Für all jene, die in der Liebe die größte Magie sehen.
Leise schwappte das pechschwarze Wasser ans Ufer des Lochs, das sich bis an den dunkelrosa Horizont auszudehnen schien. Rona beobachtete stumm, wie die ringförmigen Wellen langsam verebbten und warf einen weiteren Stein hinein. Mit einem dumpfen Geräusch durchbrach er erneut die glatte Oberfläche und verschwand in der Finsternis.
Es hatte etwas Meditatives, dieses Schauspiel zu beobachten, während sie versuchte sämtliche Gedanken aus ihrem Geist auszusperren. Doch es blieb bei dem Versuch, denn vor ihr breitete sich eine sonderbare Landschaft aus, die sie stets daran erinnerte, dass sie sich in einer anderen Welt befand. Dem Síd. Einem Reich unter der Erde, in dem Milesius laut der keltischen Legenden einst das Volk der Túatha Dé Danann einsperrte, nachdem er sie besiegt hatte.
Über ihr spannte sich ein dunkelvioletter Himmel, an dem nie die Sonne oder der Mond aufging. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wirkte es fast so, als wäre er mit Sternen übersät. Eines dieser funkelnden Lichter flackerte kurz auf. Es schien zu ihr herabzuschweben und wurde zu einer leuchtenden Kugel, bevor Rona die filigranen Flügel erkannte. Sie streckte die Hand der Motte entgegen, die sich für einen Wimpernschlag auf ihrem Finger niederließ und schließlich weiterflog zu einem der Bäume, die das Ufer säumten und deren Kronen sich im Himmel verloren.
In dieser Welt war alles anders. Fremd. Hier herrschten andere gesellschaftliche Regeln, andere physikalische Gesetzte und jeden Tag entdeckte Rona etwas Neues. Es war zugleich faszinierend und beängstigend. Sie kam sich wie Alice im Wunderland vor, nur dass es weder den verrückten Hutmacher noch die Herzkönigin gab. Dafür bevölkerten Elfen, Irrwische, Kobolde, Feen und andere mystische Kreaturen diese Welt. Es gab Magie, die ihre Vorstellungskraft immer wieder auf die Probe stellte und ihr das Gefühl vermittelte, verrückt zu sein oder dies alles nur zu träumen.
Sie warf einen weiteren Stein, der eine Weile durch die Luft flog, bevor er mit einem Plopp in den Tiefen des Sees verschwand.
Die keltischen Sagen waren wahr. Mehr oder weniger. Wohl eher weniger. Das, was Rona aus den Geschichten kannte, war bereits in den ersten Tagen, die sie hier verbracht hatte, vollständig auf den Kopf gestellt worden. Ja, es gab Feen und Elfen. Jedoch sah jeder Bewohner des Síd innerhalb seiner Grenzen gleich aus. Augen wie der Sternenhimmel, helles Haar, einen Teint wie feines Porzellan und hohe Wangenknochen. Jeder einzelne Síodhach war schön und perfekt.
Zu perfekt. Rona kam sich in ihrer Gegenwart vor wie ein hässlicher und tollpatschiger Gnom. Jede Bewegung dieser Wesen zeugte von Anmut und Eleganz. Ihre Kleidung schimmerte seidig. Wenn sie sich bewegten, wirkte es, als würde der Stoff im Wasser schweben.
Seit sie vor über vier Monaten die Grenze zwischen den Welten überschritten hatte, war sie nun ein Teil dieser Gesellschaft. Eine Bewohnerin des Síd. Ihr Blick fiel auf den Saum ihres vornehmen weißen Kleides, den bereits zu dieser frühen Stunde einige Flecken verunzierten, und sie ließ die Schultern sinken. Sie kam sich einfach nicht wie ein Síodhach vor, denn sie hatte sich nicht verändert seit jenem Tag. Mit ihren dunkelroten Haaren fiel sie unter ihnen auf wie ein bunter Hund. Allerdings war das nur äußerlich. Innerlich fühlte sie sich anders, verloren, wusste nicht mehr, wo sie hingehörte oder wer sie war. Innerhalb eines Augenblicks war ihr altes Leben beendet worden und ein neues lag wie ein ungewisser Pfad vor ihr, ohne Ziel. Früher wollte sie Architektur studieren, doch hier wurde sie nur fragend angesehen, was das überhaupt sei, denn die bizarren Gebäude, die sie manchmal an Hundertwasser erinnerten, entstanden durch den reinen Willen und die Magie ihrer Bewohner.
Rona bückte sich und hob einen weiteren wie rotes Glas wirkenden Stein vom Ufer auf und wog ihn in der Hand, während sie gedankenverloren ins Nichts starrte. Sie vermisste ihre eigene Welt, in der Sonnenstrahlen ihre Haut berührten oder der Regen leise gegen das Fenster prasselte. Seit sie hier war, hatte es kein einziges Mal geregnet. Noch mehr vermisste sie ihre menschlichen Eltern, ihre Freunde, New York.
Und Sean.
Vor allem Sean.
Sie biss die Zähne fest zusammen, um die Trauer abzuwehren, die sie überkam, wenn sie an ihn dachte. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte niemals schottischen Boden betreten, dann wäre ihr Herz jetzt nicht gebrochen. Immer wieder erinnerte sie sich an ihre letzte Begegnung.
Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebe.
Rona rieb sich über die Stirn und schluckte den Kloß im Hals hinunter. Noch heute fühlte sie die Verzweiflung, die sie bei seinen Worten überkommen hatte.
»Du wirst mich hassen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das könnte ich nie.«
»Auch nicht, wenn ich diejenige war, die deinen Vater getötet hat?«
Der darauffolgende Schmerz, die Enttäuschung und die Wut in seinem Gesicht, schienen sich in ihrer Netzhaut eingebrannt zu haben. Heiß sammelten sich Tränen in ihren Augen und sie kämpfte gegen die Verzweiflung an, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Ihre Schuldgefühle hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.
Wie oft hoffte sie, dass alles nur einer ihrer Albträume war und sie jeden Moment in seinen Armen erwachen würde, während er ihr beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Doch es war kein Traum. Tief sog sie die modrige Luft in ihre Lungen und schob sämtliche Erinnerungen an Sean und ihre Tat von sich. Sie führte nun ein anderes Leben.
Rona holte aus und warf den faustgroßen Stein in hohem Bogen ins Wasser. Es gab ein schmatzendes Geräusch und erneut wölbte ein Wellenkranz die glatte Oberfläche. Sie versuchte ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit ihm zu verdrängen, doch was blieb, war der pochende Schmerz in ihrem Herzen.
»Hey, Rotschopf, denkst du etwa wieder an diesen Menschen?«, erklang eine dunkle Stimme hinter ihr und sie spürte, wie der Sprecher neben sie trat.
»Und wenn schon. Was spielt das für eine Rolle, Darach?«, fragte Rona müde. Sie wandte sich von ihm ab, doch schon stellte er sich ihr mit verschränkten Armen in den Weg und sah sie herausfordernd an.
»Du solltest ihn endlich vergessen und dafür lieber deine Augen auf das richten, was du vor dir siehst.« Darach straffte die Schultern und streckte sich zu seiner vollen Größe.
Rona hätte ihren Kopf in den Nacken legen müssen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Stattdessen richtete sie ihren Blick auf seine Brust. Eine dunkelgrüne mit Bronze bestickte Tunika spannte sich über kräftige Muskeln. »Einen Fleck?« Fragend zeigte sie auf den tiefsten Punkt des Halsausschnittes.
Sofort zerrte Darach fluchend an dem glänzenden Stoff, um den Makel ebenfalls zu entdecken, der sein perfektes Äußeres verschandelte. Sein weißblondes Haar, das ihm bis über die Schulter reichte, hatte der Irrwisch zu einem Zopf gebunden, sodass man die spitzen Ohren erkennen konnte, die jeder Síodhach besaß.
»Du bist ein aufgeblasener Pfau, Darach.« Rona nutzte die Gelegenheit und gab ihm einen Schups, sodass er ins Straucheln kam. Mit rudernden Armen und einem lauten Platschen fiel er ins Wasser, was Rona überhaupt nicht beabsichtigt hatte.
Entsetzt sah sie dabei zu, wie er in der dunklen Brühe versank und prustend wieder an die Oberfläche kam. Sein helles Haar klebte ihm nun dunkel am Kopf und seine feine Tunika war mit Schlamm bedeckt. Er sah aus wie ein begossener Pudel. Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar und wechselte zwischen Bestürzung, Frustration und Entsetzen hin und her. Am Ende starrte er sie nur noch fassungslos an und Rona musste lachen. Sie konnte nicht anders. Es war verrückt. Ihr neues Leben war schlicht und ergreifend verrückt.
Fluchend hievte sich Darach ans Ufer und warf ihr einen erbosten Blick zu. »Verdammt, Rona! Das ist nicht lustig.«
Nein, eigentlich war es das gar nicht. Ganz im Gegenteil. Es war erschreckend. Darach war ihr Beschützer und der einzige, der so etwas wie ein Freund für sie war.
»Du hättest dein Gesicht sehen müssen, es war urkomisch«, murmelte sie und seufzte. Wenn sie seine kräftige Statur betrachtete, an der nun seine triefnasse mittelalterliche Kleidung klebte, konnte sie sich kaum vorstellen, wie es ihr gelungen war, ihn zu Fall zu bringen. Doch es war möglich, denn sie war mit jedem Tag stärker geworden, seit ihre Kräfte erwacht waren, und hatte mittlerweile Probleme ihre Kraft zu kontrollieren. »Es tut mir leid. Das war nicht meine Absicht gewesen.« Sie drehte sich um und lief den Weg entlang, der von dem Anwesen wegführte, das nun ihr Zuhause war. Ohne Darach war es ihr verboten das Grundstück zu verlassen, das direkt bis an das dunkle Wasser des Lochs reichte.
»Du kannst mich gern noch einmal in den See werfen«, erklang Darachs Stimme ohne einen Hauch von Wut. Stattdessen hatte sie einen fast zärtlichen Klang angenommen.
Verwundert warf Rona einen Blick über die Schulter. »Wieso?«
Darach legte den Kopf schräg und schmunzelte. »Das ist das erste Mal, dass ich dich lachen gehört habe.«
Rona schluckte und ging weiter. »Aber ich lache doch ständig.«
»Nein, tust du nicht. Du starrst die ganze Zeit traurig ins Leere«, belehrte er sie.
Sie blieb stehen und wollte ihm widersprechen, doch dann ließ sie die Schultern hängen. Bisher hatte sie gedacht, sie hätte ihre Gefühle gut vor ihm verbergen können. »Ist das verwunderlich?«, murrte sie ertappt.
»Dabei klingt es wunderschön«, ergänzte er liebevoll.
Rona schnaubte bei seinen Worten. Sie drehte sich zu ihm um – und ihr blieb erstaunt der Mund offenstehen. Darach hatte seine Tunika ausgezogen und auch das dunkelblaue Hemd, das er darunter trug. Der breite Oberkörper, den er ihr präsentierte, sah aus wie der einer griechischen Götterskulptur aus Marmor. Das Spiel seiner Muskeln wirkte hypnotisierend, während er seine Sachen auswrang. Tropfen rannen über seine makellose Brust und ihr Blick folgte einem von ihnen fasziniert bis zu den Hüftknochen, bevor er in dem Bund seiner eng anliegenden Hose versickerte, die sich wie eine zweite Haut an Darachs Beine schmiegte.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte er.
Rona klappte verlegen den Mund zu und schüttelte schnell den Kopf. »Nein.«
»Doch, tut es.« Er grinste zufrieden und streifte sich das noch feuchte Hemd über.
»Nein, tut es nicht«, widersprach sie ihm energisch. Frustriert riss sie den Blick von ihm los und ging weiter. Natürlich hatte ihr gefallen, was sie gesehen hatte. Wie konnte es auch anders sein, bei den perfekten Konturen von Darachs Körper, der einem Bildhauer in der Antike einst Model gestanden haben könnte. Ihre Augen waren auf den bunten Kies gerichtet, der den Weg bedeckte. Doch sie sah die Regenbogenfarben nicht. Stattdessen schwirrten Erinnerungen an eine andere nackte Männerbrust durch ihren Kopf. Glatt und dunkel, mit einem wunderschönen Raben verziert, der seine Schwingen zu beiden Seiten ausbreitete. Sie zeichnete in Gedanken mit ihrem Finger die Spitzen der Federn nach und alles in ihr zog sich vor Sehnsucht zusammen. Ihr ganzer Körper fühlte sich zittrig an. Sean. Verdammt. Alles erinnerte sie an Sean.
Rona konnte ihn einfach nicht vergessen, obwohl sie es musste, denn für sie beide existierte keine gemeinsame Zukunft. Sie standen auf verschiedenen Seiten eines Krieges, der bereits seit Jahrtausenden wütete. Niemals würde er akzeptieren, was sie war. Noch schwerer wog ihre Tat. Die würde er ihr niemals verzeihen, sie war ja selbst kaum dazu im Stande. Jede Nacht plagten sie Albträume, in denen sie zusah, wie Seans Vater brannte. Ein Schaudern lief ihr über den Rücken.
»Was ist übrigens ein Pfau?«, fragte Darach und riss sie aus ihren schmerzlichen Gedanken.
»Ein Vogel«, murmelte sie und wandte den Blick zu dem Mann, der sie begleitete.
»Du vergleichst mich mit einem Vogel?!«, entrüstete sich Darach und sah sie gekränkt an.
»Es ist ein sehr schöner Vogel«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
»Also findest du mich schön«, stellte er fest.
Die Selbstgefälligkeit in seiner Stimme ließ Rona mit den Zähnen knirschen. Natürlich fand sie ihn schön. Genauso wie jeden anderen Síodhach, dem sie bisher begegnet war. Sein Gesicht könnte Plakatwände zieren und für Auffahrunfälle sorgen. Auch er besaß hohe Wangenknochen, die ihm ein aristokratisches Aussehen verliehen. Sein energisches Kinn und sein intensiver Blick aus dunkelvioletten Augen gaben ihm etwas Kämpferisches und Gefährliches. Allerdings würde sie sein ohnehin viel zu großes Ego nicht weiter füttern, indem sie dies zugab. Bisher hielten sich seine Annäherungsversuche glücklicherweise in Grenzen, daher ignorierte sie ihn meistens.
Stattdessen richtete sie ihren Blick auf den riesigen Gebäudekomplex in der Ferne, der sich nahtlos an die Klippen hinter ihm schmiegte. Kasdale. Es war der einzige andere Ort im Síd, den sie bisher kannte. Seit drei Wochen gingen sie und Darach jeden Morgen dorthin, damit sie lernte mit ihren magischen Fähigkeiten umzugehen. Die riesige Festung in der die Vasallen ihrer Mutter lebten, ähnelte einer kleinen Stadt.
Der faszinierende Anblick der verflochtenen Architektur des Bauwerkes, das wie eine riesige Burg wirkte und doch so ganz anders war, lenkte sie wirkungsvoll von ihren Gedanken und Fragen ab und versetzte sie abermals in Staunen. Das Gestein des Mauerwerks hatte einen dunkelbläulichen bis grauen Ton und erinnerte an glänzende Drachenschuppen. Spitze Türme ragten einer Krone gleich in den violetten Himmel. Riesige Balkone, die wie Baumpilze anmuteten, umspannten die gesamte Außenmauer und trotzten jeglicher Schwerkraft. Rona hatte sich immer gefragt, warum diese Vorbauten in schwindelerregender Höhe keinerlei Geländer besaßen, doch jetzt sah sie zum ersten Mal, wie etwas Großes darauf zuraste, kurz davor abbremste und dann in einem sanften Bogen landete.
»Was ist das?« Rona zeigte auf das schimmernde Objekt, das nun auf dem Balkon stand.
Darach blieb abrupt stehen und ergriff ihren Arm. »Wir gehen zurück.«
»Was?« Verwirrt stolperte sie hinter ihm her, während er sie entschlossen mit sich zog.
»Ich sagte, wir gehen zurück. Sofort!« Er wirkte beunruhigt und ernst.
»Ja, aber warum?«, hakte sie nach.
Er antwortete ihr nicht. Stattdessen umfasste er ihr Handgelenk fester und presste die Lippen missmutig aufeinander.
Rona stemmte sich gegen ihn und versuchte sich aus seiner Umklammerung zu winden. »Du tust mir weh«, fauchte sie und Darachs Griff lockerte sich etwas. Sofort riss sie sich von ihm los, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn herausfordernd an. »Ich gehe keinen Schritt weiter!«
»Wir müssen gehen.« Wieder griff er nach ihrer Hand, doch sie wich ihm aus.
»Erst wenn du mir sagst, was los ist«, entgegnete sie.
»Rona, es ist nur zu deinem Besten.«
Wie sie diesen Spruch hasste! »Das entscheide ich selbst!«
Darach wirkte hin- und hergerissen. »Das sollte dir besser deine Mutter erklären«, entgegnete er resigniert und sah sie entschuldigend an.
Rona stieß einen überraschten, spitzen Schrei aus, als er in einer fließenden Bewegung, der sie kaum folgen konnte, ihre Hüften packte. Er hob sie hoch und der laute Ton aus ihrer Kehle erstarb, da sich seine Schulter in ihren Magen bohrte und alle Luft aus ihren Lungen wich.
»Meine Aufgabe ist es dich zu beschützen. Ob du das nun willst oder nicht«, meinte er entschlossen.
»Vor was denn?« Ihr ging die Geheimniskrämerei auf die Nerven. Erbost trommelte Rona auf seinen Rücken ein und strampelte mit den Beinen in der Luft. »Ich brauche keinen Babysitter.« Fast wäre sie von seiner Schulter gerutscht.
Darach packte sie fester. »Rona, es gibt da einige Dinge, die du nicht weißt.«
Dieselben Worte hatte Sean zu ihr gesagt. Damals. Eiswasser rauschte durch Ronas Adern und sie versteifte sich. Bei jedem Schritt drückte sich Darachs Schulter tiefer in ihren Magen. Doch sie spürte es kaum. Ihre Gedanken verweilten in der Vergangenheit. In jenem Moment, als sie glücklich gewesen war und noch nicht geahnt hatte, dass ihr normales Leben bald enden würde.
Es ist kompliziert.
Seans Worte hallten in ihr wider und sie unterdrückte den Wunsch, wie eine Irre loszulachen. Damals war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Die wenigen Probleme, die sie zu diesem Zeitpunkt gehabt hatte, erschienen ihr so lächerlich. Gegen den Willen ihrer Eltern war sie nach Schottland gereist und hatte sich vor dem Ärger gefürchtet, der sie bei ihrer Rückkehr erwartete. Sie hatte sich Hals über Kopf in Sean verliebt und gedacht, er würde ihre Gefühle nie erwidern und ihr das Herz brechen.
Am Ende hatte sie seins gebrochen.
Jetzt würde sie ihn nie wiedersehen. Genauso wie ihre Eltern – ihre menschlichen Eltern. Sie würde ihnen niemals sagen können, wie leid es ihr tat und wie sehr sie sie liebte. Sie hätte auf sie hören sollen, dann hätte sie niemals die Wahrheit erfahren: Sie war kein Mensch.
Sean hatte damals geglaubt, sie sei eine Druidin, wie er und ihre Eltern. Eine Nachfahrin von Milesius oder einem seiner Männer, deren Aufgabe es war die Welt der Menschen vor den Síodhach zu beschützen, damit die nicht erneut die Macht an sich reißen und die Menschheit versklaven konnten.
Doch sie war keine Druidin wie Sean. Sie war etwas anderes. Ein Wesen aus beiden Welten. Zu gut erinnerte sich Rona noch an das Buch über keltische Sagen, das sie in Seans Wohnung in Händen gehalten hatte. Es war, als könnte sie das dünne Papier unter ihren Fingern spüren, während sie umblätterte. Deutlich sah sie die gedruckten Lettern im Geiste vor sich: der Wechselbalg.
Das war sie! Ein Wechselbalg.
Ronas Hand ballte sich um den feuchten Stoff von Darachs Tunika. Alle Geschichten über diese Wesen hatten einen gemeinsamen Kern: Böse Kreaturen vertauschten ihre hässlichen Kinder mit den schönen der Menschen. Aber es war kein Aberglaube, wie sie damals gedacht hatte, und es war auch nicht wie in den Geschichten. Islind – eine Elfe, eine Síodhach – hatte ihr Kind nicht mit dem von Menschen getauscht. Sie hatte den Lebensfunken ihres ungeborenen Kindes in einen menschlichen Embryo gesetzt. Rona war beides. Druidin und Síodhach. Kompliziert traf es nicht einmal ansatzweise und Rona bekam stets Kopfschmerzen, sobald sie darüber nachdachte.
Darachs Schritte wurden langsamer und er ließ sie an sich hinabgleiten. Sobald sie auf ihren eigenen Füßen stand, sah sie fragend zu ihm auf. Zerknirscht fuhr er sich durchs nasse Haar. »Es tut mir leid, Rona, dass ich dich so behandeln musste.«
Vielleicht hätte sie darüber wütend sein sollen, früher wäre sie es auch sicherlich gewesen, doch momentan fühlte sie sich zu erschöpft. »Du könntest mir einfach sagen, warum du es tun musstest«, murrte sie.
Darach schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht. Du musst deine Mutter fragen.«
Rona nickte, rieb sich über die pochende Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Darach zu bedrängen würde nichts bringen, das wusste sie aus Erfahrung. Er war ein Irrwisch und stand in der Hierarchie unter den Elfen. Er hatte seine Befehle von ihrer Mutter erhalten und würde diese befolgen. Wortgenau. Egal um was es sich handelte und was es ihn kosten würde. Wenn sie ihn so betrachtete, konnte sie immer noch nicht glauben, dass er eines dieser Wesen sein sollte, von denen Sean und sie im Moor angegriffen worden waren. Erneut spürte sie einen schmerzhaften Stich in der Brust, als sie Seans besorgte braune Augen vor sich sah.
Seufzend wandte sie sich von Darach ab und folgte dem Kiesweg die letzten Meter bis zu ihrem neuen Zuhause, das wie ein riesiger Mammutbaum die Landschaft überragte. Sie raffte ihr Kleid, als sie die glänzenden Stufen hinauflief, die Wachen passierte und die beiden großen Türen aufschwangen, die zwischen den dunklen, verflochtenen Wurzeln des Baumes hindurchführten. Schmale Streifen zogen sich durch die Rinde, wirkten wie Fenster und ließen Licht in das Gebäude. Ihre Schuhe erzeugten auf den weißen Fliesen ein lautes Klacken, das in der hohen Empfangshalle widerhallte. Darach trat neben sie, während hinter ihr die Tür von allein laut ins Schloss fiel.
Ihre Mutter wusste wahrscheinlich schon, dass sie zurück waren, und es würde ihr nicht gefallen. Rona ließ den Blick über die kunstvolle Einrichtung schweifen und wartete auf Islinds Erscheinen. Das Innere des Baumhauses, wie sie den hohen Turm nannte, war eine Mischung aus dem wilden Wuchs des Baumes und klaren Linien. Es wirkte modern und uralt zugleich. Ein Zusammenspiel von Kunst und Natur. In der Mitte stand ein weiterer Baum mit grünen Blättern und roten Blüten um den sich eine Treppe wand. Seine breiten Äste schienen mit den Wänden des Hauses zu verwachsen und seine Krone war von hier unten nicht mehr zu erkennen.
Der Síd war ein dunkler Ort, doch hier drin funkelte und strahlte alles um die Wette. Kleine Kristalle hingen von den Ästen, die etliche von den leuchtenden Motten beherbergten. Ihr Licht wurde durch die Prismen gebrochen und überzog die Wände mit einem faszinierenden Farbspiel.
Die Síodhach waren nicht nur schön, sie liebten auch schöne Dinge. Oft fragte sich Rona jedoch, ob das, was ihre Augen erfassten, der Realität entsprach oder nur eine magische Illusion war.
Verunsichert blickte sie Darach von der Seite an. Sah der Irrwisch tatsächlich aus wie der Adonis, der neben ihr stand, mit schulterlangen hellen Haaren und dem wie gemeißelten Profil? Oder war seine wahre Gestalt die eines Skelettes, das mit pergamentartiger, durchsichtiger Haut überzogen war?
»Wieso seid ihr bereits zurück?«, erklang die klare Stimme von Islind und lenkte Ronas Blick auf die kleine Empore, die die Äste des Baumes in der Mitte des Raumes bildeten, wo ihre Mutter stand.
Langsam kam Islind auf Rona zu, gefolgt von zwei ihrer Zofen. Die Elfe schien die geschwungene Treppe regelrecht herabzuschweben. Auf ihrem strahlendweißen Haar, das von silbernen Strähnen durchzogen war, glitzerte ein Diadem mit dem weiß-silbern schimmernden Stoff ihres langen Kleides um die Wette. Der Anblick von Islind raubte Rona stets den Atem. Diese Frau sollte ihre Mutter sein?
Rona hatte sie kein einziges Mal anders als atemberaubend zu Gesicht bekommen – weder in Schlappen noch mit Lockenwicklern im Haar, wie es oft bei ihrer Mutter Jodee der Fall gewesen war, wenn diese ihr das Frühstück für die Schule vorbereitet hatte. Erneut spürte Rona einen schmerzhaften Stich. Seitdem war viel passiert.
»Darach, warum ist meine Tochter nicht bei ihrem Unterricht?«, fragte Islind. Missfallen schwang in ihrer sonst so ruhigen und deutlichen Stimme mit.
Darach verbeugte sich tief. »Er ist da, Herrin.«
Für einen Moment schien Angst über Islinds Antlitz zu huschen, dennoch wich das Lächeln für keine Sekunde aus ihrem Gesicht.
»Wer ist da?« Ronas Stimme war nur ein heiseres Flüstern und ihre Mutter schien sie gar nicht gehört zu haben.
»Du hast richtig gehandelt, Darach.« Islind nickte ihm knapp zu, bevor sie sich ihr zuwandte. »Fearchara, geh bitte auf dein Zimmer.«
Rona verdrehte die Augen, als sie ihren zweiten Vornamen hörte, mit dem Islind sie immer rief, und schnaufte. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Vielleicht nicht in der Welt, in der du bisher gelebt hast, doch für mich bist du noch ein Kind. Meine Tochter, die ich beschützen muss«, sagte Islind kühl, auch wenn sie ihr dabei ein warmes Lächeln schenkte.
»Aber wovor?« Manchmal hatte Rona das Gefühl, es hatte sich gar nichts verändert im Vergleich zu ihrem alten Leben. Alle verbargen sie etwas vor ihr und niemand erzählte ihr die Wahrheit. Jahrelang hatten ihre Eltern ihr verschwiegen, wer sie wirklich war. Sean hatte vom ersten Tag an, als sie nach Schottland gekommen war, Geheimnisse vor ihr gehabt. Sie hatten sie allesamt belogen. Auch wenn sie sie vermisste, so war sie zugleich auch wütend auf sie.
Islind trat zu ihr und sah sie ernst an. »Alles zu seiner Zeit. Du kannst nicht alle Mysterien unserer Welt an einem Tag ergründen.«
»Das will ich doch auch gar nicht. Ich will nur wissen …« Rona verstummte und suchte nach den passenden Worten, die beschrieben, wie verloren sie sich fühlte. »… wer ich bin?« Selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme verzweifelt und hilflos.
»Lasst uns allein«, befahl Islind.
Ohne ein Wort zu sagen, verbeugten sich der Irrwisch und die Zofen und entschwanden in den Flügel der Dienstboten. Ihre Schritte auf den Fliesen verhallten in der Stille und Rona verspürte Nervosität in sich aufsteigen.
»Du bist meine Tochter. Vergiss das nie«, stellte Islind klar und schritt auf die Tür zu ihrer Rechten zu, die sich wie von Geisterhand für sie öffnete. Stundenlang hatte Rona versucht herauszufinden, welcher Mechanismus dafür zuständig war, doch am Ende hatte sie es, wie alles andere, was sie nicht verstand, unter Zauberei abgelegt. Sie wollte und konnte nicht weiter darüber nachdenken, warum die Dinge hier so anders waren.
Unsicher folgte Rona Islind durch den Flur in einen kleineren Raum, in dem überall verteilt große, farbenfrohe Sitzkissen lagen. Rona mochte dieses Zimmer. Sie war oft hier, lag auf dem Boden und starrte an die Decke, auf der sich ein riesiges Gemälde ausbreitete. Obwohl sie schon Stunden hier verbracht hatte, entdeckte sie immer wieder neue Details und auch jetzt wanderte ihr Blick nach oben zu dem Panorama einer riesigen Schlacht. Das Bild zeigte einige blutige Szenen, die in ihr ein mulmiges Gefühl auslösten. Doch das Bild ließ sie einfach nicht los.
»Fearchara?« Ihre Mutter hatte es sich bereits bequem gemacht und Rona ließ sich auf das Kissen neben ihr sinken.
Die Tür öffnete sich und Denara, eine der Hausdienerinnen, erschien mit einem Tablett, auf dem sie zwei elegante Porzellantassen balancierte. Kurz verbeugte sich die junge Frau und hielt Islind das Tablett entgegen, dann Rona, die vorsichtig nach ihrer Tasse griff und gleichzeitig betete, dass sie sie nicht kaputt machen würde. Lächelnd dankte sie Denara, von der sie wusste, dass es sich um eine Fee handelte. Die junge Frau hatte Rona damals beim Übergang in den Síd begleitet, als sie aus der Menschenwelt fliehen musste. Vor Sean. Ihr Herz tat einen kräftigen Schlag und sie atmete tief das süße Aroma des Tees ein, um sich zu beruhigen. Denara stellte das Tablett auf den Boden und verließ leise den Raum.
Auch wenn Rona gespannt wartete, was Islind ihr mitteilen wollte, so versuchte sie sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Zu den ersten Dingen, die sie in dieser Welt gelernt hatte, zählte, dass die Síodhach eine Engelsgeduld besaßen. Sie hetzten nicht, waren nie unruhig oder hibbelig – im Gegensatz zu ihr selbst. Am Anfang hatte dieses Verhalten auf Rona arrogant und kalt gewirkt.
Gut, die meisten Síodhach waren arrogant, doch sie waren auch alt. Lebten bereits seit Jahrtausenden und ließen sich Zeit. Rona war in ihren Augen wirklich noch ein Kind, das viel lernen musste. Sehr viel. Jedes Wort hatte seinen Sinn, wurde nicht ohne Grund geäußert. Jede einzelne Bewegung war gut überlegt, diente einem Zweck. So etwas wie Smalltalk kannte die Bewohner des Síd nicht.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihre Mutter, die einen Schluck Tee nahm und für einen Moment die Augen schloss. Rona tat es ihr gleich und ließ sich den samtigen Geschmack von Kirsche und Lavendel auf der Zunge zergehen. Als Rona aufschaute waren die dunklen Augen ihrer Mutter, die einem Sternenhimmel glichen, auf sie gerichtet.
»Du vermisst dein altes Leben«, erkannte Islind und Rona nickte zögerlich. Islind ergriff Ronas Hand und drückte sie kurz, während sie ihr aufmunternd zulächelte. »Das ist normal. Lass dir Zeit.«
Rona senkte den Blick auf ihre Tasse und betrachtete die rötliche Flüssigkeit. Das Porzellan strahlte eine angenehme Wärme aus, die in ihre Fingerspitzen eindrang. »Ich versuche es ja. Aber hier ist alles so anders und fremd. Es ist, als wäre ich Teil eines Spiels, dessen Regeln ich nicht kenne.«
»Du hast Angst einen Fehler zu machen«, stellte Islind fest.
Rona dachte einen Moment darüber nach. »Ja.«
Islind seufzte. »Ich bedaure, dass du es so schwer hast, dich zurechtzufinden. Aber dich fortzugeben war die einzige Möglichkeit, um dich zu retten.«
Rona erstarrte. »Wovor? Vor demjenigen, der heute nach Kasdale kam?«
»Nein.« Islind ließ ihre Hand los. »Vor dem Tod.«
Rona sah sie entgeistert an. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war so nichtssagend, als hätten sie sich lediglich über das Wetter unterhalten. Völlig unberührt trank sie weiter ihren Tee.
Zu Anfang war es Rona schwer gefallen zu glauben, dass Islind irgendwelche liebevollen Gefühle für sie hegte, so kalt und distanziert, wie sie oft war. In den letzten Monaten hatte Rona jedoch erkannt, dass dies nicht stimmte. Die Augenblicke, in denen die Elfe Rona ihre tiefe Liebe zeigte, waren selten. Daher kehrte auch oft Zweifel an Islinds Muttergefühlen zurück – so wie in diesem Moment.
Zitternd nahm Rona einen weiteren Schluck aus der Tasse, während ihre Gedanken durcheinanderwirbelten. Doch die warme Flüssigkeit konnte die Kälte, die sich in ihr ausbreitete, nicht vertreiben. »Warum wäre ich damals gestorben, wenn du mich behalten hättest?«, fragte Rona zögerlich.
Kein einziger Muskel zuckte in Islinds wie gemeißelten Gesichtszügen, sodass Rona hätte erkennen können, ob die Elfe ihre Worte überhaupt wahrgenommen hatte. Ihr Herz krampfte sich vor Enttäuschung zusammen. Keiner schien ihr zuzutrauen, dass sie mit der Wahrheit umgehen könnte. Dabei war gerade diese Wahrheit, egal wie bitter und hart sie auch sein mochte, ihr allemal lieber, als weiterhin im Ungewissen gelassen zu werden. Es war, als würde sie in den dunklen Tiefen des Ozeans treiben, ohne Ziel und Richtung. Ihr ging langsam die Luft aus, doch sie hatte keine Ahnung, wo oben oder unten war, geschweige denn wie viele Schwimmzüge sie machen musste, um endlich wieder atmen zu können. Sie ertrank.
»Ich habe etwas für dich«, begann ihre Mutter und stellte ihre Tasse auf das Tablett zurück. Sie hielt Rona ihre geöffnete Handfläche entgegen und Rona sah verwirrt zu, wie sich ein Spiegel darauf bildete.
Vorsichtig nahm sie ihn entgegen. »Hübsch. Danke«, murmelte sie, auch wenn sie keinerlei Ahnung hatte, was sie mit dem Ding anfangen sollte. Zugegeben, er war sehr hübsch. Vom Griff aus rankten sich filigrane Blätter und blaue Blüten um die ovale Fläche. Vorsichtig strich sie über die Struktur, die sich weich und zart anfühlte.
»Dieser Spiegel ist ein Fenster in die Welt der Menschen. Dein Herz muss eine Verbindung haben zu demjenigen, den du zu sehen wünscht«, sagte ihre Mutter.
Vor Schreck hätte Rona den Spiegel beinahe fallen lassen. »Was?«
»Du kannst durch diesen Spiegel versuchen Ian und Jodee Drummond zu sehen. Doch ich kann dir nichts versprechen. Wenn sie außerhalb der Grenzen der Highlands sind oder keine spiegelnde Fläche in der Nähe ist, kann der Spiegel sie dir nicht zeigen.«
Im ersten Moment hatte Rona gar nicht an ihre Eltern gedacht, sondern an Sean. Seine rostbraunen Augen, die sie sanft und voller Liebe ansehen. Sein rotes Haar, das ihm frech in die Stirn fällt. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihn zu sehen.
Aufgewühlt befeuchtete Rona sich die Lippen. »Werde ich mit ihm … ihnen sprechen können? Werden sie mich sehen können?« Wird er mich sehen können?
»Die Menschen haben nicht die Fähigkeit dazu, durch die Schleier des Síd zu sehen. Ian und Jodee Drummond jedoch sind Druiden. Sie werden dich sehen, allerdings nicht hören können. Das erfordert sehr viel Übung«, erklärte Islind.
Nachdenklich betrachtete Rona den Spiegel in ihrer Hand und strich über die kalte glatte Oberfläche. »Was muss ich tun?«
»Denk an sie. Stell sie dir vor«, antwortete ihre Mutter ruhig.
Konzentriert stierte Rona in den Spiegel, doch das Einzige, was sie sah, war ihr verkniffenes Gesicht umrahmt von roten Locken. »Es funktioniert nicht.«
»Du musst Geduld haben«, sagte Islind.
Für einen Moment schloss Rona die Augen und atmete tief durch. Abermals konzentrierte sie sich auf das Bild ihrer Eltern. Sah im Geiste, wie ihr Vater nach Hause kam und sie lächelnd begrüßte. Wie ihre Mutter in der Küche stand und den Auflauf aus dem Ofen holte. Sie öffnete die Augen wieder und starrte in die glänzende Fläche. Nichts. Da war nichts, außer Schwärze. Sie sah nicht einmal mehr sich selbst. Ihr Herz setzte für einen Takt aus und der Spiegel entglitt ihrer Hand. Islind fing ihn auf und Rona erhaschte für den Bruchteil einer Sekunde das Bild eines Mannes mit dunklen Haaren.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Rona.
»Das war sehr gut. Du hast es geschafft das Fenster zu öffnen«, lobte Islind.
»Aber da war nichts. Nur Finsternis.« Rona versuchte das kalte Gefühl von Leere und Einsamkeit abzuschütteln.
»Es könnte sein, dass sie nach New York zurückgekehrt sind.«
Der Gedanke, dass ihre Eltern sie einfach zurückgelassen hatten, schmerzte. »Das glaube ich nicht.« Rona war sich sicher, dass ihre Eltern noch in Schottland weilten und dieses Land nicht verlassen würden, ehe sie ihre Tochter wiederhätten oder wussten, dass es ihr gut ging. Wie sehr wünschte sich Rona mit ihnen reden zu können. Oder mit Sean. »Darf ich es später noch einmal versuchen?«, fragte sie unsicher.
»Dein Herz wird nicht heilen, wenn du die Wunde immer wieder aufreißt«, erklärte Islind.
Rona sah verwirrt zu ihrer Mutter, die verständnisvoll lächelte und ihr eine rote Locke aus dem Gesicht strich.
»Dachtest du, ich wüsste nicht, was du vorhast? Deine Gefühle für den Druidenjungen sind dir deutlich anzusehen.«
»Es tut mir leid«, sagte Rona und presste die Lippen aufeinander.
»Warum entschuldigst du dich dafür?«, fragte Islind neugierig.
Rona sah hinauf an die Decke und betrachtete den Mann auf dem Pferd, der eine Lanze in die Brust seines Gegners rammte. Seine Arme waren bedeckt mit blauen Linien, die an Seans Tribal Tattoos erinnerten. Sein Gesicht zeigte deutlich den Hass und die Wut, mit denen er auf die Elfen einstach. »Weil er der Feind ist.«
Plötzlich drückte sanft eine Hand gegen ihre Brust. »Aber dein Herz sagt dir, dass er nicht dein Feind ist«, sagte ihre Mutter sanft.
Überrascht schaute sie die Elfe an. Ronas Herz hüpfte aufgeregt bei dem Gedanken an Sean. Aber es schmerzte zugleich, denn es fühlte sich an, als würde ein Teil von ihm fehlen.
»Du hast ein sehr seltenes und kostbares Geschenk erhalten.« Fast lautlos erhob sich Islind. »Ich muss für einige Zeit fort, aber bis zum Fest werde ich zurück sein. Du wirst in dieser Zeit nicht nach Kasdale gehen und stattdessen mit Darach hier trainieren«, sagte sie. Islind hatte den Raum bereits verlassen, bevor sich Rona der Tragweite ihrer Worte bewusst wurde. Schnell sprang sie auf und hechtete zur Tür. Doch als sie auf den Flur hinaustrat, war er leer. Verdammt! Islind hatte sie geschickt von ihren Fragen abgelenkt und weiter im Unklaren darüber gelassen, wer heute in Kasdale angekommen war oder vor was oder wem Islind sie als Kind gerettet hatte.
Am liebsten hätte Rona die Tür laut hinter sich zugeworfen, aber sie schloss sich bereits mit einem leisen Klick von selbst. Frustriert raufte Rona sich die Haare, gab ein Schnaufen von sich und ging zurück in den Raum, wo sie unschlüssig vor dem Sitzkissen stehenblieb, auf dem der Handspiegel lag. Sein Anblick löste ein mulmiges Gefühl in ihr aus. Einerseits wollte sie ihn benutzen, doch zugleich ließ Furcht sie zögern. Was, wenn ihr das, was der Spiegel ihr zeigen würde, nicht gefiel? Wenn bei dem Gedanken an ihre Eltern weiter nur Schwärze zu sehen sein würde? Was, wenn sie erkannte, dass Sean sie längst vergessen hatte?
Unruhig begann sie das Kissen zu umrunden und rieb sich über das Gesicht. Irgendwann hielt sie die Zweifel nicht mehr aus, ergriff den Spiegel und hielt ihn sich vors Gesicht. Sie kam sich vor wie Belle aus Die Schöne und das Biest und konnte einfach nicht wiederstehen. »Zeig mir das Biest!«, rief sie. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass etwas passieren würde, doch ein Beben lief durch den Griff und schien sich bis in ihre Knochen fortzusetzen. Erschrocken ließ sie den Spiegel fallen. Kurz blitzte ein Bild von etwas auf: Zähne, Blut, Fell. Bevor das Gehirn ihren Muskeln den Befehl gegeben hatte, den Spiegel aufzufangen, kam er mit einem Scheppern auf dem Boden auf und zerbarst. Wie silbernes Glitter verteilten sich feinste Splitter in alle Richtungen.
Entgeistert betrachtete Rona die Bescherung. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als wollte ihr Herz herausspringen, so heftig schlug es dagegen. Entsetzt ließ sie sich auf die Knie sinken. Kleine Splitter bohrten sich in ihre Haut, doch sie nahm den Schmerz gar nicht wahr. Stattdessen begann sie die großen Stücke zusammenzusammeln. Ein Stich ließ sie auf die Scherben in ihrer Hand sehen. Ein rotes Rinnsal lief aus einem Schnitt an ihrer Fingerkuppe über eine der kleinen blauen Blüten und tropfte auf den Boden, inmitten kleiner Spiegelsplitter.
Was sie hier tat, war vollkommen sinnlos. Hoffnungslos ließ sie die wenigen Scherben fallen, die sie gesammelt hatte, und sank nach hinten auf die Fersen. Sie biss sich auf die Lippe und schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Warum passierte immer ihr so etwas? Wieso machte sie alles kaputt? Weshalb war sie nicht einfach in New York geblieben? Tränen brannten in ihren Augen, doch keine einzige benetzte ihre Wangen. Sie saß einfach nur da und wurde von Selbsthass zerfressen. Unweigerlich haderte sie mit ihrem Schicksal, das sie gezwungen hatte sich ausgerechnet in Sean zu verlieben, dessen Vater sie auf brutale Weise getötet hatte. Die Bilder ihrer Albträume verfolgten sie selbst am Tage.
»Rona? Was ist denn los?«, erklang Darachs Stimme besorgt und sie zuckte erschrocken zusammen, als seine Hand sich schwer auf ihre Schulter legte.
»Lass mich in Ruhe«, forderte sie und wischte sich schniefend die Nase an ihrem Ärmel ab.
»Wenn du das wünschst«, meinte Darach in ruhigem Tonfall und seine warme Hand verschwand von ihrer Schulter.
»Ich hab den Spiegel kaputt gemacht«, gab sie zu, bevor er gehen konnte und sie wieder allein ließ mit der in ihr herrschenden Finsternis.
»Welchen Spiegel?«, fragte Darach verwirrt. Er umfasste ihre Schultern und zwang sie ihn anzusehen.
Rona befeuchtete sich beschämt die Lippen und blickte zu den kläglichen Überresten hinüber. Da lag er. Unversehrt. »Aber …« Entgeistert sah sie Darach an. »Er war eben noch kaputt.«
Darach stand auf und half ihr aufzustehen, während sie weiter fassungslos auf die Stelle starrte, wo zuvor noch die kleinen Bruchstücke wie Diamanten gefunkelt hatten. Sie hatte sich das doch nicht eingebildet! Verwundert betrachtete sie ihre Finger, an denen noch das Blut klebte; von dem Schnitt selbst war jedoch nichts mehr zu sehen.
Seufzend bückte sich Darach nach dem magischen Objekt und reichte es ihr. »Hier.«
»Du glaubst mir nicht«, stellte Rona fest.
»Denkst du wirklich, man könnte einen solch mächtigen Gegenstand so einfach zerstören?« Er zog fragend die Augenbraue hoch und Rona kam sich in diesem Moment ziemlich dumm vor. Zögernd nahm sie den Spiegel entgegen. »Deine Mutter sagte mir, ich solle dich trainieren, solange sie fort ist«, begann Darach.
Rona nickte mechanisch, obwohl sie gar nicht richtig zuhörte und in Gedanken noch nach einer Erklärung suchte für das, was sie eben gesehen hatte.
»Bisher hat sich deine Ausbildung mehr auf deine magischen Fähigkeiten bezogen«, setzte er an. »Da ich jedoch kein …«
»Verdammt!«, unterbrach ihn Rona. Erst jetzt waren seine Worte bis zu ihrem Verstand vorgedrungen und hatten ihren Widerwillen geweckt. Sie hatte gar nicht realisiert, dass Islinds letzte Worte für die nächsten zwei Tage Ausgangssperre bedeuteten. Sie kam sich vor, als hätte ihr ihre Mutter Hausarrest gegeben. »Wieso hat sie das getan?«
Kurz musterte Darach sie irritiert, bevor er verstand, worauf sie sich bezog. »Weil sie dich liebt«, erwiderte er schlicht und nahm ihrer Wut damit sämtlichen Wind aus den Segeln. Bisher hatte weder Islind noch irgendwer sonst dies mit einem Wort erwähnt.
Rona atmete tief durch und drückte unsicher den Spiegel an ihre Brust.
»Wie ich gerade sagen wollte, wird der Fokus deines Trainings die nächsten Tage mehr auf dem Nahkampf liegen, da dies meine Stärke ist. Lass den Spiegel hier liegen, du kannst später mit ihm üben«, erklärte Darach.
Überrascht blickte Rona auf und beobachtete ihn, wie er mit festem Schritt zur Tür lief, die sich wie von Geisterhand öffnete. Bisher hatte Ronas Unterricht meist darin bestanden, das Elfenfeuer zu kontrollieren und herauszufinden, welche weiteren Kräfte in ihr schlummerten. Rona war sehr unzufrieden mit sich selbst, denn ihre Versuche, den grünen Flammen Herr zu werden, waren nicht gerade von Erfolg gekrönt. Jedes Mal, wenn sie die Kraft des Feuers rief, beschwor sie zudem ihre nächtlichen Albträume herauf. Sie konnte das verkohlte Fleisch riechen, hörte die Todesschreie und löschte die Flammen panisch. Auch die anderen Zauber bereiteten ihr Probleme, denn ihr Verstand sagte ihr, dass das, was sie da versuchte, unmöglich war. Sie schaffte es nicht Dinge so zu manipulieren, dass diese eine andere Form oder Farbe annahmen. Selbst an einer Aufgabe für Kinder – Blumen zum Wachsen zu animieren – scheiterte sie.
Es war frustrierend, auch wenn ihre Lehrer sagten, dass dies völlig normal sei; dass das Einzige, was sie daran hindere Magie auszuführen, die Grenzen ihrer eigenen Vorstellungskraft seien. Sie solle Geduld haben, aber das Problem war: sie hatte keine.
»Kommst du?«, rief Darach.
Sie gab sich geschlagen und schlurfte unmotiviert hinter dem Irrwisch her, der zielstrebig zurück zum Foyer ging und die Wendeltreppe hinaufstieg. Als sie bei der obersten Treppenstufe ankamen, öffneten sich knarzend zwei große Flügeltüren und gaben den Weg in einen großen Saal frei, der für das Training vorbereitet war. Glänzende Waffen in allen Formen und Größen standen bereit, damit sie den Umgang mit ihnen lernen konnte.
Neugierig und fasziniert lief Rona bis in die Mitte des riesigen Raumes, der die ganze Krone des Baumhauses einzunehmen schien. Begeistert drehte sie sich einmal um die eigene Achse. Über ihr blinzelte der fliederfarbene Himmel durch die Baumkrone. Das warme Licht der Motten schimmerte grünlich durch die Blätter und tauchte den Saal in ein angenehmes Licht. Es gab keine Wände, nur dicke Äste, die sich in alle Richtungen streckten und mit Spiegelfragmenten übersät waren und so einen Blick in die Unendlichkeit gewährten.
»Wo sind wir hier?«, fragte Rona und drehte sich ein weiteres Mal im Kreis.
»Dies ist der Festsaal und an Samhain werden wir hier tanzen«, erklärte Darach. Sie hatte nicht mitbekommen, wie er an sie herangetreten war und nun dicht bei ihr stand. Zu dicht. Bevor Rona auf Abstand gehen konnte, hatte Darach bereits seine Arme um ihre Hüften gelegt und versuchte sie zu einer Drehung zu animieren. Rona versteifte sich.
»Vielleicht sollte ich dir zuerst das Tanzen beibringen, bevor ich dir ein Schwert in die Hand gebe«, bemerkte er nachdenklich, ergriff ihre Hand und verbeugte sich formvollendet.
»Ich kann tanzen.« Rona entzog ihm ihre Finger.
»Zeigst du es mir?«, forderte er sie lächelnd auf.
Rona wurde rot. »Ohne Musik?«
»Was ist Musik?«, wollte Darach wissen und sie sah ihn geschockt an. »Das war ein Witz«, erklärte er ihr kopfschüttelnd. »Manchmal habe ich das Gefühl, du denkst, wir würden auf dem Mond leben statt unter der Erde.« Er zwinkerte ihr zu.
»Du wusstest ja auch heute Morgen nicht, was ein Pfau ist«, konterte sie. An seinem Grinsen erkannte sie, dass er es sehr wohl gewusst hatte und sie ihm auf den Leim gegangen war.
Er wich ihrem Schlag aus. »Ich bin dafür, dass du einen unserer Tänze lernst, damit du deine Mutter an Samhain vor ihren Gästen nicht blamierst.«
»Muss ich wirklich dahin?«, fragte Rona entgeistert. In zwei Tagen würde das Fest stattfinden und die Vorbereitungen liefen bereits auf Hochtouren. Die Grenze des Síd, der Anderswelt, würde so dünn sein, wie sonst an keinem Tag des Jahres. Insgeheim hatte sie gehofft, sich vor den ganzen Aktivitäten drücken zu können. Sie konnte die misstrauischen Blicke der anderen Síodhach auf ihrer Haut spüren, die sie jedes Mal verfolgten, wenn sie durch die Flure ihres neuen Heims und die Straßen von Kasdale ging.
»Du bist die Tochter der Herrin dieses Teil des Síd. Es wäre unhöflich, nicht zu erscheinen«, erklärte ihr Darach. Rona ließ die Schultern hängen. »Ich werde auf dich aufpassen und immer an deiner Seite sein«, versicherte er ihr.
»Ich habe wohl nicht wirklich eine Wahl«, murrte Rona.
Darach legte sich die Hand auf die Brust und verbeugte sich elegant. »Erlaubt mir Euch zu diesem Ball zu begleiten, Lady Rona Fearchara Drummond. Es wäre mir eine Ehre.«
Kapitulierend stieß sie die Luft aus und nahm die Grundstellung für einen Walzer ein, was ihr direkt eine irritierte hochgezogene Augenbraue von Darach einbrachte.
Rona lächelte bei der Erinnerung, wie Chris sie zu einem langsamen Song hin und her gewiegt hatte, während er wie festgewachsen auf der Tanzfläche gestanden hatte. Kurz bevor er sie zum Abschlussball abgeholt hatte, hatte ihm ihr Vater noch schnell die Schritte für einen Walzer beibringen wollen. Vergebens. Ihre Mutter hatte damals heulend Fotos von ihr und Chris gemacht und immer wieder vor sich hingemurmelt, dass ihr kleiner Engel nun eine erwachsene Frau sei. An jenem Abend hatte Rona es kaum erwarten können endlich aus dem Haus zu kommen, damit ihr Vater Chris – und sie – nicht weiterhin mit seinen verhörähnlichen Fragen in Verlegenheit brachte. Wehmütig seufzte Rona.
»Ich bin nur froh, dass ich dir kein Schwert in die Hand gegeben habe. So unachtsam wie du gerade bist, hätte ich um meinen Kopf bangen müssen«, meinte Darach und riss Rona aus ihren Träumereien.
Aus dem Takt geraten trat sie ihm auf den Fuß und murmelte eine Entschuldigung. Nicht die erste an diesen Abend. Die Tänze der Elfen erinnerten Rona an Mittelalterfilme. Immerzu drehte man sich im Kreis und lief nur hin und her. Darach und sie berührten sich nur selten.
»Wir sollten eine Pause machen«, entschied Darach.
»Es tut mir leid. Ich bin einfach nicht bei der Sache. Mir geht so viel durch den Kopf.« Zerknirscht rieb sich Rona die Stirn.
»Erzähls mir«, ermunterte er sie. »Oder geht es wieder um ihn?«
Rona schnaubte und warf ihm einen bösen Blick zu. Sie hatte Darach von Sean erzählt, weil sie die Hoffnung gehegt hatte, dass der dann aufhören würde ihr Avancen zu machen. Doch dem war nicht so. Außerdem wusste sie nicht, mit wem sie sonst über die intensiven und widerstreitenden Gefühle für den Druiden sprechen sollte. Ihn zu verlassen hatte so sehr wehgetan, dass sie am liebsten laut ihren Schmerz hinausgeschrien hätte. Aber ab einem gewissen Punkt hatte sie einfach gar nichts mehr gefühlt.
Obwohl sie seit vier Monaten im Síd lebte, kam es ihr manchmal so vor, als wären nur wenige Tage vergangen. In den ersten Wochen hatte sie nichts um sich herum wahrgenommen und war in ihrem Selbstmitleid ertrunken. Zu tief saß der Schock über die Ereignisse, die sie zur Flucht in eine fremde Welt voller Magie getrieben hatten. Manchmal wusste sie nicht, was ihr mehr zu schaffen machte: die Tatsache, dass Sean sie töten wollte oder dass sie nun in einem Reich mit Feen und Elfen zusammenlebte. Warum konnte ihr Leben nicht einfach ganz normal sein?
Islind hatte ihr Zeit gelassen, damit sie sich eingewöhnen konnte. Alle zeigten Geduld und Verständnis. Nur sie selbst nicht. Sie wollte die Grübeleien endlich hinter sich lassen und Sean vergessen. Ihr altes Leben war vorbei.
»Möchtest du spazieren gehen?«, bot Darach an und sie zuckte zusammen.
»Ein wenig frische Luft würde mir wohl guttun«, erwiderte sie nach einigem Zögern und folgte ihm die Treppe hinunter und hinaus in den Garten, der sich hinter dem Gebäude erstreckte. Schwere auberginefarbene Blüten, neigten sich ihr von allen Seiten des Pfades entgegen. Sie liebte es durch das dichte Blattwerk zu streifen, das einem Dschungel glich. Überall entdeckte man kleine Schätze: eine Skulptur, einen Pavillon oder einen kleinen Teich.
Darach lief schweigend neben ihr und überließ sie ihren trüben Gedanken. Irgendwann erschien einer der Wachen und unterhielt sich mit dem Irrwisch. Der gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie weitergehen solle, und so schlenderte Rona weiter durch das Labyrinth aus angelegten Wegen. Satte Grüntöne, die teilweise lavendelfarben schimmerten, und herrliche Ruhe umgaben sie. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, ohne darauf zu achten, wohin ihre Schritte sie führten. Ihre Gedanken ließ sie einfach an sich vorbeifließen, damit sie nicht in den Strudel ihrer schmerzlichen Erinnerungen geraten oder an einen Druiden mit kupferfarbenen Augen denken konnte.
Rona wusste nicht, wie lange sie so durch die Gegend gestreift war, aber irgendwann trat sie aus dem Wald hinaus auf blanken schwarzen Fels. Der abrupte Wandel der Landschaft riss sie aus ihrer Lethargie und ließ sie innehalten. Hier war sie noch nie gewesen. Sie stand hoch auf einer Klippe und unter ihr donnerten dunkle Wellen an das zerklüftete Ufer. Es wirkte wie ein Küstenstreifen an der Nordsee, nur dass die schäumende See fast schwarz war und sich am Horizont mit dem violetten sternenlosen Himmel verband. Die karge Landschaft wirkte rau und wild, aber dennoch beruhigend.