Psyche [griechisch] bedeutet Seele, Soma heißt Körper. Psychosomatik ist die Lehre von der Wechselwirkung zwischen seelischen, psychosozialen und körperlichen Prozessen in Gesundheit und Krankheit. Psychotherapie ist Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln.
Die anthropologische Medizin ist der ganzheitliche Ansatz, der im ärztlichen Handeln, unabhängig von der Art der Erkrankung, seelische, soziale und somatische Aspekte gleichrangig beachtet. In der Praxis findet sie in der bio-psycho-sozialen Medizin ihren Niederschlag.
Die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist dagegen ein medizinisches Fachgebiet, das sich der psychotherapeutischen Behandlung von psychogenen Störungen widmet.
In der abendländischen Kultur wurden Seele und Körper in Anschluss an die griechische Philosophie und Medizin traditionell als Ganzheit betrachtet. Erst René Descartes stellte 1641 in seinen „Meditationen“ die res cogitans, d.h. Geist, Seele, Verstand und Vernunft, den res extansa, d.h. dem Körper gegenüber und prägte damit nachhaltig das abendländische Denken.
Mit der naturwissenschaftlichen Wende der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann ein physikalistisches Krankheitsverständnis in der Medizin unter dem Einfluss der „Zellular-Pathologie“ von Rudolf Virchow und der energetischen Physiologie von Hermann von Helmholtz die Oberhand und verlagerte den Schwerpunkt der Krankheitslehre auf anatomische Strukturen und physikalisch-energetische sowie biochemische Vorgänge. In der Folge entstand eine auf das Messbare zentrierte, „positivistische“ Annäherung an Patienten und ihre Krankheiten. Das Leib-Seele-Problem, d.h. die Frage nach den morphologischen und funktionellen Grundlagen des Zusammenwirkens von Geist und Materie in Krankheit und Gesundheit, wurde zum Gegenstand der medizinischen Philosophie. Es ist bis heute ungelöst. Neue Entwicklungen in den Neurowissenschaften eröffnen hier Perspektiven für weiterführende Konzepte.
Als eine Reaktion auf die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin der Moderne entwickelte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die psychosomatische Anthropologie (anthropologische Medizin) als Gegenströmung zur überwiegend somatischen Orientierung. Sie rückt den einzelnen Menschen, sein Schicksal, Erleben und seine Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Ihr Programm ist eine allgemeine psychosomatische Orientierung mit dem von Viktor von Weizsäcker formulierten Ziel, verstärkt wieder „das Subjekt in die Medizin einzuführen“2. „Psychosomatisch“ in diesem Sinne bezeichnet die grundsätzliche ärztliche bio-psycho-soziale Orientierung, die auch als ganzheitliche Medizin bezeichnet wird und die Bestandteil des ärztlichen Handelns in allen Bereichen der Medizin sein kann. Sie ist darum bemüht, seelische, soziale und körperliche Aspekte des Krankseins zu integrieren und bei der Behandlung von Kranken gleichrangig zu beachten. Sie kennzeichnet eine aufgeklärte ärztliche Einstellung, die – zumindest als Ideal – den Umgang mit allen Patienten prägen sollte.
Während die psychosomatische Anthropologie sich über lange Zeit mit dem Leib-Seele-Problem befasste und die Wechselwirkung zwischen seelischen und körperlichen Vorgängen in das Zentrum ihrer Überlegungen stellte, hat sich heute die Auffassung durchgesetzt, dass Krankheit und Gesundheit in einem umfassenderen bio-psycho-sozialen Modell3 zu betrachten sind. Danach steht das Wechselspiel zwischen Leib und Seele seinerseits wiederum in einem Wechselverhältnis zur Umwelt, die den Menschen prägt und die von ihm geprägt wird. Je nach Interesse, Ansatz und Methodik des Untersuchers rückt einmal mehr die biologische, ein ander Mal die psychologische, zwischenmenschliche oder soziokulturelle Perspektive bei der Betrachtung des Einzelfalles in den Vordergrund. Entscheidend, weitgehend aber noch im Bereich der Spekulation, sind die Prozesse und Mechanismen, die das Zusammenwirken dieser Ebenen von Prozessfaktoren im Krankheitsgeschehen beherrschen.
Man berücksichtigt also in gleicher Weise die körperlichen, seelischen, psychosozialen und materiellen Aspekte des Lebens, um Kranksein und speziell psychosomatische Erkrankungen zu verstehen. Dabei muss man nicht nur Ursachen, Entstehungsbedingungen und Folgen einer Erkrankung untersuchen, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen betrachten.
Wann heute gängige Modell für diese systemische Sichtweise von Krankheiten ist der Situationskreis4 von v. Uexküll (▼ Abb. 1). Er beschreibt die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt als einen stufenweisen Problemlösungsprozess, der durch die Wahrnehmung von Lösungsaufgaben, Bewertungen, phantasierte Handlungsentwürfe, Probehandlungen und endgültiges Problemlösungshandeln dargestellt wird. Krankheit ist gleichbedeutend mit Störungen in diesem zirkulären Prozess; Krankheit bewirkt Störungen und wird durch Störungen hervorgerufen.
Abb. 1: Der Situationskreis nach v. Uexküll
Das Arbeitsfeld der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie als medizinisches Fachgebiet ist die psychotherapeutische Behandlung der psychogenen Störungen.
Psychogene Störungen sind außerordentlich häufig. Es handelt sich um Krankheiten, die seelisch begründet sind oder an deren Entstehung seelische Krankheitsfaktoren maßgeblich beteiligt sind. Sie sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen seelischen, körperlichen und sozio-kulturellen Einflüssen. Sie machen rund ein Drittel der Erkrankungen in der Allgemeinpraxis und in der Praxis des Internisten aus. Aber auch in der Gynäkologie, Orthopädie, Dermatologie und Pädiatrie, um nur die wichtigsten Gebiete zu nennen, sind sie außerordentlich häufig.
Die Symptome und Krankheitsmanifestationen der psychogenen Störungen sind äußerst vielfältig. Sie reichen von seelischen Störungen (z.B. Ängste) über Verhaltensstörungen (z.B. Ess-Störungen), Charakterstörungen (z.B. pathologische Eifersucht) und Organfunktionsstörungen (z.B. funktionelle Herzbeschwerden) bis hin zu organischen Läsionen, beispielsweise in Form von Entzündungen oder Geschwürbildungen (z.B. Colitis ulcerosa).
Psychogene Störungen umfassen die neurotischen Störungen, die Psychosomatosen, die reaktiven Störungen und die posttraumatischen Störungen.
Bei der Behandlung finden im Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie, wie der Name sagt, vorrangig psychotherapeutische Verfahren Anwendung. Das sind vor allem psychoanalytisch begründete Verfahren (psychoanalytische und psychodynamische Psychotherapie), die auch als psychodynamisch bezeichnet werden, die Verhaltenstherapie sowie übende und stützende Verfahren. Weite Verbreitung haben auch humanistische Verfahren, insbesondere die Gesprächstherapie. Während diese in Österreich voll in die Versorgung integriert sind, sind sie in der kassenpsychotherapeutischen Versorgung in Deutschland nicht als leistungspflichtig anerkannt. Medikamentöse Behandlungen erfolgen in der Psychosomatischen Medizin allenfalls begleitend und unterstützend.
Der Begriff „Psychosomatik“ entstand im 19. Jahrhundert und wurde wahrscheinlich von Christian August Heinroth (1773 – 1849) eingeführt, der in Leipzig die erste bekundete Professur für „Psychische Therapie“ innehatte. Stärkere Beachtung und Verbreitung fand das psychosomatische Denken als Reaktion auf die einseitig naturwissenschaftliche Orientierung der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Inneren Medizin und Neurologie, die damals eine Einheit bildeten. Diese Orientierung ist eng mit dem Wirken von Gustav von Bergmann (1878 – 1955)5 in Berlin und München und mit der biographisch-anthropologischen Heidelberger Tradition verbunden, die von Ludolf von Krehl (1861 – 1937), Richard Siebeck (1883 – 1965) und Viktor von Weizsäcker (1886 – 1957) getragen wurde.
Die Psychotherapie hat ihre Wurzeln dagegen in den Entwicklungen der Psychiatrie und Neurologie am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Ein Markstein waren dabei die Hypnosebehandlungen von Konversionsstörungen, welche die damalige Zeit als „Hysterien“ stark beschäftigten. Sie führten zu den Experimenten von Sigmund Freud und Joseph Breuer in Wien, welche die Grundlage für die Entwicklung der Psychoanalyse bildeten. Freud überwand mit seinem Konzept eines „seelischen Apparates“, der sich im Verlauf der Kindheit in der Auseinandersetzung zwischen individuellem Trieb und gesellschaftlicher Norm entwickelt, das einseitig mechanistischphysikalistische medizinische Denken und betrachtete neurotische Symptome seelischer und körperlicher Art als Folge einer biographisch bedingten Entwicklungsstörung. Aus dem Zusammentreffen dieser Entwicklungslinien entstand die psychosomatische Fachdisziplin zwischen der Psychiatrie und den biologischen medizinischen Fächern.
Neuere Geschichte der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist als Spezialdisziplin mit dem umschriebenen Aufgabenfeld der psychotherapeutischen Behandlung psychogener Störungen ein relativ junges medizinisches Fach (▲ Übersicht). Sie ist in Deutschland seit 1970 an den Universitäten im Pflichtunterricht vertreten, während sie in Österreich und der Schweiz als Teil der Psychiatrie gelehrt wird. Dabei hat es sich an der Universität eingebürgert, das Fach kurz als „Psychosomatik“ zu bezeichnen, was dazu führt, dass viele Studenten überrascht sind, in diesem Gebiet Patienten mit rein psychischen Störungen (ohne körperliche Symptomatik) anzutreffen.
1992 wurde das Fach in Deutschland zunächst unter dem Namen „Facharzt für Psychotherapeutische Medizin“ in der Ärzteordnung institutionalisiert. Im Jahre 2003 wurde die Bezeichnung in „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ geändert. In der Schweiz deckt es den klinischen Aspekt der ebenfalls relativ neuen „Psychosozialen Medizin“ ab. In Österreich gibt es ein Diplom für Psychotherapeutische Medizin, die jedoch kein eigenes Fachgebiet ist.
Die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie versteht sich als Anwendung der Psychologie zur Behandlung psychogener Erkrankungen. Dem gemäß bezieht sie ihre Grundlagen aus der Psychologie einerseits, der Psychiatrie und den Neurowissenschaften andererseits.
In der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie bestehen heute mehrere Strömungen und eine Vielzahl von Konzepten, Theorien und Methoden nebeneinander. Die wichtigsten, die auch die Basis für die psychotherapeutische Versorgung darstellen, sind die psychoanalytisch orientierte und die behavioristische Richtung:
Durch das Zusammenwirken von neuroanatomischen und psychophysiologischen Forschungen gibt es heute eine rational begründete Vorstellung von der Entstehung und Veränderung psychischer Strukturen. Danach finden Erfahrungen in funktionalen Zuständen des Gehirns ihren Niederschlag. Diese beruhen auf elektrophysiologischen Potentialen an den Verknüpfungspunkten (Synapsen) zwischen den Nervenzellen mit Hilfe biochemischer Neurotransmitter (Brückenstoffe). Diese nervalen Verknüpfungen bilden funktionelle Systeme, die als neuronale Netze bezeichnet werden. Man kann sie nach heutigem Erkenntnisstand als somatische Korrelate von definierten Erlebniszuständen betrachten. Dysfunktionale neuronale Netzwerke können durch Psychotherapie verändert werden.
Über dieses allgemeine Verständnis hinaus hat die Hirnforschung inzwischen außerordentlich differenzierte Erkenntnisse über die Lokalisation von emotionalen und affektiven, kognitiven und vegetativen Funktionen erbracht. Danach ist insbesondere das limbische System im Zwischenhirn als Schaltareal zwischen psychischen, kognitiven und körperlich-vegetativen Prozessen identifiziert worden. Für das Verständnis der Affektregulation, der Verarbeitung überwältigender affektiver Erregungen, z.B. bei Traumatisierungen, und für die Entstehung psychosomatischer Symptome kommt der Interaktion von hormonellen, zentralnervösen und autonomen Regulationen in diesen Arealen eine Schlüsselposition zu.
Als Mittler zwischen seelischen und körperlichen Prozessen spielt das Immunsystem eine bedeutende Rolle. Insbesondere Trennungen und Verluste verändern über spezifische Botenstoffe (z.B. Interleukin und Interferon) die Regulationsfähigkeit des Immunsystems und fördern z.B. die Anfälligkeit für Infektions- und möglicherweise auch für Tumorerkrankungen. Außerdem sind spezielle Hormone bekannt, die erlebnisreaktiv Einfluss auf das Affekterleben haben, z.B. Hypophysen-/Nebennieren-Rinden-Hormone mit speziellem Einfluss auf das depressive und Angsterleben.
Den Ausgangspunkt nahm die Psychotherapie, wie schon erwähnt, mit der Behandlung von Konversionsstörungen, also körperlichen Funktionsstörungen auf neurotischer Grundlage, die wir heute zu den somatoformen Störungen zählen. Rasch kam die Behandlung von psychischen neurotischen Störungen, insbesondere von Hysterien und Zwangsneurosen, hinzu. Sie bildete das Forschungsfeld, in dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse entwickelt wurde. Mit dem Aufkommen des psychotherapeutischen Interesses in der Inneren Medizin gewannen Somatisierungsstörungen und die klassischen Psychosomatosen zunehmend an Bedeutung. Zugleich entstand im Arbeitsfeld psychotherapeutisch engagierter Psychiater ein starkes Interesse an der Psychotherapie von Psychosen, die aber die anfänglichen Erwartungen nicht erfüllte und später wieder an Bedeutung verlor.
Um 1950 wandelten sich das Spektrum der Behandlung und die Methodik in der Psychotherapie. Neben die Psychoanalyse, die bis dahin die beherrschende Behandlungsform war, trat die Verhaltenstherapie. Innerhalb der Psychoanalyse entwickelte sich die Ich-Psychologie, durch die der therapeutische Ansatz deutlich verbreitert wurde. Zunehmend kamen nun auch „Grenzfälle“ in psychotherapeutische Behandlungen. Seit etwa 1975 bilden Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, narzisstischen Störungen und Borderline-Störungen eine immer stärkere Patientengruppe. Heute stellen sie rund die Hälfte der Behandlungsfälle dar.
Als jüngstes Arbeitsfeld entstand die Arbeit mit primär körperlich Kranken mit Problemen bei der Krankheitsbewältigung und somatopsychischen Folgen. Dieser Bereich bildet heute als somatopsychische Medizin in verschiedenen somatischen Disziplinen die zweite Säule der Psychosomatik. Weitere aktuelle Aufgaben sind das Krankheits- und Gesundheitsverhalten, Prävention und Rehabilitation und in letzter Zeit die Behandlung von Patienten mit posttraumatischen Störungen.
2 Vgl. v. Weizsäcker (1940). Viktor von Weizsäcker (1886 – 1957), bedeutender Internist und Neurologe, lehrte in Heidelberg und Breslau. Unter dem Einfluss der Psychoanalyse verstand er Krankheiten als pathologische Selbstverwirklichung, die ihren Sinn in der Biographie des Betroffenen findet.
3 Engel (1962)
4 v. Uexküll u. Wesiack (1996)
5 Vgl. v. Bergmann (1932). Gustav von Bergmann beschäftigte sich als Internist im psychosomatischen Bereich vor allem mit dem möglichen Übergang von Somatisierungsstörungen in Psychosomatosen und Organerkrankungen.
6 Zugleich wurde der Psychotherapie innerhalb der Psychiatrie durch die gegenwärtige Weiterbildung und die erweiterte Gebietsbezeichnung „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ Rechnung getragen.
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit als einen Zustand des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, während sie Krankheit als Abwesenheit der so verstandenen Gesundheit definiert.
Was als krank und was als gesund betrachtet wird, unterliegt gesellschaftlichen Wertungen und einem historischen Wandel und hängt davon ab, welche Toleranz eine Gesellschaft für Abweichungen von der Norm hat. Je mehr ein Befinden, ein Erleben oder Verhalten als krank definiert wird, desto mehr wird es ausgegrenzt und zur Aufgabe der Medizin.
Gesundheit ist ein dynamisches Gleichgewicht zwischen körperlichen und seelischen Strukturen und Funktionen im Austausch mit der Umwelt. Das Gesundheitsverhalten dient dazu, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, indem die Betroffenen Störungen ausgleichen oder vorbeugende Maßnahmen ergreifen, auch wenn noch keine Beeinträchtigungen bestehen.
Demgegenüber führt ein Risikoverhalten kurzfristig oder langfristig zur Beeinträchtigung der Gesundheit, vor allem bei den sog. Zivilisationskrankheiten. Risikoverhalten ist z.B. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Alkohol- und Nikotinkonsum, Vernachlässigung von Früherkennungsmaßnahmen u.a. Die Ursachen des Risikoverhaltens liegen weniger in fehlender Aufklärung und geringem präventiven Wissen als in bewussten und unbewussten Motiven, wie z.B. in einer Selbstbestrafung oder latenter Suizidalität oder in der Psychodynamik süchtigen Verhaltens.
Die psychosomatische Forschung hat mit dem Konzept der psychosozialen Risikofaktoren ein Modell der Entstehung und Auslösung von Krankheiten entwickelt, das in gleicher Weise für somatische, psychosomatische und psychische Störungen Gültigkeit hat (▼ Übersicht).
Als generelles Krankheitsrisiko gilt der Stress7. Er bewirkt eine Stressreaktion im Erleben, Verhalten und in den körperlichen Reaktionen, die von der Intensität und Art des Stressors, von Persönlichkeitsfaktoren und vom persönlichen Umfeld abhängt. Ob die Anpassung gelingt, zur Disposition oder sogar zur Manifestation psychischer und somatischer Krankheiten führt, hängt von der Art und Intensität der Belastungen, von Persönlichkeitsfaktoren und von den Umgebungsfaktoren ab, z.B. vom Ausmaß der sozialen Unterstützung8.
Psychosoziale Risikofaktoren |
|
Die Verknüpfung zwischen äußerer Stressbelastung, innerer Disposition und der Krankheitsmanifestation wurde beispielhaft in der Psychoimmunologie9 untersucht. Dabei wurde entdeckt, dass über hormonelle und neuronale Übertragungswege eine enge Verknüpfung zwischen affektiven Zuständen und dem Immunsystem besteht. Diese ist die Basis dafür, dass psychisch belastende Zustände eine Veränderung der Immunitätslage bewirken können. Dadurch können die Betroffenen für Krankheiten anfällig werden – vom banalen grippalen Infekt bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen. Diese Erkenntnisse erklären das häufige Zusammentreffen von Krankheit und Belastung, z.B. bei Verlusterlebnissen (Tod und Trauer) und nach Trennungen. Ähnliche Zusammenhänge werden z.B. auch für Krebserkrankungen diskutiert, sind dort aber umstritten.
Als Risikopersönlichkeiten werden Muster von Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen beschrieben, die auf lebensgeschichtliche Zusammenhänge, insbesondere auf früh verinnerlichte Beziehungserfahrungen zurückgehen und zu bestimmten Formen von Erkrankungen disponieren. So ist z.B. als Risikopersönlichkeit für die Entwicklung eines chronischen psychogenen Schmerzsyndroms die Schmerzpersönlichkeit („Pain-prone-personality“) bekannt. Auch bei der Erforschung der koronaren Herzerkrankung (▼ Übersicht) wurde eine Risikopersönlichkeit gefunden, der Persönlichkeitstyp A bzw. das Typ-A-Verhalten10. Dieses ist charakterisiert durch besonders starken Ehrgeiz, Dominanzstreben, Arbeitseifer, beständigen Zeitdruck und die Unfähigkeit, sich zu entspannen.
Lebensveränderungen werden zum Krankheitsrisiko, wenn sie weder voraussehbar noch kontrollierbar sind und zu geringe innere und soziale Ressourcen bestehen, um die Beunruhigung oder das Gefühl der Bedrohung auszugleichen, das mit gravierenden Veränderungen des Lebens sehr häufig verbunden ist. Man spricht dann von kritischen Lebensereignissen, sog. Life events11.
Risikoverhalten und Krankheit am Beispiel der koronaren Herzerkrankung |
|
|
Beispielhaft wurde der Einfluss von kritischen Lebensereignissen in der Herzinfarktforschung untersucht12. Danach gehen der Manifestation der koronaren Herzkrankheit häufig lebensgeschichtlich belastende Ereignisse voraus. Als stärkstes Risiko erscheint dabei der Tod des Ehepartners.
Lebensereignisse können bei entsprechender neurotischer Disposition zur Auslösesituation für neurotische Störungen werden. Maßgeblich ist dabei die subjektive Bedeutung der Lebensereignisse. Als Auslösesituationen wirken sie, wenn sie einen Konflikt wiederholen, den der Betroffene in seiner früheren Entwicklung nicht gelöst und deshalb verdrängt hat. Misslingt die Konfliktlösung auch bei der aktuellen Wiederholung, so können neurotische oder psychosomatische Störungen entstehen. Aber auch körperliche Erkrankungen können zur Dekompensation einer neurotischen Persönlichkeit Anlass geben. Das liegt an der Regression (Kap. 1.3) und den dadurch provozierten Ängsten und Konflikten. Auf diese Weise kann eine primär körperliche Erkrankung zur Auslösesituation einer neurotischen Störung werden, z.B. ein Herzinfarkt zum Initiator einer Angstneurose. Man bezeichnet diese Störungen als sekundäre neurotische Störungen.
Man versteht unter Coping (to cope [engl.] umgehen mit, bewältigen) das bewusste bzw. bewusstseinsnahe Bemühen, die durch Krankheit aufgetretenen oder zu erwartenden Belastungen emotional, kognitiv und durch Handeln zu bewältigen.
Krankheitsbewältigung und Krankheitsverlauf stehen in einer Wechselwirkung zueinander: Die Art und Effizienz der Krankheitsbewältigung wirkt sich auf den Verlauf der Krankheit aus; umgekehrt führen bestimmte Einbrüche im Verlauf der Krankheit zu neuen Bewältigungsaufgaben. Wichtige krankheitsbedingte Belastungen, d.h. wichtige Bewältigungsaufgaben sind:
Einen bedeutenden Einfluss auf die Krankheitsbewältigung hat die Vorstellung der Betroffenen über Krankheitsursachen und die Funktion ihrer Krankheit sowie die Bedeutung, die sie ihr zuschreiben (attribuieren). Die subjektive Krankheitstheorie steht oft im Widerspruch zum medizinischen Krankheitsverständnis und auch zum rationalen Wissen der Betroffenen. Sie ist teils bewusst, großenteils aber auch unbewusst. Indem sie das Krankheitsverhalten beeinflusst, ist sie auch eine Einflussgröße auf den Krankheitsverlauf und das Ergebnis des Bewältigungsprozesses13.
In der subjektiven Krankheitstheorie schlagen sich persönliche Erfahrungen und Kenntnisse sowie familiäre und soziokulturelle Werthaltungen nieder. Dabei können einer Krankheit verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden: Selbstbestrafung, Auflehnung, Entlastung, Verlust oder Bedrohung u.v.a. Diese Zuschreibungen werden aus der Persönlichkeit des Betroffenen verständlich und können oft aus seiner Lebensentwicklung heraus nachvollzogen werden.
Eine Krankheit bedeutet demnach nicht nur eine Störung des körperlich-seelischen Gleichgewichts, sondern oft auch einen Verlust von Möglichkeiten und Fähigkeiten. Sie wirkt innerseelisch dann wie ein Verlusterlebnis und löst eine Art Verlust- bzw. Trauerarbeit aus, einen Prozess, der phasenhaft verläuft. Er wird als Coping-Prozess14 bezeichnet. Wenn die Bewältigung misslingt, treten Symptome auf, die als somatopsychische Anpassungsstörung (Kap. 6.2.2) bezeichnet werden. Phänomenologisch betrachtet, handelt es sich dabei zumeist um depressive, ängstliche Symptome bzw. Somatisierungsstörungen.
Die Bewältigungsprozesse haben demnach eine kognitive, eine affektive und eine handlungsbezogene Dimension. Man unterscheidet dabei verschiedene Bewältigungsformen15, z.B. die Verleugnung einer Krankheit, Schuldzuweisungen an andere, Rückzug und Resignation, aktives Zupacken oder die Haltung bewahren. Sie lassen sich zu drei typischen Bewältigungsstilen zusammenfassen: Verleugnung, aktive Auseinandersetzung und depressiver Rückzug.
An der Bewältigung einer Krankheit sind auch psychodynamische Faktoren beteiligt. So ist die Art und Weise, wie man mit einer Krankheit umgeht, z.B. davon abhängig,
Dieser psychodynamische Einfluss auf das Bewältigungsverhalten ist im Allgemeinen unbewusst und dient in seinen verschiedenen Formen der Abwehr (Kap. 2.1.2) von unbewussten Ängsten, die im Zusammenhang mit Krankheiten entstehen. Sie stellen, neben den äußeren Belastungen, eine zusätzliche Bewältigungsaufgabe dar.
Bewältigung und Abwehr beschreiben ähnliche und teilweise sogar identische Vorgänge aus der Sicht verschiedener theoretischer Konzepte: Das Abwehrkonzept stammt aus der Psychoanalyse, das Bewältigungskonzept aus der Verhaltensmedizin. Dadurch ergeben sich begriffliche Unklarheiten, die auch durch eine Gegenüberstellung wie die folgende nicht endgültig aufzuheben sind. Es bleibt aber eine Unschärfe der Abgrenzung, die bei der Verleugnung besonders deutlich ist.
Wichtige Bewältigungsformen (Coping-Strategien) |
|
|
|
Die Verleugnung spielt sowohl beim bewussten Bewältigungsverhalten als auch bei der Abwehr von krankheitsbedingten unbewussten Ängsten und Konflikten eine wichtige Rolle. Man versteht darunter, dass Gefährdungen oder Beeinträchtigungen, z.B. durch eine bedrohliche Erkrankung, einfach nicht anerkannt werden, obwohl die Betroffenen darüber Bescheid wissen. Sie geben sich in ihren Einstellungen, Gefühlen und in ihrem Verhalten so, als wüssten sie gar nichts davon. Es handelt sich dabei um schwer verarbeitbare Mitteilungen oder Wahrnehmungen, z.B. um die Mitteilung einer erschreckenden Krankheitsdiagnose oder die Beobachtung einer Veränderung am eigenen Körper, die auf eine bedrohliche Erkrankung hinweisen könnte.
Die Verleugnung beeinflusst in vielfältiger Weise die Patient-Beziehung und den Umgang mit Aufklärung, ärztlichen Maßnahmen und Vorschriften. Sie kann unterschiedlich umfassend sein; man unterscheidet deshalb zwischen totaler und partieller Verleugnung. Bei Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten ist ein Middle knowledge zu beobachten: Die Betroffenen befinden sich in einem Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um ihre Krankheit; dieser ermöglicht es ihnen, wechselnde und unterschiedlich starke Angstzustände zu regulieren. Ein besonderes Problem ist die Wiederverleugnung (Re-denial), wenn Patienten, die bereits mehrfach und offen über ihre Erkrankung informiert worden sind, sich so verhalten, als hätten sie kein Wissen von der Bedrohlichkeit ihrer Situation. Diese Form der Verleugnung ist unabhängig vom Ausmaß der Aufklärung des Patienten.
Die Annahme, dass die Qualität des Bewältigungsergebnisses im Sinne des „Good Coping“ davon abhängt, welche Art von Erkrankung bewältigt werden muss, wird im Allgemeinen nicht bestätigt. Stattdessen ist das Ausmaß der Beeinträchtigung im Krankheitsverlauf für das Bewältigungsergebnis ausschlaggebend. Außerdem hängt das Bewältigungsergebnis von der Persönlichkeit der Betroffenen ab.
Bis zu einem gewissen Grad ist ein aktives Bewältigungsverhalten, bei dem der Betroffene sich mit der Krankheitssituation bewusst auseinandersetzt, einem passiven Bewältigungsstil überlegen. Ein gewisses Maß an Passivität und Krankheitsverleugnung begünstigt aber das subjektive Befinden, während eine ständige bewusste Auseinandersetzung mit einer Krankheit, besonders bei chronischen Verläufen, zu einer zunehmenden Einengung der Phantasie und des Gefühlslebens führt.
Für behandelnde Ärzte und klinische Psychologen besteht bei der Betreuung von Patienten mit chronischen Krankheiten also eine besondere Aufgabe darin einzuschätzen, ob es für die Betroffenen besser ist, sich vertiefend mit ihrem Schicksal zu beschäftigen und zum Beispiel über den Sinn ihrer Krankheit nachzudenken, oder ob es nicht hilfreicher für sie ist, sich ablenken zu lassen und an positive Aspekte ihres verbleibenden Lebens und ihrer Vergangenheit zu denken.
Patienten, die im Rahmen der Intensivmedizin behandelt werden, stehen vor einer Vielzahl von Belastungen. Der Grund zur Intensivbehandlung ist im Allgemeinen eine bedrohliche Erkrankung, die Angst und Schrecken verursacht. Manchmal sind die psychischen Funktionen, die eine Orientierung und Bewältigung erleichtern könnten, durch Narkosefolgen, Traumafolgen oder komatöse Zustände geschwächt. Oft war die Behandlung ganz unerwartet und plötzlich notwendig geworden. Die ungewohnte Umgebung mit unbekannten Apparaten, fremden Menschen und verwirrenden Vorgängen führt zur Verunsicherung. Diesen Belastungen kann man nur schwer entgegenwirken. Wichtige Hilfen sind Kontaktangebot, Zuwendung und Information. Hilfreich sind insbesondere auch möglichst enge Kontakte zu Angehörigen und Freunden, die der Einsamkeit und Not der Patienten, allein schon durch die Anwesenheit und Vertrautheit, begegnen können.
Bei Patienten, die wegen schwerwiegender Nieren-Erkrankungen auf eine Dialyse angewiesen sind, führt die langfristige Abhängigkeit von der „Maschine“ zu umfangreichen psychischen Problemen. Der Verlust oder zumindest die Einschränkung der Nierenfunktionen ruft Sorge, Depression und Trauer hervor. Das Angewiesensein provoziert aggressive Einstellungen gegen die „Maschine“ und das Betreuungspersonal. Die Folgen der Beeinträchtigungen im persönlichen und beruflichen Bereich, wie Resignation, körperliche und sexuelle Einschränkungen, Berentung, wirtschaftliche Sorgen, Rückzug aus dem sozialen Aufgabenfeld u.v.a. sind langdauernde Belastungen. Es entstehen dadurch nicht selten somatopsychische Anpassungsstörungen mit Depressivität, Angst und vegetativen Beschwerden. Als Folge anhaltender Belastungen können sich Gleichgültigkeit und Compliance-Probleme bezüglich der Dialysebehandlung entwickeln. Die psychotherapeutischen Aufgaben sind langfristig und mühevoll. Wichtig ist die Stabilität und Kontinuität der Betreuung. Problemklärungen, Stützung und Aktivierung des Patienten sind die wichtigsten inhaltlichen Aspekte.
Der Eingriff in die körperliche Intaktheit und Integrität stellt eine tiefe Verunsicherung und eine nachhaltige Störung des Sicherheitsgefühls dar. Operationen provozieren daher in der präoperativen Phase tiefe Ängste. Sie werden teilweise verleugnet und durch Übergefügigkeit verdeckt, teilweise aber auch als Angst und Verzweiflung offen gezeigt oder sogar als Aggressivität gegen Ärzte, Pflegepersonal oder Angehörige gerichtet. Eine angemessene verständnisvolle Zuwendung und eine sachgerechte Information über das geplante Vorgehen und die erwarteten Folgen, Beruhigung und Anregungen zur Entspannung können dieser präoperativen Reaktion vorbeugen oder sie mäßigen. Neurotische Entwicklungen und Konflikte können sie aber auch verstärken. In solchen Fällen können gezielte psychotherapeutische Explorationen und Interventionen hilfreich sein, in denen subjektiv belastende Bedeutungen eines Eingriffs (Vorerfahrungen, Vorbilder, Schuld-Konflikte und Selbstbestrafungstendenzen usw.) aufgedeckt und besprochen werden.
Postoperativ besteht die Aufgabe, sich an die Situation als Operierter anzupassen. Die Operationsfolgen, z.B. Verlust von Organen oder Funktionen und die damit verbundenen Einschränkungen, müssen wahrgenommen, realistisch eingeschätzt und schließlich betrauert werden. Dieser Prozess braucht Zeit. Viele Menschen brauchen eine längere Phase der Verleugnung, um sich der neuen Situation überhaupt zuwenden und sie ertragen zu können.
Das Bewältigungsverhalten stellt im Allgemeinen den subjektiv bestmöglichen Umgang eines Kranken mit seiner Krankheit dar. Es ist eine kreative Leistung, die akzeptiert und respektiert werden sollte, auch wenn sie nicht unbedingt den persönlichen Vorstellungen des Behandlers entspricht. Unter bestimmten Voraussetzungen sind aber psychotherapeutische Interventionen erforderlich, um Bewältigungsversuche zu verbessern: Wenn das Bewältigungsverhalten selbstschädigend erscheint und z.B. notwendige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen vermieden werden, oder wenn es mit starken somatopsychischen Anpassungsstörungen verbunden ist (Kap. 20.2).
Oft steht ein Arzt oder Psychologe, der psychisch belastete körperlich Kranke begleitet, vor der Frage, welche Patienten „Problempatienten“ und welche „einfache“ Patienten sind: Ein schwieriger Patient kann gerade der sein, der gegen seine Krankheit ankämpft und den Arzt oder Psychologen als einen Repräsentanten seiner Ängste und Verluste erlebt, so dass sich ein Teil der Auseinandersetzung mit der Krankheit auch gegen sie richtet. Ein ruhiger, willfähriger Patient mag zwar „bequem“ im Umgang sein, kann aber aufgrund seiner depressiven Verarbeitung zu einer resignativen Hinnahme seiner Krankheit gelangen, die ihm eine aktive Bewältigung erschwert.
Das Konzept der Patient-Beziehung beschreibt, wie Patienten und ihr Arzt bzw. neuerdings ein betreuender klinischer Psychologe miteinander in Beziehung stehen und welche Prozesse dabei eine Rolle spielen. Früher sprach man von Arzt-Patient-Beziehung.
Die Beziehung zwischen einem Kranken und seinem Behandler wird von beiden Beteiligten gemeinsam gestaltet. Dabei kommen bewusste und unbewusste, individuelle und soziale Vorerfahrungen, Stile und Rollenvorgaben zum Tragen. Medizinsoziologisch betrachtet, besteht die Beziehung aus einem Zusammenspiel zwischen der Krankenrolle und der Rolle des Arztes17 bzw. Psychologen. Diese Rollen sind zueinander komplementär.
Deskriptiv lässt sich die Patient-Beziehung auf zwei verschiedenen Ebenen beschreiben:
„Patienten-“ bzw. „Krankenrolle“ ist ein medizinsoziologischer Begriff. Er beschreibt die psychosozialen Vorgaben, die sich für Betroffene aus einem Krankheitsgeschehen ergeben. Danach ist ein Kranker vorübergehend von seinen normalen sozialen Verpflichtungen befreit. Er wird weitgehend von der Verantwortung für sein Kranksein entbunden und hat dafür die Verpflichtung, alles zu tun, um gesund zu werden, d.h. speziell, mit dem Behandler zu kooperieren.
Seine Bereitschaft, sich an die Anweisungen des Arztes oder Psychologen zu halten und mit ihm zu kooperieren, wird als Compliance bezeichnet. Sie ist ein Ausdruck des Umgangs mit der eigenen Krankheit, also des Krankheits- und Bewältigungsverhaltens. Sie ist aber auch ein Ausdruck der Beziehung zum Behandler. Non-Compliance ist meistens ein Zeichen für eine Störung der Patient-Beziehung.
Der Kranke genießt einen besonderen Genesungsschutz, z.B. durch die Krankschreibung und die Übernahme der Krankheitskosten durch das Sozialsystem. Die Vorteile, die mit dem Kranksein verbunden sind, z.B. Schonung, Versorgung und Trost, werden als sekundärer Krankheitsgewinn bezeichnet. Er ist notwendig, um im Schutze der sozialen Entlastungen und Gratifikationen rasch gesund werden zu können. Er kann aber auch dazu führen, dass der Kranke unbewusst an seiner Erkrankung festhält, um die Sicherheit der Krankenrolle nicht zu verlieren.
Während der sekundäre Krankheitsgewinn ein medizinsoziologisches Phänomen und seine psychologischen Folgen beschreibt, bezieht sich der Begriff primärer Krankheitsgewinn auf ein psychodynamisches Phänomen bei seelisch bedingten Störungen. Als primär bezeichnet man die Entlastung vom inneren Konfliktdruck oder die Minderung der innerseelischen Angst durch die Bildung von psychogenen Symptomen. Dies geschieht zum Beispiel bei der Somatisierung als Verschiebung eines primär psychischen Konflikts auf die Ebene des Körperlichen oder bei der Bindung des Konflikts in einem umschriebenen psychischen Symptom.
Die Anpassung an eine chronische Krankheit wird, wiederum von der Medizinsoziologie, als Patientenkarriere18 beschrieben. Damit ist das Krankheitsgeschehen als psychosozialer Prozess gemeint. Er führt zu einer Veränderung des Selbst-Bildes und des Lebens des Kranken, der in einen ständig enger werdenden Bezug zum medizinischen Versorgungssystem tritt. Mit einer medizinischen Diagnose wird dem Patienten eine bestimmte Rolle, also ein durch Normen geregeltes Verhalten vorgegeben, in das er im Verlaufe seiner Patientenkarriere hineinwächst. Das gilt für somatische, psychische und psychosomatische Krankheiten in gleicher Weise.
Die ärztliche bzw. klinisch psychologische Tätigkeit ist mit einem definierten Rollenverhalten verbunden. Vom Behandler wird z.B. erwartet, dass er sein Bestes zur Heilung oder Linderung der Beschwerden des Patienten beiträgt, den Patienten unabhängig von seiner Person behandelt, eine affektive Neutralität wahrt, d.h. den Patienten nicht zur emotionalen Befriedigung eigener Bedürfnisse gebraucht, und seine eigenen Interessen hinter denen des Patienten zurückstellt und sich damit am Wohl der Gemeinschaft orientiert.
Dieses professionelle Rollenverhalten beschreibt ein Idealbild des Arztes und gilt auch für den klinisch tätigen Psychologen. Innerhalb dieser normativen Beziehung gibt es immer auch eine persönliche Beziehung zwischen Behandler und Patient, in der bewusste und individuelle unbewusste Beziehungsmuster wirksam werden. Sie kann unter psychodynamischen Aspekten betrachtet werden: Die Art und Weise, wie der Patient und sein Behandler miteinander umgehen, zeigt, wie sie Beziehungen gestalten, erleben und welche früheren Erfahrungen sie bewusst und unbewusst in die Beziehung hineintragen. Deshalb wird die Beobachtung der Patient-Beziehung in der psychosomatischen Diagnostik auch als ein Zugangsweg genutzt, um die verinnerlichten Beziehungs-Erfahrungen zu erkennen (Kap. 5.2).
Die Patient-Beziehung hat neben der sozialen eine innerseelische, psychodynamische Dimension. Sie beruht darauf, dass das Selbsterleben der Betroffenen in der Situation als Patienten bzw. Kranke mit äußeren und inneren Konflikten verbunden ist, mit Ängsten, Phantasien, Reaktivierungen traumatischer Erlebnisse und mit dem Zustand physischer und psychischer Schutzlosigkeit. Dadurch werden Abhängigkeitsbedürfnisse lebendig, die dem Abhängigkeitserleben der frühen Entwicklungsjahre der Kindheit ähneln. Diese „Rückkehr“ in entwicklungsmäßig überholte Erlebnis- und Verhaltensweisen wird als Regression bezeichnet.
Im Zustand der Regression erlebt der Kranke sich als Kind. Entsprechend schreibt er den Ärzten, Helfern und dem Pflegepersonal elterliche Funktionen zu, er projiziert bzw. überträgt auf sie die Elternrolle. Sie ist durch Schutz, Fürsorge, Macht, Vorsicht, Misstrauen u.v.a. geprägt. Diese Übertragung hängt davon ab, welche Erfahrungen ein Kranker mit wichtigen Beziehungspersonen in der Zeit gemacht hat, als er von ihnen real abhängig war.
Übertragungen lassen sich meist daran erkennen, dass Reaktionen einer Situation nicht angemessen sind und von einem starken emotionalen Druck begleitet werden. Sie sind durch rationale Erklärungen, „Richtigstellungen“ und rationale Einsicht wenig zu beeinflussen und durch reale Erfahrungen nur schwer zu korrigieren. Es handelt sich vielmehr um ein Erleben, das durch innere, unbewusste Erfahrungen beeinflusst und motiviert ist. Viele Hoffnungen, Erwartungen, Enttäuschungen, Ängste und Befürchtungen von Kranken enthalten einen solchen irrationalen Übertragungsanteil. Sie können Ursache von Kommunikationsstörungen werden, vor allem dann, wenn sie nicht als Übertragungen erkannt werden.