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Für Ben Fox (1998 – 2014)

– reite immer weiter

 

August

 

Schwestern

 

Hier.

Sind. Wir.

 

Und wir leben.

 

Ist das nicht unglaublich?

 

Wie wir es schaffen,

überhaupt

zu existieren.

 

Das Ende des Sommers

 

Der heiße Atem des Sommers wird allmählich kühler.

Das Tintenblau der Nacht senkt sich früher und früher herab.

Und wie aus heiterem Himmel

verkündet Mum, dass Tippi und ich

nicht länger zu Hause unterrichtet werden.

„Ab September

werdet ihr zur Schule gehen

wie alle anderen auch“, sagt sie.

 

Ich mache keinen

Aufstand.

 

Ich höre zu

und nicke

und zupfe an einem losen Faden an meiner Bluse herum,

bis ein Knopf

 

abfällt.

 

Aber Tippi bleibt nicht stumm.

 

Sie explodiert:

 

„Willst du mich verarschen?

Habt ihr beide den Verstand verloren?“, brüllt sie

und debattiert stundenlang mit Mum und Dad.

 

Ich höre zu

und nicke

und pule an meiner Nagelhaut herum,

bis sie anfängt

 

zu bluten.

 

Schließlich massiert Mum sich die Schläfen, seufzt und

sagt es uns geradeheraus.

„Die Spenden von euren Gönnern sind aufgebraucht

und wir können es uns einfach nicht mehr leisten,

euch zu Hause zu unterrichten.

Ihr wisst, dass euer Dad noch keinen neuen Job hat,

und Grammies Rente

reicht nicht mal für die Telefonrechnung.“

 

„Ihr Mädchen seid ziemlich kostspielig“, fügt Dad hinzu,

als ob sie all das Geld, das sie für uns ausgeben

– die Krankenhausrechnungen und
maßgeschneiderten Klamotten –

sparen könnten, wenn wir beide uns

nur

ein bisschen besser benehmen würden.

 

Schon klar,

Tippi und ich sind nicht gerade das, was man normal nennt –

nichts, was man jeden Tag zu sehen bekommt

oder an irgendeinem  Tag,

wenn wir schon dabei sind.

 

Jeder, der auch nur über einen Funken guter Manieren verfügt,

bezeichnet uns als verbunden

obwohl wir auch schon ganz anders tituliert wurden:

Freaks, Chimären,

Monster, Mutanten

und einmal sogar als zweiköpfiger Dämon,

weshalb ich so sehr geweint habe,

dass ich eine Woche lang verquollene Augen hatte.      

 

Aber es lässt sich nicht leugnen, dass wir anders sind.

 

Wir sind buchstäblich miteinander verbunden,

an der Hüfte –

vereint in Blut und Knochen.

 

Und

deshalb

sind wir

nie zur Schule gegangen.

 

Jahrelang haben wir chemische Tränke

am Küchentisch gebraut

und den Garten als Sportplatz genutzt.

 

Aber jetzt

führt kein Weg dran vorbei;

wir werden zur Schule gehen.

 

Es wird keine öffentliche Schule sein

wie sie unsere Schwester Dragon besucht,

wo Schüler die Lehrer mit Messern bedrohen

und in der Pause Tipp-Ex schlucken.

 

Nein, nein, nein.

 

Die Gemeinde kann nicht für unseren Hausunterricht

aufkommen, aber

sie bezahlt uns

das Schulgeld

für einen Platz an einer Privatschule

– Hornbeacon High –

und Hornbeacon hat zugestimmt, dass dieser eine Platz

für uns beide zählt.

 

Ich nehme an, wir sollten uns als Glückspilze betrachten.

 

Aber Glückspilz ist nicht das Wort,

mit dem ich

uns

je beschreiben würde.

 

Jeder

 

Dragon streckt sich auf dem Doppelbett aus,

das ich mit Tippi teile,

ihre geschundenen Füße lang gestreckt, während sie

ihre Zehennägel in einem dunklen Metallicblau lackiert.

„Ich weiß nicht,

es könnte euch gefallen“, erzählt sie uns.

„Nicht jeder auf dieser Welt ist ein Arschloch.“

Tippi schnappt sich den Nagellack, fängt mit

meiner rechten Hand an und

pustet meine Fingernägel

trocken.

„Ja, stimmt,

nicht jeder ist ein Arschloch“,

meint Tippi.

„Aber in unserer Gegenwart

verwandelt sich jeder in eins.“

 

Ein Freak wie wir

 

Dragons richtiger Name ist Nicola,

aber Tippi und ich haben sie umbenannt,

als sie zwei war,

als sie wild und Feuer speiend

in der Wohnung herumgestampft ist und

an Wachsmalkreiden und Spielzeugzügen gekaut hat.

 

Jetzt ist sie vierzehn und tanzt Ballett,

sie stampft nicht mehr herum –

sie schwebt.

 

Ihr Glück, dass sie normal ist.

 

Obwohl,

 

ich frage mich schon, ob es sie nicht ankotzt,

unsere Schwester zu sein,

 

ob es sie nicht

auch

zu einem Freak macht.

 

Ischiopagus Tripus

 

Obwohl sich Wissenschaftler Systeme ausgedacht haben,

mit denen sie siamesische Zwillinge kategorisieren können,

ist jedes einzelne Paar, das es je gab,

einzigartig –

die Einzelheiten unserer Körper bleiben ein Geheimnis,

sofern wir nicht darüber sprechen wollen.

 

Und die Leute fragen immer.

 

Sie wollen genau wissen, was wir uns teilen

da unten,

also verraten wir es ihnen manchmal.

 

Nicht weil es sie etwas anginge,

sondern damit sie aufhören, darüber zu grübeln – das Grübeln

über unsere Körper ist es, was uns stört.

 

Also:

Tippi und ich gehören zu dem seltenen

Ischiopagus Tripus-Typ.

Wir haben

zwei Köpfe,

zwei Herzen,

 

vier Lungenflügel und Nieren.

Wir haben auch vier Arme

und ein Paar voll funktionstüchtiger Beine,

seit das verkümmerte Bein

kupiert wurde

wie der Schwanz eines Hundes.

 

Unsere Därme beginnen

getrennt

und verschmelzen dann.

 

Und unterhalb sind wir

                                eins.

 

Das hört sich vermutlich wie eine Gefängnisstrafe an,

aber wir haben es besser als andere,

die mit zusammengewachsenen Köpfen oder Herzen

leben müssen

oder zu zweit nur zwei Arme haben.

 

Es ist wirklich nicht so schlimm.

 

So ist es eben immer schon gewesen.

 

Wir kennen es nicht anders.

 

Und ehrlich gesagt

sind wir normalerweise

ganz glücklich

        zusammen.

 

Milch holen

 

„Wir haben keine Milch mehr“, sagt Grammie

und schwenkt mit der einen Hand die leere Milchpackung und

mit der anderen einen Becher Kaffee.

 

„Na, dann geh doch und kauf neue“, erwidert Tippi.

 

Grammie kräuselt die Nase und stupst Tippi in die Seite.

„Du weiß, dass ich Probleme mit der Hüfte habe“, meint sie

und ich lache laut auf;

Grammie ist echt der

einzige Mensch auf diesem Planeten, der auf die Idee kommt,

die Behindertenkarte

gegen uns auszuspielen.

 

Also gehen Tippi und ich zum Laden an der Ecke

zwei Blocks von zu Hause,

so, wie wir überall hingelangen:

mit schweren Schritten

dahinwalzend,

meinen linken Arm um Tippis Taille,

den rechten auf eine Krücke gestützt –

Tippi genauso, nur spiegelverkehrt.

 

Als wir endlich beim Laden ankommen,

atmen wir beide schwer

und keine von uns hat noch Lust,

die Milch nach Hause zu schleppen.

„In Zukunft kann sie ihre Besorgungen selbst machen“,
sagt Tippi,

während sie

kurz

anhält

und sich gegen ein rostiges Geländer lehnt.

 

Eine Frau schiebt einen Kinderwagen an uns vorbei,

den Mund

sperrangelweit offen.

Tippi lächelt und sagt: „Na, alles klar?“,

und kichert,

als diese Frau mit ihrem perfekt geformten Körper

vor Schreck fast umfällt.

 

Picasso

 

Dragon breitet tausend Puzzleteile

auf

dem Küchentisch aus.

 

Das Bild auf der Verpackung verspricht, dass

aus dem Durcheinander

einmal ein

Gemälde von Picasso wird,

                   – Freundschaft –,

eine surreale Anordnung von

Gliedmaßen

und Linien,

von massiven Flächen aus

Gelb,

Braun und

Blau.

 

„Ich mag Picasso“, stelle ich fest.

„Er malt das Wesentliche in den Dingen,

nicht nur das, was das Auge sehen kann.“

 

Tippi schnaubt. „Das sieht sauschwer aus.“

 

Dragon dreht die Teile

mit dem Bild nach oben.

 

„Je schwieriger, desto besser“, erklärt sie uns.

„Was soll das Ganze sonst?“

 

Tippi und ich lassen uns neben ihr

auf einen

extrabreiten Küchenstuhl fallen,

als

Dad

aus seinem Schlafzimmer

angeschlurft

kommt –

mit glasigen Augen und schlechtem Atem.

 

Er schaut zu,

wie wir nach den Randstücken des Puzzles suchen

– den Kanten

und Ecken –,

dann greift er über Dragons Schulter

und legt ihr

die rechte obere Ecke in die Hand.

 

Er setzt sich uns gegenüber an den Tisch

und schiebt wortlos Puzzlestücke, die wir gesucht haben,

in eine Reihe.

 

„Super Teamwork!“, sage ich

und strahle Dad an.

 

Er schaut mich an und zwinkert.

„Ich hatte die besten Lehrerinnen“, erwidert er

und steht vom Tisch auf, um im Kühlschrank nach einem

Bier

zu suchen.

 

Der Raketenstart

 

Mum und Dad bereiten Tippi und mich

auf unseren ersten Schultag vor,

als ob sie

Astronauten

ins All

schießen würden.

 

Jeder Tag ist vollgestopft mit Terminen.

 

Sie machen für uns Termine mit unseren

Therapeuten, Ärzten und sogar dem Zahnarzt.

Dann zieht Grammie uns Strähnchen in die Haare

und feilt unsere Fingernägel,

damit wir bereit sind für unseren

großen öffentlichen Auftritt.

 

„Das wird einfach fabelhaft!“, sagt Mum

und tut so, als ob wir nicht

völlig schutzlos

in eine Arena voller Löwen geworfen würden,

und Dad grinst

schief.

Dragon, die selbst neu auf die Highschool kommt,

verdreht die Augen

 

und zerrt am Bündchen ihrer Strickjacke.

„Ach, komm schon, Mum,

tu doch nicht so, als ob das leicht werden würde.“

 

„Tja, ich geh da nicht hin, falls ich es dort blöd finde“,

verkündet Tippi.

 

Und Dragon meint:

„Ich hasse die Schule. Kann ich deswegen zu Hause bleiben?“

 

Grammie guckt eine Gerichtsshow.

„Warum sollte irgendwer die Schule blöd finden?“, krächzt sie.

„Die beste Zeit eures Lebens, Mädchen.

Dort lernt ihr euren Schatz kennen.“

 

Dad wendet sich ab,

Dragon läuft rot an

und Mum schweigt betreten,

weil

sie alle wissen,

dass die Liebe unseres Lebens zu finden,

nichts ist,

was

uns

je passieren wird.

 

Therapie

 

„Erzähl mir, was los ist“,

sagt Dr. Murphy,

und wie

so oft

sitze ich ganze zehn Minuten da

und schweige,

starre nur einen Knopf an dem braunen Ledersofa an.

 

Ich kenne Dr. Murphy

schon mein ganzes Leben, sechzehneinhalb Jahre,

was echt lang ist, um irgendjemanden zu kennen

und sich immer wieder etwas Neues überlegen zu müssen,

über das man sprechen kann.

Aber die Ärzte bestehen darauf, dass wir

regelmäßig zur Therapie gehen,

um unsere psychische Verfassung zu stabilisieren,

als ob das der Teil an uns wäre, der kaputt ist.

 

Tippi hat Kopfhörer auf und hört laute Musik,

damit sie nicht mitbekommt, was ich sage,

damit ich

all meine unterdrückten Gefühle in

Dr. Murphys Notizbuch

speien kann,

ohne Tippi zu verletzen.

 

Und früher habe ich auch richtig rumgemotzt,

als ich sieben oder acht war

und Tippi mir meine Puppe weggenommen

oder mich an den Haaren gezogen

oder meine Hälfte des Kekses gegessen hatte.

 

Aber jetzt gibt es nicht mehr viel zu sagen,

das Tippi nicht schon wüsste,

und das Reden erscheint mir als

eine Verschwendung von Geld, das wir nicht haben,

und von fünfundfünfzig wertvollen Minuten.

 

Ich gähne.

 

„Also?“,

hakt Dr. Murphy nach,

die Stirn in Falten gelegt,

als ob meine Probleme ihre eigenen wären.

Einfühlsamkeit

ist selbstverständlich Teil ihrer Dienstleistung.

 

Ich zucke die Schultern.

 

„Wir gehen bald zur Schule“, sage ich.

 

„Ja, davon habe ich gehört.

Und wie geht es dir damit?“, fragt sie.

 

„Keine Ahnung.“

Ich schaue hinauf zum Lampenschirm,

zu einem intakten Spinnennetz mit einer Spinne darin,

welche sich gierig auf eine Fliege stürzt,

die größer als sie selbst ist.

 

Ich falte meine Hände in unserem Schoß.

„Na ja ...“, sage ich.

„Ich schätze, ich habe Angst davor, dass die anderen

mich bemitleiden werden.“

 

Dr. Murphy nickt.

Sie erzählt mir nicht,

dass sie das nicht werden

oder

dass es fantastisch laufen wird,

denn es ist nicht ihre Art zu lügen.

Stattdessen sagt sie: „Es interessiert mich wirklich zu hören, wie es läuft, Grace.“

Dann schaut sie auf die Uhr an der Wand und zwitschert:

„Bis zum nächsten Mal!“

 

Tippi redet

 

Wir gehen in den Nachbarraum,

in Dr. Netherhalls Sprechzimmer,

wo ich an der Reihe bin, mir Kopfhörer aufzusetzen

und Tippi dran ist zu reden.

 

Was sie,

glaube ich,

auch wirklich tut.

 

Sie spricht schnell,

mit ernstem Gesichtsausdruck,

ihre Stimme

manchmal laut genug, dass ich

einzelne

Wortfetzen

aufschnappen kann.

Ich drehe die Musik lauter,

zwinge sie, Tippis Stimme zu verschlucken,

und dann beobachte ich,

wie

sie

ihr Bein über meins schlägt,

es dann wieder zurückstellt,

sich die Haare aus dem Gesicht streicht,

 

hustet,

sich auf die Lippe beißt,

auf unserem Stuhl herumrutscht,

ihren Unterarm kratzt,

sich die Nase reibt,

an die Decke starrt,

die Tür anstarrt,

während sie die ganze Zeit

quasselt,

bis

sie mich schließlich am Knie antippt

und lautlos

„fertig“

sagt.

 

Der Check-up

 

Mum fährt uns die ganze weite Strecke

bis zur Kinderfachklinik in Rhode Island

für unsere vierteljährliche Routineuntersuchung,

bei der festgestellt werden soll, ob unsere inneren Organe

vorhaben, uns im Stich zu lassen.

Und heute,

wie jedes Mal zuvor auch,

führt uns Dr. Derrick seinen

ungläubig dreinschauenden

Medizinstudenten

vor und fragt uns, ob es uns etwas ausmacht,

wenn sie bei den Untersuchungen zuschauen.

 

Das tut es.

 

Natürlich tut es das.

 

Aber Dr. Derricks Stethoskop und sein weißer Kittel

dulden keinen Widerspruch,

also zucken wir die Schultern

und lassen uns von

einem Dutzend Ärzten in Ausbildung

angaffen,

die die Lippen

 

und Augen zusammenkneifen,

die

sich vorbeugen,

fast unmerklich,

auf die Zehenspitzen stellen,

als wir unsere Shirts hochziehen.

Am Ende sind wir knallrot

und wollen nichts mehr,

als zu gehen.

 

„Alles in Ordnung mit ihnen?“, fragt Mum hoffnungsvoll,

als wir zurück in Dr. Derricks Sprechzimmer sind.

Er trommelt mit den Fingern auf die Platte seines

Schreibtischs.

„Alles bestens, soweit ich sehen kann“,

erwidert er.

„Aber wie immer

müssen sie es langsam angehen lassen,

besonders jetzt, wo sie

zur Schule gehen werden.

Versprochen?“

Er wackelt warnend mit dem Zeigefinger vor uns herum.

„Versprochen“, geben wir zurück,

aber wir haben nicht vor,

irgendwas daran zu ändern,

wie wir unser Leben leben.

 

Grippe

 

Zwei Tage nach unserem Besuch bei

Dr. Derrick

haut es uns

mit voller Wucht um,

ohne Vorwarnung.

 

Ich bibbere und zittere

und klammere mich an der Bettdecke fest,

werfe mir alle vier Stunden

zwei weiße Paracetamol-Tabletten ein

in der Hoffnung,

die Erkältung im Keim zu ersticken.

 

Tippi liegt neben mir,

schaudert,

niest, hustet

und schnäuzt sich durch

die zweite Box mit Taschentüchern.

 

Unsere Bettlaken sind schweißnass.

 

Mum bringt uns kochend heiße

Getränke

und versucht,

ein bisschen Toast

in uns hineinzubekommen.

 

Aber wir sind zu krank,

um uns zu bewegen.

 

Ich kann es nicht abschütteln

 

Es gelingt mir einfach nicht, diesen Schüttelfrost loszuwerden,

und obwohl es Tippi schon tausendmal besser geht,

muss auch sie weiter das Bett hüten.

 

Während ich

gegen die Grippe ankämpfe.

 

Sorgenvoll

 

Mum ruft Dr. Derrick an

und schildert ihm

alle

unsere

Symptome.

 

Er ist nicht beunruhigt,

noch nicht.

Er trägt ihr auf, uns mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen

und verordnet uns ein paar Tage Bettruhe.

 

Er sagt, sie solle uns im Auge behalten.

 

Doch Mum kann uns nicht einfach nur im Auge behalten.

 

Sie kann nicht anders, als sich Sorgen zu machen.

Und warum sollte es auch anders sein,

wo doch nur so wenige von uns überhaupt das

Erwachsenenalter

erreichen.

 

Je älter wir werden,

umso mehr sorgt sie sich.

 

Während die Zeit so verrinnt,

steigt die Wahrscheinlichkeit,

dass wir

plötzlich

aufhören

zu existieren,

rasant

an.

 

Das ist ein Fakt,

der sich

nie

ändern wird.

 

Ich stehe auf

 

Ich will es nicht.

Ich bin ganz wackelig auf den Beinen.

Mein Hals ist rau wie Schmirgelpapier.

Und es fühlt sich so an, als ob mein Herz

besonders schnell schlägt,

nur um mich vom Bett

ins Badezimmer zu bekommen.

„Sicher, dass du nicht lieber liegen bleiben willst?“,

fragt Tippi.

Ich schüttle den Kopf.

Ich kann sie nicht ans Bett fesseln,

nur weil ich mich nicht

zusammenreißen kann.

Ich schüttle den Kopf

und beiße die Zähne zusammen.

 

September

 

Beinahe

 

Die Haustür geht auf und wieder zu

und Dads Stimme ruft:

„Hallo? Jemand zu Hause?“

 

Wir sind so kurz davor, dieses Puzzle zu beenden,

dass wir nicht antworten.

Wir schauen nicht mal auf.

Alles, was wir wollen, ist, diesen Picasso zu bezwingen,

diese Massen an Farben.

 

„Ich habe euch was mitgebracht!“, ruft Dad,

der in die Küche gerauscht kommt und

zwei volle Tüten

mitten auf

das Puzzle fallen lässt.

 

Wir halten den Atem an.

 

Dad kramt darin herum.

 

Er zieht zwei Schachteln aus einer Tüte und

reicht sie

Tippi und mir.

 

Ich schnappe nach Luft.

 

Handys –

brandneu,

originalverpackt.

 

„Oh, mein Gott!“, rufe ich.

„Ist das dein Ernst?“

 

Dad grinst.

„Die werdet ihr ab morgen für die Schule brauchen.

Die sind das Beste vom Besten

und sie sind neu.

Für meine Mädchen.“

 

„Ich dachte, wir hätten kein Geld“,

sagt Tippi.

 

Dad überhört sie geflissentlich und überreicht Dragon

eine noch größere Schachtel.

„Und das ist für dich“, erklärt er.

 

Dragon linst hinein,

blinzelt,

und holt daraus rosafarbene

Ballettschläppchen hervor.

 

Sie dreht sie um und wirft einen Blick auf die Sohle.

 

„Die sind schön“, sagt sie.

 

„Aber sie sind zu klein.“

 

Der Ventilator in der Ecke surrt.

Dad starrt sie beharrlich an.

 

„Sie sind zu klein,

das ist alles“, erklärt Dragon ihm.

 

Dad seufzt.

„Ich kann es dir nie recht machen, oder?“, sagt er.

 

Er reißt Dragon den Schuhkarton aus den Händen,

stopft ihn zurück in die Tüte

und zerrt das Ganze mit einem Ruck vom Tisch,

sodass sämtliche Teile des Picassos

runterprasseln.

 

Wahrheit

 

Tippi,

noch im Halbschlaf,

trinkt ihren Kaffeebecher leer und

starrt in ihr Rührei,

als ob sie ihre Zukunft aus den

gelb-weißen

Strudeln

herauslesen könnte.

 

Normalerweise

dränge ich

sie nie,

aber wir dürfen nicht zu spät kommen,

nicht an unserem ersten Schultag,

also hüstele ich vorsichtig

ähem, ähem

und hoffe, es wird sie lange genug

aus ihren Tagträumen reißen,

um mit den marmorierten Eiern anzufangen.

 

Stattdessen ist es, als ob man

Eiswasser in eine

Pfanne mit heißem Fett gießt.

 

Tippi schiebt ihren Teller von sich.

„Du weißt schon, dass ich einen

gottverdammten goldenen Orden

verdient hätte für die vielen Male, die du mich hast warten lassen

in all den Jahren.“

 

Also wispere ich:

„Tut mir leid, Tippi“,

denn ich kann sie nicht belügen und so tun,

als ob das Räuspern

nichts bedeutet hätte.

 

Sie nicht.

 

Wahrheit:

Das, was geschieht,

wenn man wie wir miteinander verbunden ist

durch einen Körper, der sich geweigert hat,

sich bei der Empfängnis zu teilen.

 

Uniform

 

Im Gegensatz zu Dragons Schule,

wo jeder anziehen kann, was er will,

erwartet man in Hornbeacon, dass alle Schüler

Schuluniformen tragen –

strahlend weiße Blusen, grün gestreifte Krawatten,

einen karierten Rock

mit Bundfalten auf der Vorderseite.

 

Der Hintergedanke ist,

dass alle gleich aussehen sollen.

Das ist mir klar.

Aber es ist völlig egal, was wir anziehen.

Wir werden immer

herausstechen,

und zu versuchen, wie alle auszusehen,

ist einfach nur dämlich.

 

„Es ist noch nicht zu spät, einen Rückzieher zu machen“,

meint Tippi.

 

„Aber wir haben zugestimmt, da hinzugehen“, erwidere ich

und Tippi schnalzt mit der Zunge.

 

„Ich wurde gezwungen, Ja zu sagen.

Glaubst du etwa, dass ich das will?“, fragt sie.

Sie zerrt an der Krawatte, die um ihren Hals gebunden ist,

 

und zieht die

Schlinge fest.

 

Ich schnappe mir den Rock und steige hinein.

Tippi wehrt sich nicht,

sondern zieht ihn hoch.

 

„Ich komme mir so hässlich vor“, klagt Tippi.

 

Sie fährt mir mit den Fingern ins Haar und

teilt es in drei dicke Strähnen auf,

die sie flicht und wieder löst.

 

„Du bist nicht hässlich.

Du siehst aus wie ich“, sage ich grinsend

und drücke ihre Hand

ganz fest.

 

Was ist hässlich?

 

Ich war schon auf genug Krankenstationen,

um echtes Gräuel gesehen zu haben:

ein Kind, dessen eine Gesichtshälfte heruntergeschmolzen war,

eine Frau mit abgerissener Nase, deren Ohren herunterhingen

wie Speckstreifen.

 

Das nennen die Leute hässlich.

 

Nicht dass ich das täte.

 

Ich habe gelernt, nicht so grausam zu sein.

 

Aber ich weiß, was Tippi meint.

 

Die Leute finden uns grotesk,

vor allem aus der Ferne,

wenn sie uns als Ganzes sehen,

dass unsere Körper eindeutig zwei sind,

die dann verschmelzen,

plötzlich,

an der Hüfte.

 

Aber wenn man von uns ein Foto machen würde, nur mit Kopf und Schultern drauf,

und sie dann jedem zeigen würde, dem man begegnet,

wäre das Einzige, das den Leuten auffallen würde, dass wir Zwillinge sind,

meine Haare schulterlang,

Tippis etwas kürzer,

beide mit Stupsnasen

und perfekt geschwungenen Augenbrauen.

 

Es stimmt, wir sind anders.

 

Aber hässlich?

 

Ach, komm schon!

 

Jetzt mal halblang!

 

Dragons Ratschlag

 

Wenn ich ganz ehrlich sein soll,

die Schule wird vermutlich der mieseste Ort sein, den ihr in eurem Leben besuchen werdet.

Ernsthaft.

Die Middleschool ist schon scheiße,

aber ich habe gehört, die Highschool soll die Hölle sein.