© by Atrium Verlag AG, Zürich, 2014
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Erstveröffentlichung: Atrium Verlag AG, Zürich, 1952
Cover: wwwb3k-design.de, Andrea Schneider und Max Bartholl, unter Verwendung des Konzepts von Christoph Krämer
Coverillustration von Hans Traxler, 2013
E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde 2014
ISBN 978-3-03792-048-0
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Der Titel des Programms – DIE KLEINE FREIHEIT –
klingt eigentlich, als wüssten wir Bescheid.
Der Titel des Programms – DIE KLEINE FREIHEIT –
stammt nicht von uns. Den Titel schrieb – die Zeit!
Die große Freiheit ist es nicht geworden.
Es hat beim besten Willen nicht gereicht.
Aus Traum und Sehnsucht ist Verzicht geworden.
Aus Sternenglanz ist Neonlicht geworden.
Die Angst ist erste Bürgerpflicht geworden.
Die große Freiheit ist es nicht geworden,
die kleine Freiheit – vielleicht!
Wir sind so frei! Das heißt: Soweit’s erlaubt ist.
Wir sind so frei! (Soweit man’s überhaupt ist.)
Wir dürfen wieder zittern, wenn wir frieren.
Wir dürfen staunend vor Geschäften stehn.
Wir dürfen atmen, lachen, vegetieren.
Wir dürfen schimpfen und den Kopf verlieren.
Wir dürfen, wenn’s so weitergeht, marschieren.
Wir sind so frei. Wir werden ja sehn.
Der Titel des Programms – DIE KLEINE FREIHEIT –
hat seinen Grund. Sie wissen nun Bescheid.
Der Titel des Programms – DIE KLEINE FREIHEIT –
stammt nicht von uns. Der Autor heißt: Die Zeit!
»Der Titel des Programms ›Die kleine Freiheit‹ stammt nicht von uns. Der Autor heißt: Die Zeit!« Mit diesen Zeilen eröffneten wir im Januar 1951 unser zweites Kabarett in München. »Die Schaubude«, das erste und schon Ende 1945 gegründete, war an den Folgen einer unvermeidlichen »Die Währungsreform« genannten Operation unsanft entschlafen. Der 19. Juni 1948, ein regnerischer Sonntag, war der Sterbetag manchen Übels und einiger Hoffnungen gewesen. Zwanzig in England gedruckte Deutsche Mark hatte uns, gegen Ausweis und Quittung, der Staat in die Hand gedrückt. Und das war nun alles, was wir besaßen. Außer knurrenden Mägen, gewendeten Mänteln, Schuhen aus Edelpappe, grauer Gesichtsfarbe, fusligem Kartoffelschnaps undein paar Zigarettenkippen. Als dann tags darauf die bis dahin öden Schaufenster voller Hemden, Anzüge, Würste, Hüte, Schuhe, Socken und Konserven lagen, erlebten wir, leise mit den Zähnen knirschend, aus eigener Anschauung, was später unter dem bravourösen Stichworte »Deutsches Währungswunder« in die neuere Wirtschaftsgeschichte eingehen sollte.
Nachdem wir unsere ersten zwanzig Mark in den Geschäften gegen deren letzten Ramsch eingetauscht hatten, zeichnete sich sehr bald die nächste Nachkriegsetappe ab, und auch sie hat mit Recht einen wohlklingenden Namen erhalten. Er wurde im kopfschüttelnden Auslande geprägt. Wir litten damals, hieß es, an der »Großen Lethargie«. Unsere große Lethargie sah, bei Lichte betrachtet, folgendermaßen aus: Wir arbeiteten wie die Wilden, um uns wieder einmal satt zu essen. Wir arbeiteten wie die Besessenen, um uns einen Anzug zu kaufen, der nicht aus Holz gesponnen war. Wir arbeiteten wie die Berserker, um im Winter zehn Zentner Kohlen zu haben. Wir arbeiteten wie die Sklaven, um nicht länger unter Woilachs schlafen und auf Margarinekisten sitzen zu müssen.
Und als wir schließlich – wenn auch nicht alle, so doch viele – eines schönen Tages einigermaßen satt, in einem ziemlich warmen Zimmer, auf einem beinahe stuhlähnlichen Gegenstande sitzend, mit sauber gewaschenem Hals, denn auch Seife gab’s ja wieder, aus unserer großen Lethargie erwachten und das eben erworbene Radio andrehten, staunten wir nicht schlecht. Wir waren in der Zwischenzeit an die Vergangenheit verkauft worden! Wir besaßen allerdings, bis auf Widerruf, die im Grundgesetz verbriefte »kleine Freiheit«, darüber zu murren und zu schimpfen. Und ein Kabarett gleichen Namens zu gründen. Das war nicht viel. Aber es war besser als gar nichts.
*
Vor Jahrzehnten sah ich einmal eine ausgezeichnete Tanztruppe, die in einer ihrer Darbietungen das Vereinsturnen parodierte. Der Vorhang hob sich. Die Hände im Hüftstütz, hatte sich eine altmodische Riege entschlossener Männer und Frauen zu Freiübungen aufgestellt. Vor den Gesichtern trugen sie Fastnachtsmasken. Mit hochgewichsten Schnurrbärten, mit Mittelscheitel, Gretchenzöpfen und Apfelbäckchen. Als die Musik einsetzte, begannen sie schneidig mit Kniebeugen, Armspreizen, Auslagen, Rumpfbeugen und Ausfällen – und den Zuschauern blieb die Luft weg! Denn das bekannte Repertoire an Freiübungen spielte sich völlig verkehrt ab! Die Kniekehlen drückten sich nicht wie üblich, sondern nach hinten durch. Die Körper beugten sich nicht vorwärts, sondern rückwärts bis zur Erde. Die ausgestreckten Arme schwangen hinterrücks mit einer Vollendung, dass man meinte, sie müssten jeden Augenblick splittern und brechen.
Da machte, auf ein zackiges Kommando, die Riege linksum kehrt – und das Wunder der Natur war keines mehr. Das Rätsel war mit einem Schlage gelöst, und das Publikum brach in schallendes Gelächter aus. Die Turner trugen die Fastnachtsmasken nicht vorm Gesicht, sondern vorm Hinterkopf! Das nächste Kommando ertönte. Die Turner machten erneut kehrt, wendeten uns wieder ihre komischen Masken zu, und nun, als ins Geheimnis Eingeweihte, konnten wir die nur scheinbar absurden Verrenkungen erst richtig würdigen und feinschmeckerisch bekichern.
Während der »Großen Lethargie« hatten wir uns gelegentlich über die skurrilen Bewegungen unserer durch öffentliche Wahlen bestellten Vorturner gewundert. Wir hatten gemeint, sie kehrten ihre Gesichter der Zukunft zu. Das war ein fundamentaler Irrtum gewesen. Was wir für Gesichter gehalten hatten, waren Masken. Die Gesichter selber blickten sehnsüchtig in die Vergangenheit. Dort leuchteten ihre Ideale, und dort winkten die Geschäfte. Dort leuchten ihre Ideale, und dort winken die Geschäfte. Man sagt »Europa«, und man meint »Kattun«. Mit der Entflechtung der Konzerne und der Demontage der Rüstungswerke begann es. Mit der Rückgabe des Krupp’schen Vermögens und dem Bau »europäischer« Kasernen hörte es auf. Hörte es auf? Im laufenden Geschäftsjahr unserer Republik ist für den Kasernenbau zwischen Rhein und Elbe eine Summe vorgesehen worden, mit der stattdessen vierhunderttausend Wohnungen errichtet werden könnten. Über den Satz »Si vis pacem, para bellum!« lachen nicht einmal mehr die Lateinschüler, höchstens noch die Hühner. Man baut Flugzeuge und Panzer nicht, um sie eines Tages fabrikneu zu verschrotten. Solch eine Fehlinvestition kann sich kein Kanonenkönig und kein Kanonenpräsident leisten. Und wenn das lateinische Zitat jemals einen Sinn gehabt hat, dann nur den, dass es einem Rüstungsfabrikanten den Taufnamen für eine Schusswaffe lieferte, für die Parabellum-Pistole. Mehr war auch nicht zu erwarten.
*
Im ersten Programm der »Kleinen Freiheit« kam Bum Krüger, als Inspizient und Faktotum, auf die Bühne, kaute an einem Butterbrot und sagte: »Stört Sie’s, wenn ich esse? Ich habe heute so ’n komisches Gefühl. Und immer, wenn ich so ’n komisches Gefühl habe, muss ich essen. Haben Sie ’ne Ahnung, wie viel ich in meinem Leben schon zusammengefressen habe! Ich bin sehr witterungsempfindlich. Ja. Wenn sich der Wind drehen will, merk ich das wie – wie ein blecherner Hahn auf dem Turm. Aber, und das ist das Fatale, ich kann mich nicht drehen! Ich bin wie ein Turmhahn, den ein paar Lausejungen heimlich festgebunden haben. Und jedes Mal, wenn der Wind umschlägt, drehen sich alle Wetterfahnen in Stadt und Land – außer mir. Ich kann nicht! Und alle andern starren mich an und – na ja, daher kommt dann das eingangs erwähnte komische Gefühl. So wie heute … Übrigens: Wenn sich Wetterfahnen nicht drehen, nennt man das ›Charakter‹. Drehen sie sich aber, nennt man’s ›Entwicklung‹.« Damit ging unser Inspizient, kauend und leise in sich hineinlachend, wieder in die Kulisse.
Und die Wetterfahnen rotieren fleißig weiter. Sie entwickeln sich zusehends.
*
Der vorliegende Band enthält – wie sein Vorgänger, »Der tägliche Kram«, Atrium Verlag – Chansons, Gedichte, Szenen, Epigramme, Glossen, Feuilletons und Aufsätze. Diesmal aus den Jahren 1949 bis 1952. Manche Beiträge dienen der schieren Unterhaltung. Die meisten aber sind Rechenschaftsberichte eines Turmhahns, der sich nicht drehen kann.
Herbst 1952
Erich Kästner
Liebe Kinder,
da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum ersten Mal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s eigentlich gehörte. Manche von euch rutschen unruhig hin und her, als säßen sie auf Herdplatten. Andre hocken wie angeleimt auf ihren Plätzen. Einige kichern blöde, und der Rotkopf in der dritten Reihe starrt, Gänsehaut im Blick, auf die schwarze Wandtafel, als sähe er in eine sehr düstere Zukunft.
Euch ist bänglich zumute, und man kann nicht sagen, dass euer Instinkt tröge. Eure Stunde X hat geschlagen. Die Familie gibt euch zögernd her und weiht euch dem Staate. Das Leben nach der Uhr beginnt, und es wird erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen, Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende Netz umgarnt nun auch euch. Seit ihr hier sitzt, gehört ihr zu einer bestimmten Klasse. Noch dazu zur untersten. Der Klassenkampf und die Jahre der Prüfungen stehen bevor. Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab morgen! So, wie man’s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation – das ist der Weg, der vor euch liegt. Kein Wunder, dass eure Verlegenheit größer ist als eure Neugierde.
Hat es den geringsten Sinn, euch auf einen solchen Weg Ratschläge mitzugeben? Ratschläge noch dazu von einem Manne, der, da half kein Sträuben, genauso »nach Büchse« schmeckt wie andre Leute auch? Lasst es ihn immerhin versuchen, und haltet ihm zugute, dass er nie vergessen hat, noch je vergessen wird, wie eigen ihm zumute war, als er selber zum ersten Mal in der Schule saß. In jenem grauen, viel zu groß geratenen Ankersteinbaukasten. Und wie es ihm damals das Herz abdrückte. Damit wären wir schon beim wichtigsten Rat angelangt, den ihr euch einprägen und einhämmern solltet wie den Spruch einer uralten Gedenktafel:
Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr. Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die »überflüssig« gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun könnt ihr nicht mehr zurück! Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborden und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch! Wer weiß, ob ihr mich verstanden habt. Die einfachen Dinge sind so schwer begreiflich zu machen! Also gut, nehmen wir etwas Schwierigeres, womöglich begreift es sich leichter. Zum Beispiel:
Haltet das Katheder weder für einen Thron noch für eine Kanzel! Der Lehrer sitzt nicht etwa deshalb höher, damit ihr ihn anbetet, sondern damit ihr einander besser sehen könnt. Der Lehrer ist kein Schulwebel und kein lieber Gott. Er weiß nicht alles, und er kann nicht alles wissen. Wenn er trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber glaubt es ihm nicht! Gibt er hingegen zu, dass er nicht alles weiß, dann liebt ihn! Denn dann verdient er eure Liebe. Und da er im Übrigen nicht eben viel verdient, wird er sich über eure Zuneigung von Herzen freuen. Und noch eins: Der Lehrer ist kein Zauberkünstler, sondern ein Gärtner. Er kann und wird euch hegen und pflegen. Wachsen müsst ihr selber!
Nehmt auf diejenigen Rücksicht, die auf euch Rücksicht nehmen! Das klingt selbstverständlicher, als es ist. Und zuweilen ist es furchtbar schwer. In meine Klasse ging ein Junge, dessen Vater ein Fischgeschäft hatte. Der arme Kerl, Breuer hieß er, stank so sehr nach Fisch, dass uns anderen schon übel wurde, wenn er um die Ecke bog. Der Fischgeruch hing in seinen Haaren und Kleidern, da half kein Waschen und Bürsten. Alles rückte von ihm weg. Es war nicht seine Schuld. Aber er saß, gehänselt und gemieden, ganz für sich allein, als habe er die Beulenpest. Er schämte sich in Grund und Boden, doch auch das half nichts. Noch heute, fünfundvierzig Jahre danach, wird mir flau, wenn ich den Namen Breuer höre. So schwer ist es manchmal, Rücksicht zu nehmen. Und es gelingt nicht immer. Doch man muss es stets von neuem versuchen.
Seid nicht zu fleißig! Bei diesem Ratschlag müssen die Faulen weghören. Er gilt nur für die Fleißigen, aber für sie ist er sehr wichtig. Das Leben besteht nicht nur aus Schularbeiten. Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln. Ich spreche aus Erfahrung. Ich war als kleiner Junge auf dem besten Wege, ein Ochse zu werden. Dass ich’s, trotz aller Bemühung, nicht geworden bin, wundert mich heute noch. Der Kopf ist nicht der einzige Körperteil. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Und wer die Lüge glaubt, wird, nachdem er alle Prüfungen mit Hochglanz bestanden hat, nicht sehr schön aussehen. Man muss nämlich auch springen, turnen, tanzen und singen können, sonst ist man, mit seinem Wasserkopf voller Wissen, ein Krüppel und nichts weiter.
Lacht die Dummen nicht aus! Sie sind nicht aus freien Stücken dumm und auch nicht zu eurem Vergnügen. Und prügelt keinen, der kleiner und schwächer ist als ihr! Wem das ohne nähere Erklärung nicht einleuchtet, mit dem möchte ich nichts zu tun haben. Nur ein wenig warnen will ich ihn. Niemand ist so gescheit oder so stark, dass es nicht noch Gescheitere und Stärkere als ihn gäbe. Er mag sich hüten. Auch er ist, vergleichsweise, schwach und ein rechter Dummkopf.
Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist ganz etwas anderes. Der Krieg zum Beispiel findet heutzutage nicht mehr wie in Lesebuchgeschichten statt, nicht mehr mit geschwungener Plempe und auch nicht mehr mit blitzendem Kürass und wehendem Federbusch wie bei Gravelotte und Mars-la-Tour. In manchen Lesebüchern hat sich das noch nicht herumgesprochen. Glaubt auch den Geschichten nicht, worin der Mensch in einem fort gut ist und der wackre Held vierundzwanzig Stunden am Tage tapfer! Glaubt und lernt das, bitte, nicht, sonst werdet ihr euch, wenn ihr später ins Leben hineintretet, außerordentlich wundern! Und noch eins: Die Zinseszinsrechnung braucht ihr auch nicht mehr zu lernen, obwohl sie noch auf dem Stundenplan steht. Als ich ein kleiner Junge war, mussten wir ausrechnen, wie viel Geld im Jahre 1925 aus einem Taler geworden sein würde, den einer unserer Ahnen anno 1525, unter der Regierung Johanns des Beständigen, zur Sparkasse gebracht hätte. Es war eine sehr komplizierte Rechnerei. Aber sie lohnte sich. Aus dem Taler, bewies man uns, entstünde durch Zinsen und Zinseszinsen das größte Vermögen der Welt! Doch dann kam die Inflation, und im Jahre 1925 war das größte Vermögen der Welt samt der ganzen Sparkasse keinen Taler mehr wert. Aber die Zinseszinsrechnung lebte in den Rechenbüchern munter weiter. Dann kam die Währungsreform, und mit dem Sparen und der Sparkasse war es wieder Essig. Die Rechenbücher haben es wieder nicht gemerkt. Und so wird es Zeit, dass ihr einen Rotstift nehmt und das Kapitel »Zinseszinsrechnung« dick durchstreicht. Es ist überholt. Genauso wie die Attacke auf Gravelotte und der Zeppelin. Und wie noch manches andere.
Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe geordnet, und wollt nach Hause gehen. Geht heim, liebe Kinder! Wenn ihr etwas nicht verstanden haben solltet, fragt eure Eltern! Und, liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!
Dieser Artikel erschien Anfang 1950 in der »Münchener Illustrierten«. Das debattierte Gesetz ist noch nicht verabschiedet worden. Der Entwurf aus dem Jahre 1952 trägt einen harmloseren Titel als damals. Auch die vorgeschlagenen Paragraphen seien, heißt es, harmloser geworden. Man lasse sich nicht täuschen – der Plan bleibt Dünnbrettbohrerei.
Aus einem Brief an den Bund in Bonn:
»1. Februar, zzt. Ägypten
… und vernehme ich mit besonderer Genugtuung und stolzer Freude, dass Sie endlich wieder ein Gesetz zur Wahrung unserer gemeinsamen Interessen vorbereiten. Am Nil schneit es. Bei Ihnen soll Frühling sein. Die Frösche sind auch nicht mehr wie früher. Nur Sie und ich, wir bleiben die Alten. Auf baldiges und frohes Wiedersehen mit Ihnen und Ihren Damen!
Ihr unverwüstlicher Klapperstorch.«
Was mag er meinen? Worauf spielt er an, der stelzfüßige Schwerenöter, der die Damen nachts ins Bein zu beißen pflegt? Er meint, das steht außer Frage, das Schmutz- und Schundgesetz, das gegenwärtig in Bonn und anderswo ausgearbeitet wird. Es heißt, man wolle mit Hilfe dieses Gesetzes den Magazinen und den Aktfotos an den Kragen. Den abgebildeten Fräuleins, die auch den letzten Zweifler unter uns einwandfrei – wenn auch nicht immer in einwandfreien Posen – davon überzeugen wollen, dass der Busen keine poetische Lizenz verderbter Dichter, sondern eine mehr oder weniger unumstößliche Tatsache ist, mit der man rechnen muss. Man will mit des Gesetzes Schärfe jene Fotografien verbieten, worauf sich Mannequins der Entkleidungsbranche schelmisch Medizinbälle, Teddybären, Muffs oder große Haarschleifen vor den Nabel halten. Der Staat will seine Bürger zwingen, wieder rot zu werden und sich zu entrüsten, wo es genügte, zu lachen oder die Achseln zu zucken. Will er das? Ja. Will er nichts weiter? Doch.
Hinter dem Gesetz verbirgt sich eine Tartüfftelei. Man will nicht nur dem weiblichen Akt an die Gurgel. Man will dem natürlichen Menschen zuleibe. Zur Bekämpfung des Vertriebs eindeutiger Zweideutigkeiten genügen, auch nach Meinung namhafter Juristen, nach wie vor die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs, der Staatsanwalt und die Polizei. Die Antragsteller und die Auftraggeber wollen ein Kuratelgesetz gegen Kunst und Literatur zuwege bringen. Sie sagen »Schmutz« und meinen »Abraxas«. Da zwar für sie beides ein und dasselbe ist, nicht aber fürs Strafgesetzbuch, brauchen sie ein Sondergesetz zur Entmündigung moderner Menschen. Da helfen keine Schwüre, das Gesetz werde großzügig gehandhabt werden. Nicht einmal dann, wenn es keine falschen Schwüre wären. Denn der jetzigen Regierung werden andere folgen. Vielleicht solche, denen es noch viel besser in den Kram passt, die Kunst, die Bürger und den Feierabend zu dressieren.
Die freien Künste dürfen nicht zum staatlich betriebenen Flohzirkus werden. Um nicht im Bilde zu bleiben: Dass es bestimmte Kreise juckt, aus der Wiege unserer Verfassung das schönste Patengeschenk, die Freiheit, wegzuzaubern, liegt in der Natur, genauer, in der Unnatur der Sache, um die es diesen Kreisen und ihren Kreisleitern geht. Sie wurde schon einmal und fast von den gleichen Leuten in den zwanziger Jahren unseres fatalen Jahrhunderts betrieben.
Damals, zwischen Inflation und Hitlerei, gelang es ihnen, durch ein ähnliches Gesetz mit dem gleichen ungezogenen Titel, das Ansehen der freien Künste in den Augen der Bevölkerung so herabzusetzen, dass es etliche Jahre später keiner sonderlichen Anstrengung bedurfte, angesichts von Bücherverbrennungen und Ausstellungen »entarteter« Kunst das erforderliche Quantum Begeisterung zu entfachen.
Nun holt man also wieder zu einem ganz gewaltigen Streiche aus, zu dem gleichen Schildbürgerstreich wie 1926. Herrn Brachts fromme Erfindung, die geschlechtslose Badehose mit dem Zwickel, werden wir, gelingt der Streich, in der Sommersaison gleichfalls wiedersehen. Uns tun jetzt noch die Lachmuskeln weh. Aber wenigstens eins haben wir im letzten Vierteljahrhundert hinzugelernt: Lächerlichkeit tötet nicht! Es sei denn die Lacher. Deshalb dürfen wir uns diesmal nicht mit Gelächter begnügen.
Die Geschichte vom Trojanischen Pferd ist bekannt. Das Schmutz- und Schundgesetz ist ein neues Trojanisches Pferd. Man hat, züchtig gesenkten Blicks, an dem hölzernen Sagentier ein bisschen herumgehobelt. Bis ein sittlicher Wallach draus wurde. Nun steht der trojanische Wallach, mit Kulturkämpfern bemannt, vor den Toren.
Die Stadt heißt diesmal nicht Troja. Sie heißt Schilda.
*
Wären’s nur die Reaktionäre verschiedener Fehlfarben, die das Schundgesetz fordern, ginge es noch an. Denn in Bonn sitzen auch andere Leute. Aber es kommen weitere Fürsprecher hinzu: die sogenannten Dünnbrettbohrer.
Wenn’s schon nicht gelingt, die tatsächlichen Probleme zu lösen, die Arbeitslosigkeit, die Flüchtlingsfrage, den Lastenausgleich, das Wohnungsbauprogramm, den Heimkehrerkomplex, die Steuerreform, dann löst man geschwind ein Scheinproblem. Das geht wie geschmiert. Hokuspokus – endlich ein Gesetz! Endlich ist die Jugend gerettet! Endlich können sich die armen Kleinen am Kiosk keine Aktfotos mehr kaufen und bringen das Geld zur Sparkasse! Dadurch werden die Sparkassen flüssig, können Baukredite geben, Arbeiter werden eingestellt, Flüchtlinge finden menschenwürdige Unterkünfte, und die Heimkehrer werden Kassierer bei der Sparkasse. Ja?
Ich will mir, bevor man mir’s umbindet, kein Feigenblatt vor den Mund nehmen! Ich habe Flüchtlingsbaracken gesehen, worin Familien dutzendweise nebeneinander hausten, aßen und schliefen. Die einzelnen Wohnquadrate schamhaft durch an Stricken aufgehängte Pferdedecken abzugrenzen, wurde verboten. Die Decken seien nicht als Komfort geliefert worden, sondern für die Bettstellen. Glaubt man, dass die Halbwüchsigen und die Kinder aus diesen Baracken durch Aktfotos sittlich noch zu gefährden sind? Weiter: Ich lese die ständig steigenden Ziffern gerade der jugendlichen Arbeitslosen und bewundere die frisch-fröhliche Art, mit der man diese Lawine verniedlicht. Prostituieren sich junge Mädchen, die es in normalen Zeiten gewiss nicht täten, weil man ihnen Magazine zeigt, worin andere junge Mädchen, aus ähnlichen sozialen Anlässen, die kaufkräftige Öffentlichkeit, vor allem natürlich ärmliche Kinder und Waisen, anschaulich damit überraschen, dass sie den Busen vorn und nicht auf dem Rücken haben? Sind Menschen, die dergleichen zu glauben vorgeben und deswegen ihr Schand-, nein, Schundgesetz durchpeitschen wollen, ehrliche Leute?
Sie bohren das Brett an der dünnsten Stelle. Das ist das ganze Geheimnis. Ein paar tausend Maler, Schauspieler, Schriftsteller, Bildhauer und Musiker, die dagegen protestieren, braucht man nicht sonderlich ernst zu nehmen. Das Volk der Dichter und Denker hat seine Dichter und Denker nie ernst genommen. Warum sollten’s die Volksvertreter tun?
Wenn das Schmutz- und Schundgesetz – man sucht übrigens krampfhaft nach einem weniger blamablen Namen – ratifiziert sein wird, werden die Antragsteller den Dünnbrettbohrern zeigen, was sie meinten, als sie für die Jugend in den Kampf zogen.
Der trojanische Wallach steht vor den Toren. Klopft, ihr Toren, dem Tier auf den Bauch! Er ist hohl, aber nicht leer.
»Das PEN-Zentrum Deutschland wendet sich mit Entschiedenheit gegen Maßnahmen und Tendenzen in allen Teilen Deutschlands, die das freie literarische Schaffen beeinträchtigen. Die direkte oder indirekte Zensur widerspricht der internationalen PEN-Charta. Wir protestieren auch heute schon gegen die Einführung eines sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes, weil wir seine missbräuchliche Anwendung fürchten.«
(Resolution des PEN-Zentrums Deutschland aus dem Jahr 1949)