Kurt Lehmkuhl
Spritzen für die Ewigkeit
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
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Umschlaggestaltung: Simone Hölsch
ISBN 978-3-7349-9231-5
Bahn hatte geglaubt, ihn könne längst nichts mehr erschüttern auf dieser Welt. Dazu hatte er schon zu viel Not und Elend, Leid und Tod in seinem Leben gesehen und dokumentiert. Doch das Motiv, das er jetzt im Blickfeld seiner Kamera fixierte, jagte dem routinierten Journalisten einen eisigen Schauer nach dem anderen über den Rücken.
Unterhalb der ehemaligen, längst nicht mehr funktionsfähigen Eisenbahnbrücke zwischen Norddüren und Birkesdorf über die Rur baumelten zwei Leichen, knapp einen Meter über dem langsam dahinfließenden Fluss. Gemeinsam hatten die beiden Menschen, ein Mann und eine Frau, ihre Leben beendet. An beiden Enden eines dünnen Seiles, das sie um die Stangen des Geländers gewunden hatten, hatten sie die Schlingen geknüpft, die sie sich um den Hals legten. Gemeinsam mussten sie von der Brücke, die nur über Gehwege zu erreichen war, gesprungen sein, vielleicht Hand in Hand, vielleicht aber der eine auch gezwungenermaßen, weil ihn der andere in den Tod mitriss, vielleicht hatte einer noch gekämpft, war aber dem anderen ausgeliefert und wurde vom Gewicht des anderen mitgezogen.
So konnte, so musste sich diese menschliche Tragödie abgespielt haben.
›Scheiß Vermutungen‹, fluchte Bahn während seiner Suche nach immer neuen Plätzen auf den rutschigen Steinen an der Wasseroberfläche. Die beiden Menschen hingen da nebeneinander in der Luft, waren unzweifelhaft tot, eine Obduktion würde ergeben, wann sie gestorben waren, und konnte eventuell auch Anhaltspunkte dafür geben, warum es zu diesem doppelten Todesfall gekommen war. ›Was sollte er sich darüber Gedanken machen?‹, fragte er sich.
Bahn blickte um sich. Es waren nicht viele Menschen zugegen, etliche Polizisten, ein Notarzt, Sanitäter, einige Feuerwehrleute, die allesamt auf den Staatsanwalt und den Leichenwagen warteten.
Nur die Kollegen von den anderen Tageszeitungen in Düren, die vermisste Bahn. Wahrscheinlich waren sie im Gegensatz zu ihm nicht informiert worden. Da hatte sich einmal mehr gezeigt, dass sein langjähriger Informant Gottfried Jansen, der ihn vor einer knappen Stunde aus dem Schlaf geholt hatte, sein Geld wert war.
Bei aller menschlichen Tragödie übersah Bahn eines nicht: Er war der einzige Journalist vor Ort, seine Zeitung könnte als einzige authentisch vom Ort des Geschehens berichten, was er durchaus mit Zufriedenheit registrierte.
Helmut Bahn, trotz seines Alters von knapp 35 Jahren schon langjähriger Redakteur beim Dürener Tageblatt mit mehr als einem Dutzend Dienstjahren auf dem Buckel, tat sich schwer bei seiner unangenehmen Arbeit an der Rur. Dass jemand auf diese Art aus dem Leben scheiden musste, hatte er noch nicht erlebt.
Er hatte letztlich keine Skrupel, nachdem er sich an den Anblick des toten Paares gewöhnt hatte, die Leichen aus verschiedenen Perspektiven abzulichten; er würde allenfalls Skrupel haben, wenn ihn jemand verpflichten sollte, ein Foto in der Zeitung zu veröffentlichen.
Aber darüber würde er später vielleicht diskutieren müssen. Im Moment stand er, kurz vor acht, an diesem diesigen Oktobermorgen an der Rur und fotografierte das tote Paar, das leicht im Wind hin und her pendelte.
Ein Jogger, der bei seinem Frühsport am Morgen auf dem Weg von Mariaweiler nach Düren an der Rur entlang gelaufen war, hatte die baumelnden Leichen entdeckt und die Polizei alarmiert. Nun stand der Mann zitternd und schimpfend neben dem Rettungswagen am Ufer, notdürftig von einer Decke des Roten Kreuzes umhüllt, mit einer Tasse dampfenden Kaffee in der Hand. Er müsse gehen, hatte er mehrfach betont, bei der Isola warte man auf ihn.
Doch hielten ihn die Ordnungshüter zurück. Sie könnten darüber nicht entscheiden, er müsse auf die Kollegen der Kripo warten, hatten sie ihm lapidar zu verstehen gegeben.
»Das nächste Mal kann hier hängen, wer will, ich rufe nicht mehr an«, fluchte der Jogger, als Bahn ihn ansprach. Er bekäme Ärger im Betrieb, weil die Polizei nicht auf die Füße komme. Mitleid oder Anteilnahme schienen dem knapp 50-jährigen Mann fremd. »Wenn die unbedingt sterben wollen, bitte schön, das ist doch deren Bier.«
Bahn verkniff sich dazu einem Kommentar. Er war froh, dass er überhaupt mit dem Augenzeugen sprechen konnte, der ihm bereitwillig seinen Namen genannt hatte und als Erstes wissen wollte: »Komme ich auch in die Zeitung?«
Aber Unerwartetes oder Ungewöhnliches hatte ihm der Jogger nicht sagen können. Vielmehr fragte er Bahn, ob er die beiden Toten kenne. Er jedenfalls kannte sie nicht, nachdem er die Leichen noch einmal intensiv beobachtet hatte.
Diese Frage konnte ihm jedoch der Journalist nicht beantworten.
Die Polizisten ließen Bahn am Tatort unbeaufsichtigt arbeiten. Sie vertrauten ihm und hatten durch die langjährige Zusammenarbeit durchaus ihre Vorteile aus Bahns Tätigkeit erlangt. Er weigerte sich nie, der Polizei seine Negative zur Verfügung zu stellen. Bei Unfällen, aber auch bei Kapitalverbrechen machte Bahn stets bereitwillig und kostenlos die Fotos für die Polizei, sie ließen ihm im Gegenzug freie Hand bei seiner Arbeit, wobei er stets darauf bedacht war, den Polizisten nicht im Wege zu sein.
»Na, mein Freund, alles im Kasten?« Bahn spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte. Erfreut drehte er sich um und sah Kriminalhauptkommissar Küpper ins Gesicht, der sich unbemerkt an ihn herangeschlichen hatte.
Küpper, der wegen seines stets betrübten Blicks von Kollegen und Bekannten nur als Bernhardiner bezeichnet wurde, streckte Bahn die Hand zum Gruße entgegen. »Das wäre ja auch ein Wunder, wenn ich dich hier nicht getroffen hätte,« meinte der knapp 50-jährige Leiter des Morddezernats, der für Bahn ein väterlicher Freund geworden war.
Nicht zuletzt die Verbrechen der letzten beiden Jahre, die sie gemeinsam aufklären konnten, hatte ihre Freundschaft begründet und vertieft. Doch hielten die beiden Männer sich damit in der Öffentlichkeit zurück, da siezten sie sich, in Gegenwart von Kollegen wurde Bahn von Küpper genauso behandelt wie die anderen Journalisten in Düren. Unter vier Augen jedoch sprachen sie offen über die kriminellen Geschehnisse, die ihnen und vornehmlich dem Kommissar das Leben schwer machten.
»Gehst du etwa von Mord aus oder warum bist du hier?«, fragte Bahn statt einer Begrüßung, während er kräftig Küppers Hand schüttelte.
»Jedenfalls ist es ein gewaltsamer Tod«, gab der Kommissar ausweichend zur Antwort, während er die Leichen betrachtete. Er hatte sich tief in seinen Mantel eingegraben, als würde er frieren. »Oder glaubst du etwa, dass das da ein normaler Abgang aus dem Leben ist?«
›Was hätte er auch anders sagen können?’, dachte sich Bahn und schwieg. Er spulte den belichteten Film in die Hülse zurück und schob sie in eine Tasche seiner kurzen Lederjacke. Er nestelte nach einem frischen Schwarzweißfilm, den er in die Nikon einlegte. »Wenn du bestimmte Motive haben willst, musst du es mir sagen«, bot er Küpper an.
Doch der winkte dankend ab. »Die Porträtfotos können die bei der Obduktion machen.« Er lächelte schwach. »Willst du etwa dabei sein?«
Ablehnend hob Bahn die Hände. Das brauche nicht unbedingt zu sein, meinte er. Aber er hatte auf Anhieb verstanden, was der Bernhardiner gemeint hatte.
Schnaufend hatte sich Küppers Assistent, der fette Kommissar Wenzel genähert, der stets für die Kripo bei Obduktionen dabei sein musste. Wenzel mochte Bahn nicht und funkelte ihn böse an. Er möge verschwinden, raunzte der nicht einmal 30-jährige Kommissar ihn auch diesmal an, wie immer an den Tatorten, wenn sie sich begegneten. Bahn würde nur die Arbeit der Polizei behindern.
Der Journalist gab nicht viel auf dieses Geschimpfe, er hörte einfach nicht hin. »Worauf warten Sie eigentlich noch, Herr Küpper?«, fragte er stattdessen den Kommissar. Er hatte beobachtet, dass alle tatenlos herumstanden.
»Wir warten auf die Entscheidung des Staatsanwaltes«, antwortete der Bernhardiner. »Er hat noch nicht entschieden, ob wir die Leichen nach oben auf die Brücke ziehen oder ob wir die Stricke durchtrennen sollen.«
Die Antwort behagte Bahn nicht, er merkte, wie sich sein Magen verkrampfte. ›Das kann ja noch heiter werden‹, dachte er sich und wartete ab.
Erst eine halbe Stunde später fuhren Mitglieder der Dürener Berufsfeuerwehr mit einem großen Schlauchboot unter die Brücke und packten die Leichen an den Beinen, während ein Kollege den Strang durchtrennte. Schnell wurden die beiden leblosen Körper in Zinksärge gepackt und in zwei Leichenwagen fortgebracht.
Der Staatsanwalt, ein Mann in Bahns Alter, kam zielstrebig auf Küpper und Wenzel zu und forderte den jungen Kommissar feixend auf, ins Krankenhaus zu fahren. »Sie wissen schon, Herr Wenzel, ohne Sie fängt die Obduktion nicht an!«
Fluchend wandte sich Wenzel ab.
Der Staatsanwalt grinste Bahn an und meinte nur: »Was weißt du wieder, was ich noch nicht weiß?«
Küpper schaute irritiert auf die beiden. Staatsanwalt Banken war gerade erst einen Monat im Dürener Bereich tätig und schon schienen er und Bahn ein Herz und eine Seele.
»Sie können es nicht wissen, Herr Kommissar«, klärte ihn Bahn auf, »der Staatsanwalt ist bald mein angeheirateter Vetter.«
Er sah den Staatsanwalt an: »Friedrich, wenn du was wissen willst, musst du die Kripo fragen. Du weißt doch, dass die Presse in Düren von denen nie etwas erfährt. Und was ich privat weiß, das sage ich dir auch nur privat.« Er streckte den beiden Ermittlern die Hand zum Abschiedsgruß hin.
Banken schmunzelte. »Na, dann eben nicht. Grüße Gisela von mir«, rief er Bahn nach, der sich auf den Weg gemacht hatte, das Gelände zu verlassen.
Schleunigst fuhr Bahn nach Düren hinein. Wenn er sich beeilte, konnte er noch einen günstigen, wenn auch unerlaubten Parkplatz in der Nähe der Redaktion erwischen. Vor halb neun war in aller Regel in der Innenstadt in Bereichen mit einem eingeschränkten Halteverbot noch ein Plätzchen zu finden. Und Bahn konnte unbesorgt seinen Wagen dort abstellen, ohne befürchten zu müssen, dass er ein Protokoll kassieren könnte. Seine guten Beziehungen zur Polizei und zu den Politessen brachten es zwangsläufig mit sich, dass sie bei ihm ein Auge zudrückten.
Er hatte seinen gebrauchten Ford Escort Turnier, den er nach dem Totalschaden an seinem Traum-Porsche auf Wunsch von Gisela gekauft hatte, gerade verschlossen, als er auch schon von Fritz Waldhausen, Lokalchef beim Dürener Tageblatt und inzwischen sein bester Freund neben Küpper, angesprochen wurde, der ebenfalls auf dem Weg in die Redaktion an der Pletzergasse war. Bahn hatte sich schnell mit Waldhausen, der ein Jahr jünger war als er, arrangiert, als dieser die Redaktionsleitung übernahm.
Waldhausen hatte Bahn, wie auch die anderen Kollegen, bei der Arbeit gewähren lassen, ihnen keine Themen vorgegeben, sondern ihnen die eigenen Ideen belassen. Das hatte sich positiv aufs Arbeitsklima ausgewirkt und eine bis dahin in der Redaktion nicht gekannte Harmonie geschaffen.
»Helmut, was machst du denn hier?«, fragte ihn Waldhausen erstaunt. »Ich denke, du hast heute deinen freien Tag?«
Verflucht, erinnerte sich Bahn blitzartig, heute hätte er doch gar nicht arbeiten müssen. Nach dem letzten Sonntagsdienst stand ihm ein freier Tag zu, den er heute hatte nehmen wollen. Daran hatte er mit keiner Silbe mehr gedacht, als gegen sieben das Telefon geklingelt hatte und er schnell aus dem Bett gesprungen war, um Gisela nicht zu wecken. Als ihn dann Jansen auch noch über den mysteriösen Todesfall an der Rurbrücke informiert hatte, hatte es für Bahn ohnehin kein Halten mehr gegeben. »Da konnte ich doch nicht einfach liegen bleiben«, meinte er zu Waldhausen, der ihm lachend die Tür zur Redaktion aufhielt. »Oder wie hättest du reagiert?«
»Wie schon?«, antwortete Waldhausen mit einer Gegenfrage. »Ich wäre natürlich auch losgefahren.« Er stoppte kurz. »Aber du hättest mich ja auch anrufen können.«
Waldhausen wusste, dass Bahn dieses Angebot niemals angenommen hätte. Dafür hatte der Freund zu viel Druckerschwärze in den Adern. Der würde nie eine Geschichte abgeben, wenn sie heiß war. Und Waldhausen war nicht anders. Er hätte auch alles stehen und liegen gelassen, wenn es um die Zeitung gegangen wäre.
»Wo hätte ich dich denn anrufen sollen?«, fragte Bahn und grinste spitzbübisch. »Bei dir oder wo?«
»Ist ja gut«, wiegelte Waldhausen schnell ab. Er wollte es nicht unbedingt an die große Glocke hängen, dass er in der letzten Zeit mehr bei Thea als in seiner eigenen Wohnung weilte. Und offiziell brauchte auch Bahn das nicht zu wissen.
Aber der Freund wusste es längst. ›So blauäugig sind wir doch beide nicht‹, dachte er vergnügt. Er hielt es jedoch für angebracht, nicht darüber zu reden. Schließlich waren Gisela und Thea ebenfalls miteinander befreundet, und Gisela hielt Bahn ständig auf dem Laufenden.
Die beiden Journalisten kamen nicht einmal dazu, es sich an ihren Schreibtischen bequem zu machen, da war auch schon Fräulein Dagmar, langjährige, aber auch vorwitzige Redaktionssekretärin beim Tageblatt, herangesprungen. »Na, ihr beiden Hübschen, habt ihr eure Frauen wieder im Stich gelassen«, frotzelte sie, und beide bekamen prompt ein schlechtes Gewissen.
Waldhausen fiel es siedendheiß ein, dass er noch Theas Sohn, Konrad junior, von den Großeltern abholen und zum Kindergarten bringen sollte, was er gedankenversunken vergessen hatte, als er leise aus der Wohnung in Birkesdorf geschlichen war, ohne Thea zu wecken.
Bahn schlug sich stöhnend die Hände vors Gesicht. Er hatte seiner Dauerfreundin Gisela versprochen, sich mit ihr an seinem freien Tag auf die Suche nach einem Brautkleid zu machen. Daraus würde nichts werden. Erst mussten der Film entwickelt, die Bilder abgezogen und die Berichte für den Lokalteil und den überregionalen Teil geschrieben werden; ohne ein Bild von den Toten, wie Waldhausen zu Bahns Erleichterung ohne Diskussion entschieden hatte.
»Ihr seid schon ein Traumpaar«, stichelte Fräulein Dagmar ungeniert und die beiden Freunde schwiegen. Ob die Redaktionssekretärin damit die beiden, Thea und Waldhausen oder Gisela und Bahn meinte, ließ sie bewusst offen. Aber für die altgediente Frau, die schon so viele Journalisten in der Redaktion hatte kommen und gehen gesehen, war es klar. Bahn und Gisela, beide schlank, groß und blond, sowie die zierliche Thea und der drahtige Waldhausen, die passten wirklich zusammen. Und sie würde als Mutter der Kompanie schon dafür sorgen, dass da zusammenkam, was da zusammengehört.
Fast minütlich rechneten Waldhausen und Bahn mit einem Telefonanruf ihrer Partnerinnen, doch die blieben aus.
»Die haben sich längst zusammengetan und sind ohne euch unterwegs«, meinte die Redaktionsekretärin mit all ihrer zwischenmenschlichen Erfahrung nur, nachdem sie die nervösen Reaktionen der beiden auf das Klingeln der Telefone eine Zeitlang beobachtet hatte. »Frauen kommen ohne Männer viel besser aus als ihr denkt«, sagte sie süffisant, als sie Bahn eine Tasse Kaffee nachkippte und Waldhausen hartnäckig einen Zehnmarkschein für die fast leere Kaffeekasse entlockte.
Mehrfach hatte Bahn im Laufe des Tages versucht, Küpper oder Banken zu erreichen, doch wurde er in deren Büros immer wieder vertröstet. Sie würden zurückrufen, wurde ihm versichert, aber aus den Rückrufen wurde nichts.
Stattdessen gab es am Nachmittag per Fax eine Einladung zu einer gemeinsamen Pressekonferenz von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei, was Bahn die Zornesröte ins Gesicht trieb.
»Es ist immer dasselbe mit dem Sauhaufen«, schimpfte er, als er Waldhausen das Fax auf den Schreibtisch knallte, »da haben wir als einzige eine tolle Geschichte und die Trantüten laden die gesamte Dürener Journaille ein.«
Damit war die Exklusivität vorbei, damit würden alle Zeitungen und Rundfunksender berichten.
Waldhausen konnte die Verärgerung von Bahn mitfühlen, aber er versuchte, ruhig zu bleiben. »Denen ist verständlicherweise daran gelegen, die Geschichte einer breiten Öffentlichkeit publik zu machen.« Was er damit meinte, sagte er nicht. Er blickte nur zum Fenster hinaus auf die andere Straßenseite der Pletzergasse, dorthin, wo die Dürener Zeitung ihre Redaktion hatte: Das Dürener Tageblatt war nur ein Presseorgan in Düren, und nicht einmal die größte Tageszeitung neben der Dürener Zeitung und den Dürener Nachrichten. Und nur mit einer Berichterstattung in allen Blättern konnten die Ermittlungsbehörden ausführlich und flächendeckend informieren.
»Ich begleite dich«, schlug Waldhausen vor, »lass’ uns gehen.« Er hatte es eilig, und Bahn verstand auch den Grund für Waldhausens Eile.
Thea, die am Nachmittag den Sekretärinnenstuhl von Fräulein Dagmar übernommen hatte, war bei ihrem Dienstantritt nicht gerade sehr gesprächig gewesen und lief mit versteinerter Miene durch die Räume. Sie hatte offenbar kein Verlangen, dass Waldhausen ihr zu nahe kam.
»Ich habe Gisela beruhigt«, sagte sie nur zu Bahn. »Du seiest halt wie Konrad, habe ich ihr gesagt.« Konrad Schramm, das war ihr Mann und Bahns Freund gewesen, der vor einigen Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Und Konrad war wie Bahn jemand gewesen, für den es zuerst die Zeitung gab und dann die Zeitung und dann wieder nur die Zeitung.
»Wer so einen Typen heiraten will, muss das notgedrungen akzeptieren«, sagte sie und schaute wütend über den Flur in Richtung von Waldhausens Zimmer.
Bahn war gespannt, was Banken und Küpper sagen würden. Im Sitzungssaal in der Polizeiinspektion an der Aachener Straße hatten sich schon die Kollegen der anderen Medien versammelt, als er mit Waldhausen eintrat. Er war froh, als er Lars Krupp entdeckte, den Mitarbeiter der Dürener Zeitung, der ihm zuwinkte.
Er habe für das Tageblatt zwei Plätze freigehalten. »Ihr kommt doch sowieso immer als Traumpaar, du und Waldhausen«, grinste er Bahn frech an. Anders als Bahn hatte Krupp keine Probleme mit der Konkurrenzsituation. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein, immerhin war die DZ das größte Presseorgan an der Rur.
»Halt die Klappe«, brummte Bahn. Er setzte sich verärgert neben den jungen Mann und langte nach der letzten Flasche Mineralwasser, die noch verschlossen auf dem Konferenztisch stand.
»Weißt du, was die von uns wollen?«, fragte ihn der DZ-Mann.
»Selbstverständlich«, antwortete Bahn lässig. »Ich habe für die doch die Bilder gemacht.« Das schien zu sitzen, denn Krupp schaute ihn mit offenem Mund verblüfft an.
Bahns Verblüffung war nicht weniger groß, als ein ihm unbekannter, junger Staatsanwalt und ein Kollege von Kommissar Küpper den Saal betraten, woraufhin sämtliche Gespräche zwischen den Journalisten verstummten.
Der Staatsanwalt hielt sich nicht lange an einer Vorrede auf. Jetzt sei es auch in Düren so weit, beklagte er, jetzt würde es auch hier Übergriffe auf ausländische Mitbürger geben.
Bahn schüttelte sich. »Was soll das?«, fragte er Waldhausen flüsternd, der mit einem Schulterzucken antwortete und sich dann auf den Staatsanwalt konzentrierte.
»Heute in der Früh, gegen fünf Uhr 30, wurden Brandsätze in ein Wohnheim an der Girbelsrather Straße geschleudert, in dem die Dürener Stadtverwaltung Asylbewerber untergebracht hat«, erläuterte der Staatsanwalt betrübt.
Stumm und kopfschüttelnd schrieben die Journalisten mit, nur Bahn nicht. In seinem Kopf schwirrten verschiedene Gedanken herum. Er verstand nicht, was das mit den Toten von der Rurbrücke zu tun hatte.
»Menschen kamen gottlob nicht zu Schaden«, hörte Bahn aus der Ferne die Stimme des Staatsanwaltes. »Bewohner des Hauses haben das Klirren der Fensterscheibe gehört, als die Unbekannten den Brandsatz in ein Wohnzimmer warfen.« Sie hätten richtig reagiert und den Brandsatz gelöscht.
»Worin bestand denn dieser Brandsatz?«, wollte Krupp wissen.
Doch wollte der Staatsanwalt auf die Frage nicht antworten. »Dann haben wir morgen Nachahmungstäter, die auf die gleiche Weise vorgehen wollen«, gab er zur Erwiderung, die niemanden befriedigte.
Ob es Hinweise auf mögliche Täter gebe, fragte ein Redakteur der Nachrichten. Auch bei dieser Frage blieb der Staatsanwalt sehr vage. Dazu könne er nichts sagen. Es sei ja am frühen Morgen gewesen.
Waldhausen wurde es zu bunt. »Ist die Straße, an der das Wohnheim liegt, viel befahren? Wenn nein, haben die Anwohner, die ja nach Ihrer Mitteilung wach waren, einen Wagen gehört, wenn ja, warum haben andere Autofahrer nichts mitbekommen? Oder wurde der Brandsatz etwa nicht von einem Auto aus, sondern von einem Fußgänger geworfen?«
Das seien zu viele Fragen auf einmal, ließ sich der Kriminalpolizist vernehmen, der für den verunsicherten Staatsanwalt in die Bresche sprang. Es stimme, es herrsche zu dieser Zeit wenig Verkehr auf dieser Nebenstraße der Kölner Landstraße. Auch habe es den Anschein, als sei der Brandsatz aus einem Wagen geworfen worden.
»Diesel oder Benziner?«, fragte Waldhausen schnell dazwischen. Er sah den Kommissar mit einem strengen Blick an.
Das wisse man nicht, antwortete der Polizist, das habe bei der Vernehmung der Zeugen noch nicht geklärt werden können.
Waldhausen schüttelte ungehalten den Kopf, wodurch er die Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes auf sich zog.
»Was bezwecken Sie mit dieser Frage?«, wollte er unruhig wissen.
Waldhausen musterte ihn spöttisch. »Haben Sie mal nach Parallelen zu anderen Anschlägen gesucht?«
»Natürlich«, war die schnelle Antwort des Staatsanwaltes, »aber wir haben Ihnen ja gesagt, es ist das erste Mal in Düren, dass wir uns mit einem Brandanschlag auf ein Heim für Asylbewerber beschäftigen müssen.«
»Und was ist mit Erkelenz?«
»Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht?«, antwortete der Staatsanwalt verblüfft.
»Mein Kollege Waldhausen will von Ihnen wissen, ob es sich bei dem Anschlag eventuell um denselben Täterkreis handelt, der vor einigen Monaten Benzinbomben auf ein Asylbewerberheim in Erkelenz-Neuhaus geworfen hat«, mischte sich Krupp ein. Er lächelte Waldhausen an, der ihm nickend zu verstehen gab, dass er tatsächlich darauf habe anspielen wollen.
Bereitwillig überließ Waldhausen dem DZ-Kollegen das Gespräch.
Krupp verfügte zwangsläufig über mehr Informationen aus der Aachener Region als die Kollegen des Tageblatts. Anders als das Dürener Tageblatt, das seine Zentrale in Köln hatte, war die Dürener Zeitung eine der Lokalausgaben der Aachener Zeitung, die auch in Erkelenz mit einer Lokalredaktion präsent war.
»Dort sind innerhalb von zwei Monaten vier Brandsätze geflogen«, berichtete Krupp.
Dazu könne er beim besten Willen nichts sagen, meinte der Staatsanwalt, diese Fälle seien ihm nicht bekannt. Dafür sei er im Übrigen auch nicht zuständig, da dort die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach Ermittlungsbehörde sei.
Ob es denn vermessen wäre, die Staatsanwaltschaft mit Sitz in Aachen zu bitten, in Mönchengladbach nachzufragen und dann die Frage von Waldhausen zu beantworten, stöhnte Krupp. Es könne einem Täter offensichtlich nichts Besseres passieren, als ständig die Zuständigkeitsbereiche der Staatsanwaltschaften zu wechseln, stichelte er.
»Wir werden nachfragen«, versicherte Kommissar Küpper, der unbeachtet in den Saal getreten war und sofort gespürt hatte, wie sich das Diskussionsklima verschlechterte. Beruhigend hatte der Bernhardiner dem Staatsanwalt, der rot angelaufen war und der zornig mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte, die Hände auf die Schultern gelegt. »Wir werden nachfragen und werden Ihnen selbstverständlich sofort mitteilen, wenn es sich um dieselbe Tätergruppe handeln sollte.«
Bahn musste grinsen. Küpper hatte viel von ihm und Waldhausen gelernt. Sie hatten oft genug mit ihm beim abendlichen Kneipenbummel fiktive Pressekonferenzen durchgespielt, ihn in die Enge getrieben und ihm Schlupflöcher gezeigt. Inzwischen hatte es der Kommissar im Gespür, wie er mit den Journalisten umgehen musste, und die Journalisten hatten in den letzten Monaten gemerkt, dass Küpper offen und ehrlich mit ihnen umging; zumindest in den Fällen, die von allen behandelt wurden.
Dass er daneben mit Bahn sein eigenes Spiel spielte, das ging niemanden etwas an.
»Uns kommt es darauf an, die Öffentlichkeit zu informieren«, fuhr Küpper fort, der immer noch seine Hände auf den Schultern des jungen Staatsanwaltes liegen hatte, wie Bahn erstaunt beobachtete. »Wie der Staatsanwalt Ihnen sagte, gibt es noch zu wenig Anhaltspunkte. Wir möchten Sie, und damit die Bevölkerung informieren und Sie, und damit die Bevölkerung darum bitten, die Augen offen zu halten und uns über verdächtige Beobachtungen zu unterrichten.« Die Telefonnummern der Dürener Polizei seien bekannt. Küpper gab seinem Kollegen einen Fingerzeig.
»Wir haben übrigens Bilder vom Tatort machen lassen, damit Sie sehen, welches Ausmaß der Brandanschlag hatte. Auch gibt es Bilder vom Gebäude.«
Küppers Kollege war aufgestanden und überreichte an die Journalistenschar braune Briefumschläge.
»Das wär’s für heute. Oder gibt es noch Fragen?«, meinte der Bernhardiner mit einem langen Blick auf die Armbanduhr, womit er den gewünschten Erfolg erzielte. Die Journalisten schauten ebenfalls nach der Zeit und hatten es auf einmal sehr eilig, in die Redaktionen zurückzukehren.