Buch
Der junge Waise Torin verfügt über alles, was er als Inquisitor der Kirche der Göttlichen Familie benötigt: einen festen Glauben, mächtige Förderer und die unumstößliche Gewissheit, dass die Kirche immer im Recht ist. Er weiß auch, wie wichtig seine Arbeit ist, denn das Böse, das in der großen Wüste lauert, verdirbt immer mehr Menschen. Die Inquisition ist das einzige Bollwerk der Menschen gegen diese namenlosen Schrecken. Doch dann erkennt Torin, dass nicht alle Verurteilten wirklich Hexen sind, sondern oft unschuldig – aber auch, dass das wahre Böse viel mächtiger ist, als irgendjemand bislang ahnt.
Frank Rehfeld
DER WEG DES
INQUISITORS
Roman
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe November 2016
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -illustration: Melanie Korte, Inkcraft
Redaktion: Peter Thannisch
HK · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-16566-6
V001
www.blanvalet.de
Eine Religion ist kein Halm im Wind, sie lässt sich nicht wie irdische Gesetzgebung dem jeweiligen Zeitgeist anpassen. Das Wort des Göttlichen Vaters steht über jedem Gesetz. Wenn er uns in den Heiligen Schriften befiehlt, mit Feuer und Schwert gegen die Ungläubigen und Ketzer zu Felde zu ziehen und sie dem Flammentod zu überantworten, dann steht es uns nicht zu, davon abzuweichen und Milde walten zu lassen. Oder ist einer unter Euch, der glaubt, seine Weisheit wäre tiefgründiger, sein Wissen größer und seine Weitsicht umfassender als die eines Gottes?
(Clavon, Großmeister der Inquisition, auf dem neunzehnten Konzil der Kirche der Göttlichen Familie)
ERSTES BUCH
Der Junge
Am Anfang wanderte der Vater allein über eine leere, trostlose Welt und wurde sich seiner Einsamkeit bewusst. So schuf Er sich ein Weib und liebte sie sehr. Es dauerte nicht lange, bis sie ihm einen Sohn und wenig später eine Tochter gebar.
Aber die Kinder sollten in einer lichten Umgebung aufwachsen, und so entschied der Vater, die Welt in einen schöneren Ort zu verwandeln. Er ließ Wasser in alle tiefen Täler rinnen und trennte die Welt so in Meer und Land. Dann schuf Er ein helles Licht am Himmel und nannte es Sonne, damit das Licht für alles, was noch kommen werde, Seine Allmacht sichtbar mache. Aber die Sonne drohte das Land zu verbrennen und die Meere auszutrocknen, deshalb ließ Er sie am Morgen auf- und am Abend untergehen. So schied Er zwischen Tag und Nacht, und damit die Nacht nicht allzu finster war, setzte Er ein schwächeres Licht und viele kleine Lichter an den nächtlichen Himmel.
Anschließend bedeckte Er das Antlitz der Welt mit vielerlei Pflanzen und ließ Tiere zwischen ihnen umherstreifen. Wohlgefällig betrachtete Er Sein Werk und befand, dass es gut war.
Zuletzt setzte Er Wesen nach Seinem und der Mutter Ebenbild in den Garten, nannte sie Menschen und wies sie an, Seine Schöpfung zu hegen und zu pflegen. Dafür belohnte Er sie mit der Gabe, sich zu vermehren, damit sie gleich Ihm Familien gründen konnten. Denn eine glückliche Familie, so wusste Er nun, ist der Ursprung allen Schaffens und die Keimzelle jedweder zu Größe heranwachsenden Gesellschaft.
Aus den Heiligen Büchern der Kirche der Göttlichen Familie
1
Herzogtum Talarien, Kloster des heiligen Bernardeus bei Assani
Unschuldig, dachte Naron Balosta, seines Zeichens Inquisitor achten Ranges, als er allein war. Der Speisesaal des Klosters war zum Gerichtssaal umfunktioniert worden und hatte sich nach der Verhandlung in Windeseile geleert. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, nicht nur wegen der Sonnenglut, die erbarmungslos durch große Buntglasfenster hereinbrannte, die sich nicht einmal öffnen ließen. Die Sommer hier im äußersten Osten des Kontinents, fast schon am Rande der Endlosen Wüste, waren immer heiß, aber in den letzten Tagen ächzte das Land unter einer ungewöhnlichen Hitzewelle. Der Saal schien sich in einen Backofen verwandelt zu haben.
Lärmend und erleichtert, dass sie endlich vom schweigenden Stillsitzen in der Gluthitze befreit waren, waren zuerst die Waisenkinder hinausgelaufen, die hier im Kloster des heiligen Bernardeus in der Nähe des Ortes Assani als Mündel großgezogen wurden. Ihnen waren stumm und in etwas gemächlicherem Schritt die unter ihren Kutten schwitzenden Mönche gefolgt, begleitet von den drei zur Verhandlung herzitierten Zeugen aus Assani, auf deren Aussagen die Anklage gründete. Als Letzter schließlich hatte Pater Berlinus den Raum verlassen, der Abt des Klosters, nachdem er zuvor fast widerwillig noch einmal an den Richtertisch getreten war und sich bei Naron erkundigt hatte, ob er ihm noch irgendetwas bringen oder sonst etwas für ihn tun könne.
Der Inquisitor zog ein Tuch aus der Tasche seiner schwarzen Robe und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Die Hitze war wirklich nahezu unerträglich, dazu kam die verbrauchte, stickige Luft im Raum. Dennoch blieb er vorläufig noch sitzen, denn die Alternative wäre noch unangenehmer gewesen. Er verspürte ein leichtes Stechen hinter seiner Stirn, hob seine Hände und massierte sich geistesabwesend mit Zeige- und Mittelfinger seine Schläfen. Anschließend stützte er die Ellbogen auf den schweren Tisch vor sich, schloss die Augen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Unschuldig, dachte Naron Balosta noch einmal.
Natürlich. Wie sollte es auch anders sein?
Natürlich war die Hexe unschuldig. Zumindest behauptete sie es. Sie alle behaupteten stets, unschuldig zu sein, selbst wenn man sie auf frischer Tat ertappt hatte oder die Beweise noch so eindeutig waren. Es schien sie nicht zu kümmern, dass sie damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihm das Leben nur unnötig schwer machten. Den kurzen Rest Leben, der ihnen noch verblieb, während er hoffte, dass ihm selbst noch viele Jahre vergönnt sein würden. Aber mochten sie auch noch so geschickt lügen und ihre Unschuld beteuern, mochten sie heulen und wehklagen und an seine Barmherzigkeit appellieren. Spätestens unter der Folter kam die Wahrheit ans Licht, und sie gestanden all ihre ketzerischen Verfehlungen.
Auch diesmal würde es nicht anders sein. Burk war ein Meister seines Faches, wenn es darum ging, einem Angeklagten ein Geständnis zu entlocken. Deshalb nahm Naron ihn häufig mit auf seine Reisen, wenn zu erwarten war, dass er die Hilfe eines Folterknechts benötigte. Es war ihm lieber, wenn Burk diese Aufgabe übernahm, als irgendjemand, den er nicht so gut kannte. Wahrscheinlich hatte Burk inzwischen alles vorbereitet und wartete bereits auf ihn in dem kleinen, fensterlosen Kellerraum, den man ihnen für diesen Zweck zur Verfügung gestellt hatte. Einen abgelegenen Raum mit dicken Mauern, durch die kein Schrei dringen und das geregelte, friedliche Klosterleben noch mehr stören konnte, als es durch diesen Prozess ohnehin schon gelitten hatte.
Die Anwesenheit des Inquisitors war bei dem Verhör unerlässlich. Nur er war befugt, die Fragen zu stellen und der Angeklagten das Geständnis zu entreißen. Doch noch konnte Naron sich nicht dazu aufraffen. So unangenehm die heiße, stickige Luft hier im Saal war, sie war nichts im Vergleich zu der Hitze, die die glühenden Kohlebecken ausstrahlten, und dem Gestank verbrannten Fleisches.
Naron hasste den Osten wie wohl jeder vernünftige Mensch, außer vielleicht denen, die hier geboren und aufgewachsen waren. Und selbst von denen hätten viele wahrscheinlich anderswo gelebt. Talarien war reich an Bodenschätzen, aber arm an Einwohnern. Nur im Westen der Provinz, wo sie an die Königsmark grenzte, gab es fruchtbare Landstriche. Mehr als zwei Drittel des Landes hingegen bestanden aus karger Steppe, die hier, im äußersten Osten, schließlich in die Endlose Wüste überging.
Bevor er hergekommen war, hatte Naron noch nicht einmal gewusst, dass es einen Ort namens Assani gab, und es war beileibe keine Bildungslücke, dieses Nest nicht zu kennen. Es existierte überhaupt nur wegen einiger Quellen, die gerade genug Wasser spendeten, um ein bisschen Viehzucht zu betreiben und etwas Getreide, Kartoffeln und ein paar Früchte anzubauen, die die Einwohner am Leben erhielten.
Und dennoch gab es Gründe, warum man gerade hier ein Kloster errichtet hatte.
Der Osten Talariens war nicht nur der Hitze und Kargheit des Landes wegen berüchtigt. Da war noch die Wüste, die sich daran anschloss und sich noch weiter nach Osten erstreckte, endlos, wie es ihr Name verhieß. Niemand, der sich zu tief hineingewagt hatte, war jemals zurückgekehrt. Es war nicht einmal gelungen, dem Küstenverlauf mit Schiffen zu folgen. Riffe, Strudel und tückische Strömungen hatten jedes derartige Unterfangen zum Scheitern verurteilt.
Kein Wunder also, dass sich zahlreiche Legenden um die Wüste und die angeblich dahinter verborgen liegenden Länder rankten. Jede Familie, die etwas auf sich hielt, behauptete, ihre Vorfahren wären die ersten Siedler in Antasia gewesen, doch die Scyllas wollten im Gegensatz zu den anderen nicht aus dem Süden, sondern aus eben diesen fremden Ländern im Osten gekommen sein.
Aber es gab auch wesentlich weniger harmlose und fantastische Legenden. Seit der Besiedelung des Kontinents hielten sich Gerüchte über seltsame Vorfälle im Grenzbereich der Wüste. Die meisten davon waren wohl nichts weiter als Schauermärchen. Allerdings waren dort auch mehr Hinterlassenschaften der alten Rasse, die lange vor den Menschen diesen Kontinent bevölkert hatte, gefunden und unschädlich gemacht worden als irgendwo sonst in Antasia. Zudem hatte der alte Feind schon dreimal in der bekannten Geschichte Antasias hier im Osten seine verderblichen Netze zu spinnen begonnen, das letzte Mal erst vor knapp einem Dutzend Jahren.
Schon deshalb war es wichtig, dass die Kirche auch in diesem abgeschiedenen Winkel der Welt Präsenz zeigte.
Ein Klopfen an der Tür riss Naron aus seinen Gedanken. Ein schwarzhaariger Junge von elf, vielleicht zwölf Jahren trat mit einem Krug in der Hand ein. Mit der rechten Hand zeichnete er den Heiligen Dreistern, indem er symbolisch für den Göttlichen Vater, die Mutter und den Sohn mit den Kuppen des Zeige- und Mittelfingers nacheinander seine beiden Augenlider und anschließend die Nase berührte.
»Pater Berlinus schickt mich, Euer Gnaden«, sagte er, während er sich mit ruhigen, sicheren Schritten näherte. Nichts von der Scheu, mit der die Gegenwart eines Inquisitors die meisten Menschen erfüllte, war bei ihm zu spüren. »Ich bringe das Wasser, um das Ihr gebeten habt.«
Naron nickte und deutete auf den Becher vor sich. Bei flüchtiger Betrachtung schien sich der Junge in nichts von den anderen Waisenkindern zu unterscheiden. Er war wie die anderen ärmlich gekleidet, dennoch war er Balosta zuvor schon aufgefallen. Obwohl er dem Abt gegenüber kein Wort darüber verloren hatte, fragte er sich, ob es bloßer Zufall war, dass dieser gerade ihn geschickt hatte. Während des gesamten Verhörs hatte er den Blick dieses Jungen auf sich ruhen gespürt, einen stechenden Blick, der …
Nein, verbesserte sich Naron gleich darauf. Der Blick des Jungen war nicht stechend, sondern eher durchdringend, interessiert, als misstraue er allem äußeren Schein und versuchte zu ergründen, was sich dahinter befand, indem er etwas lange und intensiv genug anstarrte. Diesen Blick auf sich ruhen zu fühlen war dem Inquisitor unangenehm, weckte aber auch seine Neugier.
Nachdem ihm der Junge eingeschenkt hatte, griff Naron Balosta nach seinem Becher, leerte ihn ohne abzusetzen und ließ sich gleich noch einmal nachschenken.
»Warte!«, befahl er, als der Junge sich zurückziehen wollte. »Wie heißt du?«
»Torin, Euer Gnaden.«
»Torin, soso. Benannt nach dem heiligen Torin?«
»Der Priester in Assani gab mir den Namen, nachdem er mich als Baby vor dem Tor der Kirche fand.«
»Ein seltener Name. Der Name eines zwiespältigen, durchaus nicht unumstrittenen Heiligen. Manche betrachten ihn eher als Narren denn als Märtyrer, aber zugleich war er eine Art Vorläufer der Inquisition.« Mahnend hob er den Zeigefinger. »Hüte dich, jemals einen Heiligen in der Öffentlichkeit als Narren zu bezeichnen. Eine solche unbedachte Bemerkung könnte genügen, dich der Ketzerei anzuklagen. Kennst du Torins Geschichte?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Aber du weißt von den finsteren heidnischen Kultstätten und Artefakten, die wir vorfanden, als die ersten Menschen Antasia besiedelten?«
»Aber ja, Euer Gnaden, das war eine der ersten Lektionen, die wir im Unterricht durchgenommen haben. Es handelt sich um das Erbe eines Volkes, das lange vor uns hier gelebt hat. Ein böses Volk, dessen Hinterlassenschaften noch immer das Verderben in sich tragen, weshalb es strengstens verboten ist, sich ihnen auch nur zu nähern und …«
Naron hob die Hand und schnitt damit den Redeschwall des Jungen ab. »Genug. Ein einfaches Ja hätte gereicht«, sagte er barsch. »Es ist nicht nötig, mir einen Vortrag über etwas zu halten, von dem ich mit Sicherheit wesentlich mehr verstehe als du.«
Er räusperte sich und trank einen weiteren Schluck Wasser. Seit er Inquisitor geworden war, hatte er sich so an den ängstlichen, zumindest scheuen Blick der meisten Menschen ihm gegenüber gewöhnt, dass ihn die Unbefangenheit des Jungen irritierte. Sie amüsierte ihn, ärgerte ihn zugleich aber auch, und dieser Widerspruch machte ihn unwirsch.
»Nun denn, kommen wir zur Geschichte des heiligen Torin«, sagte er in etwas versöhnlicherem Tonfall. »Er lebte vor vielen Jahrhunderten, als dieser Kontinent gerade erst besiedelt wurde. Er war ein etwas einfältiger, aber sehr gläubiger Mann und hatte sein Leben in den Dienst der Göttlichen Familie gestellt, obwohl die Kirche damals noch bei Weitem nicht die Bedeutung und Macht wie heute hatte. Damals existierten noch heidnische Kulte, doch für Torin gab es nur die Göttliche Familie. Eines Tages kehrte er früher als erwartet von der Jagd zurück, und seine Frau und sein Sohn waren nicht zu Hause. Er machte sich auf die Suche nach ihnen. Im nahe gelegenen Wald vernahm er schließlich schrille Schreie. Es gab ein verfallenes Heiligtum der Alten Rasse dort, weshalb dieser Teil des Waldes gemieden wurde. Er sah seine Frau mit dem leblosen, blutüberströmten Körper seines Sohnes auf den Armen zwischen den Felsen hervortaumeln. Mit irrem Blick und kreischend wie eine Furie kam sie auf ihn zu. Torin begriff sofort, was geschehen war. Seine Frau musste sich der Ruine verbotenerweise genähert haben, war unter den Bann des dort noch immer herrschenden Bösen geraten und hatte das Kind getötet. Obwohl er sie sehr liebte, wusste Torin, dass sie nicht mehr zu retten war. Voller Abscheu und Entsetzen über ihre Tat erschlug er sie.«
Naron machte eine Pause, trank wieder ein paar Schlucke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Abwechslung war ihm willkommen gewesen, doch konnte er das Unvermeidliche nicht immer weiter hinausschieben. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg zu Burk machte, statt seine Zeit mit dem Jungen zu vertrödeln, der ihn mit großen Augen anstarrte und gespannt auf das Ende der Geschichte wartete.
»Wie sich herausstellte, war Torins Sohn nicht tot, sondern nur schwer verletzt«, fuhr er fort. »Er überlebte und gestand, dass er heimlich in den Ruinen gespielt hatte. Dabei hatte er den Halt verloren und war von einem Felsen gestürzt, wo seine Mutter ihn fand, von seinen Schreien angelockt. Was Torin für das Kreischen und den irren Blick einer Wahnsinnigen gehalten hatte, waren nur Schrecken und mütterliche Angst gewesen. Um es kurz zu machen: Obwohl man ihm zugestand, nach bestem Glauben gehandelt zu haben, wurde er von einem Gericht wegen seines unbedachten und überstürzten Handelns zum Tode verurteilt. Um derartige Vorfälle zu verhindern, wurde daraufhin von der Kirche ein Orden speziell geschulter Priester gegründet, die künftig über Menschen Recht sprechen sollten, die in den Bann des Bösen geraten sind oder sich in anderer Form der Ketzerei schuldig gemacht haben. Das war die Geburtsstunde der Heiligen Inquisition, und manche bezeichnen Torin noch heute trotz seines verhängnisvollen Irrtums als deren Vorläufer. In einer knappen und sehr umstrittenen Entscheidung der Kardinalskurie wurde er deshalb vor mehr als hundert Jahren heiliggesprochen. So, nun weißt du, woher dein Name stammt und warum er nur selten vergeben wird. Hast du noch Fragen? Dann beeil dich. Ich bin des Redens müde und habe noch eine Menge Arbeit vor mir.«
Torin nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf, dann starrte er auf seine bloßen Füße. Zum ersten Mal entdeckte Naron nun tatsächlich Scheu und Verlegenheit bei ihm.
»Also was nun? Hast du mit einem Mal deine Stimme verloren? Frag, wenn du etwas fragen willst, ansonsten …«
»Wie … wie wird man Inquisitor?«, platzte der Junge heraus. »Das ist alles, was ich wissen will. Der Abt hat stets nur gelacht, wenn ich ihn danach gefragt habe. Aber Ihr, Euer Gnaden, Ihr könnt mir bestimmt sagen, wie es mir gelingen kann, es bis in den Orden zu schaffen.«
Verblüfft, geradezu fassungslos, starrte Naron Balosta das hagere, scheinbar nur aus Haut und Knochen bestehende und nun vor Aufregung zitternde Bündel Mensch vor sich an. Das Gesicht des Jungen hatte sich vor Verlegenheit rot gefärbt, soweit Naron Balosta es beurteilen konnte, denn Torin hielt den Kopf weiterhin gesenkt und wagte es offenbar vor Scham nicht mehr, ihn anzusehen.
»Du? Ein Inquisitor?« Naron konnte sich gut vorstellen, dass der Abt bei dieser Vorstellung einen Lachanfall bekommen hatte, und plötzlich konnte auch er sich nicht mehr beherrschen und begann zu lachen. »Du, ein Nichts, ein Waisenjunge ungewisser Herkunft, ohne den Namen eines Hauses, ohne jegliche Verbindungen oder Protektion … Du willst dem edelsten Orden der Heiligen Kirche beitreten? Dem Orden, in den nur die Besten der Besten aufgenommen werden?« Oder die, deren Familien bereit sind, entsprechend dafür zu zahlen, fügte er in Gedanken hinzu. »Ein Findelkind aus dem wohl abgelegensten Winkel der Welt als Inquisitor? Das ist wirklich ein Witz. Warum fragst du nicht gleich, wie du König oder gar Prios werden kannst?«
Er lachte noch lauter, krümmte sich und hielt sich den wackelnden Bauch. Doch sein Lachen verstummte abrupt, als Torin den Kopf hob und sich ihre Blicke begegneten. Enttäuschung, Verbitterung und ein stummer Vorwurf standen in den Augen des Jungen, aber dahinter war noch etwas anderes. Etwas, das mit der Kraft von tausend Sonnen loderte und heller als das Licht der göttlichen Erkenntnis strahlte.
Trotz der Hitze rann Naron plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken und ließ ihn frösteln.
Was in den Augen des Jungen brannte, war die unbedingte Überzeugung, ein Ziel zu haben, und die geradezu fanatische Besessenheit, absolut alles dafür zu tun, um es zu erreichen, selbst wenn es sein Leben kosten sollte. Und nicht unbedingt nur seins.
»Du … meinst das wirklich so«, presste er hervor, mühsam gegen den Frosch ankämpfend, der es sich anscheinend in seiner Kehle bequem gemacht hatte.
Torin nickte.
»Es ist alles, was ich mir im Leben wünsche. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als in diesem geheiligten Orden zu dienen und im Namen der Göttlichen Familie überall in Antasia gegen das Böse zu kämpfen«, erklärte Torin mit neu erwachter Selbstsicherheit. »Alles, was ich bin, verdanke ich der Kirche, und ihr möchte ich mein Leben widmen. Bitte, Euer Gnaden, sagt mir, ob es überhaupt einen Weg gibt, wie steinig er auch sein mag.«
Das waren eher die Worte eines Erwachsenen als eines Kindes. Mehr als alles andere verrieten sie, dass Torin geistig bereits deutlich weiter fortgeschritten war als die meisten anderen in seinem Alter. Es war genau das Alter, in dem neue Adepten ihre Ausbildung begannen.
Balosta musterte ihn scharf, und diesmal gelang es dem Jungen, seinem Blick standzuhalten. Naron Balosta dachte an seine eigene Jugend zurück. Als Angehörigem des angesehenen und wohlhabenden Hauses Balosta hatte er keinerlei Schwierigkeiten gehabt, schon in jungen Jahren eine Ausbildung zum Inquisitor zu beginnen und im Schwarzen Orden zu dienen. Seine Familie war für alle Kosten aufgekommen.
»Es gibt Möglichkeiten«, sagte er zögernd. »Du könntest versuchen, von einem bedeutenden Haus aufgenommen zu werden, um fortan dessen Namen zu tragen. Es würde dann auch für deine Ausbildung bezahlen. Allerdings ist mir kein Haus bekannt, dass so einfach einen dahergelaufenen Waisenjungen aufnehmen würde. Eines zu finden dürfte schwieriger sein, als einen Berg aus Gold zu entdecken. Was geschieht mit euch Waisenjungen, wenn ihr alt genug seid, um auf eigenen Beinen zu stehen?«
»Einige wenige, die bei den Studien besonders gelehrsam waren, dürfen als Mönche im Kloster bleiben. Die anderen werden als billige Arbeitskräfte an die Bauern und Handwerker in Assani verkauft.«
»Was unweigerlich das Ende für deinen Traum bedeuten würde. Dazu darf es also nicht kommen. Du musst Mönch werden. Das würde dir immerhin erlauben, den Namen dieses Klosters zu tragen, und du wärst kein namenloser Niemand mehr. Nach einiger Zeit, wenn du dich als Mönch bewährt hast, könnte dich Pater Berlinus für eine Ausbildung als Priester vorschlagen. Mit viel Glück und energischer Fürsprache seinerseits würdest du angenommen, und einmal im Kirchendienst, wäre theoretisch auch der Wechsel in den Orden möglich. Wie gut bist du bei den Studien?«
»Ich bin der Beste, aber Pater Berlinus hat noch niemals einen seiner Mönche für eine höhere Position im Kirchendienst vorgeschlagen. Ich glaube nicht einmal, dass er mich als Mönch behalten will. Er mag mich nicht besonders, das zeigt er mir bei jeder Gelegenheit.« Ein hoffnungsvoller Schimmer trat in Torins Augen. »Ihr aber, Euer Gnaden, Ihr seid ein bedeutender und einflussreicher Mann. Wenn Ihr für mich gutsagen würdet …«
»Schweig!«, brauste Balosta auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was erdreistest du dich, Bengel, eine solche Bitte an mich zu richten? Ich habe wahrlich wichtigere Aufgaben, als mich um ein dahergelaufenes Findelkind mit allzu hochtrabenden Träumen zu kümmern! Du bist frech und respektlos, bist dir anscheinend deiner Stellung nicht bewusst. Ich kann es angesichts deiner unverschämten Dreistigkeit gut verstehen, warum dich der Abt nicht mag. Zwar übernimmt die Kirche in ganz seltenen Fällen die Kosten für eine Ausbildung, aber dann müssen wirklich äußerst gewichtige Gründe dafür vorliegen und nicht nur die albernen Träumereien eines Bengels, wie man ihn an jeder Straßenecke dutzendfach finden kann. Hast du überhaupt die geringste Vorstellung, wie teuer eine solche Ausbildung ist?« Noch einmal schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Füge dich gefälligst in das Los, das der Göttliche Vater dir zugedacht hat, und vergiss deine Fantastereien! Und jetzt verschwinde, bevor ich die Beherrschung verliere!«
Stumm, aber mit einem Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit im Gesicht, verbeugte sich der Junge und hastete dann zur Tür. Kopfschüttelnd blickte der Inquisitor ihm nach. Was zu weit ging, ging zu weit! Ein Kind mit dem Kopf in den Wolken, das nach Unerreichbarem greifen wollte und es wagte, ihn, Naron Balosta, Inquisitor achten Ranges, dafür noch um Protektion und Empfehlung zu bitten! Er würde sich in ganz Aurelia lächerlich machen, wenn er mit so einem dahergelaufenen Waisenjungen zurückkehren und ihn für eine kostenlose Ausbildung zum Inquisitor vorschlagen würde. Schon die Bitte darum war einfach unerhört! Es war dringend nötig, dass jemand dem Bengel seine Grenzen aufzeigte.
Aber warum sollte nicht er derjenige sein? Naron verzog den Mund zu einem feinen Lächeln, das nicht ganz frei von Boshaftigkeit war. Inquisitor wollte Torin werden? Ha, der Junge hatte ja nicht die geringste Ahnung von dem, was ein Angehöriger des Schwarzen Ordens zu tun bereit sein musste. Sollte er es doch einmal hautnah erleben, dann würden sich seine Traumschlösser schon verflüchtigen und er glücklich mit dem Platz sein, an den das Leben ihn spülen würde!
»Warte!«, rief er, als Torin gerade die Tür öffnete. Der Junge verharrte. Naron Balosta stemmte sich ächzend aus seinem Stuhl hoch, ohne das protestierende Knacken seiner Kniegelenke zu beachten. In Aurelia spottete man bereits gelegentlich, er habe reichlich schwere Knochen bekommen, doch die Wahrheit war, dass er dick geworden war. Nicht gerade fett, aber zu dick und zu träge für seine Aufgabe. Wohin auch immer er kam, man bewirtete ihn einfach zu gut, und es gelang ihm einfach nicht, kulinarischen Genüssen zu entsagen. Schon seit geraumer Zeit war er nicht mehr in der Lage, seine Kampfübungen in gewohnter Form auszuüben. Entsprechend schwerfällig waren seine Bewegungen geworden, und wenn man bereits in Aurelia, der Heiligen Stadt, darüber redete, neigten sich seine Tage, in denen er im Auftrag der Kirche durch die Weltgeschichte reiste, ihrem Ende zu.
Vielleicht würde sich schon dies als seine letzte entsprechende Reise erweisen …
Unwillkürlich tastete er nach den acht winzigen roten Sternen, die über seiner Brust an die Kutte genäht waren. Hätte er den zehnten Rang des Ordens erreicht, hätte er sich vielleicht Hoffnung auf ein Amt als Bischof machen können. So jedoch würde man ihn vermutlich nur als Priester in irgendeine unbedeutende Gemeinde versetzen. Allerhöchstens durfte er darauf hoffen, dass man ihm eingedenk seiner treuen Dienste ein Lehr- oder Studienamt in Aurelia anbot, wo er dann in kurzer Zeit erst recht kugelrund werden würde.
Naron Balosta verdrängte diese Gedanken und ging auf den Jungen zu, der ihm von der Tür her bangend entgegensah, unsicher, ob er für seine Anmaßung bestraft werden würde oder ob es sich der Inquisitor vielleicht doch noch überlegt hatte.
»Wie ich gerade gesagt habe, du bist respektlos. Aber das ist etwas, das man einem jungen Kerl wie dir rasch austreiben kann«, richtete Naron Balosta wieder das Wort an ihn. »Doch du bist auch mutig und von dir überzeugt, und das sind Eigenschaften, die man als Inquisitor haben muss. Es ist also wirklich dein tief empfundener, innigster Wunsch, dem Orden beizutreten?«
Torin nickte.
»Nun, viele, denen ich begegne, sehen nur die Ehre, das Ansehen und die Macht meines Amtes. Wenn es wirklich dein Wunsch ist, selbst eines Tages Inquisitor zu werden, dann will ich dir Gelegenheit geben, auch die weniger angenehmen Seiten meiner Aufgaben kennenzulernen. Du kannst mich zum Verhör der Hexe begleiten, wenn du möchtest.«
Die Augen des Jungen weiteten sich vor Überraschung.
»Darf ich … darf ich wirklich?«
»Folge mir!«, befahl Naron und fügte in Gedanken hinzu: Und wenn du erst einmal erlebt hast, was es wirklich heißt, ein Inquisitor zu sein, wird sich dein großer Traum wohl in einen Albtraum verwandeln. Aber gib mir nicht die Schuld, wenn du kotzen musst oder dir in die Hose scheißt und wahrscheinlich für lange Zeit keine Nacht mehr ruhig schlafen kannst.
Sie stiegen eine steinerne Treppe hinab und gelangten in einen nur von blakenden Fackeln erleuchteten Gewölbegang. In diesem Moment kamen Naron Balosta erste Zweifel, ob es wirklich richtig war, den Jungen mitzunehmen. Nicht Torins wegen, nein, sondern wegen der möglichen Folgen für ihn selbst.
Nicht immer und überall bot sich die Möglichkeit, ein Verhör so abgeschirmt zu führen wie hier. Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass Außenstehende Zeuge wurden. In früheren Zeiten hatten die Verhöre unter der Folter zur Abschreckung von Ketzern häufig sogar öffentlich stattgefunden, doch dies geschah schon lange nicht mehr.
Die allermeisten Menschen waren nicht edel und gut, darüber gab sich der Inquisitor schon lange keinen Illusionen mehr hin. Sie mochten es, andere leiden zu sehen, grölten und lachten dabei, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Der menschliche Geist war ein kompliziertes Gebilde, und niemand hatte ihn so gründlich erforscht wie die Kirche. Es hatte sich herausgestellt, dass das Lachen und die sadistische Freude während einer öffentlichen Folter meist nur eine gewisse Zeit anhielten und dann in Abscheu umschlugen. Es hatte Anfeindungen gegen die Kirche gegeben und Vorwürfe, sie wäre zu grausam, und sie hatte rasch darauf reagiert.
Seither wurden die Verhöre, bei denen den Angeklagten ein Geständnis abgerungen wurde, wenn möglich ohne Zeugen abgehalten. Nur die Hinrichtungen fanden noch öffentlich statt. Sie dauerten nur kurze Zeit, und dabei mochten die Zuschauer grölen und sich amüsieren, so viel sie wollten. Sie genossen ein solches Schauspiel, erleichtert darüber, dass es einen anderen traf und nicht sie selbst. Vor allem aber: Bevor die Stimmung umschlagen konnte, war bereits alles vorbei.
Nun jedoch nahm er einen Zeugen ohne jede Notwendigkeit zu einem Verhör mit. Und nicht nur irgendeinen Zeugen, sondern ein Kind, das bei dem Anblick wahrscheinlich zusammenbrechen und möglicherweise für den Rest seines Lebens unter dem Erlebten leiden würde.
Konnte er das wirklich verantworten?
Wenn Pater Berlinus davon erfuhr – und das würde er zweifelsohne –, könnte er eine Beschwerde vorbringen. Normalerweise wäre Naron dies gleichgültig, da er als Inquisitor in der Hierarchie der Kirche weit, weit über dem Abt eines unbedeutenden Klosters stand. Aber wenn er recht hatte und die Obersten des Ordens sich bald nach einer neuen Aufgabe für ihn umsehen würden, könnte ein solcher, gerade zu dieser Zeit vorgebrachter Vorwurf für ihn dennoch unangenehme Folgen haben. Es war ein riskantes Spiel, das er hier betrieb, und warum? Nur um die Träume eines Jungen zu zerstören, der seine Stellung verkannte und mit allzu großer, geradezu ungehöriger Entschlossenheit nach etwas für ihn eigentlich Unerreichbarem strebte?
Einige Sekunden lang wurde Naron in seinem Entschluss schwankend und war nahe dran, den so stolz neben ihm dahinschreitenden Jungen einfach zurückzuschicken. Aber er war stets ein Mann gewesen, der zu seinem Wort stand, und davon würde er auch jetzt nicht abweichen.
»Willst du wirklich mit mir kommen?«, fragte er den Jungen trotzdem noch einmal. »Überleg es dir gut, noch kannst du zurück. So ein Verhör unter der Folter ist ziemlich grausam und nichts für empfindsame Kinderseelen.«
»Ich will Euch begleiten«, versicherte Torin mit fester Stimme. Seine Augen schienen zu leuchten, doch vielleicht war das nur eine vom Fackelschein hervorgerufene Illusion. Dennoch schauderte Naron. Hatte er es hier mit einem Monstrum zu tun, oder unterschätzte der Junge einfach nur maßlos, was ihn erwartete?
Nun, er hatte ihn jedenfalls gewarnt.
»Aber eine Frage habe ich noch, wenn Ihr erlaubt«, fuhr der Junge fort.
»Dann sprich.«
»Der Prozess hat die Schuld der Ketzerin doch bereits zweifelsfrei erwiesen, auch wenn sie die leugnet. Warum dann überhaupt noch das Verhör unter der Folter? Warum wird sie nicht einfach hingerichtet, wie sie es für ihre Taten verdient?«
Balosta seufzte. »Es ist Vorschrift so«, antwortete er nach kurzem Zögern. »Und selbst wenn es so scheinen mag, ist es keineswegs nur unnötige Grausamkeit, sondern dient ihrem eigenen Seelenheil. Sie ist offenkundig vom Bösen besessen. Nur wenn sie gesteht und vor ihrem Tod um Vergebung fleht, mag sie diese auch irgendwann erlangen und ihre unsterbliche Seele gerettet werden. Anderenfalls würde sie für alle Ewigkeiten der Verdammnis anheimfallen. Verstehst du das?«
»Ich glaube schon«, murmelte Torin. »Also eine Art Gnadenakt. Eine letzte Gelegenheit für sie, für ihre Ketzerei Buße zu leisten.«
»So ist es. Selbst wenn es manchmal nicht so scheint, ist die Kirche durchaus gnädig.«
Vor einer Tür blieben sie stehen, und Balosta stieß sie auf. In den unterirdischen Gewölben herrschte eine angenehme Temperatur, doch aus dem fensterlosen Raum schlug ihnen Hitze entgegen, denn dort glühten bereits Kohlen in einem großen Becken. Burk stand neben dem Becken und schürte die Glut noch weiter. Er war ein kahlköpfiger Mann mit wulstigen Lippen und einem Nacken wie ein Stier. Nur seine Hände waren für seine plumpe Erscheinung erstaunlich feingliedrig. Ein wenig verwundert betrachtete er den Jungen, sagte aber nichts. Er war ein Mann von schlichtem Verstand, der alles, was man ihm auftrug, erledigte, ohne irgendwelche Gefühle zu zeigen oder Fragen zu stellen.
Die Ketzerin war an einem hölzernen, X-förmigen Gestell festgebunden. Wie alle Angeklagten bei einem Verhör der Inquisition war sie nackt. Das hatte sich als wirkungsvoll erwiesen. Die Nacktheit verstärkte das Gefühl der Hilflosigkeit, aber es gab noch einen zweiten, ganz pragmatischen Grund. Burk würde ihren Körper peinigen, ihr Gesicht jedoch unversehrt lassen. Bei ihrer Hinrichtung würde dann die Kleidung alle Spuren der Folter verbergen. Eine allzu offensichtlich geschundene Ketzerin könnte bei den Zuschauern unerwünschtes Mitleid hervorrufen und erneut Vorwürfe der Grausamkeit gegenüber der Kirche laut werden lassen.
Für Naron war der Anblick nackten Fleisches nach zahllosen solchen Verhören nichts Ungewöhnliches. Nur kurz ließ er seinen Blick über den Körper der Ketzerin gleiten. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, allen entsprechenden Gelüsten zu entsagen.
Doch Torin neben ihm stieß ein leises Keuchen aus. Vermutlich war es die erste nackte Frau, die er in seinem Leben zu sehen bekam. Wie gebannt starrte er sie an und versuchte unbeholfen vor Scham, die sich in seiner Hose bildende Schwellung mit den Händen zu verbergen.
Balosta konnte es ihm nicht einmal verdenken. Auch ihm war schon während der öffentlichen Befragung zuvor nicht entgangen, dass die Frau durchaus hübsch war: mehr als schulterlanges blondes Haar, schlanke Hüften, kleine, feste Brüste und ein liebreizendes Gesicht. Torins Reaktion auf ihren Anblick war völlig natürlich.
Er unterdrückte ein Lächeln und tat, als hätte er nichts von der Peinlichkeit bemerkt. Ächzend ließ er sich auf einem für ihn bereitgestellten Stuhl nieder.
»Stell dich hier neben mich, und was immer geschieht, ich will kein Wort von dir hören«, befahl er dem Jungen. Dann wandte er sich der Ketzerin zu. »Tarla aus dem Dorf Assani, du bist im Namen der Kirche der Göttlichen Familie der Ketzerei angeklagt. Die Beweise gegen dich sind erdrückend und in der vorausgegangenen Befragung vorgetragen worden. Man hat dich wider die Heilige Kirche fluchen gehört, und du hast in fremden Stimmen gesprochen. Vor allem aber hast du versucht, das Gotteshaus in Assani in Brand zu stecken, was nur durch das beherzte Eingreifen des Priesters und einiger anderer Männer verhindert werden konnte. Dabei hast du Widerstand geleistet und den Priester mit einem Messer angegriffen und verletzt. Und nicht zuletzt bist du mit einem Mal gezeichnet, über dessen Herkunft und Bedeutung du keinerlei Auskunft geben kannst oder willst, sodass die Annahme auf der Hand liegt, dass es sich um ein Mal des Bösen handelt.« Er deutete auf ein etwa handtellergroßes, fremdartiges Symbol aus ineinander verschlungenen Linien dicht unterhalb ihrer linken Schulter. »Gestehst du, oder leugnest du deine Schuld weiterhin, sodass wir dir das Geständnis unter der Folter entreißen müssen?«
Die Angeklagte antwortete nicht, reagierte nicht einmal auf seine Worte, was seltsam war, da sie bei der öffentlichen Befragung zuvor vehement ihre Unschuld beteuert hatte. Lediglich die Linien des Mals schienen etwas intensiver geworden zu sein.
Ein Zeichen wie dieses hatte Naron noch niemals gesehen. Man hatte versucht, es der Hexe abzuwaschen, doch war es nicht einmal gelungen, die Linien zu verwischen. Sie waren nicht aufgemalt, sondern schienen ein Teil der Haut zu sein. Ein sicheres Zeichen, dass es sich um Hexerei handelte.
»Gestehst du deine Ketzerei, oder leugnest du deine Schuld weiterhin?«, wiederholte Naron seine Frage, lauter und schärfer diesmal.
Auch diesmal reagierte die Frau nicht, starrte nur teilnahmslos ins Leere, als hätte sie ihn gar nicht gehört.
Der Inquisitor runzelte die Stirn. Vielleicht hatte sie sich in eine Art geistige Entrückung versetzt, um die Schmerzen besser ertragen zu können. Derartiges hatte er schon erlebt. Geholfen hatte es niemandem, schon nach kurzer Zeit hatte der Schmerz jeden aus diesem Zustand gerissen.
»Fang an!«, befahl er.
Burk nickte und zog ein rot glühendes Brandeisen aus der Kohlenpfanne. Einen Moment lang betrachtete er es, als wolle er prüfen, ob es bereits die richtige Temperatur hatte.
Naron warf einen raschen Blick zu Torin. Dessen Gesicht war so ausdruckslos wie das der Angeklagten, was schon mehr war, als der Inquisitor erwartet hatte. Allein der Anblick des glühenden Eisens und das Wissen, was damit nun geschehen würde, hätten viele mit Entsetzen und Ekel erfüllt.
Mit dem Brandeisen in der Hand wandte sich Burk zu der Hexe um, dann presste er es ihr dicht unterhalb ihrer Brüste auf den Leib.
Ein widerwärtiges Zischen war zu hören, als es sich in die Haut brannte, und der Naron wohlvertraute, nicht minder widerwärtige Gestank von verbranntem Fleisch breitete sich im Raum aus.
Tarla schrie nicht, sie zuckte nicht einmal zusammen. Gleichgültig starrte sie weiter ins Leere, als wäre sie nur von einem Windhauch gestreift und nicht von einem glühenden Stück Metall berührt worden. Obwohl sie zweifelsfrei noch lebte und sich ihr nackter Busen in gleichmäßigen Atemzügen hob und senkte, schien sie nicht mehr als ein unbeseeltes Stück Fleisch zu sein, das keinerlei Schmerz verspürte.
Burk ließ seinen Blick zwischen dem Eisen und der schrecklichen Brandwunde hin und her wandern und kratzte sich ratlos am Kopf. Er war noch nie einer der Hellsten gewesen, und was er hier erlebte, ging offenbar über seinen Verstand. Kein Wunder, nicht einmal Naron verstand es. Unbewusst verkrampfte er die Hände auf den Stuhllehnen zu Fäusten.
»Noch einmal!«, befahl er und fügte, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu: »Diesmal brenne sie direkt auf das Mal.«
Wie ihm befohlen presste Burk das noch immer glühende Eisen direkt auf das Symbol unter ihrer Schulter. Wieder das grässliche Zischen und der Gestank, und wiederum reagierte die Frau nicht im Geringsten darauf.
Naron begriff das einfach nicht. Er hatte Menschen erlebt, die vor Angst und Schmerz wahnsinnig geworden waren. Die meisten hatten mit irrem Blick getobt und gekreischt. Es hatte durchaus schon solche gegeben, die nur leer und teilnahmslos vor sich hingestarrt hatten, wie es Tarla tat. Aber selbst diese hatten bei jedem neuen Schmerz, der ihnen zugefügt wurde, geschrien und sich gewunden, ihr gefoltertes Fleisch hatte gezuckt, ihre geschundenen nackten Leiber gebebt, wenngleich ihnen kein vernünftiges Wort oder gar ein Geständnis mehr zu entlocken gewesen war.
»Die Daumenschrauben!«
Burk legte das Brandeisen beiseite, löste den linken Arm der Angeklagten aus der Ledermanschette, mit der sie an das Holzgestell gefesselt war, und legte ihr die Schraube an. Fester und fester drehte er die beiden Eisenbacken zusammen, die den Daumen mehr und mehr quetschten. Schließlich hörte man ein Knacken, es wiederholte sich, der Daumennagel löste sich mit einem grässlichen Geräusch, und Blut sickerte zwischen den Eisenbacken hervor. Doch die Angeklagte schrie während der gesamten grausigen Prozedur kein einziges Mal.
»Das … das kann doch nicht sein!«, platzte Torin heraus.
Angesichts des Unmöglichen, was er hier erlebte, dachte Naron nicht mehr daran, dass er dem Jungen zu sprechen verboten hatte. Ja, er hatte seine Anwesenheit in den letzten Minuten völlig vergessen. Erst jetzt erinnerte er sich wieder an ihn und wandte sich zu ihm um.
Torin hatte die Augen weit aufgerissen, und ungläubiges Staunen zeigte sich auf seinem Gesicht. Aber noch immer war nichts von dem Ekel und Entsetzen zu entdecken, das der Inquisitor erwartet hatte. Das Brandmarken und das Zerquetschen des Daumens hätten manchen gestandenen Mann dazu gebracht, kopflos davonzurennen, selbst wenn die Angeklagte keinerlei Zeichen von Leid zeigte.
»Hexerei«, murmelte Naron mit bebenden Lippen. »Es muss irgendein böser Zauber sein, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Er befahl, der Frau spitze Holzstäbe unter die Fingernägel zu schieben, und als auch das keinen Erfolg brachte, ließ er ihren Fuß in einen hölzernen Stiefel stecken, der aus zwei hohen Backen bestand, die sich zusammenschoben, wenn man an einer Kurbel drehte. Dieses Folterinstrument ähnelte der Daumenschraube, nur war es größer. Es quetsche auf äußerst schmerzhafte Weise Wade und Schienbein aneinander und schob den Fuß in eine unnatürliche Haltung, bis das Gelenk brach, während sich gleichzeitig Metalldornen in das Fleisch gruben.
Burk drehte an einer Kurbel des Stiefels, bis das Splittern von Knochen zu hören war.
Kein Schrei, nicht einmal ein Zucken im Gesicht.
»Genug!«, stieß Naron Balosta hervor. Er könnte noch Dutzende weitere Foltermethoden anordnen, doch er war sicher, dass auch diese zu keinerlei Erfolg führen würden. Er begriff, dass er die Hexe – denn dass er es mit einer zu tun hatte, stand für ihn nun zweifelsfrei fest – in Stücke hacken lassen konnte, ohne ihr auch nur das geringste Anzeichen von Schmerz zu entlocken, geschweige denn ein Geständnis. Hier war Zauberei am Werk, eine finstere Macht, die stärker war als alles, was er aufbieten konnte. Angesichts dieses eindeutigen Beweises war ein Geständnis unnötig, und auch das Seelenheil der Frau war nicht mehr zu retten.
Abrupt erhob er sich.
»Tarla von Assani, kraft meines Amtes als Inquisitor achten Grades verurteile ich, Naron Balosta, dich im Namen der Kirche der Göttlichen Familie hiermit wegen erwiesener Schuld als Hexe und somit zum Tode auf dem Scheiterhaufen. Das Urteil wird heute bei Sonnenuntergang vollstreckt.«
Es kam selten vor, dass im Bericht über einen Ketzereiprozess erwiesene statt eingestandene Schuld als Urteilsbegründung angegeben stand. Er hatte schon viele Ketzerinnen verurteilt und ihrer gerechten Strafe zugeführt. Manchmal wurden sie als Hexe bezeichnet, doch war dies nur eine leere Floskel. Hier jedoch wurde er Zeuge von etwas, das er während seiner vielen Jahre im Dienste der Kirche noch niemals erlebt hatte. Hier hatte er es mit echter Hexerei zu tun.
Trotz der Hitze im Raum fror er plötzlich.
Doch so unheimlich ihm dies alles war, erkannte er dennoch die Gelegenheit, die sich ihm bot. Sein Bericht würde in Aurelia für großes Aufsehen sorgen und das Interesse mächtiger Männer erregen. Vielleicht war seine Zeit im aktiven Dienst des Ordens doch noch nicht abgelaufen.
Er legte Torin die Hand auf die Schulter. »Du hast dich gut gehalten, mein Junge. Und das, obwohl du nicht nur Zeuge einer hochnotpeinlichen Befragung geworden bist, sondern auch das Wirken einer finsteren Macht miterleben musstest. Vergiss niemals, was du heute gesehen hast. Das Böse existiert, und es kann sich überall verstecken, selbst in einem so hübsch und unschuldig aussehenden …«
»Naronbalosta«, ertönte eine Stimme. Sie war verzerrt und dumpf und grollend, erfüllte den ganzen Raum und hallte von den Wänden wider.
Der Inquisitor zuckte zusammen und fuhr herum. Die Stimme hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der der Hexe, und doch kam sie aus ihrem Mund. Das Leben war in ihren Leib zurückgekehrt. Sie sprach nicht nur, sondern hatte auch den Kopf bewegt und sah ihn an. In ihrem Blick waren jedoch auch jetzt keinerlei Schmerz oder Angst zu entdecken. Er war verächtlich und ebenso wie ihre Stimme voller Hohn.
Obwohl das glühende Eisen ihre Haut verbrannt und die verschlungenen Linien ihres Mals fast ausgelöscht hatte, waren sie wieder deutlich zu sehen. Einen Moment lang schien es sogar, als würden sie sich bewegen und sich umeinanderwinden.
»Naronbalosta«, wiederholte die Hexe in ihrer dumpfen, schrecklich gedehnten Sprechweise, die seinen Namen wie ein einzelnes Wort klingen ließ. »Du bist verflucht. Ihr alle seid verflucht, auch wenn ihr es noch nicht wisst. Nicht dieses Werkzeug, sondern eure Städte und eure Leiber werden brennen. Eure Rasse wird untergehen und vom Antlitz dieser Welt verschwinden. Und es gibt nichts, was du oder deine Kirche und euer lächerlicher Glaube tun könnt, um das zu verhindern.«
Burk versetzte ihr einen krachenden Fausthieb ins Gesicht, der ihr den Kopf zurückschleuderte und ihr den Kiefer und fast sogar das Genick brach.
Sie begann gellend zu lachen, wobei ihr ein ausgeschlagener Vorderzahn aus dem Maul fiel und Blut von ihren Lippen auf ihre nackten Mädchenbrüste spritzte. Das Lachen wurde lauter und kreischender, dröhnte in den Ohren.
Zum ersten Mal in seinem Leben versagten Naron Balosta die Nerven. Er zeichnete hastig den Heiligen Dreistern, dann versetzte er Torin von einer jähen, übermenschlichen Panik erfüllt einen Stoß, der ihn vor sich her taumeln ließ, und floh aus der Folterkammer.
2
Nachdem Balosta zusammen mit dem Jungen den Keller verlassen hatte, war die Hexe wieder zu ihrer apathischen Haltung zurückgekehrt, hatte kein Wort mehr gesprochen und auf nichts mehr reagiert. Der Inquisitor hatte es nicht fertiggebracht, sich ihr noch einmal zu nähern, aber Burk hatte sie den ganzen Nachmittag hindurch bewacht und ihm davon berichtet.
Anders als bei den ohnehin geistig und körperlich gebrochenen Verurteilten sonst üblich, waren ihre Arme mit Ketten auf den Rücken gefesselt, und auch um die Fußknöchel trug sie Ketten, als sie bei Einbruch der Abenddämmerung auf den freien Platz vor dem Tor des Klosters gebracht wurde. Wäre sie ein normaler Mensch gewesen, hätte sie mit dem zerquetschten Fuß keinen einzigen Schritt machen können. Bei einer Hexe, die in fremden Stimmen sprach und die Folter überstand, ohne mit der Wimper zu zucken, hielt der Inquisitor jedoch fast nichts für unmöglich; deshalb hatte er diese Sicherheitsmaßnahme angeordnet.
Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte die Hexe völlig ohne öffentliche Beteiligung verbrennen können. Doch das hätte erst recht Fragen aufgeworfen. So hatte er stattdessen lediglich darauf verzichtet, den Zeitpunkt der Hinrichtung in Assani bekannt zu geben, sodass keine Schaulustigen von dort angereist waren, sondern nur die Bewohner des Klosters daran teilnahmen, hauptsächlich die Mönche und die Mündel, die bereits älter als zehn Jahre waren. Die jüngeren Kinder sollten davon ausgeschlossen bleiben, wie es mit dem Abt abgesprochen war.
Während des Nachmittags war ein Scheiterhaufen errichtet worden, ein Holzstoß mit einem daraus aufragenden Pfahl. Allerdings war der Stoß nicht besonders hoch geworden. Holz war knapp und deshalb wertvoll in dieser kargen Gegend, deswegen hatten sie hauptsächlich auf dürres Buschwerk zurückgreifen müssen. Die nun erneut völlig apathisch vor sich hin starrende Hexe wurde rasch an den Pfahl gefesselt. Sie war wieder angekleidet, und Verbände um ihre Hand und ihren Fuß verbargen die Spuren der Folter.
Naron atmete erleichtert auf, als die Hexe mit extradicken Schnüren und einer zusätzlich von Kopf bis Fuß um ihren Leib geschlungenen Eisenkette an dem Pfahl festgebunden war. Offenbar drohten keine weiteren Überraschungen und Zwischenfälle mehr. Dennoch wollte er alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er würde erst wieder innere Ruhe finden, wenn die Hexe tot war, denn dann hatte sich die Heilige Inquisition als stärker erwiesen als das Böse.
Außerdem wollte er diese trostlose Gegend endlich wieder verlassen. Selbst um diese Tageszeit war die Hitze kaum erträglich.
Ein weiteres Mal verkündete er in aller Eile das Urteil. Er las es so hastig vor, dass er sich fast verhaspelte. Dann befahl er Burk, den Scheiterhaufen in Brand zu stecken. Gierig züngelten die Flammen an dem trockenen Holz empor.
Im gleichen Moment kam Wind auf.