Helmut Krausser

VERSTAND & KÜRZUNGEN

Gedichte

 

NEUE GEDICHTE

Ich zähle 20.000 Krieger

im Lager der Feinde.

Nur einen in meinem.

Mich.

Die Chancen stehn pari.

Die Schlacht geht weiter.

morgenzigarette,

rom. im stehn, am tresen

die rosa sportgazette

überblättern/lesen.

gran caffè con latte.

knacken und geknister

einer schellackplatte.

der tenor von trister

stimme lobt die liebe.

passanten stehn und lauschen.

dazwischen taschendiebe,

die beutestücke tauschen.

verstorbenen tenören

und eben frisch beklauten

touristen zuzuhören,

war groß, in rom, im lauten

morgenmenschenstrom.

Ich summte in Madrid

mal eine Melodie,

und du erkanntest sie

und summtest leise mit.

So summten wir zusammen.

Beim Zusammen-Summen

zeitgleich zu verstummen,

weil wir zwei in Flammen

standen – das – war groß,

ku- & fu- & glo-rios.

Folgte: Hadsch d’Amour –

Venedig, dann Paris.

Folgte: Das und dies.

Viel Klein-Gemeines. Nur

zwei Sommer summten wir

unsre Melodie.

Mitunter sing ich sie

allein. Die Zeit mit dir,

vom Ende abgesehn –

in summa – war doch schön.

War heute bei meinem

ersten Treffen der

Anonymen Größten Lyriker

aller Zeiten.

Außer mir nur

geisteskranke Scharlatane da.

Doch einen, den fand ich

doch rührend.

Er hielt sich

allen Ernstes für:

mich.

Und sah mir gar ähnlich.

Zugegeben:

Der Mensch war mehr ich,

als ich selbst es noch bin.

Er las einige meiner besten

Gedichte laut vor. Auswendig.

Ich applaudierte ihm. Als einziger.

Da sah er zu mir her

und runzelte die Stirn.

Gemeinsam verließen wir

das Gebäude. Er zeigte

ständig mit dem Finger

auf meinen Kopf und drohte,

daß er mich verklagen wird.

Es sei, sagte er, eine

Frechheit von mir,

so herumzulaufen, mit diesem

schlecht gefälschten Schädel.

Ich kann kaum eines

meiner Gedichte auswendig,

werde vor Gericht chancenlos

sein, aber: Warum auf was bestehen,

das keinen Bestand hat?

Soll er halt machen. Egal.

Ein Spatz von Spatzengröße ist

nicht frech noch klein noch süß.

Todesmutig landet er

zwischen allen Stiefeln,

die ihn zertreten könnten, um

vom Boden eine Krume

aufzupicken. Er ist gierig, zu

allem entschlossen und

bewundernswert.

San Michele, Venezia

Ein schwarzer Friedhofskater, der

uns ansah, lange, seinen Nacken

sträubte, denkbar kurz zum Kacken

innehielt, alsdann leger,

graziös, auf eine Mauer sprang,

von der aus er den Wellengang

betrachtet hat, wir fanden das

beeindruckend – es hatte was.

Zugleich zu leicht, zu viel, zu schwer.

Da das Tier und dort das Meer.

Die Toteninsel – und wir zwei.

Als hätte nichts mit nichts zu tun,

als wäre alles schon vorbei –

und würde heimlich in sich ruhn.

komasaufen?

amoklaufen?

zwischen beiden

sich entscheiden

müssen, weist

doch hin, zumeist,

auf einen zwang

zum schaffensdrang,

der mit sich kein

zufriedensein

in dieser welt

für möglich hält.

nach den träumen nüchtern,

das fest kaum mehr

als schmerz vorhanden,

jeden spiegel bitten:

zeig mir, einmal noch,

mein bild, dann

stürz ich mich hinein.

noch was machen wollen vor dem schlaf

machen wollen etwas schönes etwas

kleines schönes nein heut nacht

nichts großes mehr nur irgendwas

noch machen vor dem schlaf

ich hab die nacht

allein verbracht

an dich gedacht

gedicht gemacht

hier bitte schön

wär ich am ende, verrotten, verkauft,

hätte sogar die grammatik versauft

und läg mit zerlöcherten taschen

gebranntweint zwischen zwei flaschen,

von denen eine schon leer,

die andere erst zu leeren wär,

ich hätte doch vergangenheit

und zukunft noch,

ein bißchen von dem

und ein bißchen von dem.

Weine bitte leiser –

dieser Ort ist voller

Geister toter Kaiser,

die alleine weinen wollen.

Gibt auch keinen guten

Grund zu weinen: Bist nicht

tot, mußt nicht mal bluten,

lungerst oben noch im Licht,

darfst, in Rom, am Leben

sein, das ist so groß –

weißt du was? Daneben

ist der Rest bedeutungslos.

Mach was draus. Sei Kaiser –

oder eben etwas leiser.

turin ist eine gute stadt,

um den verstand, den dir das leben

im lauf der zeit geliehen hat,

wie ein kostüm zurückzugeben.

nackter irrsinn kann ein fest

in würdiger umgebung sein.

entblößt, erlöst, den letzten rest

von contenance hinauszuschrein –

die ritterrüstung sprache wieder

loszuwerden, die erschleichung

neuen säuglingsglücks. exil.

das ende der verbrauchten lieder.

durchdachte flucht im großen stil.

vielleicht auch nur: gehirnerweichung.

klum-selektion

ihr blick ist vom vorüberziehn an linsen

so leer, als wäre zwischen kinn und stirn

nur werbefläche – mittendrin ein grinsen –

und hinter allen stirnen kein gehirn.

der fohlengang auf hohen schuhen wühlt,

derweil man noch berät, wer besser ging

und besser geht, in meinem mitgefühl,

der anlaß, zugegeben, scheint gering.

gören gieren nach viel geld, viel näher

kommen sie der kohle nie. die eine

mit persönlichkeit, die kam ja eher

nicht so weit. bin fassungslos. ich meine –

statt ein sonett zu schreiben, will ich wissen,

wer heut ein foto hat und wer verschissen.

welche helden, wenn nicht wir,

brannten drunten tief im feuer,

links von uns das ungetier,

rechts von uns die ungeheuer?

wann denn bitte, wenn nicht dann,

hätten wir ins licht gesehn,

gestaunt, wie man nur staunen kann,

beim bis zum hals im feuer stehn.

freunde, so, wie das mal war,

wird es nie mehr wieder sein,

sei denn, wir würden einst erwachen,

aus unsrer asche, wunderbar

verjüngt, um frech im sonnenschein

ganz neue flammen zu entfachen.

Dies ist ein Gedicht.

Es reimt sich aber nicht.

Es plätschert so dahin,

letztendlich ohne Sinn.

Es möchte Zeilen schinden,

Epochen gar verbinden,

mit einem großen Bogen.

Doch tut es das ja nicht.

Das kleine Scheiß-Gedicht

ist einfach nur verlogen.

Wenn vom Meer am Abend kühle

Winde wehen, denen Kranke

ihre Wunden zeigen, denke

ich an dich. Und wenn das Land

um Atem ringt, am Mittag, auch.

Die Möwen schreien oder lachen.

Niemand weiß das so genau.

Wohl nicht einmal die Vögel selbst.

Schreien oder Lachen – beides

ist ja selten ganz verkehrt.

Die Gischt im neuen Morgen, dieser

Glitzertanz aus Nichts und Licht,

erinnert nur noch mehr an dich.

Verzeih, das ist schon bös gemeint.

Wenn du auch fehlst, bin ich erlöst.

vollmond. dorf und schnee. der spielzeugladen

bietet, wenn er aufhat, blechsoldaten

zum halben preis an, toll. doch jetzt hat hier

nur noch der postwirt offen = gösser-bier,

jukebox undn kippenautomaten.

senf mit würschtln auch, der schweinebraten

ist schon aus, und lina sagt: komm, kauf mir

eine schachtel dames, rauchen wir!

kriegstn kuß dafür, wennst willst, mit zunge!

dames spricht sie aus wie lahmes. junge

geschäftemacherin und ihrer schönheit

schon bewußt, mit zwölf, die keimzeit

eines merkantilen eros, dreißig

schilling wert, ich liebe sie, und fleißig,

vor kälte zitternd, rauchen wir den großmond

an, ich krieg den zungenkuß, belohnt

bin ich und außer mir, so rein, so stark

war das, in einem dorf der steiermark,

neunzehnhundertsechsundsiebzig.

wieder ist es mitternacht.

ich hab den bösen langen tag

zuletzt herum- und umgebracht,

getötet mit dem zwölften schlag.

jenes gestern wirft noch schatten

ziellos durch die stillen zimmer,

stunden, die ihr leben hatten,

laufen auf und ab, für immer,

verlieren ihre bilder, leiden,

laufen leer und lernen schweigen

wie wir menschen, wie wir beiden,

in dem elend tristen reigen

toter tage nach dem kleinen

glück der zeit, um das wir weinen.

warten auf worte

im garten des neuen

die blüte im unkraut

ich brüte und warte

auf worte im garten.

beharre auf ordnung

und starre ins chaos.

ich hasse, was wurde

und lass es nicht los.

zu leben ist alles.

an einem sonn- und sonnentag,

im frühen sommer, sah ich sie

zum ersten mal, am see, sie lag

im gras und las, ich hätte nie

gewagt, zu fragen, was, und wär

so gern mit ihr allein gewesen

auf der welt, und sah sie sehr

verstohlen an beim lustlos-lesen.

sie ließ das buch oft sinken, um

den blick ins leere blau zu heben,

rieb ihr kinn und seufzte leise.

als sei sie für das buch zu dumm.

und auf ganz rätselhafte weise

hat ein moment, der vorderhand

pointenlos versank im sand

der zeit, mir ziemlich viel gegeben.

Aus der Reihe: Kafkas Opfer. Heute: gregor s.

als ich in sein zimmer trat,

fand ich gregor schon verwandelt.

wußte weder, was ich tat,

noch, daß es sich um gregor handelt.

simsilibim

sicher hätt’ er drum gebeten,

ihn zu erlösen, einzuschläfern.

ich habe ihn, was man mit käfern

halt so tut – spontan zertreten.

sumsulubum

seither find ich kaum noch ruh,

fühl mich schuldig, geh in bars,

randaliere, sauf mich zu

semselebem

und brülle: nur ein käfer wars,

kein mensch. schuld hat der literat,

der gregor soviel böses tat.

samsalabam

täglich begegnen dir mindestens dreizehn

reizende frauen, benutzt du die u-bahn

in einer der größeren städte, an allen

wirst du, diskret und zu feige, vorbeigehn,

du ahnst es und ahnst es, so vieles ist

heute so grad noch – doch bald nicht mehr

möglich, du weißt es und weißt es.

ungare laschsuppe, teller fünf eus,

wie schlecht gewürztes nasenblut,

klar wär man in stalingrad drum froh

gewesen, das zu schlürfen, denn von

fressen kann die rede, bei nur

einem fleischstück, eigentlich

nicht sein, und nur touristen zahlen

dafür am gendarmenmarkt,

die morgen nicht mehr da sein werden,

den koch zu foltern. wir jedoch,

wir hungrigen, verspottet, mußten

los, konzert, musik war uns

bekannt, dem dirigenten auch

so halb, den abend voller wut

beendete um mitternacht

mein satz aus trotz: jetzt laßt uns noch

zum potzplatz gehn, ins spielcasino.

welche schnapsidee! indes –

es hätte ja auch anders laufen

können, trösteten die freunde.

keiner sei gestorben oder

schwer verletzt.

mir wurde niemals irgendeine

illusion geraubt, ich hab sie

alle nach und nach im pfandhaus

abgegeben und bekam –

für jede etwas weniger.

und als mir keine illusion

geblieben war, erwies sich ja

auch das als eine, nur zu geld

zu machen war sie

nicht mehr, nein.

recherche 6

nach einer erfüllenden suche tatsächlich

die wahrheit zu finden, beendet das glück.

der sieg, den man feiert, betäubt nur die einsicht,

daß irgendwas war – es kehrt nie zurück.

silhouetten der großen kräne am morgen,

vom frost auf die kräne geklebte krähen,

blau-schwarze risse im dunkel, draus

schält sich ein himmel, das ende der

freiheit, nichts sehen zu müssen.

man sagt dann so dinge wie rom

ging unter, doch ich bisher nicht,

so lächerlich wichtige sätze im

halbschlaf, man müßte uns lieben

dafür und für anderes auch,

tolstoi sagte, es seien zwar alle

menschen bislang gestorben, doch

keiner von denen sei tolstoi gewesen.

ach tolstoi.

die von regentropfen feuchte

zigarette rauchen, zwischen

zitterfingern jene glut,

die um jeden millimeter

des papiers noch kämpft. so ist,

wie ich vor jahren einmal schrieb,

in einem gleichnis gut beschrieben.

jedesmal ein omen wars,

wenn das blättchen riß und platzte,

der saft der tabakfäden bitter

schmeckte, krümel sich verfingen

in den zähnen, sich verfärbten,

und die glut, mit einem leisen

zischen oder, lautlos fast,

erlosch.

ein weißes blatt

birgt potential

und was es mal

zu tragen hat,

ob randnotat,

ob großgedicht –

das weiß es nicht.

es sieht dich an –

so ganz genau –

wie eine frau

den ersten mann.

es läßt dich ran

und schweigt dazu.

sonst schwiegest du.

nichts ist ferner als versäumtes,

nichts so nahe wie sein schatten,

der leb- und formlos lange schatten

des versäumten, der uns immer

wieder streift, damit wir ja

auch nichts von dem jemals vergessen,

was wir aber doch nie hatten.

war es denn die möglichkeit?

nur, weil wir es hätten haben

können, brennt es sich in unsre

haut, und brennt nicht mal, die schatten

sind nicht heiß noch kalt. nur alt

und traurig, ohne ziel und zeit.

Oben bei den Sternen wohnt

die Poesie, für die es sich

zu schreiben und zu sterben lohnt.

Unten die Gemeinheit, die mich

kitzelt, peitscht und blutig beißt,

sich laut an meiner Schwäche freut,

die manchmal Zucker, aber meist

nur Salz in meine Wunden streut.

Die Kioskfrau erwähnt, daß ihre

Tochter meine Verse in der

Schule eifrig diskutiere.

Freut mich. Bis ich höre, daß

der Lehrer alt, ein böser Schinder

sei, gefürchtet und gehaßt.

die mädchen, die uns mit so wenig

so viel hätten geben können, die uns

nichts und, ohne es zu wissen,

alles gaben – gepriesen seien sie.

sonnenaufgangsharfen klirren

reifbehangen. klänge aus

metall.