Cover

Clive Cussler

& Justin Scott

Todesrennen

Ein Isaac-Bell-Roman

Aus dem Englischen
von Michael Kubiak

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Die englische Originalausgabe erschien

unter dem Titel »The Race« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.


E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © 2011 by Sandecker, RLLLP

by arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by

Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlagillustration: © Johannes Wiebel | punchdesign

Redaktion: Jörn Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15205-5
V002

www.blanvalet.de

Prolog

»The moon is on fire«

Chicago

1899

Der hochgewachsene Mann war allein und betrunken. Er sang ein Lied von Stephen Foster, das besonders bei der Anti-Saloon-League beliebt war, und tanzte dazu im Rinnstein. Es war eine klagende Melodie, die an den Klang schottischer Dudelsäcke erinnerte, ein langsamer Walzer. In seiner Stimme, einem warmen Bariton, schwang die tiefe Reue über gebrochene Vorsätze und nicht eingehaltene Gelübde mit.

»Oh! Comrades, fill no glass for me

To drown my soul in liquid flame …«

Er hatte eine strohblonde Mähne und ein markantes Profil. Dass er so besonders jung war – höchstwahrscheinlich nicht älter als zwanzig –, ließ seinen desolaten Zustand noch viel trauriger erscheinen. Seine Kleider, die aussahen, als hätte er darin geschlafen, waren verfilzt und voller Strohreste. Außerdem waren Ärmel und Hosenbeine zu kurz, als stammten die Sachen aus einer kirchlichen Kleiderkammer oder von einer Wäscheleine, von der er sie hatte mitgehen lassen. Der Leinenkragen seines Oberhemdes hing völlig schief, an einem der Ärmel fehlte die Manschette, und trotz der Kälte hatte er keinen Hut auf dem Kopf. Von den Kostbarkeiten eines Gentlemans, die er gegen Hochprozentiges hätte eintauschen können, waren ihm lediglich ein Paar maßgefertigter Kalbslederstiefel geblieben.

Er prallte gegen einen Laternenpfahl, und auf einmal fehlte ihm der Text des Liedes. Während er die ergreifende Melodie weiter vor sich hin summte und dabei einige unsichere Tanzschritte ausführte, wich er einem Leichenwagen des Armenfriedhofs aus, der am Bordstein anhielt. Der Kutscher band die Pferde an und verschwand eilig durch die Schwingtüren des nächsten der zahlreichen Saloons, aus denen gelbliches Licht auf das Kopfsteinpflaster fiel.

Der betrunkene junge Mann taumelte gegen den düsteren schwarzen Pferdewagen und hielt sich daran fest.

Er studierte den Saloon. Ob er dort willkommen war? Oder war er da schon mal hinausgeworfen worden? Er klopfte seine leeren Taschen ab und zuckte bedauernd die Achseln. Sein Blick wanderte über die Ladenfronten. Fünf-Cent-Absteigen, Bordelle, Pfandhäuser. Sinnend betrachtete er seine Stiefel. Dann schaute er zum Zeitungsauslieferungslager an der Straßenecke hinüber, wo Pferdefuhrwerke die Frühausgaben für Chicago heranschafften.

Ob er sich ein paar Pennys beim Abladen der gebündelten Zeitungen verdienen konnte? Er straffte die Schultern und ging im langsamen Walzerschritt zum Depot hinüber.

»When I was young I felt the tide

Of aspiration undefiled.

But manhood’s years have wronged the pride

My parents centered in their child.«

Bei den Zeitungsjungen, die dort Schlange standen, um sich ihre Zeitungen zu besorgen, handelte es sich um straßenkampferprobte Zwölfjährige. Als er sich näherte, machten sie sich gerade über den Betrunkenen lustig, bis einer von ihnen dem jungen Mann in die seltsam weichen blau-violetten Augen blickte. »Lasst ihn in Ruhe!«, sagte er zu seinen Freunden, und der hochgewachsene Mann flüsterte: »Danke, Shonny. Wie heiss’n du?«

»Wally Laughlin.«

»Bis’ ’ne gute Seele, Wally Laughlin. Sieh zu, dasse nich so endes’ wie ich.«

»Ich hatte euch doch befohlen, den Säufer loszuwerden«, sagte Harry Frost, ein Riese von einem Mann, mit kantigem Kinn und grausamen Augen. Er saß im Leichenwagen rittlings auf einer Kiste Vulcan-Dynamit. Zwei ehemalige Preisboxer aus seiner West-Side-Gang kauerten vor ihm. Sie beobachteten das Zeitungsdepot durch Gucklöcher, die in die Seitenwand des Wagens gebohrt worden waren, und warteten darauf, dass der Eigentümer von seinem Abendessen zurückkam.

»Ich hab ihn weggejagt. Aber er ist zurückgekommen.«

»Treibt ihn in diese Gasse. Ich will ihn nicht mehr sehen, es sei denn, er wird auf einem Fensterladen weggetragen.«

»Er ist doch nur betrunken, ein harmloser Säufer, Mr. Frost.«

»Ja, wirklich? Und wenn dieser Zeitungshändler Detektive angeheuert hat, die sein Depot bewachen?«

»Sind Sie verrückt geworden? Das ist kein Detektiv.«

Harry Frosts Faust schoss mit der konzentrierten Wucht eines Schmiedehammers vierzig Zentimeter vorwärts. Der Mann, den die Faust traf, fasste sich schmerzgepeinigt und ungläubig an die Seite. In der einen Sekunde hatte er noch neben seinem Boss gekauert, in der nächsten wälzte er sich schon auf dem Boden und versuchte, einen Atemzug zu machen, während sich gesplitterte Kochen in seine Lunge bohrten. »Sie haben mir die Rippen gebrochen«, keuchte er.

Frosts Gesicht war rot angelaufen. Sein eigener Atem raste vor Wut. »Ich bin nicht verrückt.«

»Sie wissen wohl nicht, wie stark Sie sind, Mr. Frost«, protestierte der andere Boxer. »Sie hätten ihn töten können.«

»Wenn ich ihn hätte töten wollen, hätte ich härter zugeschlagen. Schaff diesen Säufer weg!«

Der Boxer kletterte hinten aus dem Leichenwagen, schloss die Tür hinter sich und drängte sich durch die Gruppe der schläfrigen Zeitungsjungen, die darauf warteten, endlich ihre Zeitungen kaufen zu können.

»Heh, du!«, rief er den Betrunkenen, der ihn nicht hörte, sondern ihm den Gefallen tat, aus eigenem Antrieb in die Gasse einzubiegen, und ihm damit die Mühe ersparte, ihn um sich schlagend, tretend und laut schreiend hinter sich herzuzerren. So rannte er ihm nur nach und holte einen Totschläger aus der Tasche. Es war eine schmale Gasse mit nackten Mauern auf beiden Seiten, kaum breit genug für eine Schubkarre. Der Betrunkene stolperte auf eine Tür an deren Ende zu, die von einer über ihr hängenden Laterne beleuchtet wurde.

»Heh, du!«

Der Betrunkene wandte sich um. Sein goldblondes Haar schimmerte im Licht der Petroleumlampe. Ein zaghaftes Lächeln glitt über sein hübsches Gesicht.

»Kennen wir uns, Sir?«, fragte er, als erwachte plötzlich die Hoffnung in ihm, sich ein wenig Geld leihen zu können.

»Wir werden uns gleich kennenlernen.«

Mit dem Totschläger holte der Boxer zu einem hinterlistigen Schlag aus. Es war eine brutale Waffe, die aus einem Ledersack bestand, der mit Bleischrot gefüllt war. Durch das Bleischrot war er verformbar, so dass er sich an sein Ziel anschmiegen und Fleisch und Knochen zertrümmern und das attraktive und markante Profil des jungen Mannes so platt wie ein Beefsteak klopfen konnte. Zur Überraschung des Boxers bewegte sich der Betrunkene jedoch plötzlich sehr schnell. Mit einem Schritt kam er in die Reichweite des Totschlägers und holte den Boxer so gekonnt wie kraftvoll mit nur einer geraden Rechten von den Füßen.

Die Tür sprang auf.

»Gut gemacht, Kid.«

Zwei Van-Dorn-Privatdetektive – Mack Fulton mit seinen Eisaugen und Walter Kisley in einem karierten dreiteiligen Straßenanzug – packten die Arme und Beine des gefallenen Mannes und zogen ihn herein. »Versteckt sich Harry Frost in diesem Leichenwagen?«

Aber der Boxer konnte nicht antworten.

»Der ist nicht mehr zu gebrauchen«, sagte Fulton, versetzte ihm eine Ohrfeige, erzielte aber keine Reaktion.

»Isaac, junger Freund, du kennst deine eigene Kraft nicht.«

»So viel zur ersten Lektion in Sachen ›Verhören von Tatverdächtigen‹«, sagte Kisley.

»Und wie lautet diese erste Lektion?«, fragte Fulton. Sie hatten in der Van Dorn Detective Agency den Spitznamen »Weber and Fields«, in Anlehnung an die berühmten Varieté-Komiker.

»Gestatte deinem Verdächtigen stets, bei Bewusstsein zu bleiben«, antwortete Kisley.

»Damit er«, deklamierten sie im Chor weiter, »deine Fragen beantworten kann.«

Detektivlehrling Isaac Bell ließ betrübt den Kopf hängen.

»Tut mir leid, Mr. Kisley, Mr. Fulton. Ich wollte gar nicht so hart zuschlagen.«

»Man lernt nie aus, Kleiner. Deshalb hat Mr. Van Dorn einen College-Absolventen wie dich ja auch mit solchen weisen alten Ignoranten, wie wir es sind, zusammengetan.«

»Durch unser grauhaariges Beispiel hofft der Chef, dass sich vielleicht sogar ein reiches Jüngelchen von der richtigen Bahndammseite zu einem brillanten Detektiv entwickeln kann.«

»Was hältst du davon, wenn wir in der Zwischenzeit mal an diesem Leichenwagen anklopfen und nachschauen, ob Harry Frost zu Hause ist?«

Die Partner zückten ihre schweren Revolver, während sie sich durch die Gasse in Richtung Straße auf den Weg machten.

»Bleib zurück, Isaac. Du solltest Harry Frost niemals ohne eine Waffe in der Hand auf die Pelle rücken.«

»Die du, weil du noch Lehrling bist, eigentlich gar nicht bei dir haben darfst.«

»Ich habe mir einen Derringer gekauft«, sagte Bell.

»Sehr einfallsreich. Sieh bloß zu, dass der Boss nicht Wind davon bekommt.«

Sie bogen um die Ecke und gelangten auf die Straße. Ein Messer blitzte im Licht der Straßenlaterne auf und durchtrennte die Zügel, mit denen die Pferde des Leichenwagens angebunden waren. Gleich darauf ließ eine untersetzte Gestalt eine Kutscherpeitsche gegen ihre Rümpfe knallen. Die Tiere stürmten los, vorbei an den Wagen, die sich vor dem Depot aufgereiht hatten. Als der führerlose Wagen das Depot erreichte, explodierte er mit lautem Donner und einer grellen Stichflamme. Die Druckwelle erwischte die Detektive und schleuderte sie durch die Schwingtüren und das Schaufenster des nächsten Saloons.

Isaac Bell raffte sich auf und rannte auf die Straße zurück. Flammen schlugen aus dem Zeitungslager. Die Wagen waren auf die Seite geworfen worden, und ihre Pferde stolperten auf zerschmetterten Beinen umher. Die Straße war voller Glasscherben und brennendem Papier. Bell schaute zu den Zeitungsjungen hinüber. Drei von ihnen kauerten in einem Hauseingang, die Gesichter bleich vor Schreck. Drei andere lagen leblos auf dem Gehsteig. Der erste, neben dem er niederkniete, war Wally Laughlin.

COME JOSEPHINE, IN MY FLYING MACHINE

von ALFRED BRYAN & FRED FISCHER

Oh! Say! Let us fly, dear

Where, kid? To the sky, dear

Oh you flying machine

Jump in, Miss Josephine

Ship ahoy! Oh joy, what a feeling

Where, boy? In the ceiling

Ho, high, hoopla we fly

To the sky so high

Come Josephine, in my flying machine,

Going up, she goes! Up she goes!

Balance yourself like a bird on a beam

In the air she goes! There she goes!

Up, up, a little bit higher

Oh! My! The moon is on fire

Come Josephine, in my flying machine,

Going up, all on, good-bye!

Buch eins

»Come

Josephine,

in my flying

machine«

1

ADIRONDACK MOUNTAINS, UPPER NEW YORK STATE
1909

Mrs. Josephine Josephs Frost – eine zierliche junge Frau mit rosigen Wangen und vorwitzig burschikosem Auftreten, mit zupackenden kräftigen Händen, die an Landarbeit gewöhnt waren, und lebhaften haselnussbraunen Augen – lenkte ihren Celere-Twin-Pusher-Doppeldecker in achthundert Fuß Höhe über die dunkel bewaldeten Hügel der Ländereien ihres Mannes in den Adirondacks. Vorn sitzend, in einem niedrigen Korbsessel im Freien, trug sie zum Schutz gegen den eisigen Gegenwind einen gefütterten Mantel und eine Reithose, einen Lederhelm sowie Wollschal, Handschuhe, Schutzbrille und Stiefel. Der Motor brummte hinter ihr eine stetige Melodie, untermalt von dem Ragtime-Klappern, das die Antriebsketten der rotierenden Propeller verursachten.

Ihre Flugmaschine war ein leichtes Gitterwerk aus Holz und Bambus, das mit Draht zusammengehalten wurde und mit Stoff bespannt war. Die gesamte Konstruktion wog zwar weniger als eintausend Pfund, war jedoch weitaus stabiler, als ihr Aussehen vermuten ließ. Aber nicht so stark wie die heftigen Aufwinde, die die Felswände und tiefen Schluchten in die Atmosphäre schleuderten. Aufwärtsrauschende Luftsäulen würden sie auf den Rücken drehen, wenn sie es zuließ. Luftlöcher würden sie verschlucken.

Eine Windböe schlich sich von hinten an sie heran und schnappte die Luft weg, die ihre Tragflächen bis eben gestützt hatte.

Wie ein Amboss stürzte der Doppeldecker ab.

Josephines ausgelassenes Grinsen reichte von Ohr zu Ohr.

Sie drückte das Höhenruder nach unten. Die Maschine nickte abwärts, wodurch sich ihre Fluggeschwindigkeit erhöhte, und Josephine spürte sofort, wie die Luft unter den Tragflächen sie und ihre Maschine wieder in eine sichere horizontale Lage brachte.

»Gut gemacht, Elsie!«

Flugmaschinen blieben oben, indem sie Luft nach unten drückten. Das hatte sie bereits herausgefunden, als sie das erste Mal den festen Boden verlassen hatte. Luft war stark. Geschwindigkeit machte sie noch stärker. Und je besser die Maschine war, desto größer wurde ihr Wunsch zu fliegen. Diese »Elsie« war schon ihr dritter Flugapparat, aber ganz gewiss nicht der letzte.

Die Leute nannten sie wegen ihrer Neigung zum Fliegen mutig, aber sie selbst sah sich keineswegs so. In der Luft fühlte sie sich lediglich vollkommen zu Hause, mehr zu Hause als unten auf dem festen Boden, wo sich die Dinge nicht immer auf die Art und Weise entwickelten, die sie sich erhoffte. Hier oben wusste sie, was sie tun musste. Und, was noch besser war, sie wusste, was geschähe, wenn sie es nicht tat.

Ihre Augen waren überall. Sie blickte voraus auf die blauen Berge am Horizont, dann wiederholt nach oben auf das Dosenbarometer, das sie an der oberen Tragfläche befestigt hatte, um ihre jeweilige Flughöhe feststellen zu können, und nach unten auf den Öldruckmesser, der sich zwischen ihren Beinen befand. Außerdem hielt sie ständig Ausschau nach Lichtungen in dem dichten Wald unter ihr, die groß genug waren, um dort zu landen, falls ihr Motor plötzlich streiken sollte. Sie hatte sich eine Damenanhängeuhr auf den Ärmel genäht, um mit Hilfe der Flugzeit berechnen zu können, wie viel Treibstoff ihr noch zur Verfügung stand. Die Kartentasche und den Kompass, den sie sich gewöhnlich um den Oberschenkel schnallte, hatte sie zu Hause gelassen. Da sie in diesen Bergen geboren war, orientierte sie sich an Seen, Eisenbahngleisen und am North River.

Vor sich gewahrte sie eine dunkle Schlucht, so tief und mit derart steilen Seitenwänden, dass es aussah, als hätte ein zorniger Riese den Berg mit einer Axt gespalten. Eine Lücke zwischen den Bäumen neben der Schlucht entpuppte sich als goldene Wiese und die erste große Lichtung, die sie seit ihrem Start zu Gesicht bekam.

Sie entdeckte einen winzigen roten Fleck, der wie die Haube eines Spechts aussah.

Es war ein Jagdhut auf dem Kopf von Marco Celere, dem italienischen Erfinder, der ihre Flugmaschinen baute. Marco saß auf einem hohen Felsen und suchte mit Hilfe eines Fernglases nach Bären. Auf der anderen Seite der Wiese, zwischen den Bäumen, die an ihrem Rand standen, entdeckte sie auch die massige Silhouette ihres Ehemannes.

Harry Frost hatte das Gewehr im Anschlag und zielte damit auf Marco.

Josephine hörte den Schuss. Er war lauter als der Motor und das Klappern der Antriebsketten hinter ihr.

Harry Frost hatte das seltsame Gefühl, dass er den Italiener verfehlt hatte.

Er war ein erfahrener Großwildjäger. Seit er mit großem Reichtum in den Ruhestand übergewechselt war, hatte er Elche und Bighornschafe in Montana, Löwen in Südafrika und Elefanten in Rhodesien geschossen, und er hätte schwören können, dass die Kugel hoch über das Ziel hinweggegangen war. Doch da lag der dunkelhäutige Freund seiner Frau am Rand der Felsklippe und krümmte sich, zwar getroffen, aber nicht tot.

Frost hebelte eine frische Patrone in die Kammer seiner Marlin 1895 und fand ihn im Zielfernrohr. Er hasste den Anblick von Marco Celere – das ölige schwarze Haar, mit Pomade an den Schädel geklatscht, die hohe Stirn wie ein Varieté-Julius-Cäsar, die buschigen Augenbrauen, die tief liegenden dunklen Augen, der gewachste Schnurrbart, der sich an den Enden wie das Ringelschwänzchen eines Schweins hochkräuselte –, und er genoss es, den Abzug zu drücken, als plötzlich ein seltsames Rasseln seinen Kopf ausfüllte. Es klang wie die Dreschmaschine im Heim für geisteskranke Straftäter in Matawan, wo ihn seine Feinde eingesperrt hatten, weil er seinen Chauffeur im Country Club erschossen hatte.

Die Klapsmühle war schlimmer gewesen als das monströseste Waisenhaus, an das er sich erinnern konnte. Einflussreiche Politiker und teure Anwälte konnten sich zugutehalten, ihn herausgehauen zu haben. Aber es war völlig richtig gewesen, ihn zu entlassen. Schließlich hatte dieser Chauffeur mit seiner ersten Ehefrau ein Verhältnis gehabt.

Unglaublicherweise war ihm das mit seiner zweiten Frau jetzt ebenfalls passiert. Er konnte es jedes Mal in ihren Gesichtern lesen, wenn Josephine ihn um noch mehr Geld für Marcos Erfindungen bat. Zurzeit bettelte sie ihn an, die jüngste Flugmaschine des Italieners von seinen Gläubigern zurückzukaufen, damit sie das Atlantic-to-Pacific Cross-Country Air Race gewinnen konnte und den mit fünfzigtausend Dollar Preisgeld dotierten Whiteway Cup errang.

Wäre das nicht großartig? Ein Sieg bei dem größten Luftrennen der Welt würde seine flugbegeisterte Frau und ihren Erfinder-Freund berühmt machen. Preston Whiteway – der hochnäsige, mit einem silbernen Löffel im Mund geborene Zeitungsverleger aus San Francisco, der das Rennen sponserte – würde sie zu Stars machen und gleichzeitig fünfzig Millionen Zeitungen verkaufen. Der trottelige Ehemann würde ebenfalls berühmt werden, ein berühmter, gehörnter, fetter, alter, reicher Ehemann – und zur Witzfigur für alle, die ihn hassten.

Reich war er, sogar einer der reichsten Männer in Amerika, der allerdings jeden verdammten Dollar selbst verdient hatte. Aber Harry Frost war noch nicht alt. Knapp über vierzig war wirklich nicht so alt. Und jeder, der behauptete, er bestünde mehr aus Fett als aus Muskeln, hatte nicht gesehen, wie er ein Pferd mit einem einzigen Schlag tötete – ein Trick, den er in seiner Jugend des Öfteren vorgeführt hatte und der mittlerweile zu einem Geburtstagsritual geworden war.

Anders als bei dem Verrat im Zusammenhang mit seinem Chauffeur würden sie ihn diesmal aber nicht schnappen. Kein Aus-der-Haut-Fahren mehr. Diese Sache hatte er bis ins kleinste Detail geplant. Indem er seine Rache zelebrierte und das Ganze wie eine geschäftliche Transaktion behandelte, hatte er sich seiner außerordentlichen Begabung für Organisation und Täuschung bedient, um den völlig ahnungs- und arglosen Celere zur Teilnahme an einer Bärenjagd zu überreden. Bären konnten schließlich nicht reden. Tief in den Wäldern des North Country würde es keine Zeugen geben.

Überzeugt, dass sein Schuss höher gelegen hatte als beabsichtigt, zielte Frost diesmal ein wenig niedriger und schoss abermals.

Josephine sah, wie Celere durch die Wucht einer Gewehrkugel von der Felskante gepeitscht wurde.

»Marco!«

Das Rasseln in Harry Frosts Schädel wurde laut. Während er am Lauf seines Gewehrs entlang auf die wunderbar freie Stelle blickte, wo soeben noch Marco Celere gewesen war, erkannte er plötzlich, dass der Lärm keine Erinnerung an das Sanatorium in Matawan war, sondern genauso real wie die 405-grain-Bleikugel, die den Dieb der Ehefrau soeben in den Abgrund gestürzt hatte. Er schaute hoch. Josephine kreiste in ihrem verdammten Doppeldecker über ihm. Also hatte sie gesehen, wie er den Flugzeugerfinder erschossen hatte.

Frost hatte noch drei Patronen im Magazin.

Er hob das Gewehr.

Aber er wollte nicht auch noch sie töten. Jetzt, da Marco nicht mehr im Weg war, würde sie bei ihm bleiben. Aber sie hatte gesehen, wie er Marco eben gerade getötet hatte. Sie würden ihn wieder in ein Irrenhaus einsperren. Und ein zweites Mal würde er wohl nicht mehr herauskommen. Das wäre nicht fair. Er war kein Betrüger. Betrogen hatte allein sie.

Frost riss das Gewehr hoch und schoss zwei Mal.

Er hatte ihre Geschwindigkeit falsch eingeschätzt. Mindestens ein Schuss ging an ihr vorbei. Mit nur noch einer einzigen Kugel sammelte er seine fünf Sinne, beruhigte seine Nerven und verfolgte den Doppeldecker wie einen Fasan auf der Jagd.

Volltreffer!

Er hatte sie erwischt, ganz sicher. Ihre Flugmaschine legte sich schwankend in eine weite, schwerfällige Kurve. Er wartete nur noch darauf, dass sie abstürzte. Aber sie vollendete die Kurve und ging wackelnd auf Kurs zurück zum Lager. Sie war jetzt zu hoch, um mit einer Pistole beschossen zu werden, aber Frost zog trotzdem eine aus dem Gürtel. Er legte den Lauf auf seinen massigen Unterarm und feuerte, bis das Magazin leer war. Mit Augen, die vor Wut hervorquollen, angelte er einen stupsnasigen Derringer aus dem Ärmel. Er schickte auch diese beiden Kugeln vergebens in ihre Richtung und tastete nach seinem Jagdmesser, um ihr das Herz herauszuschneiden, wenn sie zwischen die Bäume krachte.

Das Rasseln und Klappern wurde leiser und leiser, und Harry Frost konnte nichts anderes tun, als hilflos zuzuschauen, wie seine betrügerische Frau hinter den Bäumen verschwand und sich seinem berechtigten Zorn entzog.

Wenigstens hatte er ihren Liebhaber ins Verderben gestürzt.

Er stapfte über die Wiese und hoffte, Celeres Körper zerschmettert auf den Flussfelsen zu sehen. Doch auf halbem Weg zur Felskante blieb er stocksteif stehen, von einer entsetzlichen Erkenntnis blitzartig getroffen. Er musste fliehen, ehe sie ihn wieder ins Irrenhaus brachten.

Josephine musste ihr gesamtes Können aufbieten, um die Maschine sicher zur Erde zu lenken.

Harry hatte sie zwei Mal getroffen. Eine Kugel hatte den Treibstofftank hinter ihr lediglich eingedellt. Der zweite Treffer war allerdings schlimmer. Die Kugel hatte die Verbindung zwischen dem Steuerknüppel und dem Kabel blockiert, mit dem sich die Form der Tragflächen verändern ließ. Da Josephine ihre Stellung nicht verändern konnte, um mit der Maschine eine Kehre auszuführen, konnte sie ausschließlich das Seitenruder zur Steuerung benutzen. Aber zu wenden, ohne die Maschine auf die Seite zu legen, war genauso, als säße sie in einem Gleiter, bevor die Gebrüder Wright die Flügelverwindung erfunden hatten – verdammt schwerfällig und durchaus geeignet, sie seitlich abrutschen und in ein tödliches Trudeln geraten zu lassen.

Mit zusammengepressten Lippen bediente sie das Seitenruder wie das Skalpell eines Chirurgen und bediente sich scheibchenweise von dem Fahrtwind. Ihre Mutter, eine hektische und nervöse Frau, die nicht fähig war, auch nur die einfachste Aufgabe in Ruhe zu lösen, hatte sie immer beschuldigt, »Eiswasser in den Adern« zu haben. Aber war in einer angeschlagenen Flugmaschine Eiswasser nicht genau das Richtige, Mutter? Allmählich brachte sie den Doppeldecker zurück auf Kurs.

Als eine Windböe ihren Rücken traf, roch sie Benzin. Sie suchte nach der Quelle und sah es tropfenweise aus dem Treibstofftank sickern. Harrys Kugel hatte seine Blechhülle also doch durchschlagen.

Was würde zuerst passieren, fragte sie sich kühl. Würde das Benzin vollständig auslaufen und der Motor stehen bleiben, ehe sie auf Harrys Rasen landen konnte? Oder würden Funken aus dem Motor und von den Ketten das Benzin in Brand setzen? Feuer war in einer Flugmaschine tödlich. Der Firnis aus salpeterhaltiger Stoffimprägnierung, der die Baumwollplane, die die Tragflächen bedeckte, steif und wasserfest machte, war genauso leicht brennbar wie Blitzpulver.

Das einzige näher gelegene Feld war eine Wiese. Aber wenn sie dort landete, würde Harry sie töten. Sie hatte keine Wahl. Sie musste die Maschine am Lager herunterbringen, sofern sie genug Treibstoff hatte, um es zu erreichen.

»Na los, Elsie. Bring uns nach Hause.«

Langsam wanderte der Wald unter ihr dahin. Aufwinde rüttelten an den Tragflächen und brachten den Flugapparat zum Schlingern. Da sie die Tragflächen nicht verwinden konnte, versuchte sie die Maschine mit Hilfe der Höhen- und Seitenruder auf geradem Kurs zu halten.

Schließlich kam Harrys Lager in Sicht.

Gerade hatte sie sich ihm weit genug genähert, um das Haupthaus und die Milchviehställe sehen zu können, als der Motor der Flugmaschine die letzten Benzindämpfe aushustete. Die Propeller blieben stehen. Der Doppeldecker verstummte, und nur noch der Wind strich flüsternd durch die Spannschnüre und Tragkabel.

Sie musste die Wiese im Gleitflug erreichen. Aber die Propeller, die sie geschoben hatten, waren jetzt eine hinderliche Last, da sie ihr Tempo drosselten. In wenigen Sekunden würde sich ihr Gleitflug derart verlangsamt haben, dass nichts sie mehr in der Luft halten konnte.

Sie griff hinter sich und zog an dem Kabel, das das Kompressionsventil des Motors öffnete, so dass sich die Zylinder frei bewegen konnten und zuließen, dass die Propeller sich im Wind drehten. Der Unterschied war frappierend. Sofort fühlte sich das Flugzeug viel leichter an – eher wie ein Gleiter.

Jetzt konnte sie auch die Weide sehen. Dicht mit Kühen bevölkert und kreuz und quer von Zäunen durchzogen, bot sie keinen Platz für eine sichere Landung. Da stand das Haus, eine kunstvoll verzierte Villa, aus Holz gebaut, und dahinter die leicht abfallende abgemähte Wiese, von der sie anfangs gestartet war. Aber zuerst musste sie heil über das Haus hinwegkommen, dabei sank sie sehr schnell. Sie suchte sich einen Weg zwischen den hohen Kaminen hindurch, hüpfte knapp über das Dach, betätigte das Seitenruder, um in den Wind zu drehen, wobei sie darauf achtete, eine Kreiselbewegung zu vermeiden.

Etwa drei Meter über der Grasnarbe erkannte sie, dass sie zu schnell unterwegs war. Das Luftpolster zwischen den Tragflächen und dem Erdboden hielt den Flugapparat in der Schwebe. Der Doppeldecker weigerte sich, den Flug abzubrechen. Und vor ihr ragte eine Wand aus Bäumen in die Höhe.

Das Benzin, das in das imprägnierte Tragflächentuch eingedrungen war, entzündete sich zu einem orangefarbenen Flammenteppich.

Einen Feuerschweif hinter sich herziehend und nicht mehr in der Lage, den Anstellwinkel der Tragflächen zu verändern, so dass die Maschine ausreichend abgebremst wurde, um auf der Grasnarbe aufzusetzen, griff Josephine hinter sich und zog abermals an der Kompressionsleine. Indem sie das Ventil wieder schloss, blockierte sie die fast drei Meter großen Propeller. Sie krallten sich geradezu in die Luft, und nun prallten die Räder und Gleitkufen der Flugmaschine hart auf die Grasnarbe.

Der brennende Doppeldecker rutschte etwa fünfzig Meter weit. Während er langsamer wurde, breitete sich das Feuer aus, und weitere Flammen züngelten hoch. Als Josephine die zunehmende Hitze an der Rückseite ihres Helms spürte, riskierte sie den Sprung. Sie landete auf dem Erdboden, streckte sich aus und machte sich so klein wie möglich, um die Maschine über sich hinwegrollen zu lassen. Dann sprang sie auf und rannte um ihr Leben, während die Flammen den Apparat einhüllten.

Harrys Butler kam angerannt. Ihm folgten der Gärtner, der Koch und Harrys Leibwächter.

»Mrs. Frost! Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Josephines Blick klebte an der Säule aus Flammen und Rauch. Marcos wunderschöne Maschine brannte wie ein Scheiterhaufen. Armer Marco. Die innere Festigkeit, die ihr geholfen hatte, die Situation zu meistern, begann zu bröckeln, und sie spürte, wie ihre Lippen bebten. Das Feuer sah aus, als brenne es unter Wasser. Erst in diesem Augenblick begriff sie, dass sie am ganzen Leib zitterte und zu weinen begonnen hatte – und dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie konnte noch nicht einmal mit letzter Sicherheit entscheiden, ob sie wegen Marco oder wegen ihres eigenen Schicksals weinte.

»Mrs. Frost«, wiederholte der Butler. »Sind Sie unversehrt?«

Noch nie war sie dem Tod in einem Flugzeug derart nahe gewesen.

Sie wollte ein Taschentuch aus dem Ärmel ziehen, schaffte es jedoch nicht. Zuerst musste sie den Handschuh ausziehen. Dabei sah sie, dass ihre Haut schneeweiß war, als hätte sich sämtliches Blut daraus zurückgezogen. Alles hatte sich grundlegend verändert. Jetzt wusste sie, wie es war, wenn man Angst hatte.

»Mrs. Frost?«

Alle starrten sie an. Als sei sie soeben dem Tod entronnen oder als stünde sie wie ein Geist vor ihnen.

»Ich bin okay.«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Mrs. Frost?«

Ihre Gedanken rasten. Sie musste irgendetwas tun. Sie presste das Taschentuch gegen ihr Gesicht. Tausend Männer und Frauen hatten gelernt zu fliegen, seit Wilbur Wright den Michelin Cup in Frankreich gewonnen hatte, und bis eben, bis zu diesem Moment hatte Josephine Frost nie daran gezweifelt, dass sie ein Flugzeug ebenso schnell und weit lenken konnte wie alle anderen. Von nun an müsste sie aber jedes Mal, wenn sie wieder in eine Flugmaschine stieg, mutig und tapfer sein. Na ja, es war allemal besser, als auf dem Erdboden herumzukrebsen.

Sie wischte sich die Wangen ab und putzte sich die Nase.

»Ja«, sagte sie. »Fahren Sie bitte in die Stadt und informieren Sie Constable Hodge, dass Mr. Frost soeben Mr. Celere erschossen hat.«

Dem Butler verschlug es den Atem. »Wie bitte?«

Sie musterte ihn streng. Wie konnte es ihn überraschen, dass ihr gewalttätiger Mann jemanden getötet hatte? Und das schon ein zweites Mal.

»Sind Sie sich dessen ganz sicher, Mrs. Frost?«

»Ob ich mir dessen ganz sicher bin?«, wiederholte sie die Frage. »Ja, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«

Der zweifelnde Gesichtsausdruck des Butlers erinnerte sie auf erschreckende Weise daran, dass es Harry war, der sein Gehalt zahlte, dass es Harry war, der für alles aufkam, und dass Mrs. Frost nun eine Frau war, die sich auf niemand anders verlassen konnte als auf sich selbst.

Die Leibwächter wirkten ganz und gar nicht überrascht. Ihre langen Gesichter sagten, dass sie ihrem mehr oder weniger gemütlichen Job wohl würden adieu sagen müssen. Auch der Butler schien sich allmählich damit abzufinden und fragte so gleichmütig, als hätte sie soeben ein Glas Eistee bestellt: »Haben Sie noch weitere Wünsche, Mrs. Frost?«

»Bitte tun Sie, um was ich Sie gebeten habe«, sagte sie mit leicht zitternder Stimme, während sie ins Feuer starrte. »Setzen Sie den Konstabler davon in Kenntnis, dass mein Mann Mr. Celere getötet hat.«

»Jawohl, Madam«, erwiderte er in neutralem Tonfall.

Josephine wandte sich vom Feuer ab. Ihre braunen Augen pflegten je nach Anlass zu Grün oder Grau zu wechseln. Sie brauchte nicht erst in einen Spiegel zu schauen, um zu wissen, dass sich in diesem Moment eine farblose Angst in ihnen spiegelte. Sie war allein und verletzlich. Da Marco Celere tot und ihr Ehemann ein wahnsinniger Mörder war, hatte sie niemanden in ihrer Nähe, an den sie sich wenden konnte. Dann fiel ihr Preston Whiteway ein.

Ja, er würde sie beschützen.

»Eine Sache noch«, sagte sie zu dem Butler, während er bereits Anstalten machte, sich zu entfernen. »Schicken Sie Mr. Preston Whiteway beim San Francisco Inquirer ein Telegramm. Teilen Sie ihm mit, dass ich ihn in der nächsten Woche besuchen werde.«