Das Buch
Es herrscht Krieg im Imperium – ein Krieg, von dem die meisten Planeten bislang verschont wurden. Zu verdanken haben sie dies dem aufopfernden Dienst der neun Lyctoren, mächtigen Nekromanten und Supersoldaten, die dem Imperator im Kampf gegen die Angriffe eines todbringenden Feindes helfen. Harrow Nonagesimus, die Erbin des Neunten Hauses, ist nun eine von ihnen, doch der Dienst, der von ihr verlangt wird, ist so ganz anders als erwartet. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr – ist bei ihrer Transformation in eine Lyctorin etwas schiefgegangen? Warum kann sie sich nicht richtig daran erinnern, wer sie vorher war? Während Harrow noch herauszufinden versucht, was ihre eigentliche Aufgabe ist, rückt eine nekromantische Bestie von geradezu planetaren Ausmaßen näher. Ein Kampf scheint unvermeidlich, und Harrow weiß nicht, ob sie ihn überleben wird …
Die Autorin
Tamsyn Muir ist in Howick, Neuseeland aufgewachsen und wohnte lange Zeit in Wellington. Inzwischen lebt und arbeitet sie in Oxford, England. Für ihre Science-Fiction-, Fantasy- und Horror-Kurzgeschichten war sie bereits für den Nebula Award und den World Fantasy Award nominiert. Nach »Ich bin Gideon« setzt sie ihre aufsehenerregende Nekropunk-Serie mit »Ich bin Harrow« fort.
Besuchen Sie uns auf:
TAMSYN MUIR
ICH BIN
HARROW
ROMAN
Aus dem Englischen übersetzt
von Kirsten Borchardt
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und
enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung.
Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch
unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder
öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer
Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen
nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe:
HARROW THE NINTH
Copyright © 2020 by Tamsyn Muir
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Printed in Germany
Illustrationen: Gregory Manchess
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,
unter Verwendung eines Motivs von Tommy Arnold
Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-27705-5
V001
diezukunft.de
Für Isa Yap,
die Harrow zu gut verstanden hat
und ohne die so vieles von mir nicht geschehen wäre,
und
für pT
♦
DRAMATIS PERSONAE
Der Imperator der Neun Häuser
»A.L.«, seine Leibwächterin
Augustine der Erste
Alfred Quinque, sein Kavalier
ERSTER HEILIGER IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Mercymorn die Erste
Cristabel Oct, ihre Kavalierin
ZWEITE HEILIGE IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
ORTUS der Erste
Pyrrha Dve, seine Kavalierin
DRITTER HEILIGER IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Cassiopeia die Erste
Nigella Shodash, ihre Kavalierin
VIERTE HEILIGE IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Cyrus der Erste
Valancy Trinit, seine Kavalierin
FÜNFTER HEILIGER IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Ulysses der Erste
Titania Tetra, seine Kavalierin
SECHSTER HEILIGER IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Cytherea die Erste
Loveday Heptane, ihre Kavalierin
SIEBTE HEILIGE IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Anastasia die Erste
Samael Novenary, ihr Kavalier
Ianthe die Erste
Naberius Tern, ihr Kavalier
ACHTE HEILIGE IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Harrowhark die Erste
NEUNTE HEILIGE IM DIENST DES UNSTERBLICHEN KÖNIGS
Eins steht für den Ersten, Imperator genannt,
und für die Lyctoren, ihm treu zugewandt,
und für die Heiligen, in grauer Vorzeit erwählt,
und für die Gehilfen, mit Schwertern vermählt.
Zwei steht für Disziplin in harter Zeit,
Drei für Freud am Lachen oder edlem Geschmeid,
Vier für die Treue, nach vorn stets gewandt,
Fünf für die Schuld, die den Toten bekannt,
Sechs für die Wahrheit statt falschem Trost,
Sieben für Schönheit, verblühend liebkost,
Acht für Errettung zu jedem Preis,
Neun für die Gruft – und was verloren man weiß.
![]() | PROLOG |
DIE NACHT VOR DER ERMORDUNG DES IMPERATORS |
DEIN QUARTIER WAR SCHON LANGE in fast völlige Dunkelheit getaucht und bot daher keine Ablenkung mehr von dem erschütternden Wumms – Wumms – Wumms der Aufschläge, mit dem sich ein Körper nach dem anderen auf die große Masse warf, die den Rumpf bereits einhüllte. Es gab nichts zu sehen – die Fensterschutzplatten waren geschlossen –, aber du konntest die schrecklichen Vibrationen fühlen, hörtest das Knarren von Chitin auf dem Metall und das unheilvolle Geräusch, mit dem schwammige Klauen den Stahl zerdrückten.
Es war sehr kalt. Ein feiner Schimmer von Raureif überzog deine Wangen, dein Haar, deine Augenwimpern. In dieser erstickenden Dunkelheit trat dein Atem als kleines Wölkchen von feuchtem, grauem Rauch aus deinem Mund. Du hast die Reaktion deines Körpers auf die unmittelbare Annäherung verstanden. Schreien war das Geringste, was passieren konnte.
Gottes Stimme drang sehr ruhig aus dem Interkom:
»Zehn Minuten, bis sie durchbrechen. Die Klimaanlage wird noch eine halbe Stunde funktionieren … anschließend werdet ihr wie im Backofen arbeiten. Die Türen bleiben unten, bis der Druck sich ausgleicht. Haltet alle eure Temperatur. Harrow, ich lasse deine Tür so lange wie möglich verschlossen.«
Du kamst stolpernd auf die Beine, hast die durchsichtigen Röcke mit beiden Händen zusammengerafft und dich bis zum Interkom-Knopf vorgetastet. Eigentlich suchtest du nach einer möglichst niederschmetternden und intellektuell klingenden Bemerkung, hast aber schließlich nur hervorgestoßen: »Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Harrowhark, wir brauchen dich im Fluss, und während du im Fluss bist, kannst du keine Nekromantik anwenden.«
»Ich bin eine Lyctorin, Herr«, hörtest du dich selbst sagen. »Ich bin Eure Heilige. Ich bin Eure Finger und Eure Gesten. Wenn Ihr eine Gehilfin wolltet, die eine Tür bräuchte, hinter der sie sich verstecken kann – sogar jetzt noch –, dann hätte ich Euch falsch eingeschätzt.«
Du hörtest, wie er ausatmete, weit entfernt in seinem Sanctum tief im Innern des Mithräums. Du hast dir vorgestellt, wie er da saß in seinem geflickten, abgenutzten Sessel, ganz allein, und sich die rechte Schläfe mit dem Daumen rieb, mit dem er das immer tat. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Harrow, bitte habe es nicht so furchtbar eilig zu sterben.«
»Unterschätzt mich nicht, mein Lehrer«, sagtest du. »Ich habe immer überlebt.«
Vorsichtig hast du dich durch die konzentrischen Kreise gemahlener Hüftgelenkspfannen zurückgetastet, die du dir ausgelegt hattest, durch die feinkörnigen Schichten von Oberschenkelhalsknochen. Du stelltest dich in die Mitte und atmetest tief durch die Nase ein, tief durch den Mund aus, wie man es dir beigebracht hatte. Der Raureif verwandelte sich auf deinem Gesicht und deinem Nacken bereits in feinen Tau, und dir war heiß unter deinen Gewändern. Du hast dich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt, deine Hände ruhten hilflos in deinem Schoß. Der Korbgriff des Rapiers stupste gegen deine Hüfte wie ein Tier, das gefüttert werden will, und in einem kurzen Anfall von Wut dachtest du darüber nach, das verdammte Ding abzuschnallen und es so weit wie möglich durch den Raum zu schleudern, aber dann fiel dir ein, wie peinlich kurz die Flugbahn sein würde. Draußen erzitterte der Rumpf der Raumstation, als sich noch ein paar Herolde mehr auf der Oberfläche zusammenrotteten. Du stelltest dir vor, wie sie übereinander krochen, blau im Schatten der Asteroiden, gelb im Licht des nächsten Sterns.
Die Türen zu deiner Unterkunft glitten mit dem antiquierten Fauchen von Gasdruckfedern auseinander. Dabei löste der Eindringling nicht die Zahnfallen aus, die du in den Rahmen eingebettet hattest, und auch nicht die Brocken selbstregenerierenden Knochens, die du auf der Türschwelle aufgeklebt hattest. Eine Frau trat ein, die spinnwebartigen Röcke bis zu den Schenkeln hochgerafft, federnd wie eine Tänzerin. In der Dunkelheit war ihr Rapier schwarz, und die Knochen ihres rechten Arms schimmerten ölig-golden. Du wandtest ihr den Kopf zu, die Augen geschlossen.
»Ich könnte dich schützen, wenn du mich doch nur darum bitten würdest«, sagte Ianthe die Erste.
Ein abgestandenes Tröpfchen Schweiß rann an deinen Rippen hinab.
»Lieber würde ich erleben, wie man mir alle Sehnen einzeln vom Körper pellt, eine nach der anderen, und sie über meinen gebrochenen Knochen in Fetzen reißt«, sagtest du. »Lieber würde ich lebendig gehäutet und in Salz gewälzt werden. Lieber würde ich mir die eigene Magensäure in die Augen tröpfeln.«
»Soweit ich das verstehe, heißt das also so viel wie vielleicht«, sagte Ianthe. »Hilf mir ein bisschen. Zier dich doch nicht so.«
»Tu doch nicht so, als ob du nicht bloß sichergehen wolltest, dass deiner Investition nichts passiert.«
»Ich bin gekommen, um dich zu warnen«, sagte sie.
»Du bist gekommen, mich zu warnen?« Deine Stimme klang flach und emotionslos, selbst in deinen eigenen Ohren. »Du bist jetzt gekommen, um mich zu warnen?«
Die andere Lyctorin trat näher. Du hieltest die Augen geschlossen. Zu deiner Überraschung hörtest du, wie sie knirschend über die Metrik deiner Knochenschichten schritt und sich dann, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den gruseligen, puderartigen Teppich kniete, der sich unter ihr erstreckte. Zwar konntest du Ianthes Thanergie nie wahrnehmen, aber die Dunkelheit schien dir ein enormes Gespür für ihre Angst zu verleihen. Du spürtest, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten, du hörtest das Hämmern ihres feuchten, menschlichen Herzens, merktest, wie sich ihre Schulterblätter zusammenzogen, als sie den Oberkörper anspannte. Du konntest den Gestank von Schweiß und Parfüm riechen: Moschus, Rose, Vetivergras.
»Nonagesimus, niemand wird kommen, um dich zu retten. Nicht Gott. Auch nicht Augustine. Niemand.« Es lag jetzt nichts Höhnisches in ihrer Stimme, dafür schwang etwas anderes darin mit: Aufregung vielleicht, oder aber Nervosität. »Du wirst in der ersten halben Stunde sterben. Du bist leichte Beute. Falls in einem dieser Briefe nicht noch irgendetwas steht, wovon ich nichts weiß, bist du mit deinen Tricks am Ende.«
»Ich habe noch nie zuvor gemordet und werde auch heute nicht damit anfangen.«
»Für dich ist es vorbei, Nonagesimus. Hier ist Endstation.«
Du warst so schockiert, dass du doch die Augen geöffnet hast, als du merktest, wie das andere Mädchen dir mit beiden Händen das Kinn umfasste. Ihre Fleischfinger waren fieberheiß, verglichen mit dem kühlen Schock ihrer vergoldeten Mittelhandknochen, und ihr fleischgepolsterter Daumen lag seitlich an deinem Kiefer. Ganz kurz glaubtest du zu halluzinieren, aber diese Vermutung wurde durch ihre kühle Nähe verjagt, durch Ianthe Tridentarius, die in unmissverständlich flehender Haltung vor dir kniete. Ihr farbloses Haar lag wie ein Schleier um ihr Gesicht, und ihre gestohlenen Augen bedachten dich mit einer halb flehentlichen, halb verächtlichen Verzweiflung: blaue Augen mit tiefen, hellbraunen Einsprengseln wie Achat.
Wie du so tief in die Augen des Kavaliers blicktest, den sie ermordet hatte, erkanntest du – nicht zum ersten Mal und ohne es zu wollen –, dass Ianthe Tridentarius schön war.
»Dreh dich um«, hauchte sie. »Harry, du musst dich doch nur umdrehen. Ich weiß, was du getan hast, und ich weiß, wie man es ungeschehen machen kann, wenn du mich doch nur darum bitten würdest. Bitte mich doch nur, mehr wäre gar nicht nötig. Sterben ist etwas für Schwächlinge. Wenn wir beide, du und ich, unsere ganze Macht aktivieren, dann könnten wir diese Auferstehungsbestie in Stücke reißen und unversehrt davonkommen. Wir könnten die Galaxis retten. Den Imperator retten. Dafür sorgen, dass sie zu Hause von Ianthe und Harrowhark erzählen – dass sie weinen, wenn sie von uns sprechen. Die Vergangenheit ist tot, und sie sind beide tot, aber du und ich, wir leben. Was sind sie schon? Was sind sie anderes als nur ein weiterer Leichnam, den wir mit uns herumschleppen?«
Ianthes Lippen waren rot und gesprungen. Ihr Gesicht breitete ein nacktes Bündnis vor dir aus. Also doch eher Aufregung, keine Nervosität.
Das war, soweit du das verstanden hast, der Moment, auf den es ankam.
»Fick dich doch«, sagtest du.
Die Herolde schlugen wie Regentropfen gegen den Rumpf. Ianthes Gesicht gefror wieder zu seiner weißen, spöttischen Maske, und sie ließ dein Kinn los – sortierte ihre unruhigen Finger und ihre scheußlichen, goldbeschlagenen Knochen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass jetzt die Zeit wäre, um sich mit versauten Sprüchen heiß zu machen, aber wenn du willst, bin ich dabei«, sagte sie. »Würg mich, Daddy.«
»Verpiss dich.«
»Du hast Widerborstigkeit immer als Kardinaltugend betrachtet«, bemerkte Ianthe unvermittelt. »Heute denke ich, vielleicht hättest du in Haus Canaan sterben sollen.«
»Du hättest deine Schwester töten sollen«, sagtest du. »Deine Augen passen nicht in dein Gesicht.«
Über das Interkom ertönte die Stimme des Imperators, genauso ruhig wie zuvor: »Vier Minuten bis zum Aufprall.« Und dann, wie ein Tutor, der unaufmerksame Schülerinnen schilt: »Sorgt dafür, dass ihr auf euren Plätzen seid, Mädchen.«
Ianthe drehte sich ohne Heftigkeit von dir weg. Sie stand auf und ließ ihre Menschenfinger über die Wände deiner Unterkunft gleiten – über den kühlen, filigranen Bogengang, über die polierten Metallpaneele und die Knochenintarsien, und dann sagte sie: »Nun, ich habe es versucht, da kann man mir später nichts vorwerfen«, bevor sie dann durch den Durchgang in den dahinterliegenden Vorraum trat. Du hörtest, wie sich hinter ihr die Tür schloss. Du bliebst völlig allein zurück.
Die Hitze wurde stärker. Die Station war vermutlich völlig bedeckt, eingehüllt in eine wimmelnde Wolke aus gepanzerten Körpern und Flügeln, Beißwerkzeugen und Fühlern, den toten Kurieren einer hungrigen, stellaren Wiedergängerin. Dein Interkom gab ein statisches Knistern von sich, aber am anderen Ende war nichts als Schweigen. Schweigen herrschte in den herrlichen Korridoren des Mithräums, und ein heißes und schwitzendes Schweigen lag auf deiner Seele. Als du schriest, hast du lautlos geschrien, und die Muskeln deiner Kehle schluckten erstickt.
Du dachtest an den Dünnblatt-Umschlag, an dich adressiert, mit der Aufschrift: Im Falle deines unmittelbar bevorstehenden Todes zu lesen.
»Sie brechen durch«, sagte der Imperator. »Vergebt mir … und macht ihnen die Hölle heiß, Kinder.«
Irgendwo auf der Station, weit entfernt, ertönte das Knirschen von verformtem Plex und Metall. Dir wurden die Knie weich, und hättest du nicht schon gesessen, du wärst in einem Krampfanfall zu Boden gestürzt. So hast du deine Augen mit deinen Fingern geschlossen und dich mit aller Kraft darum bemüht, ganz ruhig zu bleiben. Die Dunkelheit wurde dunkler und kühler, als der erste Schutzschild aus Permanentwuchsknochen dich umschloss – die sinnlose Aktion einer Närrin, bedeutungslos und dazu verdammt, sich aufzulösen, sobald du ins Wasser tauchen würdest –, dann folgte ein zweiter, ein dritter, bis du in einem luftlosen und undurchdringlichen Nest verloren warst. Fünf Augenpaare waren es, die sich im Mithräum zur gleichen Zeit schlossen, eines davon gehörte dir. Im Gegensatz zu den vier anderen würde sich deins nie wieder öffnen. Egal, worauf Lehrer hoffen mochte, in einer halben Stunde würdest du tot sein. Die Lyctoren des Wiederauferstandenen Imperators begannen in den Fluss hineinzuwaten, in dem die Auferstehungsbestie lauerte – gerade außerhalb der Umlaufbahn des Mithräums, halb tot und halb lebendig, eine ungezieferbefallene, liminale Masse –, und du gingst mit ihnen. Dein Fleisch blieb verletzlich zurück.
»Ich bete, dass die Gruft ewiglich verschlossen bleibt«, hörtest du dich selbst sagen, und es wollte dir nicht gelingen, die Stimme zu mehr als einem erstickten Flüstern zu erheben. »Ich bete, dass der Stein niemals beiseitegerollt wird. Ich bete, dass jenes, was begraben wurde, begraben bleibt, fühllos, in ewiger Ruhe mit geschlossenem Auge und befriedetem Hirn. Ich bete, dass es lebt, dass es schläft … O Leichnam der Verschlossenen Gruft«, improvisiertest du jetzt. »Geliebte Tote, höre deine Dienerin an. Ich liebte dich mit meinem ganzen verdorbenen, verachtenswerten Herzen – ich liebte dich so sehr, dass kein Platz mehr für etwas anderes blieb –, lass mich lang genug leben, um zu deinen Füßen zu sterben.«
Dann tauchtest du ein, um der Hölle den Krieg zu erklären.
Die Hölle spie dich wieder aus. Na gut.
Beim Erwachen warst du nicht in den thanergetischen Raum eingegangen, der nur den Toten gehört und den nekromantischen Heiligen, die gegen die Toten kämpfen. Du erwachtest im Korridor vor deinen Gemächern, auf der Seite liegend und innerlich siedend – du musstest nach Luft ringen und warst klatschnass vor Schweiß (deinem eigenen) und Blut (ebenfalls deinem eigenen). Die Klinge deines Rapiers hatte dich von hinten durchbohrt und ragte nun aus deinem Bauch. Die Wunde war keine Halluzination und kein Traum: Das Blut war feucht, der Schmerz war entsetzlich. Dein Blickfeld trübte sich bereits an den Rändern, während du versuchtest, das Loch zu schließen, deine Eingeweide zuzunähen, die Venen zu flicken und die Organe zu stabilisieren, die wimmernd zu versagen drohten, aber die Verletzung war zu schwer. Selbst wenn du es noch gewollt hättest, den Brief für den unmittelbar bevorstehenden Tod würdest du niemals lesen. Du konntest nur noch liegen bleiben, ausgestreckt in der Pfütze eigener Körperflüssigkeiten – zu stark, um schnell zu sterben, und zu schwach, um dich zu retten. Du warst nur eine halbe Lyctorin, und eine halbe Lyctorin war schlimmer als gar keine.
Vor der Plexscheibe wurden die Sterne von den wimmelnden, summenden Herolden der Auferstehungsbestie verdeckt, die schnell mit den Flügeln schlugen, um alles im Innern der Station zu rösten. Aus sehr großer Entfernung glaubtest du das Klappern von Schwertern zu hören, und du zucktest bei jedem hellen Kreischen von Metall auf Metall zusammen. Schon seit deiner Geburt hattest du dieses Geräusch verabscheut.
Du warst bereit, mit der Verschlossenen Gruft auf den Lippen zu sterben. Aber dein blöder, sterbender Mund formte drei völlig andere Silben, und es waren drei Silben, die du nicht einmal selbst verstandst.
![]() | PARODOS |
VIERZEHN MONATE VOR DER ERMORDUNG DES IMPERATORS |
IM UNZÄHLIGEN JAHR DES HERRN – dem zehntausendsten Jahr des Unsterblichen Königs, unseres Wiedererweckers, des vollständig erbarmungsvollen Obersten! – saß die Ehrwürdige Tochter Harrowhark Nonagesimus auf dem Sofa ihrer Mutter und sah ihrem Kavalier beim Lesen zu. Selbstvergessen pulte sie dabei an einem zerfasernden Brokat-Totenkopf des Bezugs und zerstörte achtlos in einer Sekunde die langjährige Arbeit eines ergebenen Anachoreten, als sich die Kinnbacken des Schädels unter ihrer Daumenspitze in lauter einzelne Fäden auflösten.
Ihr Kavalier saß kerzengerade aufgerichtet auf dem Lesesessel. Das Möbel hatte seit den Tagen seines Vaters niemanden von vergleichbarem Gewicht mehr aushalten müssen und stand nun kurz davor, endgültig zusammenzubrechen. Ortus hatte seinen gewaltigen Körper so eingeklappt, dass er nirgendwo über das durch den Sessel vorgegebene Maß hinausragte, als ob es als Verstoß gewertet würde, wenn er dessen Grenzen nicht respektierte, und Harrow wusste sehr wohl, dass Ortus es hasste, irgendwelche Verstöße zu begehen.
»Keine Angestellten. Keine Diener, kein Hauspersonal«, las Ortus Nigenad und faltete das Papier mit unterwürfiger Sorgfalt zusammen. »Dann werde ich Ihnen allein aufwarten, Mylady Harrowhark?«
»Ja«, sagte sie und nahm sich vor, sich so lange wie möglich in Geduld zu üben.
»Ohne Marschall Crux? Ohne Aiglamene?«
»Wie es da steht: Keine Angestellten, keine Diener, kein Hauspersonal«, wiederholte Harrow, mit deren gutem Vorsatz es jetzt schon vorbei war. »Ich würde sagen, Sie haben den komplizierten Code geknackt. Es wird niemand dabei sein außer Ihnen, dem Obersten Kavalier, und mir, der Ehrwürdigen Tochter des Neunten Hauses. Das ist alles. Was mir … eine Menge Möglichkeiten zu offenbaren scheint.«
Ortus schien das nicht so zu empfinden. Seine dunklen Augen waren zu Boden gerichtet und wurden von dicken, schwarzen Wimpern bewacht, Wimpern von der Art, wie sie für Harrowhark zu einem hübschen Nutztier gepasst hätten, vielleicht zu einem Schwein. Er blickte beständig zu Boden, und das nicht aus Bescheidenheit. Die leichten Krähenfüße, die um seine Augen herumtrampelten, waren von tiefer Trauer eingegraben worden, und die dünnen Fältchen auf seiner Stirn wirkten wie eine sorgfältig inszenierte Tragödie. Sie freute sich zu sehen, dass ihm jemand – vielleicht seine Mutter, die gefühlsduselige Schwester Glaurica – dieselbe Gesichtsbemalung verpasst hatte, die früher sein Vater getragen hatte, mit einem komplett schwarzen Kiefer und Kinn, den Mundlosen Schädel. Sie freute sich nicht etwa deshalb, weil es sich beim Mundlosen Schädel um ein Bemalungssakrament gehandelt hätte, für das sie eine besondere Vorliebe hatte. Es war vielmehr so, dass jede Schädelzeichnung mit Kinn und Kiefer, die Ortus zu tragen versuchte, wie ein breiter, weißer Schädel mit Depressionen aussah.
Nach einer Weile erklärte er abrupt: »Hohe Frau, ich kann Ihnen nicht dabei helfen, Lyctorin zu werden.«
Das überraschte sie nur insofern, dass er es wagte, überhaupt eine Meinung zu äußern. »Das mag wohl sein.«
»Sie stimmen mir zu. Gut. Ich danke Ihnen für Ihre Barmherzigkeit, Euer Gnaden. Ich kann Sie nicht in einem formellen Duell vertreten, weder mit dem Rapier noch mit dem Kurzschwert noch mit der Kette. Ich kann nicht vor eine Auswahl Oberster Kavaliere treten und mich als ihresgleichen bezeichnen. Die Anmaßung würde mich erschlagen. Ich kann mir das nicht ansatzweise vorstellen. Und daher werde ich nicht für Sie kämpfen können, Mylady Harrowhark.«
»Ortus«, sagte sie, »ich kenne Sie jetzt schon mein ganzes Leben lang. Glauben Sie wirklich, ich hätte mich auch nur einen Augenblick lang der Wahnvorstellung hingegeben, ein demenzerkrankter Hund ohne Verständnis für scharfe Klingen könnte Sie im Dunkeln mit einem Fechter verwechseln?«
»Hohe Frau, nur um die Ehre meines Vaters willen nenne ich mich Kavalier«, sagte Ortus. »Deshalb, und um des Stolzes meiner Mutter und der Unzulänglichkeit meines Hauses willen. Ich verfüge über keine der Eigenschaften, die ein Kavalier benötigt.«
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen begreiflich machen kann, dass ich mir dessen wirklich durch und durch bewusst bin«, sagte Harrowhark und zupfte sich ein winziges Stück schwarzen Fadens von ihrem Fingernagel. »Angesichts der Tatsache, dass hundert Prozent unserer Gespräche in den letzten Jahren um dieses Thema kreisten, kann ich jetzt nur davon ausgehen, dass Sie zu einer neuen Schlussfolgerung gekommen sind. Ich bin beinahe etwas aufgeregt.«
Ortus beugte sich auf der Kante des Sessels ein wenig vor, und seine unruhigen, langfingrigen Hände schlossen sich umeinander. Sie waren groß und weich – alles an Ortus war groß und weich, wie ein knautschiges, schwarzes Kissen –, und nun breitete er sie flehentlich aus. Das machte sie unwillkürlich neugierig. So weit hatte er sich bisher noch nie vorgewagt.
»Hohe Frau«, begann Ortus zögerlich, und seine Stimme wurde durch seine Schüchternheit noch etwas tiefer, »ich würde es nicht wagen – aber wenn es doch die Pflicht eines Kavaliers ist, das Schwert zu tragen – wenn es die Pflicht eines Kavaliers ist, das Schwert zum Schutz zu führen – wenn es die Pflicht eines Kavaliers ist, durch das Schwert zu sterben – haben Sie da niemals ORTUS NIGENAD in Erwägung gezogen?«
»Was?«, fragte Harrow.
»Hohe Frau, nur um der Ehre meines Vaters willen nenne ich mich Kavalier«, sagte Ortus. »Darum, und um des Stolzes meiner Mutter und der Unzulänglichkeit meines Hauses willen. Ich verfüge über keine der Eigenschaften, die ein Kavalier benötigt.«
»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, als hätten wir diese Unterhaltung schon einmal geführt«, sagte Harrowhark, die ihre Daumen aneinanderpresste und dabei mit Spaß am Risiko die Dehnbarkeit ihrer Distalphalangen testete. Eine falsche Bewegung, und ihre Nervenstränge konnten reißen. Es war eine alte Übung, die ihr früher ihre Eltern aufgetragen hatten. »Jedes Mal, wenn Sie mir die Neuigkeit mitteilen, Sie hätten Ihr Leben nicht damit zugebracht, sich in den Kampfkünsten zu ertüchtigen, schockiert mich das ein bisschen weniger. Aber probieren Sie es noch ein weiteres Mal. Überraschen Sie mich. Mein Körper ist darauf vorbereitet.«
»Ich wünschte, dass unser Haus einen Fechter hervorgebracht hätte, der unserer ruhmreichen Tage würdiger wäre«, sagte Ortus nachdenklich. Er begeisterte sich stets für sämtliche Varianten der Geschichtsschreibung, in denen er nicht zum Dienst an der Waffe verpflichtet wurde oder etwas anderes tun sollte, das ihm schwerfiel. »Ich wünschte, unser Haus sei nicht so dezimiert worden, bis auf ›jene, die fähig allein, in der Scheide die Klinge zu tragen‹.«
Harrowhark gratulierte sich dazu, dass sie ihn nicht sofort darauf hinwies, dass dieser traurige Umstand auf drei Dinge zurückzuführen war: seine Mutter, ihn selbst und Die Nonias, sein unvollendetes Versepos, das Matthias Nonius gewidmet war. Sie hegte den Verdacht, dass seine letzten Worte ein Zitat aus ebendiesem Werk darstellten, jedenfalls hatte er sie mit deutlich hörbaren Anführungszeichen vorgetragen. Die Nonias bestand, soweit sie wusste, bereits aus achtzehn Bänden, und nichts deutete darauf hin, dass ihr baldiger Abschluss bevorstand. Wenn überhaupt, dann schien allenfalls das Tempo leicht anzuziehen, wie bei einer sehr langweiligen Lawine. Harrowhark formulierte gerade eine entsprechende Entgegnung, als sie bemerkte, dass eine dienende Schwester in die Bibliothek ihres Vaters getreten war.
Harrow hatte sie weder klopfen hören noch eintreten sehen, aber das war nicht das Problem. Das Problem war, dass die aschgraue Gesichtsbemalung der Schwester das schöne, eiskalte Gesicht der Toten schmückte.
Ihre Handflächen wurden feucht. Dieses Szenario legte nahe, dass entweder die Schwester echt war, aber nicht ihr Gesicht, oder dass die Schwester insgesamt irreal war. Man konnte auch nicht einfach die gesamte in diesem Raum vorhandene Knochenmasse abschätzen und daraus eine Vermutung ableiten. Noch von Fleisch umhüllte Knochen generierten so viel irreführende, weiche Thalergie, dass nur eine Närrin so etwas versucht hätte. Sie ließ den Blick wieder zu Ortus schweifen in der geringen Hoffnung, dass er ihr irgendeinen Hinweis darauf geben würde, wie real die Gestalt war. Aber er hielt die Augen weiter gen Boden gerichtet.
»Unserem Haus haben ›jene, die fähig allein, in der Scheide die Klinge zu tragen‹, gute Dienste erwiesen«, sagte Harrowhark und achtete darauf, ihrer Stimme nichts anmerken zu lassen. »Die Zeile holpert übrigens ziemlich, wollte ich nur sagen. Da wird sich niemand wundern, dass Sie auch beim Zuschlagen langsam sind.«
»Sie ist in Enneametern verfasst. Der traditionellen Form. Jene, die fähig allein, in der Scheide die Klinge zu tragen …«
»Das ist auf keinen Fall eine Verszeile mit neun Hebungen.«
»… doch nie in der Schlacht sie zu ziehen.«
»Sie werden die nächsten zwölf Wochen mit Hauptmann Aiglamene trainieren«, sagte Harrowhark, die sich die Finger rieb, hin und zurück, hin und zurück, bis sich die Fläche des obersten Daumenglieds richtig heiß anfühlte. »Sie werden zumindest das Minimum an Fähigkeiten erwerben, das von einem Obersten Kavalier des Neunten Hauses erwartet wird, und das ist im Augenblick glücklicherweise nur, dass Sie so breit wie hoch sind und ein paar Arme haben, die ein bestimmtes Gewicht tragen können. Allerdings brauche ich … bedeutend mehr von Ihnen … als nur ein scharfes Schwert, Nigenad.«
Die dienende Schwester überschattete den Rand von Harrows peripherem Gesichtsfeld. Ortus hatte den Kopf erhoben und ließ nicht erkennen, ob er sie wahrnahm, und das machte die Dinge etwas komplizierter. Er sah Harrow mit dem leichten Hauch von Mitleid an, das er ihr, wie sie vermutete, stets entgegenbrachte – eine Regung, die ihn in seinem eigenen Haus zum Außenseiter stempelte und im Haus der Linie seiner Mutter noch mehr ausgrenzte. Sie wusste nicht, was Ortus zu Ortus machte. Er war ein Rätsel, das zum Lösen schlicht zu langweilig war.
»Was wäre da denn noch?«, fragte er mit leiser Bitterkeit.
Harrowhark schloss die Augen, sodass sie Ortus’ bebendes, besorgtes Gesicht ebenso beiseiteschieben konnte wie die Dienerin mit dem Gesicht der Toten, deren Schatten nun über den Schreibtisch fiel. Der Schatten ließ auch keine weiteren Schlüsse zu. Stoffliche Beweise führten oft in die Irre. Sie schob auch den Gedanken an das neue und rostige Rapier weg, das jetzt knirschend in der Scheide an Ortus’ Gürtel steckte. Und an den beruhigenden Staubgeruch, der von dem surrenden Heizlüfter in der Zimmerecke erhitzt wurde und sich mit dem Duft frisch umgerührter Tinte aus dem Tintenfass vermischte. Tanninhaltige Säure, menschliche Salze.
»So geschieht es aber nicht«, sagte die Tote.
Und das verlieh Harrow eine seltsame Kraft.
»Ich brauche dich, damit du meine Gebrechen verbirgst«, sagte Harrowhark. »Du musst wissen, ich bin verrückt.«
![]() | 1 |
NEUN MONATE VOR DER ERMORDUNG DES IMPERATORS |
ES GESCHAH ZUM ENDE DES unzähligen Jahres unseres Herrn – jenes weit entfernten Königs der Nekromanten, jenes gesegneten Wiedererweckers der Heiligen! –, dass du dein Schwert erhobst. Das war dein erster großer Fehler.
Das Schwert hasste es, von dir berührt zu werden. Der lange Griff verbrannte deine nackten Hände, als sei er auf Sternentemperatur erhitzt. Das Vakuum des Weltraums draußen gab keine Thanergie ab und erschuf keine Thalergie, aber das spielte keine Rolle. Du brauchtest beides längst nicht mehr. Stattdessen hast du deine Handflächen mit dicken Bandagen aus Knorpelmasse gekühlt und es erneut versucht.
Nun erschien der Griff so kalt wie der Tod und war auch genauso schwer. Du hobst die Waffe, die Ellenbogen durchgestreckt, und fasstest nach dem Knauf, um nicht zu schwanken. Dann versuchtest du es mit einem neuen Trick – du schobst ein dünnes Knochenstück vom lebendigen Mittelhandknochen weiter nach oben und wickeltest es um die Beugesehne, dann bohrtest du es durch deinen Handrücken. Dabei hast du mit keiner Wimper gezuckt. Das war nie deine Art. Von diesem Punkt aus entfaltetest du lange Knochenfinger, die den Griff packten, und dann noch weitere, um noch fester zuzufassen, und du hobst das Schwert, so ungefähr jedenfalls, mit der Unterstützung eines wallenden, klappernden Korbs aus acht oberen Fingergliedern.
Auf diese Weise konntest du die Klinge in einem stumpfen Winkel vor dir in die Höhe recken. Du hast gewartet. Du fühltest nichts: Da war kein Verständnis, keine meisterliche Beherrschung, kein Wissen. Du warst nichts weiter als eine Nekromantin, und die Waffe war bloß ein Schwert. Es fiel dir aus den Händen und schlug klappernd auf den Boden, und du krümmtest dich zusammen und erbrachst dich schwungvoll auf den Fliesenboden der Krankenstation.
Es waren viele Uniformierte in diesem Raum, aber sie waren an solche Sperenzien gewöhnt. Harrowhark die Erste, neunte Heilige im Dienst des Unsterblichen Imperators, konnte so viel kotzen, wie sie wollte. Du warst ein Sakrament auf Beinen, auch wenn dein anfänglicher Beitrag zur Lyctorenschaft daraus zu bestehen schien, immer wieder neue Wege zu finden, um sich zu erbrechen. Sie griffen nur ein, wenn es aussah, als würdest du an deinem Erbrochenen ersticken – eine Barmherzigkeit, die du immer ein wenig bedauerlich fandst.
Als dir der Mann, den du Gott nanntest, zum ersten Mal das Schwert übereignete – in einer Geste, die dir vor allem von seiner Eigenschaft als Freundlicher Fürst und von Sanftheit motiviert zu sein schien –, verfielst du in einen tiefen Stupor, aus dem du nie wieder richtig erwacht bist. Vielleicht war das Schwert zu einem Symbol deiner Trauer geworden, gegossen aus sechs Fuß Stahl. Du hattest die dreimal verdammte Klinge vom ersten Anblick an verabscheut, was vielleicht unfair war, bevor du wusstest, dass sie dich ebenso sehr hasste.
Dennoch hast du versucht, sie zu schwingen. Jede Berührung endete damit, dass du deinen Mageninhalt farbenfroh über die Fliesen verteiltest. Deine Tage lösten sich auf wie Asche vor einem Ventilator – sie stoben in alle Winde davon, ohne dass man sie je wieder hätte einfangen können, wurden dir wieder ins Gesicht geblasen oder trudelten außerhalb deiner Reichweite in die Höhe. Manchmal standst du auf und nahmst die Klinge, als würdest du etwas erwarten. Aber nichts geschah, niemals. Du spürtest nichts außer dem enormen, leeren Hass, den dir die Waffe entgegenbrachte und von dem du sogar schon damals wusstest, dass er echt war. Du und das Schwert, ihr habt beide in eurer gegenseitigen Bitterkeit und Wut geköchelt, bis du wieder mit den Händen voller Blasen und einer großen Pfütze Erbrochenem auf dem Boden gelandet bist.
Einzelne Bruchstücke, die nicht zueinanderzupassen schienen, schoben sich zusammen. Du hattest einige Zeit in diesem Bett gelegen und dabei Kleidung getragen, die nicht deine war. Gelegentlich berührte irgendetwas kitzelnd deine Ohren oder deine Stirn, und du wurdest starr vor Angst, bis du erkanntest, dass es dein eigenes Haar war. Jetzt, weit weg von Drearburhs Scheren, wuchs es auf eine geradezu dekadente Art und Weise. Du hattest es dir selbst geschnitten – oder vielleicht auch gar nicht – und entdecktest doch immer wieder ungebärdige kleine Strähnen, die hinter deinen Ohren klemmten, als hättest du nie versucht, sie zu bändigen. Manchmal, wenn du die Hand hobst, um dein Haar beiseitezustreichen, erinnertest du dich, dass du kein Gewand und keine Skelettmaske hattest. Für eine Maske hatte dir niemand die nötige Schminke gegeben, und es gab auf dem ganzen Schiff keinen einzigen Fettstift. Und selbst wenn, er wäre nicht richtig gesegnet gewesen. Als dich diese Erkenntnis zum ersten Mal überkam, packte dich eine derart heiße Scham und Verlegenheit, dass du ein Tuch in Streifen gerissen hast, um damit deinen Kopf zu bedecken. Das ließ zwar immer noch den größten Teil deiner Stirn frei, verbarg aber immerhin das Haar. Dazu trugst du ein Bettlaken. Und du entschiedst dich für die poetische Lösung und nahmst den letzten Weg, der einer schwarzen Vestalin offensteht: Du hast eine Ader geöffnet, und während du zitternd dastandst – nicht aus Schmerz oder Blutverlust –, hast du blind den Sakramentschädel der Ruhmlosen Maske gezeichnet, den noch nie eine Schwarze Vestalin je mit einem Bettlaken kombiniert hatte.
Die uniformierten Bediensteten waren stets mit Dingen beschäftigt, die dich nicht betrafen. Manchmal drängte man dich unterwürfig, dich aufzusetzen und den improvisierten Schleier auseinanderzuziehen, um mühevoll eine Schüssel klarer Suppe zu leeren, obwohl derartige Erinnerungen zweifelhafte Bruchstücke blieben. Es erschien nicht richtig, dass du je wieder essen konntest. Manchmal bewegten sich überall um dich herum irgendwelche Leute, und du lagst kraftlos auf deinem Lager, um staunend und erschauernd den Anblick der Sterne vor dem Fenster zu betrachten. Die dicke Plexbarriere wirkte zu dünn und zerbrechlich, um deine Sicherheit zu gewährleisten. Dahinter tat sich das große, schwarze Maul des Weltraums auf, das dich aller Vernunft zum Trotz ängstigte. Und dann die vielen Male, die du einschliefst und wieder aufwachtest, irgendwie. Du hattest lange schon aufgegeben, dich um menschliche Stimmen zu kümmern, die ohnehin nur Unsinn redeten: Sie murmelten Gebete wie Dreitausend Stück … nachfüllen, das steht auf der Vorratsliste … diese Bestände abstoßen, die werden von den Rüstungsgütern aufgenommen.
In deinem alten Leben wärst du vielleicht neugierig gewesen. Aber dich quälten andere Geräusche, ganz anders als jene, die an deine Ohren drangen. Es gab an Bord des Schiffes ein lautes, unmelodisches Knarren – ein Dröhnen wie von feuchten Trommeln –, das dich in Panik versetzte, bis du mit allmählich einsetzender Ruhe erkanntest, dass du den Schlag von siebenhundert und acht Herzen hörtest. Du hörtest siebenhundert und acht Gehirne, die in ihrer Hirnflüssigkeit vibrierten. Du wusstest, ohne das überprüfen zu müssen, dass dreihundert und vier dieser angestrengten Herzen zu Nekromanten gehörten; ein Nekromantenherz zog sich vor deinen Ohren anders zusammen, arbeitete schlechter, pumpte schwächer. Du konntest die Lebenden spüren. Nachdem du herausgearbeitet hattest, was du hörtest, wurdest du dir all dessen bewusst, was sich in deiner unmittelbaren Nähe befand: Staub, der sich auf den schimmernden, schwarzen Platten des Fußbodens niederließ, die Reizung deiner Lungenbläschen, das weiche Mark deiner Knochen, die Sauerstoff aufnahmen. Trotz dieser Kakofonie wollte es dir nicht gelingen, wach zu bleiben.
Manchmal hast du festgestellt, dass du aufrecht standst, während die Übelkeit dich zu überwältigen drohte, und auf das große Schwert starrtest, das du unordentlich und blank auf dem Boden liegen gelassen hattest. Du konntest dich nicht daran erinnern, aufgestanden zu sein. Du konntest dich auch nicht daran erinnern, wie du dahingekommen warst. Manchmal hast du vergessen, wer du warst, und wenn du dich dann wieder erinnertest, hast du geweint wie ein Kind.
In diesen Destillaten der Zeit war es, dass die Tote erschien. Das Mädchen legte ihre kühlen, toten Hände auf deine Stirn und schloss deine fiebrigen, pulsierenden Augenlider mit ihren Fingerspitzen, sodass du weder das Schwert noch die Leute sehen musstest.
Das war eine große Ehre. Das war eine große Gnade. Sie erschien dir jetzt immer mit einer tief entspannten Langmut, und du warst so dankbar dafür, so erleichtert. Die Hände der Toten waren grau vom Tod, und sie lagen so weich und vertraut auf deiner Haut, so intensiv, dass du absolut überzeugt davon warst, sie wirklich fühlen zu können und die tote Berührung wahrhaftig zu erleben. Und wenn die Tote sich so umwandte, dass du ihr Gesicht sehen konntest, stauntest du wieder aufs Neue über diese Schönheit, die nicht vom Atmen verunstaltet wurde.
Dann führte sie dich zu deinem Bett und legte dich wieder schlafen. Der Toten wolltest du auch gehorchen, ein einziges Mal in deinem umnachteten Leben. Es erschien dir unter deiner Würde, das zu verweigern. Wenn die Tote zugegen war, dann schien auch die Zeit so zu verlaufen, wie sie sollte, und nicht einfach nur dahinzuschmelzen wie Eisstückchen, die dann an unerwarteter Stelle wieder auftauchten. Die Tatsache, dass die Tote zu dir gekommen war, schien von einer enormen Bedeutung zu sein, die du gern weiter erforscht hättest, nur konntest du nie lange genug wach bleiben, um das Rätsel zu lösen.
Dein Gesicht juckte von all dem getrockneten Blut, und um dich herum flüsterten die Leute: Tausend Kilo Osseo … alt … behalten Sie das, das geht uns immer als Erstes aus … Nein, Sergeant, vergessen Sie das, wir liegen jetzt schon in unserem Zeitplan zurück.
Deine Welt bestand aus einer weißen und sterilen Schachtel. Die Schachtel war die Krankenstation an Bord der Erebos. Die Erebos war ein Kreuzer der Behemoth-Klasse und das Flaggschiff des Unsterblichen Imperators. An diese Fakten hast du dich geklammert wie eine Erstickende an den letzten Atemzug Sauerstoff. Du lebtest in einem kühlen, farblosen Raum, in dem sich auseinandergebaute Betten und Kartons befanden, und du hattest ein Bett und einen Stuhl und ein Schwert. Einmal hatte man versucht, dir das Schwert wegzunehmen – unter irgendeinem Vorwand, an den du dich jetzt nicht mehr genau erinnern konntest –, und diese Erinnerung verstörte dich auf eine seltsam entfernte Weise, rot, feucht und nur schwach definiert.
Mittlerweile fasste niemand den Zweihänder mehr an. Er erschien mal hier und mal dort im Zimmer, je nachdem, wo du ihn hattest fallen lassen, und war in der Regel von dem geheimnisvollen Geruch nach Kotze umgeben. Du schliefst jetzt neben dem Schwert, als sei es dein großes, stählernes Kind. Dabei hättest du dieses Ding mit Freuden ins heiße Herz des Dominicus geschleudert, so sehr hast du die Waffe verabscheut, und zudem warst du überzeugt, dass sie dir Schaden zufügen wollte. Gleichzeitig war es sehr wichtig, dass sie niemand anderem in die Hände fallen durfte.
Das hielt dich nicht davon ab, die Klinge abzustumpfen, Kerben in die schön polierte Oberfläche zu schlagen und die Schneide völlig zu versauen, so viel hattest du immerhin verstanden. Du wusstest so wenig über Schwerter – du hattest dir nie die Mühe gemacht, etwas über sie herausfinden zu wollen, und konntest kaum die verschiedenen Arten von Hieb- und Stichwaffen unterscheiden. Manche waren schmal. Manche waren breit. Manche waren groß, manche waren klein. Dieses zweihändige Soldatenschwert war riesig und abnormal und offen bösartig, und das war ganz und gar deine Verantwortung – obwohl du es nicht berühren konntest, ohne jedes Mal im Strahl zu kotzen.
Manchmal hast du neben deinem Bett gekniet und versucht zu beten. Wenn die Tote zugegen war, konntest du jedoch niemandem danken und keine Fürbitte formulieren. Deinen tiefsten Frieden fandst du in diesem halb schlafenden, halb betäubten Zustand auf dem Bett, wenn du im Angesicht der kalten weißen Sterne deinen Herzschlag möglichst weit verlangsamt hast und dir schlecht war vor einer Wut, die du einerseits immer wieder vergaßest, deren Existenz dich andererseits aber innerlich zerstörte. Um dich herum eilten Menschen hin und her, die einen weiten Bogen um dich machten und dich so gründlich ignorierten, dass du eine Zeit lang überzeugt warst, du seiest tot. Es war ein Zustand, der dich mit größter Erleichterung erfüllte.
![]() | 2 |
GOTT STAND IN DEINER TÜR und sagte: »Du hast dich schon wieder übergeben, Harrow.«
Du hast immer versucht, dich zu vollem Bewusstsein durchzukämpfen, wenn er zugegen war, der Imperator der Neun Häuser, der regelmäßig den Anstand besaß, rücksichtsvoll anzuklopfen und auf ein »Herein« zu warten, eine Geste, die allein schon seine Göttlichkeit bewies. Jetzt stand er auf der Schwelle mit seinem allgegenwärtigen Stoß Dünnblatt und dem allgegenwärtigen Tablet in den Händen. Ein Grüppchen Uniformierter schwamm in seinem Kielwasser, aber seine monströsen Augen, Öl auf Karbon, galten nur dir. »Du verlierst deine ganze Muskelmasse«, sagte er, »und davon hattest du von Anfang an nicht allzu viel.«
Dein Mund erwiderte mit befriedigender Klarheit: »Wieso braucht eine Lyctorin ein Schwert? Herr, welchen Nutzen können wir von einer solchen Waffe gewinnen? Ich kann Knochen kontrollieren. Ich kann Fleisch formen und den Geist heraufbeschwören. Äußere Thanergie brauche ich nicht länger. Warum also etwas so Grobes wie ein Schwert?«
»Schön zu hören, dass es dir besser geht«, sagte er. »Ich werde mich auf keine philosophische Diskussion mit dir einlassen, jedenfalls nicht, nachdem du drei Stunden damit zugebracht hast, deine Eingeweide zu entleeren.« (Hattest du das?) »Ich bin kein Ungeheuer. Komm, spül dir den Mund aus. Mir ist egal, ob du die Löcher in deinen Zähnen selbst flicken könntest. Mir erscheint es wie Verschwendung, bei solchen Dingen nachlässig zu sein.«
Schwankend erhobst du dich von deinem Bett wie ein Geist aus seiner Gruft und gingst zum Waschbecken hinüber. Dort zogst du den bescheuerten Schleier auseinander und spültest dir widerwillig den Mund mit Antiplaque. Aus dem Asteroidengürtel gereizter Kohorten-Offiziere war drängendes Gemurmel zu hören, und der Imperator sagte »Ja«, dann »Nein« und dann »Halten Sie sich nicht mit neuer Beschichtung auf. Sie werden die Erebos für den Transport benutzen.«
Ein anderer Offizier sagte: »Gütiger Lord, die treue Heilige der Freude …«
»Hat noch nicht gelernt zu warten«, unterbrach ihn Gott. »Reagieren Sie nicht auf ihre Anfragen. Ich habe drei davon schon heute Morgen beantwortet.«
»Aber ihr Befehl wäre eine Aufhebung …«
»Der Befehl einer Lyctorin ist der Befehl Gottes und sollte mit derselben Ergebenheit befolgt werden, die Sie mir entgegenbringen würden«, sagte Gott. »Außer eben jetzt. Platzieren Sie den jüngsten Neuzugang aus Trentham an der Leitung, um statisches Rauschen zu produzieren, wenn unsere Heilige nicht aufhört.«
»Herr?«
»Luft durch die Zähne blasen, die Zunge an den Gaumen drücken, Hand vor dem Mund hin und her bewegen. Klingt komisch, weiß ich, aber sie ist bisher noch nie dahintergekommen, wenn ich das gemacht habe.«
Du spucktest ins Waschbecken. Im Spiegel konntest du die Tote wahrnehmen, die still neben dir wartete. Sie trug ein türkises Krankenhaushemd, das deinem eigenen genau glich, auf ihrem Haar schimmerte der Raureif, und ihr herrlicher Mund war zu einem harten, entschlossenen Strich zusammengepresst. Ein Schwert war auf den Rücken der Toten geschnallt. Dein Blick kreuzte sich im Spiegel mit dem des Gottes, und ganz kurz warst du dir sicher, dass auch er das Mädchen sehen konnte, dass er euch beide wahrnahm – aber das war nur eine optische Täuschung.
»Harrowhark«, sagte er, »ich möchte, dass du mit mir kommst.«
Die Offiziere um ihn herum verzogen beinahe einmütig ihre ernsten und unausgeschlafenen Gesichter. Einer von ihnen sagte sehr leise und sehr gedämpft: »Vergebt mir, Freundlicher Fürst, aber lasst mich Euch daran erinnern, dass der Admiral der Toten See und der Admiral der Unaufhörlichen Flotte bereits … vor zehn Minuten mit ihrer Besprechung begonnen haben.«
Der Imperator sagte: »Keine Besprechung wird achtzehntausend Tote wiederauferstehen lassen. Ich brauche Zeit mit Harrowhark der Ersten. Bitte melden Sie sich in zehn Minuten wieder bei mir in der Alten Kammer.«
Die Attachés zerstreuten sich, als hätten sie plötzlich ihren Fixpunkt verloren, und hasteten den Flur so schnell herunter, dass sie beinahe schon rannten. Du hattest Angst, dass jemand dir dein Schwert wegnehmen würde, wenn du es im Zimmer zurückließest. Aber anstatt es aufzuheben, hast du dich neben die Waffe auf das Bett gelegt, aus dem es dich schwarz glänzend anstarrte. Dann rolltest du dich auf die flache Seite seiner Klinge und legtest kreuzweise Streifen fester Knochenmasse über deinen Rücken, um die Klinge, um den Griff, und standst auf. Gebeugt unter seinem Gewicht, mit weiter nichts als einem zerrissenen Laken als Maske vor dem Gesicht und lächerlich in deiner türkisfarbenen Nacktheit, folgtest du dem Imperator über lange, schwarze Korridore und versuchtest, dich in Raum und Zeit zu verorten.