto zu fahren, Musik zu hören, still zu sein. Ich habe mir die Freiheit genommen, alleine nach Kalifornien zu fliegen, und ich nahm sie mir danach immer wieder, und ich spüre jedes Mal, wie gut das tut.

Überall unterliegen Menschen ihren eigenen Konsumzwängen. Sie hängen ihr Geld in den Kleiderschrank und betrachten ihre Wochenenden nur dann als gelungen, wenn schick gegessen wird und man am Sonntagmorgen vor dem Brunch betrunken aufwacht. Wen das wirklich glücklich macht, der darf das gerne tun. Interessanterweise sind das aber oftmals die Leute, die mich mit großer Skepsis fragen, woher ich das Geld zum Reisen hätte, und das sind auch diejenigen, die nach meiner Antwort durchblicken lassen, dass sie die Hätte-hätte-Fahrradkette nicht unterbrechen wollen, weil sie sich einbilden, es nicht zu können. Ein selbst geschaffener goldener Käfig, der von außen hübsch anzusehen ist, vintage, frisch vom Flohmarkt, innen drin jedoch gefüllt mit Konjunktiven.

Reisen ist mit Sicherheit nicht der einzige oder der ausschließlich beste Weg, um aus dem eigenen Käfig auszubrechen. Frei sein bedeutet lediglich, eigene Entscheidungen zu treffen und sie nicht von irgendetwas abhängig zu machen. Beziehungen zu beenden, wenn sie nicht mehr guttun, genauso wie Freundschaften. Den Job kündigen, sobald der Montag überhaupt keine Chance mehr bekommt. Prioritäten setzen, selbstbestimmt leben und dabei keine Kompromisse machen. Vielleicht klappt das nicht immer, aber wer Roadtrips mag, der weiß ja, dass der Weg das Spannende ist und das Ziel lediglich das Sahnehäubchen.

Mir hilft das Reisen dabei, frei zu sein. Und wenn ich dann an Stränden wie Venice Beach sitze, halte ich mir vor Augen, dass, solange ich hierherkommen kann, doch irgendwie alles gut ist. Denn wirklich selbstbestimmt leben, das gönnen sich die Wenigsten.

So viele Jahre lang habe ich meine Entscheidungen von anderen abhängig gemacht. Weil ich mir zu wenig zutraute, weil ich mich mit anderen immer gut stellen wollte. Weil ich die feine Linie zwischen Kompromiss und Gehorsam nicht ziehen konnte. Immer war ein Mensch wichtiger als mein Traum, immer kam etwas dazwischen, so dass mein eigener Wunsch warten musste. Das wurde mir erst in Kalifornien so richtig bewusst. Und nachdem ich die verlorenen Jahre beweint hatte, sagte ich mir, dass ich es eben auf die harte Tour hatte lernen müssen. Andere hatten sicher schneller erkannt, dass in ihrem Leben immer eine Person ganz hinten in der Schlange stand, und diese Person immer dieselbe war. Bei mir waren neuntausend Kilometer nötig, um zu begreifen, dass ich selbst nun endlich an der Reihe war.

Niemand muss seinen Job kündigen, um zu zeigen, wie mutig er ist, oder seinen Partner verlassen, um kompromisslos zu leben. Aber es ist wichtig und zudem machbar, ab und an etwas für sich selbst zu tun. Das ist etwas, das ich in meinem eigenen Leben immer wieder überprüfe. Als Basis für alles, was noch kommen mag.

Meine Zeit in Kalifornien habe ich so sehr genossen, weil ich selbst entschieden habe hinzufliegen. Das Gefühl der Freiheit und das Wissen, dass in genau diesem Gefühl eine unglaublich ansteckende Abenteuerlust liegt, macht diese Reise zu einer meiner schönsten Erfahrungen. Sie war meine Basis für alles, was danach kam. Und ich hätte mir keine bessere wünschen können.