Linda Howard
Liebesnächte in Mexiko
Aus dem Amerikanischen von Emma Luxx
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieses ebooks © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Midnight Rainbow
Copyright © 1986 by Linda Howington
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN Ebook: 978-3-955-76601-6
www.mira-taschenbuch.de
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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Du bist wirklich zu alt für so einen Blödsinn, dachte Grant Sullivan verärgert. Warum zum Teufel kroch er hier herum, wo er sich doch geschworen hatte, nie mehr im Leben einen Dschungel zu betreten? Er war beauftragt worden, eine Tochter aus reichem Hause zu retten, aber jetzt, nach zwei Tagen, wurde er den Eindruck nicht los, dass die junge Dame gar nicht gerettet werden wollte. Im Gegenteil, sie schien ihr derzeitiges Leben, das aus Lachen, Flirten und am Swimmingpool in der Sonne brutzeln bestand, in vollen Zügen zu genießen. Morgens schlief sie lange, dann stand sie auf und setzte sich zum Frühstück in den mit Steinplatten belegten Patio, wo sie den neuen Tag mit einem Glas Champagner begrüßte, während ihr Vater mittlerweile fast von Sinnen war vor Sorge um seine Tochter, weil er die Befürchtung hegte, ihre Entführer könnten sie schlimmsten Folterqualen unterziehen.
Der Einzige, der hier gefoltert wird, bist du, dachte Grant mit wachsender Verärgerung und schlug um sich, um sich der Moskitos, die ein williges Opfer gefunden zu haben glaubten, zu erwehren. Der Schweiß lief ihm in Strömen über den Rücken, und seine Beine schmerzten vom langen Sitzen. Eben, als er seine Marschverpflegung heruntergewürgt hatte, war ihm wieder einmal aufgegangen, wie sehr er Marschverpflegung hasste. Die Schwüle bewirkte, dass sich seine Narben bemerkbar machten, und er hatte nicht wenige davon. Nein, es gab keinen Zweifel, er war definitiv zu alt für so einen Job.
Er war jetzt achtunddreißig und hatte gut die Hälfte seines Lebens irgendwo, in irgendeinem Krieg, verbracht. Mit der Zeit war er müde geworden, so müde, dass er sich schließlich nur noch gewünscht hatte, jeden Morgen in demselben Bett aufzuwachen. Er war ausgebrannt und sehnte sich nach nichts weiter als nach Ruhe.
Nicht, dass er sich nun in die Berge in eine Höhle zurückgezogen hätte, aber immerhin hatte er daran gedacht. Stattdessen hatte er sich eine heruntergewirtschaftete Farm in Tennessee gekauft und sie wieder auf Vordermann gebracht. Er war ausgestiegen und hatte sein altes Leben hinter sich gelassen, doch offensichtlich nicht weit genug, um nicht ab und zu aufgestöbert zu werden. Immer wenn bei einem Fall Dschungelerfahrung gefragt war, erinnerten sich seine ehemaligen Vorgesetzten beim Geheimdienst an Grant Sullivan.
Ein Geräusch auf dem Patio riss ihn aus seinen Gedanken, und er schob vorsichtig ein großes Blatt beiseite, um sein Gesichtsfeld zu erweitern. Da kam sie, leicht bekleidet wie stets, mit Sandaletten an den nackten Füßen, in der einen Hand einen kühlen Drink und in der anderen ein Buch. Ihr Gesicht war fast zur Hälfte von einer überdimensionalen Sonnenbrille verdeckt, doch als sie jetzt den Wachen lächelnd zuwinkte, während sie sich in den Liegestuhl am Pool gleiten ließ, sah er ihre Grübchen.
Verdammt noch mal, warum hatte sie unbedingt umherreisen und aller Welt ihre „Unabhängigkeit“ beweisen müssen, anstatt schön brav zu Hause unter Daddys Fittichen zu bleiben? Dann wäre das alles nicht passiert, und er, Grant, säße jetzt nicht hier, sondern könnte in aller Gemütsruhe auf seiner Farm herumwerkeln. Aber anscheinend hatte sie ein bemerkenswertes Talent, sich in gefährliche Situationen zu bringen.
Verdammt noch mal, ihr schien gar nicht klar zu sein, dass sie eine zentrale Rolle in einer hässlichen Spionagegeschichte spielte, in die mindestens drei Regierungen und verschiedene revolutionäre Splittergruppen verwickelt waren. Sie alle waren auf der Suche nach einem verschwundenen Mikrofilm. Das Einzige, was ihr bisher das Leben gerettet hatte, war der Umstand, dass sich niemand so genau darüber im Klaren war, wie viel sie wusste. War sie in George Persalls Spionageaktivitäten verwickelt, oder war sie einfach nur seine Geliebte gewesen? Wusste sie, wo sich der Mikrofilm jetzt befand, oder hatte ihn Luis Marcel an sich gebracht? Sicher war nur, dass sich der Film noch kurz vor George Persalls Tod in dessen Besitz befunden hatte. Doch nachdem Persall einer Herzattacke erlegen war – und zwar in ihrem Schlafzimmer – war der Film nicht mehr auffindbar gewesen. Hatte Persall ihn bereits vorher an Luis Marcel weitergegeben? Marcel war zwei Tage vor Persalls Tod untergetaucht, ob mit oder ohne den Film, war ungeklärt. Die Amerikaner waren hinter besagtem Film nicht weniger her als die Russen und die Sandinisten sowie alle möglichen Rebellengrüppchen in Zentral- und Südamerika. Teufel noch mal, dachte Sullivan jetzt, wahrscheinlich sind sogar die Eskimos scharf auf das Ding.
Und wer hätte jemals gedacht, dass George Persall, ein honoriger Geschäftsmann, der vorwiegend in Costa Rica seine Geschäfte tätigte, in Spionageaktivitäten verwickelt war? Das Einzige, was an ihm von jeher auffällig gewesen war, war seine Schwäche für auffallend attraktive, langbeinige „Sekretärinnen“, doch das war weiß Gott nichts Außergewöhnliches. Und dann war George, der zwar nicht mehr der Jüngste war, vor Gesundheit aber nur so strotzte, plötzlich einer Herzattacke erlegen … und der Mikrofilm war verschwunden. Jetzt herrschte bei den Amerikanern Alarmstufe eins, weil sie befürchteten, dass die Informationen über eine neu entwickelte Laserwaffe, die sich auf dem Film befand, in unbefugte Hände fallen könnten.
Manuel Turego, der Geheimdienstchef von Costa Rica, hatte am schnellsten geschaltet, indem er sich, ohne lange herumzufackeln, Priscilla Jane Hamilton Greer geschnappt und sie auf seine schwer bewachte Plantage in Costa Rica verschleppt hatte. Vielleicht hatte er ihr ja weisgemacht, er würde sie in „Sicherheitsverwahrung“ nehmen, und sie war möglicherweise naiv genug gewesen, ihm das abzukaufen und ihm dafür auch noch dankbar zu sein. Sicher war Turego schlau genug, um die Sache mit viel Fingerspitzengefühl anzugehen, denn zweifellos war ihm bekannt, dass Priscilla Jane Hamilton Greers Vater ein reicher Mann war, der zudem über eine Menge Einfluss verfügte. Turego hatte sich offensichtlich entschlossen abzuwarten, bis entweder Luis Marcel oder irgendeine Spur von dem Mikrofilm wieder auftauchte, und währenddessen hatte er Priscilla sozusagen als Unterpfand.
Nachdem James Hamilton erfahren hatte, dass sich seine Tochter in Turegos Gewalt befand, hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie freizubekommen, doch die amerikanische Regierung war wild entschlossen, ihre diplomatischen Beziehungen erst dann spielen zu lassen, wenn sich von Luis Marcel eine Spur gefunden hatte.
Da sich die Sache immer mehr in die Länge gezogen hatte, war James Hamilton schließlich verzweifelt genug gewesen, um die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, und so war er, Grant, ins Spiel gekommen. Hamilton hatte seine Verbindungen zum Geheimdienst genutzt, wo Grants ehemalige Kollegen ihm unter der Hand den Tipp gaben, sich an ihn zu wenden. Und er hatte sich idiotischerweise breitschlagen lassen, Priscilla Jane Hamilton Greer aus den Fängen ihrer Entführer zu befreien.
Sie hier auf der Plantage aufzuspüren, war geradezu lächerlich einfach gewesen, und Kell Sabin, dem Eiswasser statt Blut durch die Adern rann und den er noch aus alten Zeiten kannte, hatte ihm dabei gute Dienste geleistet.
So war er also jetzt hier im tiefsten Regenwald von Costa Rica. Dass die Grenze zu Nicaragua verdammt nah war, war nicht gerade ein Trost, weil umherschweifende Rebellentrupps, Revolutionäre oder auch einfach nur Terroristen die Gegend unsicher machten und man immer darauf gefasst sein musste, sich plötzlich einer Gruppe schwer bewaffneter Männer – oder auch Frauen – gegenüberzusehen. Priscilla jedoch schien diese Tatsache nicht im Mindesten zu berühren. Sie nippte Tag für Tag ungeachtet aller Gefahren, die im Dschungel lauerten, an ihren Eisdrinks und aalte sich in der Sonne.
Nun, er hatte genug gesehen. Heute Nacht würde er zuschlagen. Mittlerweile kannte er sowohl ihren Tagesablauf als auch den der Wachen bis ins letzte Detail und hatte sich seinen Plan genauestens zurechtgelegt. Das Einzige, was ihn störte, war, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihn in der Nacht auszuführen, denn die Aussicht, hinterher mit ihr in der Finsternis durch den Dschungel zu stolpern, fand er nicht sonderlich erheiternd, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Da sie morgens lange zu schlafen pflegte, würde sich niemand etwas dabei denken, wenn sie bis elf Uhr vormittags noch nicht aufgetaucht war. Bis dahin würden sie über alle Berge sein, weil Pablo sie mit seinem Helikopter kurz nach Sonnenaufgang an einer bestimmten Stelle, die sie genau abgesprochen hatten, einsammeln würde.
Grant rutschte vorsichtig auf Knien rückwärts tiefer in den Dschungel hinein, bis ihn ein dichter grüner Blättervorhang von dem Haus abschirmte. Erst dann richtete er sich auf und begann, aufmerksam nach Tretminen Ausschau haltend, um das Anwesen herumzuschleichen, um sich die örtlichen Gegebenheiten noch ein letztes Mal bei Tageslicht genau einzuprägen. Er wusste, wo Priscilla schlief, und er wusste auch, wie er in ihr Zimmer gelangen konnte. Der Zeitpunkt für die geplante „Entführung“ hätte nicht günstiger sein können, denn Turego war gestern weggefahren und bis jetzt noch nicht wieder zurückgekehrt, und Grant hoffte inständig, dass sich das auch bis nach Einbruch der Dunkelheit nicht geändert haben würde.
Stunden später fand er sich an derselben Stelle wieder, an der er am Nachmittag gekniet und Priscilla beobachtet hatte. Mittlerweile war die Dunkelheit hereingebrochen, und der Dschungel spielte zu seinem nächtlichen Konzert auf, das Grant bestens vertraut war: Affen schnatterten, Nachttiere, die sich auf die Wanderschaft machten, zirpten und raschelten im Unterholz, und irgendwo, nah beim Fluss, schrie ein Jaguar, doch Grant schenkte ihm kaum Aufmerksamkeit, so zu Hause fühlte er sich hier.
Gegen Mitternacht erhob er sich und schlich die Route, die er im Kopf wieder und wieder zurückgelegt hatte, entlang. Er bewegte sich so geschickt im Dschungel, dass ihn die Tiere nicht als einen Eindringling in ihrem Reich wahrzunehmen schienen, was ihm die Möglichkeit gab, sich voll und ganz auf eventuell vorhandene Tretminen zu konzentrieren. Zu diesem Zweck hatte er einen langen Stock in der Hand, mit dem er den Boden vor sich behutsam abtastete. Als er die ersten Ausläufer der Plantage erreicht hatte, blieb er stehen, legte den Stock beiseite und kniete sich hin, um durch das Blätterwerk in die Richtung zu spähen, die er einzuschlagen gedachte. Aus dem Haus fiel ein schwacher Lichtschein auf die Wachen, die zwar auf ihrem Posten waren, aber vor sich hindösten – bis auf einen Mann, der am Zaun langsam auf- und abging. Sie schienen in dieser gottverlassenen Gegend nicht mit unerwünschten Besuchern zu rechnen, was sie zu einer Unachtsamkeit in hohem Maße verführte, wie Grant die vergangenen drei Tage bereits beobachten konnte. Und dennoch waren sie da, und die Gewehre, die sie bei sich trugen, waren zweifellos mit scharfer Munition geladen. Einer der wichtigsten Gründe, weshalb Grant die vergangenen achtunddreißig Jahre lebend überstanden hatte, war der, dass er einen Heidenrespekt hatte vor Schusswaffen. Leichtsinn und Tollkühnheit zahlten sich niemals aus, sondern konnten einen das Leben kosten. Er wartete. Die Nacht war sternenklar, deshalb blieb ihm keine Bewegung der Männer verborgen. Ihn störte die Helligkeit nicht, es gab noch immer genug Schatten, in dessen Schutz er sich bewegen konnte.
Der Wachposten an der linken Seite des Hauses hatte sich in der ganzen Zeit, in der Grant ihm beobachtet hatte, noch keinen Millimeter von der Stelle gerührt; offensichtlich schlief er den Schlaf des Gerechten. Der andere Wachmann, der bis jetzt auf- und abgegangen war, ließ sich nun auf den Boden nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine der Säulen am Vordereingang des Hauses. Der kleine rot glühende Punkt in Nähe seiner rechten Hand sagte Grant, dass er rauchte. Seinen Gewohnheiten zufolge konnte es nun nicht mehr lange dauern, bis er sich, nachdem er seine Zigarette ausgemacht hatte, seine Baseballkappe tief in die Stirn ziehen und sanft entschlummern würde.
Leise wie ein Geist verließ Grant das schützende Dickicht und huschte, von Busch zu Busch springend, auf das Haus zu. Einen Augenblick später hatte er, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, die Veranda erklommen und drückte sich eng gegen die Hauswand, während er mit Blicken die Gegend absuchte. Alles blieb ruhig.
Priscillas Zimmer lag nach hinten hinaus. Es hatte eine große, doppelt verglaste Verandatür, die möglicherweise abgeschlossen sein würde, doch diese Tatsache bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen. Mit Schlössern kannte er sich aus. Er schlich auf die Tür zu und drückte die Klinke herunter. Sie ließ sich anstandslos öffnen. Ausgesprochen entgegenkommend von Priscilla.
Leise schob er die Tür Zentimeter für Zentimeter auf und schlüpfte lautlos durch den Spalt. Dann blieb er einen Moment stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach der mondhellen Nacht draußen erschien es ihm in dem Raum plötzlich so dunkel wie im tiefsten Dschungel.
Wenig später vermochte er bereits die ersten Umrisse zu erkennen. Das Zimmer war groß und geräumig eingerichtet, den Holzfußboden bedeckten Strohmatten. Das Bett, um das ein Moskitonetz gespannt war, befand sich an der Wand zu seiner Rechten. Durch das dünne Netz hindurch konnte Grant die Bettdecke sehen, unter der sich ein sanfter Hügel abzeichnete. Zu seiner Linken wurden die Schatten tiefer, aber er konnte eine Tür erkennen, bei der es sich wahrscheinlich um die Badezimmertür handelte, und an der Wand einen großen Kleiderschrank. Langsam und lautlos wie ein Panther tauchte er in den Schatten neben dem Kleiderschrank ein. Jetzt sah er neben dem Bett, in dem sie schlief, einen Stuhl, über dessen Lehne ein langes weißes Kleidungsstück hing, ein Nachthemd oder ein Morgenrock. Der Gedanke, dass Priscilla womöglich nackt schlafen könnte, entlockte ihm ein kleines, schiefes Grinsen, das jedoch keine wirkliche Belustigung enthielt. Angenommen, sie schlief tatsächlich nackt, würde sie sich wehren wie eine Wildkatze, wenn er Hand an sie legte, und ganz genau das konnte er im Moment gar nicht gebrauchen. Deshalb hoffte er zu ihrer beider Bestem, dass sie zumindest irgendetwas auf dem Leibe trug.
Er trat vorsichtig näher an das Bett heran, die Augen unablässig auf die schmale Gestalt unter der Bettdecke gerichtet. Sie lag so unnatürlich still da … Plötzlich stellten sich ihm die Nackenhaare auf, und bereits eine Sekunde später warf er sich zur Seite, sodass ihn der Handkantenschlag an der Schulter traf und nicht im Nacken. Er rollte über den Fußboden, und als er wieder auf die Füße kam, erwartete er, seinem Angreifer von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, doch er konnte niemanden entdecken. Nichts bewegte sich, nicht einmal die Frau im Bett. Grant versuchte irgendwelche Geräusche auszumachen, ein Atmen, Kleiderrascheln oder sonst etwas, aber da war nichts. Die Stille im Raum wirkte betäubend. Wo war der Angreifer? Wie Grant hatte er sich in den Schutz der Dunkelheit zurückgezogen.
Wer war er? Und was hatte er in dem Schlafzimmer der Frau zu suchen?
Vielleicht stand er ja neben dem Kleiderschrank. Dort war es so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Grant zog das Buschmesser an seinem Gürtel aus der Scheide, schob es jedoch gleich darauf wieder zurück. Seine Hände waren genug.
Da … es war nur eine winzige Bewegung, sie genügte jedoch, um den Mann in der Dunkelheit auszumachen. Grant duckte sich zum Sprung. Einen Moment später machte er einen Satz und riss die schlanke Gestalt, deren Schatten sich dunkel neben dem Moskitonetz abzeichnete, zu Boden. Diesmal traf ihn der Handkantenschlag am Kinn, doch es gelang ihm, seinen Widersacher zu überwältigen, ein Knie auf dem Fußboden, das andere auf seiner Brust. Gerade als er zum entscheidenden Schlag ausholen wollte, um den Kampf zu beenden, spürte er unter seinem Knie etwas seltsam Weiches. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Der so merkwürdig ruhig daliegende Körper unter der Bettdecke war gar kein menschlicher Körper, sondern nur ein Haufen Decken. Die Frau war aufgestanden, als sie ihn hatte hereinschleichen sehen. Aber warum hatte sie nicht geschrien? Warum hatte sie ihn angegriffen, obwohl ihr doch hätte klar sein müssen, dass er sie überwältigen würde? Er nahm sein Knie von ihrer Brust und legte eine Hand auf die weichen Hügel, um sich davon zu überzeugen, dass sie noch atmete. Er spürte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, gleich darauf hörte er sie leise keuchen.
„Es ist alles in Ordnung“, flüsterte er, doch plötzlich begann sie sich unter ihm zu winden, und eine Sekunde später schoss ihr Knie blitzschnell hoch und krachte so schmerzhaft in seine Magengrube, dass ihm für einen Moment die Luft wegblieb. Rote Spiralnebel tanzten vor seinen Augen, und seine Hand zuckte zu seinem Bauch, während er langsam zur Seite kippte.
Sie rappelte sich keuchend auf, und er erkannte undeutlich, wie sie nach einem dunklen, ausgebeulten Gegenstand griff und damit zur Verandatür hastete. Eine Sekunde später hatte die Dunkelheit sie geschluckt.
Der panische Schreck, der ihn durchfuhr, ließ ihn seinen Schmerz vergessen. Verdammt, sie versuchte auf eigene Faust zu entkommen. Sie war dabei, alles zu ruinieren! Hastig rappelte er sich auf und sprintete hinter ihr her.
Jane versuchte mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Dort drüben musste sie hin. Jetzt floh sie weniger vor Turego als vor dem schwarzen Dämon, der versucht hatte, sie zu überwältigen. Sie rannte um ihr Leben. Seit Wochen hatte sie Pläne geschmiedet, wie sie Turego entkommen könnte, und nun war ihr Vorhaben auf eine ganz andere Art Wirklichkeit geworden, als sie erwartet hatte. Ihr Herz klopfte wie ein Presslufthammer, das Blut rauschte in ihren Ohren, und ihre Lungen schmerzten. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie den Atem anhielt. Sie holte tief Luft und rannte weiter. In dem Moment, in dem sie ins schützende Buschwerk eintauchen wollte, stolperte sie über eine Wurzel und schlug lang hin. Nackte Panik ergriff von ihr Besitz. Oh, Gott, jetzt würde sie der Angreifer überwältigen. Das Blut gefror ihr vor Schreck in den Adern, doch noch bevor sie die Kraft fand, einen Schrei auszustoßen, fühlte sie eine Hand auf ihrem Rücken. Gleich darauf fiel sie in ein tiefes schwarzes Loch.
Als ihr Bewusstsein nach und nach zurückkehrte, war es ihr im ersten Moment unmöglich, sich zu orientieren. Was war mit ihr? Wo befand sie sich? Stand sie wirklich kopf, oder bildete sie sich das nur ein? Sie fühlte sich durchgeschüttelt, als säße sie auf dem Rücken eines Pferdes, und seltsame Laute drangen an ihr Ohr, Laute, die sie nicht einordnen konnte. Selbst wenn sie die Augen öffnete, sah sie nichts als rabenschwarze Finsternis. Es musste ein Alptraum sein, und zwar der schrecklichste Alptraum ihres Lebens. Sie versuchte, ihre Arme und Beine zu bewegen, um den Traum zu beenden, doch es wollte ihr nicht gelingen. Als sie ein paar Mal hilflos hin und herzappelte wie ein Fisch im Netz, versetzte ihr jemand einen harten Klaps auf den Po.
„Beruhigen Sie sich“, drang eine schlechtgelaunte Stimme an ihr Ohr. Jane kannte die Stimme nicht, aber aus irgendeinem Grund gehorchte sie und hielt still.
Nach und nach gelang es ihr, die Dinge einzuordnen. Sie erkannte die Geräusche um sich herum wieder, und ihr wurde auch klar, dass sie nicht auf dem Rücken eines Pferdes saß, sondern über der Schulter eines Mannes lag, der sie durch den Dschungel schleppte. An Händen und Füßen war sie gefesselt, und in ihrem Mund steckte ein Knebel, sodass sie nur entweder summen oder grunzen konnte, wenn sie sich bemerkbar machen wollte. Da ihr nicht nach Summen zumute war, nutzte sie ihre eingeschränkte Stimmkraft zu einem hässlichen Grunzen, das ihre vornehme Mutter zum Erblassen gebracht hätte, um ihrer Meinung über den Mann, über dessen Schulter sie lag, Ausdruck zu verleihen. Wieder machte ihr Po Bekanntschaft mit der Handfläche des Mannes. „Seien Sie still“, grollte die Stimme. „Sie klingen wie ein grunzendes Schwein am Trog.“
Ein Amerikaner, dachte sie verblüfft. Er war Amerikaner. Bestimmt war er gekommen, um sie zu retten. Andererseits, wenn er die Absicht gehabt hätte, sie zu retten, wäre er dann wirklich so hart mit ihr umgesprungen, wie er es getan hatte? Wohl kaum. Als sie daran dachte, wie viele Gruppierungen hinter dem Mikrofilm her waren, überlief sie ein eisiger Schauer. Es hatte gar nichts zu sagen, dass er Amerikaner war, denn jedermann konnte sich schließlich einen Amerikaner für seine finsteren Zwecke anheuern.
Traue niemandem, nahm sie sich vor. Niemandem. Sie war in dieser Sache ganz auf sich allein gestellt.
Der Mann blieb stehen, ließ sie wie ein Paket von seiner Schulter rutschen und stellte sie auf den Boden. Jane zwinkerte, dann riss sie die Augen auf in der Anstrengung etwas zu sehen, doch es war so dunkel, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen erkennen konnte. Wo war er? Was führte er im Schilde? Beabsichtigte er, sie mitten im Dschungel auszusetzen, damit die Jaguare sie zum Frühstück verspeisen konnten? Instinktiv nahm sie eine Bewegung wahr, konnte sie jedoch mit nichts in Zusammenhang bringen. Ein Wimmern stieg in ihrer Kehle auf, und sie versuchte sich zu bewegen, doch als sie ins Taumeln geriet, fiel ihr ein, dass sie ja an Händen und Füßen gefesselt war.
„Bleiben Sie stehen, verdammt noch mal!“
Also war er noch da. Und er konnte sie sehen. Wieso konnte er sie sehen, wenn sie ihn doch nicht sah? Egal, was er tat oder auch nicht tat, Jane war im Moment dankbar allein für seine Anwesenheit. Es gelang ihr nicht, ihre Panik vor der Dunkelheit zu überwinden, aber die bloße Tatsache, dass er bei ihr war, hielt sie zumindest in Grenzen. Sie gab ein leises Keuchen von sich, als er sie wieder hochhob, um sie sich erneut ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung wie eine Gliederpuppe über die Schulter zu werfen.
Er bewegte sich mit traumwandlerisch anmutender Sicherheit durch die Finsternis. Ihr Kopf schlug rhythmisch gegen seinen Rücken. Vor und zurück. Vor und zurück. Als sie Übelkeit in sich aufsteigen fühlte, begann sie wie wild zu zappeln in dem verzweifelten Wunsch sich aufzurichten.
„Immer mit der Ruhe.“ Anscheinend war ihm nicht entgangen, wie sie sich fühlte, denn er blieb stehen und ließ sie sich langsam von der Schulter gleiten. Als sie schließlich auf ihren eigenen zwei Beinen stand, gelang es ihr nicht, ein Wimmern zu unterdrücken, weil ihr die Fesseln schmerzhaft in Arm- und Beingelenke schnitten. „Okay“, sagte der Mann. „Ich nehme Ihnen die Fesseln ab. Aber wenn Sie Ärger machen, schnüre ich Sie zusammen wie einen gefüllten Weihnachtstruthahn und lasse Sie hier liegen, ist das klar?“
Sie nickte, wobei sie sich ein weiteres Mal fragte, wie er sie in der Dunkelheit sehen konnte. Denn offensichtlich konnte er das wirklich, weil er jetzt die Hand nach ihr ausstreckte und sie umdrehte, um ihr mit etwas, von dem sie vermutete, dass es ein Messer war, die Fesseln an den Handgelenken aufzuschneiden. Als er ihr anschließend die Arme zu massieren begann, schossen ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen.
„Ihr Vater hat mich geschickt, um Sie hier rauszuholen“, sagte der Mann, während er sie nun behutsam von dem Knebel befreite.
Ehe Jane den Versuch zu sprechen unternahm, bewegte sie erst einmal ihre schmerzenden Kiefer einige Male mühsam vor und zurück. „Mein Vater?“, stieß sie schließlich heiser hervor.
„Ja. So, Pris, jetzt mache ich Ihnen die Fesseln an den Beinen auch noch ab, aber kommen Sie bitte nicht wieder auf die Idee, mir einen Fußtritt zu versetzen. Es würde Ihnen nicht gut bekommen.“ Obwohl sich seine Worte nur so dahingesagt anhörten, entging ihr doch nicht der drohende Unterton in seiner Stimme.
„Wenn Sie mich nicht betatscht hätten, hätte ich Ihnen auch keinen Fußtritt versetzen müssen.“
„Ich habe Sie nicht betatscht, ich wollte nur sehen, ob Sie noch atmen.“
„Davon haben Sie sich ziemlich gründlich überzeugt.“
„Sie zu knebeln war eine verdammt gute Idee“, gab er gelassen zurück, und Jane beschloss, zumindest fürs erste, besser den Mund zu halten. Sie konnte von ihm noch immer nicht mehr erkennen als einen vagen Umriss, aber seine Stimme klang entschlossen genug, um ihr zu verdeutlichen, dass er keine Hemmungen haben würde, sie erneut zu fesseln und zu knebeln, wenn er es für angebracht hielt.
Er schnitt nun auch ihre Fußfesseln auf und begann ziemlich unsanft ihre Fußgelenke zu massieren. Als er sie schließlich losließ, taumelte sie, und es dauerte einen Moment, ehe sich ihr Gleichgewichtssinn eingependelt hatte, da ihre Augen wegen der Dunkelheit nichts hatten, woran sie sich orientieren konnten.
„Wir haben es nicht mehr weit; bleiben Sie dicht hinter mir und verhalten Sie sich ruhig.“
„Halt! Warten Sie!“, flüsterte Jane verängstigt. „Wie kann ich Ihnen folgen, wenn ich Sie nicht sehe?“
Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Taille. „Hier. Halten Sie sich an meinem Gürtel fest.“
Sie tat, was er sagte, und krallte sich so fest in seinen Gürtel, dass er ein verärgertes Brummen von sich gab, doch sie dachte gar nicht daran, locker zu lassen. Nicht auszudenken, was ihr zustoßen könnte, wenn sie ihn hier mitten im stockfinsteren Dschungel verlieren würde.
Ihm mochte der Weg nicht weit erscheinen, Jane jedoch, die ständig über Wurzeln und Äste stolperte, kam er endlos vor. Endlich blieb er stehen. „Wir warten jetzt hier. Ein Stück weiter vorn ist eine Lichtung, aber wir gehen erst rüber, wenn ich den Helikopter höre.“
„Den Helikopter?“
„Ja. Irgendwie müssen wir schließlich hier rauskommen.“
„Und wann wird das sein?“
„Kurz nach Sonnenaufgang.“
„Und wann ist das?“
„In einer halben Stunde.“
Sich noch immer an seinen Gürtel klammernd, stand sie die nächste halbe Stunde hinter ihm und wartete darauf, dass die Sonne aufging. Die Minuten dehnten sich ins Endlose, doch so bekam sie Gelegenheit, sich zum ersten Mal darüber klar zu werden, dass sie Turego wirklich entkommen war. Sie war in Sicherheit und frei … nun, fast zumindest. Auf jeden Fall war sie Turegos Zugriff entronnen, und was diesen Mann hier vor ihr anbetraf, so wusste sie nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Es konnte natürlich sein, dass ihr Vater ihn geschickt hatte, aber einen Beweis dafür gab es nicht. Alles, was sie hatte, war sein Wort, aber so naiv, sich auf das Wort eines Fremden zu verlassen, war sie nicht. Dazu war sie zu wachsam.
Da sie sich noch immer an seinem Gürtel festhielt, spürte sie, wie der Mann vor ihr begann, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Hören Sie, Honey, meinen Sie nicht, dass Sie meinen Gürtel jetzt langsam mal loslassen könnten?“
Jane spürte, wie sie errötete, und ließ hastig los. „Oh, entschuldigen Sie“, flüsterte sie. „Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich mich noch immer an Ihnen festhalte.“ Sie stand einen Moment wie erstarrt mit hängenden Armen da, dann fühlte sie Panik in sich aufsteigen. Sie konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen, sie hörte ihn nicht einmal atmen, und nun, da sie sich durch die Berührung nicht länger vergewissern konnte, dass er da war, war sie sich seiner Anwesenheit plötzlich nicht mehr sicher. Was war, wenn er sie allein gelassen hatte? Die Luft kam ihr auf einmal so stickig vor, dass sie Mühe hatte zu atmen. Sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Reaktion irrational war, doch sie kam nicht dagegen an. Auch wenn sie die Quelle ihrer Angst kannte, half ihr das doch nicht, sie zu überwinden. Sie hatte Finsternis noch nie ertragen können, sie konnte im Dunkeln nicht einschlafen und betrat niemals ein Zimmer, ohne vorher das Licht einzuschalten, und wenn sie abends ausging und wusste, dass sie spät nach Hause kommen würde, ließ sie stets eine Lampe brennen. Und ausgerechnet sie, die immer ängstlich Vorsorge traf, sich niemals der Dunkelheit auszusetzen, stand nun hier inmitten einer so tiefschwarzen Finsternis, die es ihr nicht einmal erlaubte, die Hand vor Augen zu sehen, ganz so, als wäre sie blind.
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