Helmut Krausser
VERSTAND & KÜRZUNGEN
Gedichte
eBook 2014
© 2014 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Nurten Zeren, zerendesign.com
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook: 978-3-8321-8820-7
www.dumont-buchverlag.de
NEUE GEDICHTE
■
Ich zähle 20.000 Krieger
im Lager der Feinde.
Nur einen in meinem.
Mich.
Die Chancen stehn pari.
Die Schlacht geht weiter.
■
morgenzigarette,
rom. im stehn, am tresen
die rosa sportgazette
überblättern/lesen.
gran caffè con latte.
knacken und geknister
einer schellackplatte.
der tenor von trister
stimme lobt die liebe.
passanten stehn und lauschen.
dazwischen taschendiebe,
die beutestücke tauschen.
verstorbenen tenören
und eben frisch beklauten
touristen zuzuhören,
war groß, in rom, im lauten
morgenmenschenstrom.
■
Ich summte in Madrid
mal eine Melodie,
und du erkanntest sie
und summtest leise mit.
So summten wir zusammen.
Beim Zusammen-Summen
zeitgleich zu verstummen,
weil wir zwei in Flammen
standen – das – war groß,
ku- & fu- & glo-rios.
Folgte: Hadsch d’Amour –
Venedig, dann Paris.
Folgte: Das und dies.
Viel Klein-Gemeines. Nur
zwei Sommer summten wir
unsre Melodie.
Mitunter sing ich sie
allein. Die Zeit mit dir,
vom Ende abgesehn –
in summa – war doch schön.
■
War heute bei meinem
ersten Treffen der
Anonymen Größten Lyriker
aller Zeiten.
Außer mir nur
geisteskranke Scharlatane da.
Doch einen, den fand ich
doch rührend.
Er hielt sich
allen Ernstes für:
mich.
Und sah mir gar ähnlich.
Zugegeben:
Der Mensch war mehr ich,
als ich selbst es noch bin.
Er las einige meiner besten
Gedichte laut vor. Auswendig.
Ich applaudierte ihm. Als einziger.
Da sah er zu mir her
und runzelte die Stirn.
Gemeinsam verließen wir
das Gebäude. Er zeigte
ständig mit dem Finger
auf meinen Kopf und drohte,
daß er mich verklagen wird.
Es sei, sagte er, eine
Frechheit von mir,
so herumzulaufen, mit diesem
schlecht gefälschten Schädel.
Ich kann kaum eines
meiner Gedichte auswendig,
werde vor Gericht chancenlos
sein, aber: Warum auf was bestehen,
das keinen Bestand hat?
Soll er halt machen. Egal.
■
Ein Spatz von Spatzengröße ist
nicht frech noch klein noch süß.
Todesmutig landet er
zwischen allen Stiefeln,
die ihn zertreten könnten, um
vom Boden eine Krume
aufzupicken. Er ist gierig, zu
allem entschlossen und
bewundernswert.
San Michele, Venezia
Ein schwarzer Friedhofskater, der
uns ansah, lange, seinen Nacken
sträubte, denkbar kurz zum Kacken
innehielt, alsdann leger,
graziös, auf eine Mauer sprang,
von der aus er den Wellengang
betrachtet hat, wir fanden das
beeindruckend – es hatte was.
Zugleich zu leicht, zu viel, zu schwer.
Da das Tier und dort das Meer.
Die Toteninsel – und wir zwei.
Als hätte nichts mit nichts zu tun,
als wäre alles schon vorbei –
und würde heimlich in sich ruhn.
■
komasaufen?
amoklaufen?
zwischen beiden
sich entscheiden
müssen, weist
doch hin, zumeist,
auf einen zwang
zum schaffensdrang,
der mit sich kein
zufriedensein
in dieser welt
für möglich hält.
■
nach den träumen nüchtern,
das fest kaum mehr
als schmerz vorhanden,
jeden spiegel bitten:
zeig mir, einmal noch,
mein bild, dann
stürz ich mich hinein.
■
noch was machen wollen vor dem schlaf
machen wollen etwas schönes etwas
kleines schönes nein heut nacht
nichts großes mehr nur irgendwas
noch machen vor dem schlaf
ich hab die nacht
allein verbracht
an dich gedacht
gedicht gemacht
hier bitte schön
■
wär ich am ende, verrotten, verkauft,
hätte sogar die grammatik versauft
und läg mit zerlöcherten taschen
gebranntweint zwischen zwei flaschen,
von denen eine schon leer,
die andere erst zu leeren wär,
ich hätte doch vergangenheit
und zukunft noch,
ein bißchen von dem
und ein bißchen von dem.
■
Weine bitte leiser –
dieser Ort ist voller
Geister toter Kaiser,
die alleine weinen wollen.
Gibt auch keinen guten
Grund zu weinen: Bist nicht
tot, mußt nicht mal bluten,
lungerst oben noch im Licht,
darfst, in Rom, am Leben
sein, das ist so groß –
weißt du was? Daneben
ist der Rest bedeutungslos.
Mach was draus. Sei Kaiser –
oder eben etwas leiser.
■
turin ist eine gute stadt,
um den verstand, den dir das leben
im lauf der zeit geliehen hat,
wie ein kostüm zurückzugeben.
nackter irrsinn kann ein fest
in würdiger umgebung sein.
entblößt, erlöst, den letzten rest
von contenance hinauszuschrein –
die ritterrüstung sprache wieder
loszuwerden, die erschleichung
neuen säuglingsglücks. exil.
das ende der verbrauchten lieder.
durchdachte flucht im großen stil.
vielleicht auch nur: gehirnerweichung.
klum-selektion
ihr blick ist vom vorüberziehn an linsen
so leer, als wäre zwischen kinn und stirn
nur werbefläche – mittendrin ein grinsen –
und hinter allen stirnen kein gehirn.
der fohlengang auf hohen schuhen wühlt,
derweil man noch berät, wer besser ging
und besser geht, in meinem mitgefühl,
der anlaß, zugegeben, scheint gering.
gören gieren nach viel geld, viel näher
kommen sie der kohle nie. die eine
mit persönlichkeit, die kam ja eher
nicht so weit. bin fassungslos. ich meine –
statt ein sonett zu schreiben, will ich wissen,
wer heut ein foto hat und wer verschissen.
■
welche helden, wenn nicht wir,
brannten drunten tief im feuer,
links von uns das ungetier,
rechts von uns die ungeheuer?
wann denn bitte, wenn nicht dann,
hätten wir ins licht gesehn,
gestaunt, wie man nur staunen kann,
beim bis zum hals im feuer stehn.
freunde, so, wie das mal war,
wird es nie mehr wieder sein,
sei denn, wir würden einst erwachen,
aus unsrer asche, wunderbar
verjüngt, um frech im sonnenschein
ganz neue flammen zu entfachen.
■
Dies ist ein Gedicht.
Es reimt sich aber nicht.
Es plätschert so dahin,
letztendlich ohne Sinn.
Es möchte Zeilen schinden,
Epochen gar verbinden,
mit einem großen Bogen.
Doch tut es das ja nicht.
Das kleine Scheiß-Gedicht
ist einfach nur verlogen.
■
Wenn vom Meer am Abend kühle
Winde wehen, denen Kranke
ihre Wunden zeigen, denke
ich an dich. Und wenn das Land
um Atem ringt, am Mittag, auch.
Die Möwen schreien oder lachen.
Niemand weiß das so genau.
Wohl nicht einmal die Vögel selbst.
Schreien oder Lachen – beides
ist ja selten ganz verkehrt.
Die Gischt im neuen Morgen, dieser
Glitzertanz aus Nichts und Licht,
erinnert nur noch mehr an dich.
Verzeih, das ist schon bös gemeint.
Wenn du auch fehlst, bin ich erlöst.
■
vollmond. dorf und schnee. der spielzeugladen
bietet, wenn er aufhat, blechsoldaten
zum halben preis an, toll. doch jetzt hat hier
nur noch der postwirt offen = gösser-bier,
jukebox undn kippenautomaten.
senf mit würschtln auch, der schweinebraten
ist schon aus, und lina sagt: komm, kauf mir
eine schachtel dames, rauchen wir!
kriegstn kuß dafür, wennst willst, mit zunge!
dames spricht sie aus wie lahmes. junge
geschäftemacherin und ihrer schönheit
schon bewußt, mit zwölf, die keimzeit
eines merkantilen eros, dreißig
schilling wert, ich liebe sie, und fleißig,
vor kälte zitternd, rauchen wir den großmond
an, ich krieg den zungenkuß, belohnt
bin ich und außer mir, so rein, so stark
war das, in einem dorf der steiermark,
neunzehnhundertsechsundsiebzig.
■
wieder ist es mitternacht.
ich hab den bösen langen tag
zuletzt herum- und umgebracht,
getötet mit dem zwölften schlag.
jenes gestern wirft noch schatten
ziellos durch die stillen zimmer,
stunden, die ihr leben hatten,
laufen auf und ab, für immer,
verlieren ihre bilder, leiden,
laufen leer und lernen schweigen
wie wir menschen, wie wir beiden,
in dem elend tristen reigen
toter tage nach dem kleinen
glück der zeit, um das wir weinen.
■
warten auf worte
im garten des neuen
die blüte im unkraut
ich brüte und warte
auf worte im garten.
beharre auf ordnung
und starre ins chaos.
ich hasse, was wurde
und lass es nicht los.
zu leben ist alles.
■
an einem sonn- und sonnentag,
im frühen sommer, sah ich sie
zum ersten mal, am see, sie lag
im gras und las, ich hätte nie
gewagt, zu fragen, was, und wär
so gern mit ihr allein gewesen
auf der welt, und sah sie sehr
verstohlen an beim lustlos-lesen.
sie ließ das buch oft sinken, um
den blick ins leere blau zu heben,
rieb ihr kinn und seufzte leise.
als sei sie für das buch zu dumm.
und auf ganz rätselhafte weise
hat ein moment, der vorderhand
pointenlos versank im sand
der zeit, mir ziemlich viel gegeben.
Aus der Reihe: Kafkas Opfer. Heute: gregor s.
als ich in sein zimmer trat,
fand ich gregor schon verwandelt.
wußte weder, was ich tat,
noch, daß es sich um gregor handelt.
simsilibim
sicher hätt’ er drum gebeten,
ihn zu erlösen, einzuschläfern.
ich habe ihn, was man mit käfern
halt so tut – spontan zertreten.
sumsulubum
seither find ich kaum noch ruh,
fühl mich schuldig, geh in bars,
randaliere, sauf mich zu
semselebem
und brülle: nur ein käfer wars,
kein mensch. schuld hat der literat,
der gregor soviel böses tat.
samsalabam
■
täglich begegnen dir mindestens dreizehn
reizende frauen, benutzt du die u-bahn
in einer der größeren städte, an allen
wirst du, diskret und zu feige, vorbeigehn,
du ahnst es und ahnst es, so vieles ist
heute so grad noch – doch bald nicht mehr
möglich, du weißt es und weißt es.
■
ungare laschsuppe, teller fünf eus,
wie schlecht gewürztes nasenblut,
klar wär man in stalingrad drum froh
gewesen, das zu schlürfen, denn von
fressen kann die rede, bei nur
einem fleischstück, eigentlich
nicht sein, und nur touristen zahlen
dafür am gendarmenmarkt,
die morgen nicht mehr da sein werden,
den koch zu foltern. wir jedoch,
wir hungrigen, verspottet, mußten
los, konzert, musik war uns
bekannt, dem dirigenten auch
so halb, den abend voller wut
beendete um mitternacht
mein satz aus trotz: jetzt laßt uns noch
zum potzplatz gehn, ins spielcasino.
welche schnapsidee! indes –
es hätte ja auch anders laufen
können, trösteten die freunde.
keiner sei gestorben oder
schwer verletzt.
■
mir wurde niemals irgendeine
illusion geraubt, ich hab sie
alle nach und nach im pfandhaus
abgegeben und bekam –
für jede etwas weniger.
und als mir keine illusion
geblieben war, erwies sich ja
auch das als eine, nur zu geld
zu machen war sie
nicht mehr, nein.
recherche 6
nach einer erfüllenden suche tatsächlich
die wahrheit zu finden, beendet das glück.
der sieg, den man feiert, betäubt nur die einsicht,
daß irgendwas war – es kehrt nie zurück.
■
silhouetten der großen kräne am morgen,
vom frost auf die kräne geklebte krähen,
blau-schwarze risse im dunkel, draus
schält sich ein himmel, das ende der
freiheit, nichts sehen zu müssen.
man sagt dann so dinge wie rom
ging unter, doch ich bisher nicht,
so lächerlich wichtige sätze im
halbschlaf, man müßte uns lieben
dafür und für anderes auch,
tolstoi sagte, es seien zwar alle
menschen bislang gestorben, doch
keiner von denen sei tolstoi gewesen.
ach tolstoi.
■
die von regentropfen feuchte
zigarette rauchen, zwischen
zitterfingern jene glut,
die um jeden millimeter
des papiers noch kämpft. so ist,
wie ich vor jahren einmal schrieb,
in einem gleichnis gut beschrieben.
jedesmal ein omen wars,
wenn das blättchen riß und platzte,
der saft der tabakfäden bitter
schmeckte, krümel sich verfingen
in den zähnen, sich verfärbten,
und die glut, mit einem leisen
zischen oder, lautlos fast,
erlosch.
■
ein weißes blatt
birgt potential
und was es mal
zu tragen hat,
ob randnotat,
ob großgedicht –
das weiß es nicht.
es sieht dich an –
so ganz genau –
wie eine frau
den ersten mann.
es läßt dich ran
und schweigt dazu.
sonst schwiegest du.
■
nichts ist ferner als versäumtes,
nichts so nahe wie sein schatten,
der leb- und formlos lange schatten
des versäumten, der uns immer
wieder streift, damit wir ja
auch nichts von dem jemals vergessen,
was wir aber doch nie hatten.
war es denn die möglichkeit?
nur, weil wir es hätten haben
können, brennt es sich in unsre
haut, und brennt nicht mal, die schatten
sind nicht heiß noch kalt. nur alt
und traurig, ohne ziel und zeit.
■
Oben bei den Sternen wohnt
die Poesie, für die es sich
zu schreiben und zu sterben lohnt.
Unten die Gemeinheit, die mich
kitzelt, peitscht und blutig beißt,
sich laut an meiner Schwäche freut,
die manchmal Zucker, aber meist
nur Salz in meine Wunden streut.
Die Kioskfrau erwähnt, daß ihre
Tochter meine Verse in der
Schule eifrig diskutiere.
Freut mich. Bis ich höre, daß
der Lehrer alt, ein böser Schinder
sei, gefürchtet und gehaßt.
■
die mädchen, die uns mit so wenig
so viel hätten geben können, die uns
nichts und, ohne es zu wissen,
alles gaben – gepriesen seien sie.
■
sonnenaufgangsharfen klirren
reifbehangen. klänge aus
metall.