Kapitel

Es sah aus wie vielerorts in Bermondsey – Schrotthalden, Ödland, Müll, das Ganze von Graffiti überzogen.

Heck fuhr mit feindseligem Blick hindurch, sein einziger Gedanke war, dass sich sein verbeulter alter Fiat Brava bestens in diese verrottete Umgebung einfügte. Irgendwo zu seiner Linken lag der Fluss, der gelegentlich von einem Kran oder Werftgerüst gesäumt wurde. Rechter Hand zog eine Reihe zugenagelter Gebäude an ihm vorbei. Eine Obdachlose hockte, die Beine unanständig weit gespreizt, mit ihren Plastiktüten auf dem Bordstein und trank eine Flasche Fusel. Geradeaus wurden verlassene Hochhausriegel – trostlose Kästen aus fleckigem Beton und zerbrochenem Glas – vom schiefergrauen Himmel eingerahmt.

Heck fuhr weiter, war zu erschöpft, um den Anblick bedrückend zu finden.

Der verabredete Treffpunkt erwies sich als Kreuzung nahe dem niedrigen Bogen einer Eisenbahnbrücke. Wellblechzäune schlossen die Kreuzung von allen Seiten ein, und es gab eine einsame Straßenlaterne, die Birne längst zerschlagen. Links bot ein planierter Haufen Ziegelschutt ausreichend Platz zum Parken. Heck rollte jedoch weiter und nahm die Umgebung sorgfältig in Augenschein. Keiner war da, was ihn mit Blick auf seine Armbanduhr – es war zehn vor sechs – nicht überraschte. Er war zu früh, und an einem Sonntagmorgen hielt sich wohl kaum jemand freiwillig in dieser verlassenen Gegend auf. Er fuhr unter dem Brückenbogen hindurch und noch dreihundert Meter weiter, bis ihm ein eingerissener Zaun und ein Stück versengtes Land Platz zum Wenden boten. Anschließend fuhr er, diesmal langsam, denselben Weg zurück.

Auf der Kreuzung parkte nun ein weiteres Fahrzeug. Ein kastanienbrauner Bentley, an dem ein groß gewachsener schlanker Mann lehnte und die Sunday Sport las. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte kurzes, hellblond gebleichtes Haar. Als Heck das Auto und den Mann sah, stöhnte er ungläubig auf. Zugegeben, er hatte sich nicht viel von diesem Treff erhofft. Die Stimme auf dem Anrufbeantworter in seinem Büro hatte knapp und umstandslos mitgeteilt, Angaben machen zu können, die er nützlich finden könnte. Dann hatte sie eine Zeit und einen Ort genannt und aufgelegt. Heck hatte den Anruf bis zu einem Münztelefon irgendwo in South London zurückverfolgen können. Ähnliche Anrufe waren dutzendfach über die letzten paar Monate bei ihm eingegangen, doch in diesem Fall und vielleicht, weil er so hundemüde war, hatte er nicht rational gedacht. Er hatte sich gefragt, ob er schon deshalb einen Treffer landen würde, weil das schlicht mal fällig wäre.

Anscheinend nicht. Eine trügerische Hoffnung mehr.

Er fuhr auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung an den Rand und stieg aus seinem Fiat. Ihm war klar, dass er beschissen aussah. Er war benommen vor Müdigkeit, fahl im Gesicht und unrasiert. Seine Jacke und sein Schlips hatten Knitterfalten, sein Hemd war fleckig von spätnachts verkleckertem Kaffee.

Heck latschte, die Hände in den Hosentaschen, über die Straße. Der große Blonde, er hieß Dale Loxton, hob den Blick über seine Zeitung. Aus dieser Nähe wurde seine ansonsten gepflegte Erscheinung von der hässlichen gezackten Narbe auf seiner linken Wange und dem seitlich auf seinen Hals tätowierten giftzahnbleckenden Schlangenkopf Lügen gestraft. Er trug schwarze Lederhandschuhe.

Heck nahm wahr, dass eine weitere Gestalt aus einem verborgenen Winkel zu seiner Rechten aufgetaucht war. Es war Lennie »The Loon« Asquith. Seine stämmige Gestalt hatte fast schon etwas Gorillahaftes. Auch er trug einen schwarzen Anzug und schwarze Lederhandschuhe, hatte aber langes, fettiges rotes Haar und ein grobschlächtiges, pockennarbiges Gesicht. Keiner der Männer lächelte.

»Eingespieltes Komikerduo, ihr beiden, oder?«, fragte Heck.

Loxton faltete seine Zeitung zusammen. »Mr Ballamara würde Sie gern mal sprechen.«

»Und ich würde gern nach Hause und erleben, wie mir Jessica Alba nur in Schürze und Stöckelschuhen mein Frühstück macht. Wie stehen da die Chancen, was schätzt ihr?«

»Nur eine kurze Plauderei«, sagte Loxton und öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite des Bentley.

Asquith stand nun wie ein Fels da, die großen Arme vor dem gewölbten Brustkorb verschränkt. Heck wusste, dass er keine Wahl hatte. Nicht dass er auf die Unterhaltung scharf war. Selbst »kurze Plaudereien« mit Bobby Ballamara pflegten unangenehm zu werden.

Er stieg ein, und Loxton schloss hinter ihm die Tür. Das Wageninnere war üppig mit wohlriechendem Leder und poliertem Holz ausgekleidet. Ballamara, wie immer makellos in einem Nadelstreifenanzug über Hemd und Krawatte aus rosa Seide mitsamt rosa Taschentuch, das aus seiner Brusttasche lugte, war in die Times vertieft. Er war ein älterer Mann um die sechzig mit spitzem Kinn, kurz geschnittenem weißen Haar und einem weißen bleistiftdünnen Schnurrbart. Im Grunde sah er wie ein gewöhnlicher Geschäftsmann aus, bis man in seine Augen schaute: Sie waren tot, ausdruckslos und von eisig grauer Farbe.

»Ah«, sagte er mit kaum noch bemerkbarem Cockneyakzent, »Heck.«

»Meine Freunde nennen mich ›Heck‹. Für Sie bin ich ›Detective Sergeant Heckenburg‹.«

Ballamara schmunzelte stillvergnügt und legte die Zeitung zusammen.

»Was wollen Sie?«, fragte Heck.

»Wie läuft’s? Kommen Sie denn voran?«

Heck griff sich an den Kragen, um seinen Schlips zu lockern, nur um ihn bereits gelockert vorzufinden; er hing ihm als schlaffer Knoten um den Hals. »Sehe ich etwa so aus?«

»Auf jeden Fall haben Sie Überstunden gemacht, gar keine Frage.«

»Sie haben mich beobachtet, ja?«

»Hin und wieder mal. Als gewissenhafter Steuerzahler weiß ich gern, ob mein Geld sinnvoll ausgegeben wird.«

Heck täuschte Überraschung vor. »Ach, jetzt werden schon Drogen und Prostitution besteuert?«

»Wir wollen doch freundlich bleiben, Heckenburg.«

»Bitten Sie mich das, oder raten Sie es mir?«

Ballamaras Lächeln verlor sich etwas. »Wissen Sie, mit Ihren flotten Sprüchen schinden Sie vielleicht Eindruck bei den Sekretärinnen von der Kriminalpolizei. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass meine Tochter schon zwei Jahre lang vermisst wird.«

»Und ich möchte Sie daran erinnern, dass eine große Zahl anderer Leute Töchter ähnlich lange vermisst wird, wenn nicht länger. Und diesen Leuten schulde ich ebenso wenig persönliche Rechenschaft wie Ihnen.«

»Sind Sie immer noch als einziger Beamter auf den Fall angesetzt?«

»Sie wissen, dass ich keine Einzelheiten über eine laufende Ermittlung preisgeben kann.«

Ballamara nickte bedächtig. »Was bedeutet, dass Sie als einziger Beamter auf den Fall angesetzt sind. In der ganzen Metropolitan Police bearbeitet ein einziger Kriminalbeamter das Verschwinden meiner Tochter.«

Heck seufzte. Ihm war, als hätten sie diesen Acker schon zigmal gepflügt. »Ich bin nicht mehr bei der Metropolitan Police, Mr Ballamara. Ich gehöre zur National Crime Group, wie Sie sehr wohl wissen. Was bedeutet, dass wir weniger Arbeitskräfte haben und nicht nur bei Verbrechen im Raum London ermitteln, sondern überall in England und Wales. Allerdings ist das ein guter Einwand. Warum legen Sie Ihre Beschwerde also nicht bei Commander Laycock vom New Scotland Yard ein? Glauben Sie mir, nichts wäre mir lieber. So, wenn weiter nichts ist, ich hab die ganze Nacht mit einer Observation verbracht und jetzt noch rund sechs Stunden Papierkram vor mir, und danach geht’s ab ins Bett.«

Er öffnete die Tür und schickte sich an auszusteigen, doch Asquith stand auf der anderen Seite und knallte die Tür wieder zu. Heck wich ruckartig zurück und vermied es ganz knapp, mit dem Gesicht ans Fenster zu schlagen.

»Heckenburg, da ist was, das Sie von mir wissen sollten«, sagte Ballamara. Es klang beiläufig, wie eine bloße Feststellung. Doch die ausdruckslosen grauen Augen des Bandenchefs blickten nun so stählern, dass sie Münzen glichen. »Ich selber habe die Fundamente von Autobahnbrücken benutzt, um Bullen dadrin zu begraben, die viel härter und gerissener waren als Sie und zudem deutlich weiter oben in der Nahrungskette standen. Glauben Sie wirklich, ich werde mich einfach zurücklehnen und von irgendeinem kleinen Pinscher immer wieder abwimmeln lassen, während meine Tochter Gott weiß was erleidet?«

Heck rieb sich die Stirn. »Ich tue schon, was ich kann.«

»Das reicht nicht.«

»Es gibt keinen Fall, verstanden?« Heck sah ihn fest an und legte so viel Aufrichtigkeit in seinen Blick, wie er konnte. »Das sage ich Ihnen nicht zum ersten Mal. Ihre Noreen wird vermisst. Das tut mir leid, aber sie war neunzehn und ein großes Mädchen. Sie hatte Geld, war unabhängig – also kaum jemand, den man als schutzbedürftig einstufen würde. Sie müssen die Möglichkeit hinnehmen, dass sie aus freien Stücken verschwunden sein könnte.«

»Sie war mit ihrer Clique im West End unterwegs«, erinnerte ihn Ballamara. »Es war ihr übliches Treffen am Samstagabend. Sie hatte nichts weiter bei sich als ihre Handtasche und die äußerst knappen Sachen, die sie am Leib trug. Am Tag darauf habe ich selber ihre Wohnung durchsucht. Die Kleiderschränke waren noch voll. Alle ihre Koffer waren da, ihr Pass lag in der Scheißschublade, Herrgott noch mal!«

Heck wusste nicht recht, wie er antworten sollte. Sehr oft hatten sie dieses Gespräch geführt, und immer predigte der Gangster zum Bekehrten. Auch Heck glaubte, dass Noreen Ballamara einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, und in dieser Hinsicht wurde sein Festhalten an der »offiziellen« Linie zusehends undankbarer und ermüdender.

»Sehen Sie mal, Ballamara«, sagte er schließlich, »Sie müssen verstehen –«

»Mister Ballamara, solange wir auf Förmlichkeit beharren.«

»Mr Ballamara, ich bin es nicht, den Sie überzeugen müssen. Aber ohne Leiche, ohne Tatort und im Grunde ohne Beweise für überhaupt irgendwas pinkele ich bloß in den Wind. Gegenwärtig können wir Noreen nur als Vermisstensache behandeln.«

»Und was ist mit all den anderen Verschwundenen?«

»Dasselbe. Es gibt keinerlei Beweis für einen kriminellen Zusammenhang zwischen irgendwelchen dieser Fälle.«

»Sie glauben doch wohl nicht an einen wahnwitzigen Zufall?«

»Betrachten Sie’s mal im größeren Rahmen. Jedes Jahr lösen sich Tausende Leute in Luft auf, aber nur ein Bruchteil davon unter verdächtigen Umständen.«

Ballamara nickte und lächelte. »Wobei sich dann fragt, warum Sie, ein Beamter des Dezernats für Serienverbrechen in der National Crime Group, sich ausgerechnet diesen vierzig Fällen widmen.«

»Genau das fragen sich meine Chefs auch.«

»Das reicht nicht, Heckenburg. Ich will Antworten.«

»Was glauben Sie, was ich will?«

»Ich geb ’nen feuchten Furz drauf, was Sie wollen!« Der Gangster lehnte sich zu Heck hinüber und starrte ihm mit wölfischer Eindringlichkeit in die Augen. Sein Gesicht war zu einem sehr ungesunden Weiß verblasst und so nahe, dass sein miefiger Pfefferminzatem dem Bullen in die Nase stieg. Als er wieder sprach, hatte seine Stimme einen leisen, bedrohlich monotonen Tonfall angenommen. »Jetzt hör mal zu, mein Sohn. Ich habe diesen Scheißdreck satt. Deshalb arbeitest du ab jetzt nicht nur für die Polizei – du arbeitest für mich. Betrachte den Umstand, dass du noch mit heiler Wirbelsäule rumspazierst, als deinen Lohn. Und jetzt raus mit dir und zurück an die Arbeit, sonst verpass ich dir eigenhändig eine Gesichtsmassage, nach der dich deine eigene Mutter nicht mehr wiedererkennen würde.«

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Wagentür.

Heck sah sich von Asquith hinausgeholfen, obwohl die Faust, die ihn beim Kragen packte, wahrscheinlich nicht die Art Hilfe war, die er benötigte. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Klack, und dann stand Heck auf der Straße und sah zu, wie Asquith um das Fahrzeug herum zur Beifahrertür latschte und Loxton sich hinters Lenkrad quetschte.

»Ihr Jungs habt nicht etwa auch nach Noreen gesucht, oder doch?«, fragte Heck die beiden.

Loxton sah ihn an, als könne er nicht fassen, dass ein Bulle eine derart dämliche Frage stellt. »Klar haben wir das, verdammt.«

»Irgendwelche Anhaltspunkte, die ihr mir mitteilen möchtet?«

»Dale!«, rief Ballamara aus dem Wageninneren. »Lass das Quasseln mit dieser beschissenen Missgeburt. Der hat keine Zeit für Geschwafel.«

Heck trat zurück, als der Bentley über den Schutt losfuhr und in einer Wolke aus Staub und Steinchen davonbrauste. An sich gab es jede Menge Tatbestände, die er Bobby Ballamara hätte anlasten können. Dieser Morgen allein reichte für Verschwendung polizeilicher Arbeitszeit, Androhung eines Tötungsvorhabens, Freiheitsberaubung und so weiter. Bloß war das strafrechtlicher Kleckerkram, Festnahmen, die nur von seinem Hauptanliegen ablenken würden, nämlich den achtunddreißig verschollenen Frauen, nach denen Heck seit Anfang 2010 suchte. Hinzu kam, dass Bobby Ballamara und seine Jungs, die nach eigenen Angaben ständig das Ohr am Puls der Unterwelt hatten, womöglich nützliche Mitspieler abgeben konnten. Sie zu verhaften könnte folglich ein Eigentor sein. Außerdem war Ballamara trotz seiner Drohgebärden kaum der Typ, der einen Bullen zusammenschlägt. Er war ganz und gar alte Schule. Als bösartiger, gewalttätiger Bandenführer würde er nicht zögern, Abschaum seinesgleichen das Hirn rausprügeln zu lassen, wenn ihm danach war. Doch seine traditionelle Verbrechermoral wirkte altmodisch in Zeiten durchgeknallter, waffenliebender Killer, die keinerlei Hemmungen hatten, Schulkinder abzuschlachten, sollten ihnen welche in die Quere kommen.

Heck ging zurück zu seinem Auto, nur um festzustellen, dass auf der Beifahrerseite ein Reifen platt war. Einen zornigen Augenblick lang vermutete er, entweder Asquith oder Loxton sei langweilig geworden, während er im Gespräch mit ihrem Boss gewesen war. Dann aber sah er den rostigen Nagel hervorstehen, der vermutlich von der Brandfläche stammte, die er zuvor zum Wenden benutzt hatte. Von seiner eigenen Unvorsichtigkeit verärgert und viel zu erschöpft für die nun erforderliche körperliche Anstrengung, trat er an den Kofferraum, um das Ersatzrad herauszuhieven.

In dem Augenblick begann es zu regnen.