Nina Blazon
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© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe
cbt/cbj Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Hanna Hörl Designbüro München,
unter Verwendung eines Motivs von Valentina Kallias
KK · Herstellung: AnG
Lektorat: Susanne Evans
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-05658-2
V003
www.cbt-jugendbuch.de
Und er atmet wirklich?«, fragte Mo.
»Wäre ziemlich seltsam, wenn nicht«, antwortete Night trocken. »Schlafende Menschen atmen für gewöhnlich. Auch wenn man es bei dem da kaum sieht.«
Sie ließ den Blick über das Lager des Jungen schweifen, dann gähnte sie und streckte sich genüsslich. Im Rechteck des Fensters konnte Mo die Silhouette ihrer Freundin vor dem Nachthimmel gestochen scharf erkennen: die kräftigen Arme und die Hände, die erst zitternd vor Spannung in der Luft verharrten und sich dann, beim Herabsinken, zu lockeren Fäusten ballten. Night bemerkte Mos Blick, drehte sich zu ihr um und grinste. Ihre schwarze Haut verschmolz mit dem Halbdunkel des Zimmers. Dafür blitzten ihre Zähne umso heller. »Brauchst keine Angst vor ihm zu haben, Mondmädchen«, sagte sie. »Zumindest nicht, solange ich in der Nähe bin.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte Mo leise.
Aber die ganze Wahrheit war es natürlich nicht.
»Gut, wir haben ihn uns angeschaut«, flüsterte Cinna aus der anderen Ecke des Zimmers. »Jetzt lasst uns wieder gehen Ich finde es unheimlich hier.«
Night lachte. »Im Augenblick kann er uns nichts tun.«
Mit diesen Worten ging sie geradewegs zum Bett. Ihre Finger schlossen sich um das Handgelenk des Schlafenden. Er reagierte nicht darauf, als sie seinen Arm anhob, aber Mo wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Du wirst ihn noch aufwecken«, zischte Cinna.
Night ließ die Hand einfach los. Sie fiel auf die Brust des Jungen und blieb dort liegen. Atemlos starrten Mo und Cinna den Schlafenden an, aber er regte sich nicht.
»Seht ihr?«, sagte Night trocken. »Wir können ihn nicht wecken. Ich wette, ich könnte sogar auf seiner Brust herumtanzen, er würde es nur für einen schlechten Traum halten. Doch vermutlich schläft er ohnehin so tief, dass er ebenso wenig träumt wie ein Toter.«
Cinna wirkte nicht so, als würde diese Vorstellung sie beruhigen.
»Na gut«, meinte Night. »Ihr habt ihn ja gesehen. Die Lektion ist einfach: Wenn ihr einen von denen da findet, haltet euch weg von ihnen und hört nicht auf die Stimmen. Sie sind gefährlicher als die Gespenster, vergesst das nicht. Keine Regel von der Ausnahme. Und jetzt lasst uns abhauen. Die anderen warten ohnehin schon auf uns.«
Sie wandte sich von dem Jungen ab, huschte zum Fenster, zog sich mit einem geschmeidigen Schwung auf das Fensterbrett und von dort aus auf einen Ast des Baumes, der vor dem Haus stand. Sie mochte drei Leben alt sein, aber beim Klettern machte ihr immer noch keiner etwas vor.
Cinna trat ebenfalls zum Fenster. Nur Mo verharrte reglos neben der Zimmertür. Der ganze Raum war erfüllt von Träumen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sie sogar hören – dünne Stimmen, die von Dingen erzählten, die ihr fremd waren.
»Hör nicht auf die Stimmen«, wiederholte sie flüsternd Nights Ermahnung. Aber es war kaum möglich, das verlockende Wispern zu ignorieren.
Mitschüler. Motorrad. Werkstatt. Austauschjahr.
Sie fröstelte und riss die Augen wieder auf. Cinna hatte recht. Es war unheimlich, in einem Haus zu verweilen, in dem sich Träume wie in einem Spinnennetz fingen und im Todeskampf herumzappelten. Und noch weniger durfte sie diesen Traumworten lauschen. Auch ohne Nights Warnung hätte sie gespürt, dass diese Worte besondere Kräfte hatten, sie konnten einen verführen, schläfrig und willenlos machen und ins Verderben stürzen.
Andererseits – da war immer noch dieser Junge, von dem sie sich fernhalten musste.
Im Licht des Vollmonds war die Farbe seines Haares nicht eindeutig zu erkennen. Jedenfalls war es dunkler als das von Mo. Ihres war zudem glatt, seines dagegen ungezähmt und halblang. Eine Locke berührte seine Wimpern. Vielleicht waren seine Haare im Tageslicht braun, vielleicht schimmerten sie aber auch in einem satten Rot – so wie bei ihrer Schwester Cinna.
Mo schluckte und wagte einige Schritte ins Zimmer.
Jetlag, Foto, Brüder, Zweiherz, wisperte es. Mutter, Anruf, Abschied.
Als wäre sie nun doch in das klebrige Netz fremder Gedanken getappt, konnte sie nicht anders, als stehen zu bleiben.
Selbst im Liegen fiel auf, dass der Junge groß und muskulös war. Und staunend nahm sie wahr, dass sie ihn auf eine herbe Weise hübsch fand. Spannung lag auf seinen Zügen, seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen und sein Mund war fest verschlossen, als wollte er ein Wort festhalten, das ihm im Traum entflohen war.
Draußen raschelte Blattwerk, Zweige knackten. Night kletterte gerade am Baum in Richtung Boden. Das letzte Stück überbrückte sie mit einem Sprung. Mo hörte einen raschelnden Aufprall, dann die tiefen, rauen Stimmen von Coy und Ban. Die beiden hatten vor dem Haus gewartet, jetzt begrüßten sie Night. Irgendwo weit entfernt bellte ein Tier.
»Kommst du endlich?« Ihre Schwester saß auf dem Fensterbrett und wartete voller Ungeduld. Die Spiegelung des Monds fing sich in ihrem rechten Auge – eine flirrende helle Insel in einem dunklen See. »Beeil dich. Es wird schon bald hell.«
Mo wollte gehorchen und setzte sich in Bewegung. Der Boden war hart und kalt, ganz anders als die federnde Erde der Wälder. Sie ertappte sich dabei, wie sie schlich, ängstlich darum bemüht, den Untergrund so wenig wie möglich zu berühren. Sie war schon fast beim Fenster, als sie nicht mehr widerstehen konnte und sich doch noch einmal umsah. Es war seltsam, aber den Jungen zu betrachten, war, wie mit offenen Augen in den Mond zu blicken. Beruhigend, sanft – und in ihrem Inneren flatterte etwas Warmes, Helles, irgendwo zwischen Brust und Kehle.
»Was denkst du, Cinna, sehen seine Augen aus wie meine? Oder hat er blaue Wendigo-Augen?«
»Warum interessiert dich das?«
»Ich … weiß nicht. Ich will es einfach wissen.«
Ihre Schwester schnaubte nur verächtlich.
»Glaubst du, er träumt vielleicht doch?«, fragte Mo weiter.
»Die träumen doch alle«, gab Cinna ungeduldig zurück. »Und wir haben dann die Gespenster dieser Träume am Hals. Am besten bitten wir Ban, ihm das Genick zu brechen, dann haben wir eine Sorge weniger.«
»Nein!« Mo wich zum Lager des Jungen zurück und stellte sich schützend vor ihn.
Ihre Schwester lachte. »War doch nur Spaß, Bernstein. Glaubst du im Ernst, der Alte würde den da anfassen wollen? Glaub mir, er hält nichts von Menschenfleisch.«
Mo schauderte dennoch. Natürlich war ihr das Schicksal von Menschen völlig gleichgültig, aber die Vorstellung, dass diesem einen hier etwas geschehen könnte, löste eine nie gekannte Unruhe in ihr aus.
»Und jetzt komm«, schnappte Cinna. »Ich hasse diese Gegend, ich kann Häuser nicht ausstehen. Und dieses hier ist eine richtige Fallgrube voller Träume. Als würde der Kerl da drüben sie einfangen und sammeln.« Jetzt konnte sie kaum noch verbergen, wie viel Furcht sich hinter ihrer Grobheit verbarg.
Aber Mo hatte sich bereits vom Fenster abgewandt und schlich auf leisen Sohlen zum Lager zurück. Der tiefe Schlaf machte den Jungen wehrlos. Und dennoch – so nah war sie noch keinem Menschen gekommen. Furcht flirrte über ihre Haut, ein sachter Schauer von Gefahr – und auch ein Hauch von Tod. Die wispernden Stimmen wurden deutlicher, raunten und lachten. Es schienen freundliche Worte zu sein.
Handy. Frühstück. Onkel. Dreamcatcher.
Mo gab ihm nach, nur einen Moment – und schon trieb sie schwerelos und staunend in diesem Strom fremden Lebens. Der Junge holte tief Luft, und Mo ertappte sich dabei, wie sie es ihm gleichtat. Ein paar Atemzüge atmeten sie im Gleichtakt und es war wie eine eigene Magie.
Ob seine Haut warm ist?
»Mo, nicht!«
Aber heute gehorchte sie der Älteren nicht. Obwohl sich alle Härchen an ihrem Körper sträubten, ließ sie sich unendlich vorsichtig neben dem Jungen nieder. Sacht, als könnte ihre Gegenwart ihn tatsächlich wecken, legte sie sich neben ihn. Der erstickte Entsetzenslaut ihrer Schwester beunruhigte sie nicht. Dafür fühlte sich seine Nähe viel zu sicher an – und auf eine fremde Weise richtig. Mutiger geworden – und natürlich auch, um Cinna noch etwas mehr zu ärgern – schmiegte sie sich an den Jungen und lehnte ihre Stirn gegen die pochende Stelle direkt unter seiner Kieferlinie. Ihr wurde so schwindelig, dass sie die Augen schließen musste. Mit leisem Rascheln fuhren ihre Wimpern über seine Haut. Es musste ihn kitzeln, aber er erwachte nicht.
Er duftete nicht nach Gewitter und sonnenwarmen Blättern, sondern nach etwas Frischem, nach Tau und Verheißung. Schatten der Träume, die durch seinen Schlaf irrten, spiegelten sich hinter ihren geschlossenen Lidern. Es waren ruhelose, grelle Erinnerungen an Tageslicht und einen blauen Himmel, an Stahl und Glas und Mädchenlachen.
Mädchen.
Das gab ihr einen Stich. Und auch diesmal wusste sie nicht, warum. »Er träumt tatsächlich«, murmelte sie verwundert. »Von einem Mädchen, das er kennt. Sie hat langes schwarzes Haar und etwas, das er Indianeraugen nennt. Er mag sie, sehr sogar. Er spielt mit anderen Menschen, um einen runden Gegenstand, es ist kein Schädel und auch kein Stein. Und da ist auch ein gelber Kojote. Nein, es ist ein … Hund? Er ruft ihn bei einem Namen. Feathers. Und er …«
»Mo, pass auf!« Der schrille Schrei schreckte sie auf.
Sie riss die Augen auf, machte sich gewaltsam aus der Umklammerung der Traumbilder los, bereit, aufzuspringen und zu flüchten. Aber es war zu spät. Ein Arm legte sich über ihre Brust, ihre Schulter. Der Junge umarmte sie!
»Night!« Panik verzerrte Cinnas Stimme. »Er ist aufgewacht und greift Mo an!«
Der Junge hörte sie nicht. Im Schlaf drehte er sich ein weiteres Stück zur Seite. Nun lagen sie Brust an Brust, Mo in seinen Armen. Sie spürte ihre Herzen schlagen – seines ruhig und stark, ihres vor Schreck flatternd wie ein gefangener Fink. Seine Lippen waren nicht länger zusammengekniffen, nein, sie wirkten sanft und schienen sogar lächeln zu wollen.
»Er wird sie töten!«, kreischte Cinna. Aber ihre Stimme klang so weit weg, dass Mo kaum noch unterscheiden konnte, was sein Traum und was ihre Welt war.
»Hör auf zu schreien, Cinna«, murmelte sie. »Er tut mir doch gar nichts, er hat sich nur im Schlaf umgedreht. Er weiß nicht einmal, dass ich da bin.«
In diesem Moment blinzelte der Junge und schlug die Augen auf.
Zweige brachen draußen unter dem Gewicht von Nights Körper. Nachtvögel flatterten auf. Aber Mo hörte nichts mehr. Sie staunte nur noch. Ihrer beider Atem vermengte sich zu einem einzigen Strom, während sie einander ansahen. Mondlicht fiel auf sein Gesicht und brachte sein rechtes Auge zum Leuchten. Es war ganz sicher kein Wendigo-Blau und auch nicht das Goldbraun ihrer eigenen Iris. Der Junge hatte helle, vielleicht grüne Augen. Er sah sie verwundert an – und dann lächelte er.
Ihr Herz machte einen Satz, doch dann begriff sie, dass er mit offenen Augen träumte. Er meint gar nicht mich, er sieht das Mädchen. Die Schöne mit den Indianeraugen.
Er schloss die Augen, der Arm glitt von ihr herunter, seine Finger strichen dabei abwesend über ihren Hals und kamen schließlich auf seinem Schlüsselbein zur Ruhe.
»Hol sie da weg, Night«, rief Cinna. »Schnell!«
Mo drängte sich näher an ihn, suchte nach seinem Herzschlag, seinem Leben, seinen Träumen.
Im nächsten Moment gruben sich starke Finger schmerzhaft in ihren Oberschenkel. Night hatte sie mit beiden Händen am Bein gepackt. Der Atem blieb ihr weg, als die Älteste sie einfach vom Lager zerrte. »Lass mich!«, fauchte sie.
»Nicht bevor du wieder zur Vernunft kommst!«
Mo trat und biss um sich, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Griff, aber Night war viel stärker als sie. Es polterte, als Mo vom Lager glitt und unsanft auf dem harten Boden aufkam. Dann wurde sie über den Boden zum Fenster geschleift. Sie wollte gerade protestieren, als ihr die Luft wegblieb. Nights Arme schlossen sich um ihren Leib und ihren Hals. Sie riss Mo einfach hoch und hob sie über das Fensterbrett. »Nicht!«, rief Cinna entsetzt aus.
»Bist du verrückt?«, keuchte Mo. »Du kannst mich doch nicht …«
»Glaub mir, ich bin nicht halb so verrückt wie du«, gab Night zurück und ließ sie fallen.
Mo konnte nicht schreien. Viel zu tief saß der Schreck. Instinktiv versuchte sie noch im Fallen einen Zweig zu schnappen, doch sie glitt ab. Wind zerrte an ihrem Haar, sie spürte kaum, wie sie sich in der Luft drehte, verzweifelt darum bemüht, wenigstens auf den Beinen zu landen. In ihrem Augenwinkel huschte der Vollmond in einem bizarren Bogen davon – dann bremste ein weicher und doch harter Schlag ihren Fall. Alle Luft wurde aus ihren Lungen gedrückt, und ihre Stirn pochte, weil sie gegen eine Schulter geprallt war. Doch nun ruhte sie sicher in einer starken Umarmung.
»Hallo, Mo.« Bans tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr. »Lernst du fliegen?«
Sie strampelte und trat um sich, entwand sich ihm und sprang zur Seite. Schwer atmend und mit zitternden Beinen stand sie da.
Coy musterte sie amüsiert. Sein hageres Gesicht mit den gelben Augen hatte im Mondlicht einen besonders verschlagenen Ausdruck.
»Kleiner Streit mit der Dunklen?«, meinte er. »Musst sie ja ganz schön geärgert haben, wenn sie dich gleich aus dem Fenster wirft.«
Im selben Augenblick landeten Night und Cinna im raschelnden Laub.
»Bist du wahnsinnig?«, schrie Cinna. »Mo hätte sich alle Knochen brechen können!«
»Besser ein paar gebrochene Knochen als Menschenmagie«, gab Night hart zurück. »Habe ich euch nicht gerade erklärt, wie die Regeln lauten?«
»Du wolltest ihn uns doch unbedingt zeigen«, rief Mo. »Warum schleppst du uns zu ihm, wenn du solche Angst vor ihm hast?«
Nights Augen hatten das gefährliche dunkle Funkeln bekommen, das normalerweise sogar Mo verstummen ließ.
»Ich wollte, dass ihr lernt, Grünschnäbel. Deshalb habe ich ihn euch gezeigt. Ihr solltet lernen, wann es ungefährlich ist, sich ihnen zu nähern. So, wie ich euch beigebracht habe, dass man niemals, niemals! an ihre Träume rührt.«
»Was hat sie denn getan?«, wollte Coy wissen.
»Angefasst hat sie ihn«, stieß Night hervor.
Ban richtete sich auf. Bisher hatte er die Auseinandersetzung so ruhig wie immer verfolgt, nun aber trat er neben Night. Sie war groß, aber neben ihm wirkte sie winzig. Sein rundes, gutmütiges Gesicht schien mit einem Mal fremd. Schattige Augenhöhlen, in denen etwas zu kleine dunkelbraune Augen glänzten.
»Ich berühre, wen und was ich will«, sagte Mo. »Außerdem hat Night damit angefangen.«
»Ich weiß ja auch, wie ich mit ihnen umgehe«, wies Night sie scharf zurecht. »Ich bin alt genug, um mich gegen die Träume zu schützen. Aber ihr nicht, ihr seid jung, gerade mal einen Sommer alt, ihr kennt die Gefahr noch nicht. Und außerdem«, ihre Stimme sank zu einem drohenden Flüstern. »Wenn er aufwacht, bin ich stärker als er.«
Mo schauderte. Night wusste, wie man tötete, und sie verschwendete nicht viele Gedanken an das Für und Wider. Und das, was Mo vorher lediglich als Ahnung wahrgenommen hatte, wurde plötzlich ganz klar: Sie hatte Angst um den Jungen! Und sie wollte zurück in das Zimmer, zu seinem Duft nach Tau und Verheißung.
Cinna schien diese Sehnsucht zu spüren, sie warf ihr einen irritierten Blick zu, aber dann trat sie neben Mo. Nun standen sie Schulter an Schulter und boten gemeinsam den zwei Ältesten die Stirn. So war es immer, wenn sie Streit hatten: Ban und Night auf der einen Seite, beide dunkel, beide stark und auf gefährliche Art ruhig. Auf der anderen die hellen Schwestern. Coy stand wie immer etwas abseits, abwartend und beobachtend, ohne eine Partei zu ergreifen, bevor er wusste, wer aus dem Machtkampf als Sieger hervorgehen würde.
»Das Erschreckende ist, er hätte sich gar nicht bewegen dürfen«, sagte Night. »Keine Ahnung, wie du es fertiggebracht hast, aber du hättest ihn beinahe aufgeweckt.« Und noch leiser fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass ihr den Menschen näher steht als wir. Aber ich wusste nicht, dass ihr tatsächlich zu ihnen vordringen könnt.«
Ban blickte zum Fenster hoch. Es war ein Blick, der Mo gar nicht gefiel. »Das klingt nicht gut«, meinte er. »Wenn es so ist, müssen wir gleich dafür sorgen, dass er nie mehr …«
»Wage es nicht, ihn anzurühren«, schrie Mo. Der Zorn wallte so jäh in ihr auf, dass sogar der Mond dunkler zu werden schien.
Night und Ban starrten sie an, als sei sie nun endgültig verrückt geworden. Selbst Coy war so verblüfft, dass er sich eine spöttische Bemerkung sparte. Irgendwo in der Nähe bekämpften sich zwei Kater fauchend und jaulend.
Vielleicht bin ich ja tatsächlich verrückt, dachte Mo. Doch es fühlte sich … richtig an.
»Was ist los mit dir?«, fragte Ban.
»Nichts ist los! Ich habe nur genug von euch. Genug von dem Gerede über Gefahr. Und genug von deinen Belehrungen, Night.«
Bans Augen verengten sich und Nights Hände ballten sich zu Fäusten. Mo war sicher, dass sie gleich ein Schlag von den Beinen holen würde. Auch Cinna hielt den Atem an, aber sie wich keinen Schritt. Und obwohl Mo vor Angst bebte, war sie unendlich froh, dass ihre Schwester immer zu ihr hielt. Und nicht nur das: Cinna konnte viel besser bluffen als Mo.
»Es reicht«, sagte sie erstaunlich gelassen. »Ihr treibt sie nur in die Enge, und ihr wisst, dass ihr sie damit am wenigsten davon abhalten könnt, zu tun, was sie will.« Und zu Mo gewandt, fügte sie hinzu: »Und du gibst auch Ruhe. Wir gehen zum Fluss.«
Noch einige Sekunden starrte Ban sie nachdenklich an. Und dann war es entschieden.
»Komm«, sagte er zu Night. »Die Rote hat recht. Der Hitzkopf wird sich schon wieder abkühlen.« Er wandte den Blick ab und schickte sich an zu gehen.
Night zögerte, aber dann wich die Spannung aus ihren geballten Fäusten. Sie atmete durch und folgte Ban, der bereits fast außer Sichtweite war.
Coy stand noch eine Weile da, unschlüssig, wem er folgen sollte, dann schloss er sich natürlich den beiden Ältesten an.
»Komm«, raunte Cinna. Und Mo gehorchte.
Beim letzten Blick über die Schulter sah sie, wie Night sich ebenfalls umdrehte, als wollte sie sich vergewissern, dass die Schwestern wirklich nicht zum Haus zurückkehrten. Dann verlor sich ihre Silhouette in der Dunkelheit.
Cinna und sie nahmen den Weg in Richtung Fluss, sie liefen Schulter an Schulter, aber sie sprachen kein Wort. Erst als sich schon der Geruch von Wasser in ihren Nasen fing, blieb Cinna stehen und funkelte Mo an. »Was ist vorhin passiert? Was ist so wichtig an ihm, dass du dich mit den Ältesten anlegst und ihnen sogar drohst?«
Mo schluckte. »Ich weiß es nicht. Er … war mir so nah. Night erzählt uns immer, dass sie verwirrt und wertlos sind und nichts wissen über die Welt. Aber ich habe so vieles mit seinen Augen gesehen. Auch, dass er geflogen ist.«
»Trug! Menschen können nicht fliegen.«
»Doch. Er kam über den Himmel hierher. Er konnte wie ein Adler von oben auf das Land und auf das Meer blicken. Er stammt aus einem anderen Land, in dem die Sonne in der Nacht aufgeht und der Mond am Tag scheint. Und außerdem«, sie senkte ihre Stimme zu einem Wispern, »hattest du recht. Er sammelt Träume! In flachen, eckigen Behältern. Darin sind sie als runde silberne Mondscheiben aufbewahrt. Das Licht dieser Scheiben flackert dann über eine helle Wand. Wie Mondschein, nur bunt und hell, und mit schattenhaften, riesigen Bildern.«
Cinnas Augen wurden vor Entsetzen groß. »Er ist so was wie ein Traumfänger?«
»Vielleicht.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Warum wohl? Weil ich nicht will, dass Ban ihm etwas tut.«
Cinna starrte sie fassungslos an. »Warum beschützt du ihn?«
Mo antwortete nicht, dennoch huschte die Erkenntnis über Cinnas Züge. Und dann die nackte Angst. »Er gefällt dir!«, brachte sie mühsam heraus.
Mo schwieg immer noch. Wie hätte sie Cinna auch sagen können, was sie selbst erst in diesem Moment begriff: Ja, und ich muss ihn wiedersehen.
»Night hat recht«, stieß Cinna hervor. »Du bist verrückt. Und du übertreibst immer! Du bist leichtsinnig, greifst nach jeder Schlange, und jede Schneeflocke, jedes Blatt lenkt dich ab, du bringst dich in Gefahr …«
»Ich war nicht in Gefahr«, beharrte Mo. »Und es kann doch nicht die Antwort sein, ihnen das Genick zu brechen. Wie können wir wissen, was es wirklich mit ihnen auf sich hat, wenn Ban und Night jeden, der wach ist, einfach umbringen?«
Ihre Schwester fluchte, dann drehte sie sich um und huschte davon. Einen Wimpernschlag später war sie im Dickicht verschwunden. Mo seufzte. Es war typisch für Cinna, die Flucht zu ergreifen, wenn die Furcht zu stark wurde.
Sie kämpfte gegen den Sog an, der von dem Jungen und dem Haus voller Träume ausging, dann aber widerstand sie und folgte ihrer Schwester.
Sie fand sie auf dem Dach eines Gebäudes, fast schon am Fluss. Es war ein würfelförmiges, altes Gebäude, ebenfalls aus braunem Sandstein, mit morschem Dach. Der Vollmond umspielte Cinnas Mondgestalt. Lange, schlanke Glieder, weiße Haut und Haar, das zwar tiefrot war, aber auch einen sanften zimtfarbenen Schimmer hatte, der Cinnamon ihren Namen gab.
Jemand, der uns heute sieht und flüchtig hinschaut, könnte uns für Menschen halten, dachte Mo. Und Cinna weiß das ganz genau. Vielleicht fürchtet sie sich deshalb so sehr?
Auf leisen Sohlen balancierte sie an der Dachkante entlang und ließ sich neben ihrer Schwester nieder. Cinna regte sich nicht, sie starrte, ohne zu zwinkern, auf die andere Seite des Flusses, aber ihr schneller Atem verriet, wie aufgewühlt sie war.
»Als er sich bewegte, dachte ich, er würde dich töten«, sagte sie nach einer Weile. Ihre Stimme bebte und das Zittern darin schien sich auf Mo zu übertragen. Manchmal, besonders in Vollmondnächten, fühlten sie einander auf diese Weise.
»Ich weiß«, antwortete Mo und musste sich räuspern.
»Jag mir nie wieder eine solche Angst ein!«
Mo senkte den Blick und nickte. Behutsam tastete sie nach Cinnas Hand. Ihre Finger fanden sich und verflochten sich ineinander, eine ungewohnte Berührung, die dennoch guttat.
»Sieh dir das an.« Cinna deutete mit einer lässigen Geste über den Fluss.
Ein seltsamer Turm erhob sich dort. Gedrungen war er und unglaublich hoch, oben verjüngte er sich und lief in eine lange Spitze aus, die von hier aus gesehen wie ein dünner Eiszapfen wirkte, der nicht nach unten hing, sondern zu den Sternen wies. Das ganze oberste Stück dieses Turmes erstrahlte vor dem Nachthimmel in einem gleißenden weißen Schein.
Eine Weile saßen sie nur blinzelnd da und bestaunten dieses auffälligste Zeichen der Menschen an diesem Ort.
»Warum gefällt das Licht ihnen nur so gut? Es schwächt den Mond und die Sterne. Die Nacht ist nicht mehr so dicht.«
»Night sagt, sie mögen die Dunkelheit nicht«, erwiderte Mo. »Sie sagt, manche können nicht einmal ertragen, wenn welche von ihnen dunkel sind. Schon dunkle Haut erinnert sie an die Nacht, vor der sie sich fürchten.«
Cinna verzog die Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. »Sie fürchten sich vor allem, sagt man. Feiglinge.«
»Was, wenn sie gar nicht feige sind?«
»Wie meinst du das?«
Mo schluckte und leckte sich über die Lippen. Eine Geste der Verlegenheit und des Zauderns, die sie immer wieder selbst überraschte. Ich muss ihn wiedersehen. Diese Worte waren wie ein Zauber. Selbst der Turm schien noch heller zu strahlen. So, als würde die Menschenwelt ihr Einlass gewähren, sie locken und zu sich ziehen.
»Na ja, ich überlege nur … was, wenn ich ihn wirklich aufwecken und mit ihm sprechen könnte? Ihn kennenlernen und …«
»Mo!«
Wenn sie lange genug hinsah, konnte sie erahnen, dass der Turm Fenster hatte und hinter den Fenstern Menschen waren. Und der Wind schien wispernde Stimmen mit sich zu tragen, die den Namen des Turmes flüsterten: Empire State…
»Sieh nicht hin!«, befahl ihr Cinna. »Sieh mich an! Du redest wie eine Mondsüchtige.«
»Aber vielleicht haben wir beide ja die Macht dazu. Und Night und Ban ahnen nichts davon. Oder vielleicht wissen sie es ja und wollen es nur nicht wahrhaben, dass unsere Magie stärker ist als ihre und …«
Cinna schnappte nach Luft und sprang auf. Im nächsten Moment zuckte Schmerz durch Mos Wange. Empört schrie sie auf und kam auf die Beine. Der Abdruck von Cinnas Hand brannte auf ihrer Wange. Ihre Schwester packte sie bei den Schultern und zwang sie, sich von der Flussseite abzuwenden. »Hör auf damit«, schrie sie.
»Du gibst mir keine Befehle!« Mo entwand sich mit einer heftigen Bewegung, aber ihre Schwester war größer als sie und sie wusste besser zu kämpfen. Ehe Mo es sich versah, war sie zum zweiten Mal in dieser Nacht in zwei starken Armen gefangen.
»Du versprichst mir, dass du keine Dummheiten machst«, zischte Cinna. »Versprich mir, dass du nicht mehr zu dem Haus gehst. Ich spüre doch, dass du daran denkst!«
Doch dann schrie sie auf und ließ los. Auf ihrem blassen Unterarm zeichneten sich Zahnabdrücke ab, ein kleiner Kranz von Vertiefungen, die bald wieder verschwunden sein würden.
Mo sprang zurück. Die scharfe Dachkante bohrte sich in ihre Sohlen.
Cinna starrte sie fassungslos an. Dann drehte sie sich um und ließ Mo einfach stehen.
»Cinna, warte!«
Das morsche Dach knirschte unter ihren Sohlen, als Mo ihrer Schwester folgte. Auf allen vieren landete sie ebenfalls im trockenen Herbstlaub. Schwer atmend verharrte sie mit gespannten Gliedern. Für einige Momente hatte sie den Jungen vergessen, aber nun war da wieder dieses Ziehen, diese Sehnsucht. Alles in ihr drängte sie dazu, zu ihm zu laufen. Doch der andere Teil wusste nur zu genau, dass sie ihrer Schwester folgen würde. Folgen musste.
Also schloss sie nur kurz die Augen und rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis. Den Mund, das Lächeln und die Augen, die das andere Mädchen sahen, wenn er träumte.
»Ich komme morgen wieder zu dir«, flüsterte sie. »Ich habe dich umarmt. Du gehörst mir.«