Cover

Zum Buch

»Mir wird keiner Grenzen setzen, die ich nicht akzeptieren kann.« So beschreibt Tilman Jens, der große Autor, Journalist und Schriftsteller, seine Lebenshaltung. Keiner – das heißt: auch der Diabetes nicht, der Zug um Zug von seinem Körper Besitz ergriff.

Tilman Jens stellt die großen Fragen, wenn er in diesem letzten Dokument seines Schaffens von seinem langsamen Dahinschwinden erzählt: Wie wollen wir unser Leben leben? Gestalten wir es selbst, gehen wir unseren eigenen Weg – oder lassen wir uns von anderen Menschen oder den Umständen vorschreiben, wie wir zu leben haben?

Wollen wir frei und selbstbestimmt leben, auch wenn es mitunter schwierig und schmerzhaft ist – oder passen wir uns an?

Und wie soll unser Sterben und Tod sein? Erleiden wir unser Ende – oder nehmen wir es selbst in die Hand?

Tilman Jens hat auf diese Fragen so klar und deutlich geantwortet, wie es nur irgend möglich ist: Mit seinem eigenen Tod hat er ein letztes Statement gesetzt.

Zum Autor

Tilman Jens (19542020) lebte als Journalist zuletzt in Leipzig. Er brach Tabus und sprach, filmte und schrieb mutig darüber, was ihm wichtig war. Als freier Autor und Filmemacher arbeitete er unter anderem für die ARD, Arte und 3Sat. Insgesamt veröffentlichte Tilman Jens elf Bücher. In den Medien breit diskutiert wurde sein Buch über die Erkrankung seines Vaters Walter Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater (2009). Als Antwort auf diese leidenschaftliche Debatte veröffentlichte er 2010 Vatermord  wider einen Generalverdacht. 2011 folgte Freiwild. Die Odenwaldschule  Ein Lehrstück von Opfern und Tätern, eine Rückschau auf Jens’ Jahre in einem skandalumwitterten Internat; 2013 die Streitschrift Der Sündenfall des Rechtsstaats. 2014 erschien zusammen mit Heribert Schwan Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle. 2015 mit Du sollst sterben dürfen ein Buch zur Patientenverfügung und 2017 Stephen Bannon. Trumps dunkler Einflüsterer.

TILMAN JENS

Die

Freiheit

zu leben

und

zu sterben

EIN BEKENNTNIS

Wenn Sie selbst sich in einer akuten Krise befinden oder einen gefährdeten Menschen kennen, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222

(Telefonseelsorge Österreich: 142/Schweiz: 143).

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 06/2021

Copyright © 2021 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-22346-5
V001

www.Ludwig-Verlag.de

Inhalt

Vorbemerkung

von Heribert Schwan

Untergehen gilt nicht

Vorwort von Tilman Jens

01

Der Bescheid

02

In der Risikogruppe

03

Die Diagnose

04

Ursachenforschung: Das Problem bin ich

05

Der halbe Mann

06

Endzeitstimmung: Mein Diabetes in den Zeiten von Corona

Statt einer Erklärung: »Du sollst sterben dürfen«

Vortrag von 2015

Die letzten Monate, Wochen, Tage

Nachwort von Heribert Schwan

Für den Hurrikan

Eine Erinnerung von Matthias Jim Günther

Quellennachweis

Zu den Autoren

Vorbemerkung

von Heribert Schwan

Vor uns liegt das letzte Projekt von Tilman Jens: Ein Buch über Diabetes sollte es werden, über seinen Diabetes Typ 2. Genauso ehrlich und rückhaltlos sollte es werden wie Demenz, das 2009 veröffentlichte Buch über den Abschied von seinem Vater Walter Jens – nur dass sein unerbittlich genauer Blick diesmal ihm selbst, dem eigenen Leben galt. Und so geriet es ihm unter der Hand zu mehr als dem geplanten Buch über seinen Diabetes, es wurde umfassender, autobiographisch. Es geht ums Leben, unterhaltsam, knapp und aufrichtig erzählt, sein ganzes Leben.

Zu großen Teilen hat Tilman Jens dieses Buch geschrieben, fünf von den geplanten sechs Kapiteln liegen vor. Es blieb unvollendet. Am 29. Juli 2020 hat er seinem Leben ein Ende gesetzt.

Wir lesen das Buch von diesem Ende her und begreifen: Tilman Jens erzählt von einem angekündigten Tod, von seinem Tod. Von der ersten bis zur letzten Seite geht es ums Sterben, um das unausweichliche Ende und wie damit umzugehen sei.

Hier spricht ein großer Autor, Journalist und Schriftsteller von einem Thema, das uns alle in der einen oder anderen Form bewegt: Wie wollen wir unser Leben leben? Gestalten wir es selbst, gehen wir unseren eigenen Weg – oder lassen wir uns von anderen Menschen oder von den Umständen vorschreiben, wie wir zu leben haben?

Wollen wir frei und selbstbestimmt leben, auch wenn es mitunter schwierig und schmerzhaft ist, oder passen wir uns an?

Und wie soll unser Sterben und Tod sein? Erleiden wir unser Ende – oder nehmen wir es selbst in die Hand?

Das sind die Fragen, die dieses letzte Buch von Tilman Jens durchziehen, es sind die Fragen, die im Zentrum der Debatte über das Recht auf einen selbstbestimmten Tod stehen. Mit seiner Entscheidung hat Tilman Jens auf diese Fragen so klar und deutlich geantwortet, wie es nur irgend möglich ist.

*

Untergehen gilt nicht

Vorwort von Tilman Jens

Ich bin einer von geschätzt über sieben Millionen Bundesbürgern, deren Zuckerstoffwechsel nicht mehr funktioniert. Ich weiß seit Jahrzehnten um den Befund und habe alles darangesetzt, die gravierenden Folgen der Diagnose zu verdrängen. Mein Körper gleicht einer Großbaustelle. Die Leistungskraft des Herzens nimmt ab, Augen und Ohren werden schwächer. Der Muskelabbau hat dramatische Züge angenommen, was vermutlich Folge eines neuen Diabetesmedikamentes ist.

Beide großen Zehen wurden mir wegen Durchblutungsstörungen amputiert. Ich muss damit rechnen, irgendwann ist der Vorderfuß dran. Dann werde ich ohne Prothese nicht mehr laufen können und meine Wohnung im dritten Stock kaum noch erreichen. Ich habe Angst vor Demenz, ich habe Angst davor, nicht mehr arbeiten zu können.

Ich will darüber nachdenken, wie ich mir diese Krankheit zugezogen habe. Was ich hätte verhindern können, verhindern müssen. So präzise wie irgend möglich werde ich von den Stationen ausgeschlagener Therapieangebote erzählen. An Chancen hat es nicht gefehlt. Mehr als zehnmal war ich in unterschiedlichen Kliniken und Sanatorien.

Der Weg von meiner frühen Begeisterung fürs Journalistenleben bis zum Verkennen meiner fatalen Krankheit scheint weit – ist es freilich nicht. Mich faszinierten Geschichten, die Probleme des Alltags schob ich beiseite und delegierte sie gern. Um Altersvorsorge habe ich mich nie ernsthaft gekümmert und in vollen Zügen aus dem Augenblick gelebt.

Was ich protokollieren möchte: Meine irreversible, über kurz oder lang todbringende Krankheit ist untrennbar mit meinem rastlosen Freiberuflerdasein verbunden, das ich über Jahrzehnte hinweg als schieres Glück, als vornehmliches Lebenselixier empfand. Der Beruf: ein Abenteuerspielplatz und ein Reservat von Widerständigkeiten zugleich. Ich habe in bald einem halben Jahrhundert so manchen Mächtigen, allzu Selbstgewissen in Kultur und Medien, in Staat und Kirche bekennend geärgert. Nicht selten habe ich kräftig Prügel dafür bezogen.

Ich habe, stets auf der kompromisslosen Suche nach einem neuen Arbeitsabenteuer, Freundschaften verkommen lassen, Vorgesetzte, auch solche, die es gut mit mir meinten, mit meiner gelegentlich wenig diplomatischen Art, meiner Lust an der Fehde für immer vergrätzt. Treu geblieben bin ich in der Rückschau nur meinem Beruf. Für ihn habe ich sehenden Auges, bewusst, meine Gesundheit, meine Existenz aufs Spiel gesetzt.

Nein, ich hadere nicht, aber ich habe vieles kaputtgeschlagen und alles, was meinem Erkundungswahn im Wege stand, ohne Rücksicht auf Verluste wie ein Bulldozer beiseite geräumt. Gelegentliche Ängste und Selbstzweifel habe ich mit viel gutem Essen und gehörigen Mengen Alkohol kompensiert. Hedonismus als Variante des Verdrängens. Für meine sich langsam ausbreitende Krankheit war in meinem Leben kein Platz. Ich habe nicht über den Tellerrand geschaut – und bin mir am Ende selbst abhandengekommen – aber: Schön, turbulent und aufregend war es doch! Das faszinierende Bild von der Kerze, die an beiden Enden brennt … Reue empfinde ich nicht, ganz im Gegenteil – auch wenn das Ende vermutlich bitter sein wird und mir in der konkreten Vorstellung Angst macht.

Mein Lebensplan war eindeutig: Arbeiten, solange es irgend geht. Und wenn dann die Kräfte eines Tages nicht mehr reichen, in Dankbarkeit und mit Trotz aus dem Leben scheiden: Schlaftabletten, eine Flasche Wodka und eine übergestülpte Plastiktüte. Hemingway hat’s auf seine Weise vorgemacht. The party is over. Nach mir die Sintflut!

Tilman Jens

Sarajevo, im August 2019