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ROBERT SILVERBERG

 

 

 

EIN GLÜCKLICHER TAG

IM JAHR 2381

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Der Autor

Widmung/Zitate

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Das Buch

In der Urbanen Monade 116, einem über eintausend Stockwerke hohen Wolkenkratzer, leben rund 800 000 Menschen – und die Bevölkerungszahl wächst stetig. Geburtenkontrolle und Privatsphäre wurden ebenso abgeschafft wie Kriege und Hungersnöte. Damit die Menschen auf einem so engen Raum friedlich zusammenleben können, gibt es keine sexuellen Beschränkungen mehr – so wird das Übel der Frustration vermieden. Doch nach wie vor hegen manche Menschen »perverse« Gedanken: Wanderlust beispielsweise, das Verlangen, sich in der Welt außerhalb der Urbmon umzusehen, ist der geheimste Wunsch des Computeringenieurs Michael Statler. Wird er entdeckt, droht ihm die Höchststrafe …

 

 

 

 

Der Autor

Robert Silverberg, geboren 1935 in New York, ist einer der bekanntesten Science-Fiction-Autoren. 1954 beginnt er, auch um seine finanzielle Situation als Student zu verbessern, Science-Fiction-Geschichten an einschlägige New Yorker Verlage zu verkaufen. Sein erster Roman »Revolt on Alpha C« erscheint 1955, 1957 bekommt er den Hugo Award als vielversprechendster Nachwuchsautor verliehen. Bereits mit Ende zwanzig ist er dank eines gewaltigen Arbeitspensums und kluger Investition Millionär. Er hat über 50 Romane (darunter auch Fantasy) veröffentlicht. Silverberg erhielt zahlreiche Preise, darunter den renommierten Hugo-Award für den besten Science-Fiction-Autor. Er verfasst auch Sachbücher über Archäologie und Naturwissenschaften. Heute lebt er mit seiner Frau, der Autorin Karen Haber, in San Francisco.

 

 

 

 

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Titel der Originalausgabe

 

THE WORLD INSIDE

 

Aus dem Amerikanischen von Bernt Kling

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1971 by Robert Silverberg

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-20602-4
V001

für Ejler Jakobsson

 

 

 

 

Wir wurden geboren, um uns mit unseren Mitmenschen zu vereinen und in der Gemeinschaft der menschlichen Rasse aufzugehen.

Cicero, De finibus, IV.

 

 

 

 

Von allen Tieren sind die Menschen am wenigsten dazu geeignet, in Herden zu leben. Wenn sie wie Schafe zusammengepfercht würden, so müssten sie alle in kürzester Zeit untergehen. Der Atem des Menschen ist gefährlich für seinen Nachbarn.

Jean-Jacques Rousseau, Emile, I.

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Soeben beginnt ein glücklicher Tag im Jahr 2381. Die Morgensonne steht schon hoch genug, um die obersten fünfzig Stockwerke von Urban Monad 116 zu berühren. Bald wird die ganze östliche Gebäudefront im Licht der Sonne glitzern wie die See bei Tagesanbruch. Die frühen Lichtimpulse der Dämmerung bewirken, dass Charles Matterns Fenster allmählich lichtdurchlässig wird. Er regt sich. Gott segne, denkt er. Seine Frau seufzt und streckt ihre Glieder. Seine vier Kinder, die schon seit Stunden wach gelegen haben, können jetzt offiziell ihren Tag beginnen. Sie erheben sich und hüpfen durch das Schlafzimmer, während sie singen:

 

Gott segne, Gott segne, Gott segne!

Gott segne jeden von uns!

Gott segne Daddo, Gott segne Mommo, Gott segne dich und mich!

Gott segne uns alle, die Kleinen und die Großen,

und schenke uns die Frucht-bar-keiiit!

 

Sie drängen sich zur Schlafplattform ihrer Eltern. Mattern erhebt sich und umarmt sie. Indra ist acht, Sandor ist sieben, Marx ist fünf, Cleo ist drei. Insgeheim schämt sich Charles Mattern, dass seine Familie so klein ist. Kann ein Mann mit nur vier Kindern wahrhaftig sagen, dass er seine Ehrfurcht vor dem Leben erwiesen hat? Aber Prinzipessas Schoß trägt keine Früchte mehr. Die Ärzte haben erklärt, dass ihr Schoß nicht mehr fruchtbar ist. Sie ist einundzwanzig und steril! Mattern denkt daran, sich eine zweite Frau zu nehmen. Es verlangt ihn danach, wieder das Schreien eines Neugeborenen zu hören; und in jedem Fall muss ein Mann seine Pflicht vor Gott erfüllen.

Sandor sagt: »Daddo, Siegmund ist noch immer hier.«

Das Kind streckt die Hand aus, und Mattern sieht in die angegebene Richtung. Neben Prinzipessa liegt der vierzehnjährige Siegmund Kluver auf der Schlafplattform, der einige Stunden nach Mitternacht hereingekommen war, um sein Gastrecht auszuüben. Siegmund zieht ältere Frauen vor. Er ist in den letzten Wochen schon etwas lästig geworden. Er schnarcht jetzt; er hat eine anstrengende Nacht hinter sich. Mattern schüttelt ihn leicht. »Siegmund? Siegmund, es ist schon Morgen.« Die Augen des jungen Mannes öffnen sich. Er lächelt Mattern an, setzt sich auf und greift nach seinem Umhang. Er ist eigentlich ganz umgänglich. Er lebt in der 787. Etage und hat schon ein Kind, das nächste ist bereits unterwegs.

»Tut mir leid«, sagt Siegmund. »Ich habe verschlafen. Prinzipessa beansprucht mich sehr. Sie ist wie eine Wilde!«

»Ja, sie ist sehr leidenschaftlich«, stimmt Mattern zu. Wie es auch Siegmunds Frau Mamelon ist, nach allem, was Mattern gehört hat. Wenn sie ein wenig älter sein wird, will es Mattern einmal mit ihr versuchen. Nächstes Frühjahr vielleicht.

Siegmund hält den Kopf unter die Molekulardusche. Prinzipessa ist inzwischen aufgestanden. Sie nickt ihrem Mann leicht zu und betätigt den Fußhebel, der die Luft aus der Schlafplattform entweichen lässt. Sie macht sich daran, das Frühstück zu programmieren. Indra streckt ihre blasse, fast durchsichtige Hand aus, um den Schirm einzuschalten. Die Wand erblüht in Licht und Farbe. »Guten Morgen«, wünscht der Bildschirm herzlich. »Die Außentemperatur, sofern das jemanden interessiert, beträgt 28°. Die heutige Bevölkerungszahl von Urbmon 116 erreicht 881 115, das ist 102 mehr als gestern und 14 187 mehr als am ersten Tag dieses Jahres. Gott segne, aber wir bleiben zurück gegenüber Urbmon 117! Dort haben sie seit gestern um 131 zugenommen, einschließlich der Vierlinge von Frau Hula Jabotinsky. Sie ist achtzehn und hat vorher schon sieben Kinder gehabt. Eine wirkliche Dienerin Gottes, nicht wahr? Die Zeit ist jetzt 0620. In genau vierzig Minuten wird Urbmon 116 durch die Ankunft von Nicanor Gortman geehrt werden, den uns besuchenden Soziocomputator von Hell, der an seiner auffallenden Gästekleidung in Karmesinrot und Ultraviolett erkannt werden kann. Dr. Gortman wird bei Charles Mattern in der 799. Etage zu Gast sein. Natürlich werden wir ihm mit derselben segensreichen Freundlichkeit begegnen wie jedem von uns. Gott segne Nicanor Gortman! Wir wenden uns jetzt den Nachrichten von den niederen Etagen von Urbmon 116 zu …«

»Habt ihr das gehört, Kinder?«, fragt Prinzipessa. »Wir werden einen Gast bekommen, und wir müssen unseren Segen mit ihm teilen. Kommt und esst!«

Nachdem er Toilette gemacht, sich gekleidet und das Frühstück eingenommen hat, begibt sich Charles Mattern zur Landeplattform auf der 1000. Etage, um Nicanor Gortman zu empfangen. Während er bis zum höchsten Punkt des Gebäudes hochschwebt, bewegt er sich an den Etagen vorbei, in denen seine Brüder und Schwestern und deren Familien leben. Drei Brüder, drei Schwestern. Vier von ihnen jünger als er, zwei älter. Alle recht erfolgreich. Ein Bruder schon in jungen Jahren gestorben, leider. Jeffrey. Mattern denkt selten an Jeffrey. Jetzt passiert er die Etagen von Louisville, dem Verwaltungssektor. In wenigen Augenblicken wird er seinem Gast begegnen. Gortman hat die Tropen bereist und will jetzt eine typische Stadteinheit in der gemäßigten Zone besichtigen. Es ist eine Ehre für Mattern, dass er den offiziellen Gast bewirten darf. Er tritt auf die Landeplattform hinaus, die sich am höchsten Punkt von Urbmon 116 befindet. Ein Kraftfeld schützt ihn vor den heftigen Winden, die in dieser Höhe toben. Er sieht nach links und bemerkt die noch immer in Dunkelheit liegende Westfront von Urban Monad 115. Zu seiner Rechten blitzen die Ostfenster von Urbmon 117 auf. Gott segne Frau Hula Jabotinsky und ihre elf Kleinen, denkt Mattern. Mattern kann die anderen Urbmons in der Reihe erkennen, die sich bis zum Horizont hin erstrecken, drei Kilometer hohe Türme aus hochbelastbarem Beton, die sich graziösen Statuen gleich nach oben hin verjüngen. Es ist ein erregender Anblick. Gott segne, denkt er. Gott segne, Gott segne, Gott segne!

Er hört das laute Summen von Rotoren. Ein Schnellboot landet. Ein großer, kräftiger Mann tritt heraus, gekleidet in ein Gewand mit den Farben vom äußersten Ende des Spektrums. Das muss der Soziocomputator von Hell sein.

»Nicanor Gortman?«, fragt Mattern.

»Gottes Segen. Charles Mattern?«

»Gott segne, ja. Kommen Sie.«

Hell ist eine der sieben Städte auf der Venus, die der Mensch zu einer für ihn angenehmen Umwelt geformt hat. Gortman war noch nie zuvor auf der Erde. Er spricht langsam und monoton, ohne jeden Rhythmus; die Betonung erinnert Mattern an die Art und Weise, wie in Urbmon 84 gesprochen wird, das er von einer beruflich bedingten Reise her kennt. Er hat Gortmans bisherige Veröffentlichungen gelesen: seriöse Arbeiten, gründlich und mit dem Augenmaß der Vernunft. »Besonders hat mir Die Dynamik der Jagdethik gefallen«, sagt Mattern, während sie den Lift betreten. »Bemerkenswert. Wahrhaft eine Offenbarung.«

»Meinen Sie das im Ernst?«, fragt Gortman geschmeichelt zurück.

»Natürlich. Ich bemühe mich, laufend die wichtigsten venusianischen Publikationen zu verfolgen. Es ist faszinierend, über fremdartige Gebräuche zu lesen. Wie zum Beispiel das Jagen wilder Tiere.«

»Gibt es denn auf der Erde keine?«

»Gott segne, nein. Das könnten wir nicht zulassen! Aber es bereitet mir Vergnügen, mich in eine so andersartige Lebensweise hineinzudenken.«

»Meine Essays sind also eine Art Fluchtliteratur für Sie?«, fragt Gortman.

Mattern sieht ihn etwas befremdet an. »Ich verstehe nicht, worauf Sie sich beziehen.«

»Fluchtliteratur. Was Sie lesen, damit Ihnen das Leben auf der Erde erträglicher erscheint.«

»Oh, nein. Das Leben auf der Erde ist ganz erträglich, seien Sie dessen versichert. Wir benötigen keine Fluchtliteratur. Ich studiere außerirdische Publikationen des Vergnügens wegen. Und natürlich, um Parallelen zu meiner eigenen Arbeit zu finden.« Sie haben die 799. Etage erreicht. »Ich will Ihnen zuerst Ihre Wohnung zeigen«, sagt Mattern, während er aus dem Fall-Lift tritt. »Das ist Schanghai. Ich meine, so nennen wir diesen ganzen Block von vierzig Etagen, von der 761. bis zur 800. Dass ich in der zweithöchsten Ebene von Schanghai wohne, weist auf meinen beruflichen Status hin. Insgesamt haben wir fünfundzwanzig Städte in Urbmon 116. Reykjavik befindet sich ganz unten und Louisville an der Spitze.«

»Wie werden die Namen bestimmt?«

»Durch Abstimmung aller Bürger. Schanghai hieß früher Kalkutta, was ich persönlich bevorzugte, aber eine kleine Gruppe Unzufriedener von der 778. Etage peitschte '75 ein Referendum durch.«

»Ich dachte, dass es keine Unzufriedenen in den Stadteinheiten gäbe«, stellt Gortman fest.

Mattern lächelt. »Nicht im üblichen Sinn. Aber wir lassen bestimmte Konflikte weiterhin zu. Der Mensch braucht Konflikte, um Mensch zu sein – sogar hier.«

Sie gehen durch den östlichen Korridor in Richtung Matterns Wohnung. Es ist jetzt 0710, und Kinder strömen in Gruppen von drei oder vier aus ihren Apartments, hasten zur Schule. Mattern winkt ihnen zu. Sie singen, während sie vorbeilaufen. »Wir haben auf dieser Etage durchschnittlich 6,2 Kinder pro Familie«, erklärt Mattern. »Das ist eine der niedrigsten Zahlen im ganzen Gebäude, wie ich zugeben muss. Leute mit höherem sozialen Status scheinen in der Fortpflanzung weniger zu leisten. In Prag gibt es eine Etage – ich glaube, es ist 117 –, die einen Durchschnitt von 9,9 pro Familie erreicht hat! Ist das nicht großartig?«

»Meinen Sie das ironisch?«, fragt Gortman.

»Absolut nicht.« Mattern spürt, wie seine innere Spannung zunimmt. »Wir mögen Kinder. Wir befürworten Fortpflanzung und Kinderreichtum. Das wussten Sie doch sicher schon, bevor Sie zu Ihrer Reise …«

»Ja, natürlich«, versichert Gortman hastig. »Ich war mir der allgemeinen kulturellen Dynamik bewusst. Aber ich dachte, dass vielleicht Ihre eigene Einstellung …«

»Dass ich gegen die Norm eingestellt sei? Weshalb nehmen Sie an, dass ich in irgendeiner Weise die Grundlagen unserer Kultur ablehnen könnte, nur weil ich die Dinge aus der Distanz des Gelehrten sehen kann? Sie begehen vielleicht den Fehler, dass Sie Ihre eigene ablehnende Haltung auf mich projizieren und …«

»Ich bedaure diese Implikation zutiefst. Und glauben Sie bitte nicht, dass ich auch nur die geringste Ablehnung gegenüber Ihrer Kultur empfinde, auch wenn ich zugeben muss, dass Ihre Welt auf mich sehr fremdartig wirkt. Gott möge fügen, dass nicht Streit und Hader zwischen uns ist, Charles.«

»Gott segne, Nicanor. Wir wollen es vergessen.«

Sie lächeln sich zu. Mattern stellt bestürzt fest, dass er seine Unsicherheit und Reizbarkeit zu deutlich gezeigt hat.

»Wie groß ist die Bevölkerung der 799. Ebene?«, fragt Gortman.

»805, nach den letzten Informationen, die ich gehört habe.«

»Und von ganz Schanghai?«

»Etwa 33 000.«

»Und von Urbmon 116?«

»881 000.«

»Und es gibt fünfzig solcher Stadteinheiten – Urbmons – innerhalb dieser Konstellation von Gebäuden?«

»Ja.«

»Das sind etwa 40 000 000 Menschen«, stellt Gortman fest. »Oder etwas mehr als die gesamte menschliche Bevölkerung der Venus. Bemerkenswert!«

»Und das ist bei weitem noch nicht die größte Gebäudekonstellation!« In Matterns Stimme schwingt Stolz mit. »Sansan ist größer, Boshwash ebenfalls! Und in Europa gibt es noch einige, die größer sind – Berpar zum Beispiel, Wienbud und zwei weitere, glaube ich. Und geplant ist noch mehr!«

»Eine globale Bevölkerung von …«

»… 75 000 000 000«, verkündet Mattern stolz. »Gott segne! So etwas hat es noch nie gegeben! Niemand hungert! Alle sind glücklich! Und offenes Land – mehr als genug! Gott hat es gut mit uns gemeint, Nicanor!« Er bleibt vor einer Tür mit dem Schild 79 915 stehen. »Hier ist meine Wohnung. Sie können über alles verfügen, verehrter Gast.« Sie gehen hinein.

Matterns Wohnung ist seiner Position angemessen. Er verfügt über fast neunzig Quadratmeter Wohnfläche. Aus der Schlafplattform kann die Luft abgelassen werden; die Kinderbetten sind zur Wand hochklappbar; das Mobiliar kann leicht bewegt werden, um Spielfläche freizumachen. Der größte Teil des Raums ist tatsächlich leer. Der Bildschirm und die Datenempfangsanlage ersetzen zweidimensional Wandbereiche, die in früheren Zeiten von klobigen TV-Geräten, Bücherregalen, Tischen, Kommoden und ähnlichen Hindernissen verstellt worden waren. Es ist eine luftige, geräumige Umgebung, vor allem für eine sechsköpfige Familie.

Die Kinder sind noch nicht zum Unterricht gegangen; Prinzipessa hat sie zurückgehalten, damit sie den Gast begrüßen können, und daher sind sie ziemlich unruhig. Als Mattern eintritt, kämpfen Sandor und Indra um ein begehrtes Spielzeug, den Traumerreger. Mattern ist erstaunt. Ein Konflikt in seinem eigenen Heim? Sie kämpfen lautlos, damit ihre Mutter es nicht bemerkt. Sandor schlägt mit seinen Schuhen gegen die Schienbeine seiner Schwester. Indra zuckt zusammen und krallt ihre Fingernägel in die Backe ihres Bruders. »Gott segne«, sagt Mattern streng. »Ich glaube, jemand möchte den Schacht hinunter, wie?« Die Kinder erstarren. Das Spielzeug fällt zu Boden. Die Aufmerksamkeit aller wendet sich ihnen zu. Prinzipessa blickt auf und wischt sich eine Locke dunklen Haars aus der Stirn; sie war so sehr mit ihrem jüngsten Kind beschäftigt, dass sie nicht einmal gehört hat, wie sie hereinkamen.

»Konflikte machen unfruchtbar«, sagt Mattern. »Entschuldigt euch gegenseitig.«

Indra und Sandor küssen einander und lächeln sich an. Demütig nimmt Indra das Spielzeug auf und gibt es Mattern, der es seinem jüngeren Sohn Marx überreicht. Sie alle wenden sich jetzt dem Gast zu, und Mattern sagt zu Gortman: »Was mein ist, gehört auch Ihnen, teurer Freund.« Er stellt vor: seine Frau, die Kinder. Die vorangegangene Auseinandersetzung hat ihn ein wenig nervös gemacht, aber er ist wieder sehr erleichtert, als Gortman vier kleine Schachteln hervorholt und unter die Kinder verteilt. Spielzeug. Eine segensvolle Geste. Mattern deutet auf die abgelassene Schlafplattform. »Hier schlafen wir«, erklärt er. »Es ist mehr als genug Raum für drei. Wir waschen uns bei dem Reiniger dort. Wünschen Sie private Abgeschlossenheit, wenn Sie sich von Abfallprodukten entleeren?«

»Bitte, ja.«

»Dann drücken Sie diesen Knopf für die Abschirmung. Wir entleeren uns hier. Das ist für Urin, Fäkalien daneben. Sie verstehen, es wird alles aufbereitet und wiederverwendet. Wir sind ein sparsames Völkchen in den Urbmons.«

»Natürlich«, sagt Gortman.

»Ziehen Sie es vor, dass wir ebenfalls die Abschirmung benützen, wenn wir absondern?«, erkundigt sich Prinzipessa. »Soviel ich weiß, ist das bei Leuten außerhalb der Urbmons manchmal üblich.«

»Ich möchte Ihnen keineswegs meine eigenen Gewohnheiten aufzwingen«, sagt Gortman.

Lächelnd sagt Mattern: »Wir sind natürlich eine nur wenig auf Privatsphäre bedachte Kultur. Aber es würde uns nichts ausmachen, den Knopf zu drücken, sofern …« Er kommt ins Stocken, als ihm ein weiteres Problem bewusst wird. »Es gibt doch nicht etwa ein allgemeines Nacktheitstabu auf der Venus? Ich meine, wir haben nur diesen einen Raum, und …«

»Ich kann mich anpassen«, bekräftigt Gortman. »Ein ausgebildeter Soziocomputator muss natürlich kulturelle Dinge relativieren können!«

»Natürlich«, stimmt Mattern zu und lacht nervös.

Prinzipessa entschuldigt sich und wendet sich von dem Gespräch ab, um die Kinder, die sich noch immer mit ihren neuen Spielzeugen beschäftigen, zur Schule zu schicken.

»Vergeben Sie mir, wenn ich solche Dinge anspreche«, sagt Mattern, »aber ich muss die Frage ihrer sexuellen Vorrechte berühren. Wir drei werden zusammen eine einzige Plattform teilen. Meine Frau steht zu Ihrer Verfügung, ich selbstverständlich auch, sollten Sie es wünschen. Innerhalb des Urbmons gilt es als ungehörig, jedwelches vernünftige Verlangen zurückzuweisen, solange es nicht mit Körperverletzung verbunden ist. Vermeidung von Frustrationen, verstehen Sie, ist die erste Regel in einer Gesellschaft wie der unseren, in der selbst geringste Reibungen zu unkontrollierbaren Schwingungen, zu Disharmonie führen könnten. Und kennen Sie eigentlich schon unseren Gebrauch des Nachtwandelns?«

»Ich fürchte, dass ich …«

»Es gibt keine verschlossenen Türen in Urbmon 116. Wir haben kein persönliches Eigentum, das des Schutzes bedarf, und wir sind alle sozial angepasst. Nachts ist es erlaubt und üblich, andere Wohnungen zu betreten. Auf diese Weise tauschen wir laufend die Partner; üblicherweise bleiben die Ehefrauen zu Hause, während ihre Männer ausgehen, obwohl das nicht unbedingt so sein muss. Jeder von uns hat grundsätzlich zu jeder Zeit Zutritt zu jedem erwachsenen Mitglied unserer Gemeinschaft.«

»Seltsam«, sagt Gortman. »Ich hätte angenommen, dass in einer Gesellschaft, in der so viele Menschen auf so engem Raum zusammenleben, ein übertriebener Respekt für private Abgeschlossenheit sich entwickeln würde, nicht aber so weitgehende Freiheit.«

»Anfangs hatten wir starke Tendenzen zu privater Isolierung. Gott segne, sie konnten allmählich abgebaut werden. Völlige Vermeidung von Frustrationen muss unser Ziel sein, weil sich sonst untragbare Spannungen entwickeln würden. Und Privatheit bedeutet Frustration.«

»So können Sie also in jeden Raum in diesem gigantischen Gebäude gehen und schlafen, mit wem …«

»Nicht das ganze Gebäude«, unterbricht ihn Mattern. »Nur Schanghai. Nachtwandeln jenseits unserer eigenen Stadt lehnen wir ab.« Er kichert. »Wir legen uns selbst ein paar kleine Beschränkungen auf, verstehen Sie, damit unsere Freiheiten nicht ihren Reiz verlieren.«

Gortman wendet sich Prinzipessa zu. Sie trägt einen Lendenstreifen und einen Metallkorb über der linken Brust. Sie ist schlank, hat aber ausladende Hüften, und obwohl sie keine Kinder mehr tragen kann, hat sie nicht die sinnliche Ausstrahlung junger Weiblichkeit verloren. Mattern ist stolz auf sie, trotz allem.

»Beginnen wir mit unserer Gebäudebesichtigung?«, fragt Mattern.

Sie gehen auf die Tür zu. Gortman verneigt sich zu Prinzipessa hin, bevor er und Mattern den Raum verlassen. Im Korridor sagt der Besucher: »Ihre Familie ist kleiner als die Norm, wie ich sehe.«

Das ist eine verletzend unhöfliche Feststellung, aber Mattern vermag über den Fauxpas seines Gastes nachsichtig hinwegzusehen. Unbewegt erwidert er: »Wir hätten mehr Kinder gehabt, aber meine Frau musste durch einen chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht werden. Es war eine große Tragödie für uns.«

»Große Familien wurden hier immer hoch eingeschätzt?«

»Wir schätzen das Leben. Die Entstehung neuen Lebens zu verhindern ist die schwerste Sünde. Wir lieben unsere große, von heiterem Treiben erfüllte Welt. Erscheint sie Ihnen weniger wünschenswert? Wirken wir unglücklich?«

»Sie wirken erstaunlich gut angepasst«, sagt Gortman. »Wenn man in Betracht zieht …« Er hält inne.

»Fahren Sie fort.«

»Wenn man in Betracht zieht, dass es so viele von Ihnen gibt. Und dass Sie alle Ihr ganzes Leben in einem einzigen gigantischen Bauwerk verbringen. Sie verlassen das Gebäude nie, nicht wahr?«

»Die meisten von uns nie«, gibt Mattern zu. »Ich war natürlich schon auf Reisen – ein Soziocomputator braucht auch andere Perspektiven, das ist klar. Aber Prinzipessa hat das Gebäude noch nie verlassen. Ich glaube, sie war auch noch nie unterhalb der 350. Ebene, außer bei einer Besichtigung der unteren Ebenen während ihrer Schulzeit. Warum sollte sie auch irgendwo anders hingehen wollen? Das Geheimnis unseres Glück besteht darin, dass wir in sich selbst abgeschlossene ›Dörfer‹ von fünf oder sechs Ebenen innerhalb der Städte von vierzig Ebenen schaffen, die sich wiederum in Urbmons mit 1000 Etagen befinden. Wir fühlen uns nicht zusammengedrängt oder überbevölkert. Wir kennen unsere Nachbarn; wir haben Hunderte von guten Freunden; wir verhalten uns solidarisch und sind freundschaftlich miteinander verbunden.«

»Und alle sind immer glücklich?«

»Fast alle.«

»Wie sehen die Ausnahmen aus?«, erkundigt sich Gortman.

»Die Flippos«, erklärt Mattern. »Wir sind bestrebt, die Reibungen im Zusammenleben in einer solchen Umgebung möglichst gering zu halten; wie Sie sehen, wird keinem etwas verweigert, ein vernünftiges Verlangen wird niemals zurückgewiesen. Aber es kommt vor, dass Leute plötzlich glauben, sich nicht mehr unseren Grundsätzen fügen zu können. Sie drehen durch, flippen aus; sie verweigern sich anderen; sie rebellieren. Eine traurige Sache.«

»Was tun Sie mit diesen Flippos?«

»Wir entfernen sie natürlich«, sagt Mattern. Er lächelt, und sie betreten erneut den Fall-Lift.

 

Mattern ist autorisiert worden, Gortman das ganze Urbmon zu zeigen, ein Unternehmen, das mehrere Tage beanspruchen wird. Er sieht dem ein wenig unsicher entgegen; er ist mit einigen Teilen der Gebäudestruktur nicht so vertraut, wie ein Führer es sein sollte, aber er wird sein Bestes tun.

»Das Gebäude«, erklärt er, »ist aus hochbelastbarem Beton erbaut. Es ist rund um einen zentralen Funktionskern von etwa zweihundert Quadratmetern konstruiert. Ursprünglich sollte jede Ebene fünfzig Familien beherbergen, aber wir haben heute durchschnittlich 120, und die früheren Apartmentwohnungen sind alle in Einzelräume unterteilt worden. Wir sind in allem vollkommen unabhängig und verfügen über unsere eigenen Schulen, Krankenhäuser, Sportarenen, Gebetshäuser und Theater.«

»Lebensmittel?«

»Wir stellen keine selbst her. Aber wir haben vertraglichen Zugang zu den agrikulturellen Gemeinden. Sie haben sicher gesehen, dass fast neun Zehntel der gesamten Landfläche für die Nahrungsmittelproduktion verwendet wird; und dann gibt es auch noch die Seefarmen. Ja, wir haben jetzt genug Nahrung auf diesem Planeten, seit wir keinen Raum mehr verschwenden und es vermeiden, uns horizontal über das unersetzliche Land zu verbreiten.«

»Aber sind Sie damit nicht von der Gnade der lebensmittelproduzierenden Gemeinden abhängig?«

»Wann waren Stadtbewohner nicht von der Gnade der Bauern abhängig?«, fragt Mattern zurück. »Aber Sie scheinen das Leben auf der Erde als einen ständigen Kampf zu betrachten. Doch wir müssen nicht ums Überleben kämpfen. Tatsächlich greift in der Ökologie unserer Welt ein Rad in das andere. Die Farmer brauchen uns – wir sind ihr einziger Markt, ihre einzige Quelle für industriell gefertigte Waren. Wir brauchen sie – unsere einzige Quelle, von der wir Nahrungsmittel erhalten können. Ein Zustand gegenseitiger Unentbehrlichkeit, nicht wahr? Und das System funktioniert. Wir könnten zusätzlich noch viele Milliarden Menschen versorgen. Was wir eines Tages, so Gott es fügt, tun werden.«

Der Fall-Lift rastet am untersten Ende seines Schachtes ein. Mattern spürt die erdrückende Masse des ganzen Urbmons über sich, und er ist etwas überrascht von der Intensität seines Unbehagens; er bemüht sich, seine Empfindung zu verbergen. Er erklärt: »Das Fundament der Konstruktion reicht vierhundert Meter tief in die Erde. Wir befinden uns jetzt auf der untersten Ebene. Hier erzeugen wir unsere Energie.« Sie durchqueren einen Verbindungsgang und spähen in einen gewaltigen Generatorenraum, der vom Boden bis zur Decke vierzig Meter misst. Zahllose Turbinen rotieren leise. »Den größten Teil unserer Energie gewinnen wir«, erklärt er, »durch Verbrennung von hochkonzentriertem festem Abfall. Wir verbrennen alles, was wir nicht benötigen, und verkaufen den Rückstand als Düngemittel. Wir haben außerdem Hilfsgeneratoren, die die gesammelte menschliche Körperhitze verwerten.«

»Ich habe mich schon gewundert«, murmelt Gortman, »wie Sie mit der Hitzeentwicklung fertig werden.«

Mattern greift das Thema erfreut auf: »Es ist ganz klar, dass 800 000 Menschen innerhalb einer abgeschlossenen Umgebung einen bedeutenden Überschuss an Temperatur erzeugen. Ein Teil dieser Hitze wird durch Kühlrippen entlang der Außenflächen direkt vom Gebäude abgestrahlt. Ein anderer Teil wird nach unten geleitet und für den Betrieb der Generatoren benützt. Im Winter leiten wir sie natürlich gleichmäßig durch das Gebäude, um eine angemessene Temperatur zu halten. Der Rest der überschüssigen Hitze wird für die Wasserwiederaufbereitung und ähnliche Dinge benützt.«

Sie beschäftigen sich eine Zeitlang mit dem elektrischen System. Dann zeigt Mattern den Weg zur Aufbereitungsanlage. Einige hundert Schulkinder besichtigen sie soeben; wortlos schließen sich die beiden Männer ihrer Besichtigungstour an.

Die Lehrerin erklärt: »Hier kommt der Urin herunter, seht ihr?« Sie deutet auf riesige Plastikröhrchen. »Er wird durch die Erhitzungskammer geleitet, um ihn zu destillieren, und das gereinigte Wasser fließt hier hindurch – folgt mir jetzt bitte – ihr erinnert euch sicher von der Risszeichnung her an den Bereich, in dem der Harn in seine chemischen Bestandteile zerlegt wird, die wir an die Landwirtschaftsgemeinden verkaufen …«

Sie gehen weiter. Mattern erklärt seinem Gast die Klimastabilisierung, das System der Fall-Lifts und der Schwebe-Lifts und ähnliche Einrichtungen.

»Es ist phantastisch«, sagt Gortman. »Ich vermochte mir nicht vorzustellen, wie ein kleiner Planet mit 75 000 000 000 Menschen überhaupt überleben kann, aber Sie haben es in ein … in …«

»In ein Utopia verwandelt?«, schlägt Mattern vor.

»Ja, das wollte ich sagen«, sagt Gortman.

 

Energiegewinnung und Müllbeseitigung sind nicht gerade Matterns Spezialgebiete. Er weiß zwar, wie das alles hier geschieht, aber nur, weil das Funktionieren des Urbmons ihn auch in dieser Hinsicht fasziniert. Sein eigentliches Arbeitsfeld aber ist die Soziocomputation, und er ist gebeten worden, dem Besucher zu erklären, wie die soziale Struktur des gigantischen Gebäudes organisiert wird. Sie bewegen sich jetzt nach oben zu den Wohnebenen.

»Hier beginnt Reykjavik«, kündigt Mattern an. »Es wird hauptsächlich von Wartungsarbeitern bevölkert. Wir versuchen natürlich, Statusschichtungen möglichst zu vermeiden, aber jede Stadt hat ihre Elite, zum Beispiel Ingenieure, Akademiker, Künstler, Sie verstehen. Schanghai, wo ich wohne, ist vorwiegend akademisch. Die einzelnen Berufe sind in Verbänden organisiert.« Sie gehen die Haupthalle hinab. Mattern fühlt sich nicht besonders wohl in dieser niedrigen Ebene, und er hört nicht auf zu reden, um seine Nervosität zu verbergen. Er beschreibt, wie jede Stadt innerhalb des Urbmons ihren charakteristischen Slang, ihre Mode, ihre Folklore und ihre Heroen entwickelt.

»Gibt es viele Kontakte zwischen den Städten?«, fragt Gortman.

»Wir versuchen das zu fördern. Sport, Austauschstudenten, regelmäßige gemischte Abende. Innerhalb vernünftiger Grenzen natürlich. Wir bringen kaum Leute von den Ebenen der Arbeiterklasse mit denen der akademischen Ebenen zusammen. Das würde doch nur alle unglücklich machen, nicht wahr? Aber wir versuchen eine vertretbare Durchlässigkeit zwischen Städten einer vergleichbaren intellektuellen Ebene herzustellen. Wir halten das für eine gesunde Sache.«

»Würde es die Durchlässigkeit nicht verbessern, wenn Sie zum Nachtwandeln zwischen den Städten ermutigen würden?«

Mattern runzelt die Stirn. »Wir ziehen es vor, uns dabei auf unsere nächste Umgebung zu beschränken. Gelegentlicher Sex mit Partnern aus anderen Städten gilt als das Kennzeichen einer schmutzigen Seele.«

»Ich verstehe.«

Sie betreten einen großen Raum. Mattern sagt: »Das ist ein Schlafraum für Neuvermählte. Es gibt solche Räume alle fünf oder sechs Ebenen. Wenn sich Heranwachsende zu Paaren finden, dann verlassen sie das Heim ihrer Familie und ziehen hier ein. Sobald sie ihr erstes Kind haben, erhalten sie eine eigene Wohnung.«

Überrascht fragt Gortman: »Aber wo nehmen Sie den Platz für sie alle her? Ich gehe davon aus, dass jeder Raum in diesem Gebäude besetzt ist, und Sie können unmöglich mehr Todesfälle als Geburten haben, also – wie …?«

»Todesfälle machen natürlich Wohnungen frei. Wenn Ihr Partner stirbt und Ihre Kinder erwachsen sind, dann ziehen Sie in einen Schlafraum für Senioren um und schaffen damit Raum für eine neue Familieneinheit. Aber Sie haben natürlich recht, wenn Sie annehmen, dass die meisten Jungen keine Unterkunft mehr in diesem Gebäude finden, da wir jährlich etwa zwei Prozent neue Familien bilden und die Todesraten weit darunter liegen. Da neue Urbmons gebaut werden, übersiedeln wir den Überschuss aus den Schlafräumen für Neuvermählte dorthin. Und das in großer Zahl. Es soll hart sein, ausgesiedelt zu werden, wie sie sagen, aber das wird dadurch kompensiert, dass man zur ersten Gruppe in einem neuen Gebäude gehört. Man gewinnt dadurch automatisch an Status. Und so geben wir ständig einen Überfluss an Leben ab, setzen unsere Jugend aus, um völlig neu geformte soziale Einheiten zu schaffen – faszinierend, nicht wahr? Haben Sie meine Arbeit Strukturelle Verwandlung der Urbmon-Bevölkerung gelesen?«

»Ich fürchte, ich bin noch nicht auf sie gestoßen«, gibt Gortman zurück. »Ich werde sie mir auf jeden Fall noch ansehen.« Er sieht sich im Schlafraum um. Ein Dutzend Paare treiben auf einer nahe gelegenen Plattform Geschlechtsverkehr. »Sie wirken so jung«, sagt er.

»Die Pubertät setzt bei uns schon relativ früh ein. Mädchen heiraten gewöhnlich mit zwölf, Jungen mit dreizehn. Ihr erstes Kind bekommen sie etwa ein Jahr später, so Gott es will.«

»Und niemand bemüht sich, die Fertilität unter Kontrolle zu halten?«

»Die Fruchtbarkeit kontrollieren?« Mattern legt die Hand schützend vor seine Genitalien, so sehr erschrickt er vor dieser unerwarteten Obszönität. Einige der kopulierenden Paare halten inne und blicken erstaunt auf. Jemand kichert. Mattern sagt: »Sprechen Sie das bitte nie wieder aus. Vor allem nicht, wenn Kinder in der Nähe sind. Wir denken nicht in – äh – Begriffen von Kontrolle und dergleichen.«

»Aber …«

»Wir halten das Leben für heilig. Es ist segensreich, neues Leben zu schaffen. Indem wir uns vermehren, erfüllen wir unsere Pflicht vor Gott.« Mattern lächelt; er spürt, dass sich seine Worte etwas zu pathetisch anhören. »Es zeichnet den Menschen aus, dass er Probleme durch Anwendung seiner Intelligenz zu lösen versucht, nicht wahr? Und ein entscheidendes Problem ist das der vielfachen Bevölkerungszunahme in einer Welt, die Krankheiten und Seuchen besiegt und den Krieg für immer abgeschafft hat. Wir könnten wohl auch die Zahl der Geburten begrenzen, aber das wäre ein billiger, ein kranker, ein inhumaner Ausweg. Tatsächlich haben wir das Problem der Überbevölkerung auf eine stolze Weise bewältigt, würden Sie das nicht auch sagen? Und so fahren wir fort, uns mit Freude zu vermehren, nehmen jährlich um drei Milliarden zu und haben dennoch genug Raum für jeden und genug Nahrung für jeden. Nur wenige sterben, viele werden geboren, die Welt füllt sich, Gott gibt seinen Segen, unser Leben ist erfüllt und angenehm, und, wie Sie sehen, sind wir alle recht glücklich dabei. Wir sind über das infantile Bedürfnis hinaus gereift, trennende Mauern zwischen den Menschen zu errichten. Warum sollten wir nach draußen gehen? Warum uns nach Wüsten und Wäldern sehnen? Uns genügen die Universen, die Urbmon 116 für uns bereithält. Die Warnungen der Untergangspropheten haben sich als Schall und Rauch erwiesen. Können Sie bestreiten, dass wir hier glücklich sind? Kommen Sie mit. Wir werden uns jetzt eine Schule ansehen.«

 

Die Schule, die Mattern ausgesucht hat, befindet sich in einem Arbeiterdistrikt in Prag, in der 108. Etage. Er nimmt an, dass Gortman sich dafür besonders interessieren wird, da die Bewohner von Prag die höchste Vermehrungsrate innerhalb von Urban Monad 116 haben und zwölf- oder fünfzehnköpfige Familien hier absolut nicht ungewöhnlich sind. Während sie sich dem Eingang der Schule nähern, hören Mattern und Gortman die klaren Stimmen, die das segensreiche Tun Gottes besingen. Mattern singt leise mit; es ist eine Hymne, die er in ihrem Alter einmal selbst gesungen hat, als er noch von der großen Familie träumte, die er eines Tages haben würde:

 

Und dann pflanzt er den heiligen Samen,

der in Mommos Schoß gedeiht.

Und dann kommt ein kleines Menschenkind.

 

Sie werden überraschend unterbrochen, als eine Frau durch den Korridor auf Mattern und Gortman zuhastet. Sie ist jung, wirkt unsauber, trägt nur einen übergeworfenen grauen Umhang; ihr Haar hat sich gelöst; man sieht deutlich, dass sie in einem fortgeschrittenen Stadium schwanger ist. »Hilfe!«, schreit sie. »Mein Mann dreht durch! Ein Flippo!« Sie wirft sich bebend in Gortmans Arme. Gortman ist sichtlich verwirrt.

Ein hagerer Mann, kaum zwanzig Jahre alt, läuft auf die Frau zu, die Augen blutunterlaufen. Er hält einen Schweißbrenner mit weißglühender Spitze. »Verdammte Hexe«, murmelt er. »Immer diese Babys! Schon sieben Babys und jetzt das achte, und ich verlier' meinen Kopf!« Mattern ist entsetzt. Er reißt die Frau aus Gortmans Armen und schiebt den überraschten Besucher durch den Eingang der Schule.

»Sagen Sie ihnen, hier draußen ist ein Flippo«, ruft Mattern. »Holen Sie Hilfe, schnell!« Er ist wütend, dass Gortman ausgerechnet eine so untypische Szene erleben muss, und er wünscht sich, er könnte ihn davon fernhalten.

Das zitternde Mädchen verbirgt sich hinter Mattern, der so ruhig wie möglich sagt: »Lassen Sie uns vernünftig miteinander reden, junger Mann. Sie haben doch sicher Ihr ganzes Leben in Urbmons verbracht? Sie wissen, dass es segensreich ist, Leben zu schaffen. Warum wenden Sie sich dann plötzlich gegen die Prinzipien, auf denen …«

»Gehen Sie – verdammt noch mal – von ihr weg, oder ich verbrenne Sie mit!«

Der junge Mann richtet den Schweißbrenner genau auf Matterns Gesicht. Mattern spürt bereits die Hitze und den Geruch, der von der Brennermündung ausgeht, und weicht erschrocken zurück. Der junge Mann stürzt an ihm vorbei auf die Frau zu. Sie rennt weg, aber sie ist schon ihres Leibesumfangs wegen zu schwerfällig, und der Brenner trennt ihr Gewand durch. Bleiche, weiße, zum Zerreißen gedehnte Haut wird sichtbar, darüber verläuft eine Brandwunde wie ein leuchtender Streifen. Die Frau hält schützend die Hände vor ihren hervortretenden Bauch und fällt schreiend zu Boden. Der junge Mann stößt Mattern aus dem Weg und macht Anstalten, den Schweißbrenner in ihre Seite zu stoßen. Mattern versucht, seinen Arm festzuhalten. Er lenkt den Brenner ab, so dass er den Boden trifft. Der junge Mann lässt ihn fluchend fallen und wirft sich auf Mattern, trommelt mit seinen Fäusten wild auf ihn ein. »Hilfe!«, schreit Mattern. »Helft mir!«

Dutzende von Schulkindern platzen in den Korridor hinaus. Sie sind zwischen acht und elf Jahren alt. Sie singen weiterhin ihre Hymne, während sie sich vorwärtsschieben. Sie drängen den Angreifer von Mattern weg und bedecken ihn mit ihren Körpern, schnell und ohne Widerstand zuzulassen. Er ist unter der Masse der unaufhörlich auf ihn einschlagenden Schulkinder kaum mehr zu sehen. Und Dutzende mehr drängen noch aus dem Unterrichtsraum und stürzen sich ebenfalls auf den Haufen. Eine Sirene heult. Aus Lautsprechern dröhnt die Stimme des Lehrers: »Die Polizei ist hier! Alles aus dem Weg!«

Vier uniformierte Männer sind angekommen. Sie überprüfen die Situation. Die verletzte Frau liegt schluchzend da, streicht mit den Händen über ihre Brandwunde. Der Verrückte ist bewusstlos; sein Gesicht ist blutverschmiert, und ein Auge scheint zerstört zu sein. »Was ist passiert?«, fragt ein Polizeibeamter. »Wer sind Sie?«

»Charles Mattern, Soziocomputator, 799. Ebene, Schanghai. Der Mann ist ein Flippo. Hat seine schwangere Frau mit dem Schweißbrenner angegriffen. Versuchte mich ebenfalls anzugreifen.«

Die Polizisten zerren den stöhnenden Flippo hoch. Wie betäubt hängt er zwischen ihnen. Der Anführer der Polizisten sagt, die Worte nur so herunterrasselnd: »Schuldig der verwerflichen Tat eines tätlichen Angriffs auf eine Frau in ihren fruchtbaren Jahren, die ungeborenes Leben trägt; gefährlicher antisozialer Tendenzen, der Bedrohung von Harmonie und Stabilität; kraft der mir übertragenen Autorität verfüge ich das Urteil der Auslöschung, das sofort vollzogen wird. Werft diesen Bastard in den Schacht hinab, Jungs!« Sie schleppen den Flippo weg. Ärzte erscheinen und versammeln sich um die zu Boden gestürzte Frau. Die Kinder kehren freudig singend in ihren Unterrichtsraum zurück. Nicanor Gortman wirkt bestürzt und erschüttert. Mattern ergreift seinen Arm und flüstert erregt: »Es ist alles in Ordnung, so etwas geschieht manchmal. Ich bestreite es gar nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit war eine Milliarde zu eins, dass so etwas ausgerechnet vor Ihren Augen passieren würde! Das ist nicht typisch! Das ist nicht typisch!«

Sie betreten den Unterrichtsraum.

 

Die Sonne geht unter. Die Westfront des benachbarten Urban Monad ist mit einem leuchtenden Rot überzogen. Nicanor Gortman nimmt schweigend am Abendessen der Familie Mattern teil. Die Kinder unterhalten sich, wild durcheinanderschnatternd, über ihren heutigen Schultag. Der Bildschirm bringt die Abendnachrichten; der Ansager erwähnt auch den unglücklichen Zwischenfall auf der 108. Ebene. »Die Mutter ist nicht ernsthaft verletzt worden«, sagt er, »und ihrem Kind ist nichts geschehen. Die Verurteilung des Angreifers ist sofort vollstreckt worden, eine Gefahr für den ganzen Urbmon ist damit beseitigt worden.«

»Segne Gott«, murmelt Prinzipessa. Nach dem Essen lässt sich Mattern von der Datenempfangsanlage seine neuesten Arbeitspapiere ausgeben und überreicht den ganzen Stapel Gortman, damit er sich ansehen kann, was ihn interessiert. Gortman dankt ihm lebhaft.

»Sie sehen müde aus«, sagt Mattern.

»Es war ein anstrengender Tag. Aber es hat sich gelohnt.«

»Ja. Wir sind wirklich auf Grund gestoßen, nicht wahr?«

Mattern fühlt sich ebenfalls müde. Sie haben schon mehr als drei Dutzend Etagen besucht; er hat Gortman Stadtversammlungen, Fruchtbarkeitskliniken, kirchliche Veranstaltungen und Büroräume gezeigt, alles an diesem ersten Tag. Morgen wird es noch viel mehr zu sehen geben. Urban Monad 116 ist eine vielseitige, komplexe Gemeinschaft. Und eine glückliche, wie Mattern mit Überzeugung feststellt. Es gibt kleine Zwischenfälle von Zeit zu Zeit, gewiss, aber wir sind glücklich.