Kapitel

Mit jedem Erwachen schien es Louise, als hätte sie einen fürchterlichen Albtraum überstanden, um daraufhin zu begreifen, dass er doch Wirklichkeit war. Sie befand sich im Kofferraum eines Fahrzeugs – so viel hatte sie aus dem Brummen des Motors und dauernden Rütteln und Stoßen geschlossen. Ihre Hände waren hinterrücks mit etwas fixiert, das sich nach einer Plastikhandfessel anfühlte und so stramm festgezurrt war, dass es ihr ins Fleisch schnitt. Ihre Beine waren schmerzhaft angewinkelt, da sie in derart beengtem Raum nicht ausgestreckt liegen konnte. Es war pechschwarz und erstickend heiß. Obwohl ihre Kleider durchgeschwitzt waren, war ihr Körper eisig vor Schrecken. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier drinnen war. Es kam ihr wie Tage vor, obschon sicher noch nicht so viel Zeit vergangen sein konnte – ein Tag und eine Nacht vielleicht oder auch etwas länger? In jedem Fall war sie völlig am Ende vor Durst, der Hunger fraß sich durch ihre Eingeweide, und die Luft stank unerträglich, da sie sich mindestens zweimal eingenässt hatte. Und doch war nichts von alledem vergleichbar mit der Irrsinnsangst vor dem, was noch kommen mochte.

Ein Streifen Isolierband war ihr über den Mund gepflastert und um den Hinterkopf gewickelt worden, sodass sie kaum wimmern konnte, schreien schon gar nicht. Man hatte ihr eine Stoffbinde um die Augen geknotet. Die Erinnerung daran, was sich auf der stillen Landstraße zugetragen hatte, war nur undeutlich. Wer immer der Mann war, der sie angegriffen hatte – seine Teufelsfratze war noch immer in ihrem Bewusstsein eingeprägt –, er hatte sie bis zur Ohnmacht gewürgt. Wenigstens war jener Augenblick voller Sterbensangst und Qual schnell vorbei gewesen. Gern hätte sie die erlösende Bewusstlosigkeit der anhaltenden Tortur vorgezogen, die sie nun erlitt. Lange genug schon war sie in diesem Metallsarg eingeschlossen gewesen, um selbst ein-, zweimal eingeschlafen zu sein, wenn auch in erster Linie, weil sie sich nach jedem Aufwachen verzweifelt und bis zur völligen Erschöpfung hin und her geworfen hatte. Abermals wand Louise sich vergebens und wimmerte hinter ihrem Knebel. Das Schlimmste war die klaustrophobische Enge im Kofferraum. Der Deckel war gerade mal fünf Zentimeter über ihr, sodass ihre Tritte keine Wirkung hatten.

Zum tausendsten Mal versuchte sie sich die über die Jahre aufgeschnappten, widersprüchlichen Belehrungen in Erinnerung zu rufen, wie eine Frau einem Vergewaltiger begegnen solle. Sie war sich sicher, dass ein Polizeibeamter im Fernsehen geraten hatte, sich zu wehren, zu kratzen, zu beißen, zu schreien – doch wenn das den Angreifer wütend machte? Jemand anderes hatte gemeint, man solle ihn anflehen und sich selbst betont menschlich geben, über die eigene Familie, die eigenen Kinder reden. Doch auch hier: Was, wenn er nun ein Sadist war und das seine Lust nur noch anheizte?

Letzten Endes blieb all das natürlich Theorie. Louise hatte sich nie ausgemalt, sie könnte einmal in die Lage geraten, derart Furchtbares auf die Probe zu stellen. Selbst jetzt kam ihr der Schrecken fast unwirklich vor. Rund sechsunddreißig Stunden später – mindestens so lange dauerte es nun schon, entschied sie, womit es irgendwann am Sonntagvormittag sein musste – stand sie immer noch unter Schock, war halb besinnungslos und zitterte vor Angst. Frischer Schweiß sickerte in ihre Kleider, während sie sich die vielen möglichen Hintergründe ihrer Verschleppung durch den Kopf gehen ließ. Louise klammerte sich daran, nach so vielen Stunden noch am Leben zu sein. Noch war sie nicht vergewaltigt, auch nicht geschlagen oder ermordet worden. Zudem hatte das Auto einmal angehalten – was inzwischen eine ganze Reihe von Stunden her zu sein schien –, der Kofferraumdeckel war aufgeklappt, ihr Knebel kurz entfernt worden, und jemand, der dabei kein einziges Wort sprach, hatte ihr einen Plastikhalm zwischen die Lippen gezwängt und sie ein paar Schlucke Wasser trinken lassen. Zeigte all das nicht deutlich, dass sie mehr als ein bloßes Spielzeug für ihre Entführer war? Es schien immer wahrscheinlicher, dass sie ihnen nur lebendig von Nutzen war, obwohl sie damit kaum zu rechnen wagte. Alan war wohlhabend, und Goldstein & Hoff mischte weltweit kräftig im Bankwesen mit: eindeutige Ziele für Lösegeldforderungen also. Überdies hatten ihre Entführer große Mühen auf sich genommen, um sie überhaupt einzufangen, und sie nicht einfach in eine dunkle Gasse gezerrt. Diese langwierige Verfolgung den ganzen Weg aus der City, das Nagelbrett quer über der Landstraße – klare Anzeichen für Vorsatz und Planung. In mancher Hinsicht wurde es dadurch noch beängstigender, ließ Louise aber auch darauf hoffen, bloß eine Schachfigur im Spiel um etwas Größeres zu sein. Worum gespielt wurde, hatte sie keinen Schimmer. Es musste nicht unbedingt etwas Finanzielles sein – die hohen Tiere in der City konnten in Gott weiß was verwickelt sein –, doch solange es kein Angriff gegen sie persönlich war, durfte sie zumindest hoffen, unversehrt freizukommen, nicht wahr …?

Ganz plötzlich kam das Fahrzeug schlitternd zum Stillstand.

Reifen quietschten, und mit lautem Knacken wurde die Handbremse angezogen.

Louise lag schaudernd da, als der Motor abgestellt wurde und zwei Autotüren gleichzeitig aufgingen und zufielen. Schon mehrmals war das während ihrer Gefangenschaft hier drinnen geschehen: das eine Mal, als sie Wasser bekommen hatte, doch bei den anderen Gelegenheiten war niemand zu ihr gekommen. Stunden waren dann verstrichen, in denen sie sich gewunden und gegen ihre Fesseln gesträubt hatte – vergebens. Wer immer sie verschleppt hatte, bewegte sie offenbar von einem Ort zum nächsten und suchte bei den wenigen Stopps, bei denen sie zurückgelassen wurde, große Abgeschiedenheit auf, wo keinerlei Geräusch zu vernehmen war. Stets waren sie nach einiger Zeit zurückgekehrt, und der Wagen war wieder angesprungen.

Diesmal geschah das jedoch nicht.

Ein eiskalter Schauer huschte über Louise hinweg und ließ sie erzittern, als sie die schweren Schritte nahen hörte. Ein Schlüssel schob sich ins Schloss, es knackte abermals, und sie wurde von Licht überflutet. Nach der langen Haft schien es so hell, dass es durch die Augenbinde strahlte und auf ihren Netzhäuten brannte. Dann wurde die Stoffschlinge weggerissen, sie kniff die Lider zusammen, drehte das Gesicht weg, doch derbe Hände griffen nach ihr. Sie stöhnte, und ihr war schwindlig, als sie in einen aufrechten Sitz gezerrt und wieder losgelassen wurde. Heftig blinzelnd, versuchte sie, ihre Augen an die Helligkeit anzupassen, aber erst nach mehreren Sekunden schärften sich alle Umrisse. Doch keine grelle Sonne hatte sie geblendet, sondern das Halbdunkel einer Tiefgarage.

Sie schaute ängstlich in den Raum, sah Wasserränder an Betonpfeilern und rostige Ketten in Schlaufen von der Decke hängen. Etwa zwanzig Meter vor ihr die Karosserie eines ausgebrannten Wagens. Dahinter lagen dunkle, hier und da von Strahlen schmutzig grauen Tageslichts durchschnittene Schatten. Dann sah sie die zwei Männer, die auf sie herabblickten.

Beide trugen dunkle Blaumänner, Handschuhe und Skimasken aus Strickgarn, in die Löcher für Augen und Mund geschnitten waren. Die eine Maske war purpurrot, die andere leuchtend orange. Ohnmächtig starrte sie zurück, dass ihr fast die Augen aus dem Kopf traten, während die zwei sie begutachteten.

»Die sieht ja derbe geil aus«, sagte der in der purpurroten Maske.

Doch die Bemerkung des anderen in der orangefarbenen Maske war es, bei dem Louise ein so tief greifender, lähmender Schauder durchlief, wie sie noch nie einen verspürt hatte: »Tun sie doch alle.«

»Wird sich schon noch sauber schrubben«, hängte Purpurrot an.

Orange glotzte sie weiter an. Er war größer als sein Kumpan. Durch die Löcher seiner Maske war etwas Haut um seine Augen sichtbar. Nach ihr zu schließen war er Schwarzer. Gesprochen hatte er ohne merklichen Akzent. Der andere hingegen, der vermutlich hellhäutig war, klang, als stamme er von irgendwo aus den Midlands.

»Hübsche Beine«, äußerte Purpurrot.

Jetzt erst merkte Louise, dass ihr Rock und Schuhe ausgezogen worden waren, die überall aufgerissene Strumpfhose hingegen noch an Ort und Stelle saß.

Purpurrot beugte sich vor und drückte ihre linke Brust. »Feste Titten auch. Hält sich in Form für ihren Alten.«

Louise nahm kaum Notiz von dem dreisten Übergriff. Jede verstreichende Sekunde machte diese Tortur umso wirklicher. Auf einmal schien es schrecklich, schrecklich sicher, dass sie Alan nie wiedersehen würde oder ihr entzückendes Haus im ländlichen Buckinghamshire.

Purpurrot gluckste. »Hat sich wenigstens nicht eingekackt. Ätzt mich voll an, wenn sie das tun.«

»B-bitte«, stammelte sie. »Lassen Sie mich gehen. Lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich einfach gehen … Ich werd nichts sagen … wie soll ich auch was sagen, ich weiß doch gar nichts!« Doch es war ein in Speichel ersticktes Nuscheln und durch das Isolierband kaum mehr zu hören. Die Männer achteten sowieso nicht dadrauf.

»Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte Orange.

Purpurrot sah auf seine Armbanduhr. »Kein Problem.«

Orange nickte, beugte sich über einen Beutel und stöberte darin herum. Louise beobachtete ihn, und ihr sträubten sich die Haare. Sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er ein Messer herauszöge. Sie war eher verwirrt als erleichtert, als er eine Wasserflasche zutage förderte und etwas, das wie ein Schinkenbrötchen in Klarsichtfolie aussah.

Ehe er sich erneut bewegte, nahm Orange sie mit seinen glänzenden braunen Augen fest in den Blick. Schließlich sprach er wieder, und diesmal an sie gerichtet, statt an seinen Komplizen.

»Jetzt hör mal gut zu, mein Schatz. Ich werde dir den Knebel abnehmen. Du kannst rufen und schreien, so viel du willst. Keiner wird dich hören. Bloß uns wird das stinksauer machen, und was mit dir passieren wird, passiert trotzdem. Der einzige Unterschied ist der, dass wir stinksauer beschließen könnten, dir vorher noch die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Hast du verstanden?«

Louise erwiderte hilflos seinen Blick, ehe sie matt nickte. Sie hatte keinen Zweifel, dass er es völlig ernst meinte.

»Jetzt sei ein braves Mädchen, und bleib schön still und leise«, fügte er hinzu, streckte eine Hand aus und zog langsam das Isolierband ab.

Es zerrte an ihren trockenen Lippen und riss mehrere Haarsträhnen aus, als er es ihr vom Hinterkopf rupfte, doch das war ihr im Augenblick ganz gleich; sie war viel zu dankbar, das Band loszuwerden. Es tat so gut, ungehindert atmen zu können.

In tiefen Zügen sog sie Luft in ihre Lungen, konnte aber trotz der vorherigen Warnung nicht schweigen: »Hören Sie … was immer Sie haben wollen, mein Mann wird es Ihnen besorgen. Oder mein Arbeitgeber. Ich weiß weder, wer Sie sind, noch, warum Sie das hier tun, aber hören Sie –«

Orange funkelte sie an. »Hab ich dir nicht eben gesagt, du sollst den Mund halten?«

»Sagen Sie einfach nur meinem Mann Bescheid, dass ich wohlauf bin«, bettelte sie. »Um mehr bitte ich ja gar nicht.«

»Wohlauf?«, fragte Purpurrot beiläufig. »Wer hat gesagt, du wärst wohlauf?«

Sie sah vom einen zum anderen und versuchte, tapfer und nicht verängstigt zu wirken, wohl wissend, dass sie wenig mehr als ein schreckstarres Kaninchen unter ihren eisernen Blicken war. »Sie sollten … Sie sollten einfach nur wissen, egal, wofür Sie mich entführt haben, egal, was Sie vorhaben … Sie können mit der Sache hier Geld machen. Gutes Geld. Sie müssen nur –«

Orange beugte sich bedrohlich zu ihr vor. »Ich sagte: Halt – die – Fresse!«

Seine Stimme war derart schneidend und das irre Funkeln in seinen Augen so stechend, dass Louise diesmal trotz aller Verzweiflung die Zähne zusammenbiss.

Er behielt sie mehrere Sekunden lang fest im Blick, um dann befriedigt den Deckel von der Wasserflasche abzuschrauben und sie ihr anzubieten. Zuerst war Louise geneigt abzulehnen – als wäre so eine geringfügige Trotzgeste ein Sieg über die beiden –, doch ihr wurde sofort bewusst, wie lächerlich es war zu glauben, diese Männer würde ihre trockene Kehle kümmern. Sie musste bei klarem Verstand bleiben und einen kühlen Kopf bewahren. Jede ihrer Handlungen musste aufs Überleben abzielen – nur so hatte sie eine Chance, das hier zu überstehen. Als sie dann schließlich trank, nahm sie große, gierige Schlucke.

Danach hielten sie ihr das Sandwich an den Mund, doch trotz ihres bohrenden Hungers war ihr immer noch zu übel vor Angst, um es mehr als anzuknabbern. Währenddessen musterte sie ihre Umgebung genauer und sah sich nach einem möglichen Fluchtweg um. Rechts von ihr verlief eine Ein- und Ausfahrtsrampe von oben herab, und nun, dass ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte sie zudem weitere Autowracks erkennen: ausgebrannte oder rostige Blechhüllen, abgeladen in vergessenen Winkeln und dick mit Staub und Spinnweben überzogen. Sie stellte sich vor, irgendwer könnte ahnungslos hier herunterkommen, wo immer sie auch sein mochte, und sich als ihr Retter erweisen. Doch je mehr Dunkelheit und Verfall sie ringsum erspähte, umso unwahrscheinlicher schien das. Hinzu kam, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie hinlaufen sollte, selbst wenn sie sich wider allen Anschein nach befreien könnte. Weiß der Himmel, wie viele Ausfahrtsrampen sie hinaufhasten müsste, ehe sie die Oberwelt erreichte, und sie war von der Gefangenschaft so geschwächt, dass sie bezweifelte, überhaupt stehen zu können. Abermals überkam sie dieses Gemisch aus Grauen und Verzweiflung.

Orange gab es auf mit dem Sandwich, knüllte es in seiner Folie zusammen und schmiss es weg. Er schraubte den Deckel zurück auf die Flasche und schob sie sich in die Hosentasche. »Jetzt zum Nachtisch«, sagte er, griff wieder tief in den Beutel und holte ein Kästchen aus Metall hervor.

Er öffnete es und brachte zwei schlanke Gegenstände ans Licht, reichte einen seinem Kumpanen und behielt den anderen selbst. Louise fühlte ihr Herz einen Schlag lang aussetzen, als sie in den Gegenständen Injektionsspritzen erkannte. Jene in der Hand von Purpurrot enthielt eine farblose Flüssigkeit, die in der Hand von Orange indes eine dunkle, schmutzig rote.

»Wir werden dich jetzt spritzen«, kündigte Orange nüchtern an. Er zeigte ihr seine Spritze. »Wie du sehen kannst, ist diese Spritze schmutzig. Sie wurde zigmal gebraucht und enthält momentan Blut, das kürzlich einer heroinsüchtigen Prostituierten entnommen wurde. Mein Kumpel hier hingegen hat eine, die steril und mit einem zugelassenen Beruhigungsmittel gefüllt ist. Hängt ganz von dir ab, welche wir benutzen, klar?«

Wenige Augenblicke war es still, während Louise zu sprechen versuchte, aber nur würgen konnte. Nach einigen vergeblichen Versuchen blickte sie wieder auf, sagte aber nichts. Mit leicht geneigtem Kopf gab sie zu verstehen, dass sie keinen Ärger machen würde.

»Kluge Wahl«, sagte Orange, legte seine blutgefüllte Spritze zurück ins Kästchen und verstaute es. Dann presste er ihr eine Hand auf den Mund und drückte sie wieder in den Kofferraum hinein. »Wusste doch, dass du vernünftig sein würdest.«

Hinter ihm zog Purpurrot die Kappe von der sterilen Nadel und schnippte mit einem behandschuhten Finger dagegen.

»Lieg einfach still«, fügte Orange hinzu, »und denk an England.«