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Über den Autor:

Axel Petermann hat als Leiter einer Mordkommission in Bremen und stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen mehr als tausend Fälle bearbeitet, in denen Menschen eines unnatürlichen Todes starben. Im Jahr 2000 begann er mit dem Aufbau der Dienststelle Operative Fallanalyse – auch bekannt als Profiling –, deren Leiter er bis zu seiner Pensionierung 2014 war. Als Dozent für Kriminalistik lehrt er seit vielen Jahren an verschiedenen Hochschulen in Deutschland. Seit 2001 ist er Fachberater für diverse Tatort-Formate sowie für zahlreiche Dokumentar- und Nachrichtensendungen und seit 2018 Moderator und Fallanalytiker der ZDF-Reihe Aufgeklärt – Spektakuläre Kriminalfälle. Er ist Autor mehrerer Bestseller, bei Heyne erschien zuletzt Der Profiler. Axel Petermann engagiert sich für die Opferhilfsorganisation ANUAS als Botschafter und Schirmherr. Er hat drei Söhne und lebt mit seiner Frau bei Bremen.

Über das Buch:

Der Tod einer lebensbejahenden jungen Frau wird als Selbstmord deklariert, obwohl belastende Indizien auf ein Tötungsdelikt hinweisen. Den Mord an zwei jungen Mädchen legt die Schweizer Polizei trotz zahlreicher Verdächtiger zu den Akten. Ein Mann wird wegen Mordes an seiner millionenschweren Tante zu lebenslanger Haft verurteilt, doch die Ermittlungsunterlagen offenbaren haarsträubende Widersprüche.

Immer wieder kommt es bei Mordermittlungen zu Fehlern – aus Unwissenheit, aus Nachlässigkeit oder weil die Ermittler davon überzeugt sind, den Täter bereits zu kennen. Angehörige und Betroffene lassen diese Fälle auch Jahre später nicht los, weshalb sie Axel Petermann um Unterstützung bitten. Mit den Methoden des Profilings rollt er die komplexen Verbrechen neu auf und gewinnt erstaunliche neue Erkenntnisse. Fesselnd und detailreich schildert er dabei jeden einzelnen seiner Arbeitsschritte – und wir sind bei der Suche nach der Wahrheit hautnah dabei.

AXEL PETERMANN

IM
AUFTRAG
DER TOTEN

COLD CASES

EIN PROFILER ERMITTELT

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die in diesem Buch geschilderten Fälle haben sich in Athen, in der Nähe von Zürich und in München ereignet und entsprechen den Tatsachen. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen wurden zahlreiche Namen und Schauplätze geändert. Nicht verändert wurden die Leiden der Opfer, das Grauen der Taten und die eisige Kälte des Bösen.

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Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung eines Fotos von Stefan Kuntner

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27331-6
V002

www.heyne.de

Inhalt

PrologDer andere Blick auf die Wahrheit

Tod in Athen – Ich bin ein Mädchen aus Piräus

Das Rätsel der Kristallhöhle – Velo-Ausflug in den Tod

Die Tote im Parkhaus – 23 Stufen in die Freiheit

Epilog – Ein Blick zurück

Danksagung

Die Frage ist nicht, auf was du schaust,

sondern was du siehst.

Henry David Thoreau

1817–1862

PrologDer andere Blick auf die Wahrheit

Das leuchtend rot lackierte Treppengeländer wirkt vor den weiß gestrichenen Flurwänden wie ein Stoppschild. Doch es hat seine Wirkung offenbar verfehlt. In einer Ecke des Raumes sitzt ein Mann auf dem Boden. Sein Oberkörper ist nach rechts geneigt, der Kopf lehnt unnatürlich abgeknickt an der Wand, die Augen sind geschlossen. Er trägt ein graues T-Shirt, Jeans und schwarze Socken; keine Schuhe. Ich bin einen Moment irritiert, ehe ich neben dem Körper des Mannes eine Abplatzung im Mauerwerk bemerke, die von blutigen Spritzern umsäumt ist. Der Mann ist offensichtlich tot. Das blutdurchtränkte Hemd ist in Höhe seines Herzens sternförmig aufgerissen und lässt einen Einschuss in der Haut erkennen. Die rechte Hand ist zur Faust geballt. Sie ruht unterhalb der Verletzung auf dem Boden.

Um den Körper des Toten setzt sich das Signalrot des Treppengeländers auf den hellen Natursteinfliesen fort. Es müssen gut anderthalb Liter Blut sein, die eine riesige Blutlache gebildet haben. Eine schwarz brünierte Pistole der österreichischen Marke Glock, Kaliber 10 mm, liegt vor dem linken Knie der Leiche. Eine Kultwaffe, die auch in Serien wie Miami Vice und anderen Krimiformaten das Publikum faszinierte und längst ihren Einzug bei der Armee und dem FBI gehalten hat. An der Oberfläche der Selbstladepistole haften runde Antragungen, möglicherweise Blut. Das Szenario spricht für einen Suizid.

Jahre später sitzt mir der Bruder des Toten gegenüber. Er ist extra aus der Schweiz angereist, denn er vertraut der offiziellen Suizid-Version der Ermittler nicht. Für ihn war es Mord, doch noch fehlen ihm die Beweise. Ich soll ihm bei der Suche nach den Schuldigen helfen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Ermittlungen sind bereits abgeschlossen, der Leichnam wurde ohne Obduktion kremiert, Antragungen von Schmauchspuren an den Händen des Toten wurden nicht untersucht, sämtliche Beweismittel vernichtet – schließlich wurden sie in diesem vermeintlich eindeutigen Fall nicht mehr benötigt.

Neben einigen Fotos vom Tatort hat der Bruder des Toten auch Aufnahmen von der aufgebahrten Leiche mitgebracht. Der Körper ruht in einem mit Seide ausgekleideten Sarg. Das gestärkte weiße Totenhemd und die weiße Fliege betonen den dunklen Teint des Verstorbenen. Deutlich haben sich späte Male des Todes im Gesicht und am Hals ausgebildet. Die sind ungewöhnlich, erinnern mich an die Eindrücke von Fingernägeln und könnten auf einen Angriff gegen den Hals zu Lebzeiten hinweisen.

Und so sage ich dem Bruder meine Unterstützung zu und verspreche, mich bei ihm zu melden, sobald ich nähere Informationen zur Todesursache habe. Ich werde meine Eindrücke mit einem Rechtsmediziner besprechen.

Situationen wie diese habe ich seit meiner Pensionierung immer wieder erlebt, und jedes Mal bringen sie mich zurück zu jenem Moment vor sieben Jahren, als ich meine »Amtsstube« räumte.

Ich stehe vor den gerahmten Titelseiten der Jugend, einer Wochenzeitung für Kunst und Leben des auslaufenden 19. Jahrhunderts. Die Illustrationen begleiten mich schon seit vielen Jahren. Symbolisieren sie für mich doch nicht nur eine Kunstrichtung, sondern auch meine Ansprüche an Aufbruch, Freiheit der Gedanken, Gleichberechtigung und den Bruch mit tradierten Anschauungen und Zwängen – und die gab es nicht nur in der wilhelminischen Kaiserzeit. Wie oft habe ich diese lähmenden Hemmschuhe auch bei der kriminalistischen Arbeit gespürt, die Kreativität und Innovation häufig sehr erschwerten.

Während ich die Kunstblätter in Kartons verstaue, das Licht meiner Kommissarslampe ausknipse, einen letzten Blick durchs Zimmer schweifen lasse, bevor ich diesen Ort für immer verlasse, weiß ich, dass ich mich auch weiterhin um ungeklärte Todesfälle kümmern werde.

Obwohl ich häufig belastenden Momenten ausgesetzt bin – tragischen Beziehungstaten, Grausamkeiten, menschlichen Abgründen, tödlichen Unfällen oder Suiziden – liebe ich meinen Beruf als Fallanalytiker oder auf Neudeutsch Profiler. Ich kann mir keinen kreativeren Beruf vorstellen. Die Aufgabenstellung ist einfach, aber zugleich eine unglaubliche Herausforderung: Es geht darum, einzelne Umstände und kleinste Hinweise, die wie die Teile eines Puzzles zunächst keinen Zusammenhang ergeben, zu einem Gesamtbild zu verbinden. Doch es ist nicht nur dies, was mich an meiner Arbeit fasziniert, sondern darüber hinaus auch die Vielfalt der unterschiedlichen Aufgaben und die Gelegenheit, in mannigfaltige Lebensformen und Kulturen einzutauchen, die mir sonst verborgen geblieben wären. Das Spannende an meinem Beruf sind aber auch die Begegnungen mit so vielen unterschiedlichen Menschen, gleichgültig, ob arm oder reich, alt oder jung, unbekannt oder prominent, etabliert oder am Rande der Gesellschaft.

Natürlich kann ich auch die Faszination des Bösen nicht leugnen und die Spannung bei der Frage nach dem Whodunit – also nach dem Täter – und schließlich dem Rätsel des Warum.

Doch ich habe noch einen weiteren Antrieb bei meiner Arbeit: Ich möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben für die Privilegien, die ich jahrzehntelang genossen habe; für die soziale Absicherung im aktiven Dienst und im Alter, die stetige Chance, mich – trotz all der genannten Erschwernisse – in meiner Arbeit zu verwirklichen, all die Kreativität bei der kriminalistischen Arbeit entwickeln zu dürfen, nur meinem Gewissen und den Gesetzen zu folgen bei der Aufklärung von Unrecht und Ungerechtigkeit, auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit.

Allerdings konnte ich beim Abschied von meinem Ermittlerbüro nicht ahnen, wie häufig mich auch danach noch Hilferufe von verzweifelten Menschen erreichen würden; sei es von Opfern und Hinterbliebenen oder auch von verurteilten Tätern. Mehrmals in der Woche erhalte ich Anrufe oder Briefe von Betroffenen. Und auch bei Lesungen wenden sich immer wieder Zuhörer mit den verschiedensten Sorgen an mich.

So unterschiedlich diese Anfragen auch sein mögen, eines eint diese Menschen: Sie finden ihre Interessen nicht gebührend berücksichtigt, mögen der offiziellen Beweisführung nicht folgen. Viele können sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ein vermeintliches Verbrechen ungesühnt bleibt und der oder die Täter – oftmals unerkannt – in Freiheit leben. Andere wiederum sind selbst Verurteilte, die darauf hoffen, rehabilitiert zu werden.

Dabei zeigt sich: Nicht nur das Leben der direkt Betroffenen wird zerstört, sondern auch das Leben von völlig unschuldigen Partnern, Eltern, Kindern und anderen Angehörigen – sei es von Opfern als auch Tätern – und eben auch das Leben von zu Unrecht Beschuldigten.

Häufig handelt es sich bei den Hilfesuchenden um Menschen, die sich bei ihrem Bemühen um Anerkennung finanziell bereits völlig verausgabt haben und die nicht mehr in der Lage sind, die Kosten für weitere Anwälte, Experten oder Gutachter zu tragen. Von diesen Leidgeprüften nehme ich immer wieder Pro bono, also unentgeltlich, Mandate an, um sie bei der Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Meine einzige Bedingung: Ich möchte im Anschluss über die Fälle berichten dürfen, sollte ich auf Hinweise gestoßen sein, dass Ermittlungen einseitig geführt oder möglicherweise falsche Urteile gefällt wurden.

Man mag es kaum glauben, doch ob jemand in Deutschland Gerechtigkeit widerfährt, ist auch zu einer Frage des Geldes geworden. Die Redewendung vom »fairen Prozess« ist für manche Opfer und Täter leider nur noch eine Worthülse. Die Stundensätze eines renommierten Anwalts von mehreren Hundert Euro können sich viele von ihnen niemals leisten. Ebenso wenig einen forensischen Sachverständigen, der vorliegende Beweise aufwendig untersucht und kritisch bewertet. Und so bleibt ihnen nur die bange Frage, ob sich der vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger wirklich in dem Maße für sie einsetzen wird, wie es ihnen gebührt, und ob ihre Würde als Opfer oder Hinterbliebene im Prozess und in der Öffentlichkeit wirklich gewahrt bleibt.

Im Lichte dieser gesellschaftlichen Entwicklung begann ich nach meiner Pensionierung nach und nach, mich in viele rätselhafte Fälle einzuarbeiten: Tötungsdelikte, vermeintliche Unfälle oder Suizide. Und je intensiver ich die Akten las, je häufiger ich Tatorte aufsuchte, Gutachter im In- und Ausland kontaktierte, desto mehr offenbarte sich mir eine Vielfalt behördlichen Versagens und ein wiederkehrendes Muster von Mängeln bei der Spurenbewertung. Fehlende oder unterdrückte Beweise, mangelnde fachliche Kompetenz oder die Profilierungssucht einzelner Ermittler, die nur um die Bestätigung der eigenen Überzeugungen kämpften und wenig Energie darauf verwandten, ihre Anschuldigungen kritisch zu hinterfragen.

Ein weiterer Schwachpunkt zeigte sich aber auch in falschen Stellungnahmen von wild spekulierenden Spezialisten und Gutachtern, denen es offensichtlich an unparteiischem, unabhängigem oder fachlich kompetentem Verhalten mangelte. Ein Manko, das fatale Folgen nach sich ziehen kann. Denn werden inkorrekte Gutachten nicht rechtzeitig widerlegt, so kann das zu Fehlurteilen führen.

In besonders öffentlichkeitswirksamen Fällen kam es mir zudem manchmal so vor, als seien Verdächtige von Justiz und Strafverfolgung mit einem Malus belegt; als hätten Ermittler, Staatsanwälte und Richter in ihrem Drang, der Öffentlichkeit den »Skalp« eines Prominentenmörders zu präsentieren, die Grundsätze eines fairen Verfahrens aus dem Blick verloren.

Ich weiß, es sind gravierende Anschuldigungen, die ich hier erhebe. Doch trotz jahrzehntelanger Berufserfahrung hat mich die unterschwellige Arroganz mancher Vertreter dieser Berufsstände schockiert. Sie halten sich selbst gerne für die Elite – zudem gestärkt durch die Gewissheit, von übergeordneten Institutionen faktisch nicht kontrolliert zu werden –, und mir sind Zweifel gekommen, ob sie ihrer Verantwortung wirklich immer gerecht werden. Von ihnen hängt schließlich ab, ob ein Angeklagter schuldig gesprochen wird oder nicht, ob der Tod eines Menschen als Suizid, Unglücksfall oder Verbrechen gewertet wird. Es liegt mir fern, diese Berufsgruppen unter Generalverdacht zu stellen – immerhin gehörte ich selbst lange dazu –, doch gibt es diese Auswüchse von Fehlverhalten leider viel zu oft.

Objektivität und Ehrlichkeit bei den Ermittlungen sind oberstes Gebot nicht nur beim Umgang mit Angehörigen, sondern auch gegenüber Tatverdächtigen. Als Ermittler muss ich mir stets bewusst sein, dass meine Recherchen unparteiisch zu erfolgen haben, dass ich mich nicht vom eigenen Erfolgsdruck oder dem in der Öffentlichkeit vorherrschenden Bild des vermeintlichen Tathergangs leiten lassen darf.

Somit besteht meine Aufgabe darin, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu sammeln. Diese Vorgehensweise soll dazu beitragen, dass ich eine faire Einschätzung vornehmen kann, ob ein Verdächtiger eine Tat begangen haben könnte – oder eben auch nicht. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die allerdings, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, nicht immer beherzigt wird.

Auch ich habe vor langer Zeit einmal fast 20 Jahre lang einen Mann fälschlicherweise für einen Mörder gehalten und ihm das Leben schwer gemacht, ehe die von mir in Auftrag gegebene Untersuchung einer winzigen DNA-Spur seine Unschuld bewies – späte Früchte der Forschung.

Der Forderung nach Objektivität zu folgen bedeutet auch, respektvoll mit seinem Gegenüber umzugehen. Und so hörte ich mir in Vernehmungen aufmerksam und interessiert die Gründe für das Verhalten und die Motive der mutmaßlichen Täter an. Ein alter Vernehmungsgrundsatz besagt: »Der Täter muss sich und sein Motiv verstanden wissen.«

Zugleich muss ich mich als Ermittler aber auch abgrenzen. Das Verständnis, das ich aufbringe, darf vom Verdächtigen nicht als Zustimmung zur Tat missverstanden werden. Allerdings wurde mir im Laufe der Jahre immer bewusster, dass Täter nicht per se böse Menschen sein müssen. Das Böse lebt in der Tat. Und deswegen sind Begriffe wie Unmensch, Monster und Bestie völlig fehl am Platze, wenn es um die Beschreibung von Täterpersönlichkeiten geht. Fast immer habe ich die Täter als normale Menschen erlebt; häufig unbeholfen, unauffällig, tapsig, schüchtern. Die Gründe für ihre Taten oftmals profan: die Dynamik der Situation, mangelnde Impulskontrolle, Eifersucht, verletzte Gefühle, Einsamkeit und Hass. Und aus diesem Grund halte ich die populäre These, dass praktisch jeder von uns zum Mörder werden könne, auch für überzogen.

Allerdings ist es meiner Erfahrung nach auch richtig, dass kein Mensch sicher wissen kann, wie er sich verhalten würde, wenn er an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit und Handlungskontrolle gerät. Aus diesem Grunde habe ich auch kein Problem damit, rechtskräftig verurteilten Menschen zu helfen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Sie müssen glaubhaft machen können, dass sie unschuldig sein könnten, und es muss Hinweise auf ein fehlerhaftes Gerichtsverfahren geben. Dann bin ich bereit, diese Menschen bei ihrem Bemühen um ein Wiederaufnahmeverfahren zu unterstützen.

Doch der Weg zum Erfahren später Gerechtigkeit ist dornenreich. Die Justiz hat einen Parcours mit hohen Hürden aufgebaut, den es zu durchlaufen gilt: mit neuen Beweisen und innovativen Untersuchungsmethoden, die helfen, falsche Ermittlungsergebnisse zu widerlegen.

Und so möchte ich Sie auf den nächsten Seiten einladen, mir bei meiner Arbeit über die Schulter zu schauen und mich auf der Suche nach der Wahrheit zu begleiten. Lassen Sie uns gemeinsam der Frage nachgehen, was eigentlich das Böse ist.

Mit den nachfolgenden Fällen habe ich aus einer Vielzahl ungeklärter Tötungsdelikte drei prominente Beispiele ausgewählt, die ich über einen langen Zeitraum begleitete. Die Fälle sind geprägt von gravierenden Unterlassungen, Vorurteilen, falschen Annahmen oder fehlerhaften Expertisen sowie nicht immer nachvollziehbaren Schlussfolgerungen und Beweisführungen.

Bevor Sie nun in diese Randbereiche des menschlichen Zusammenlebens aus drei Ländern mit ungewöhnlichen neuen Erkenntnissen eintauchen, möchte ich noch eine Erklärung in eigener Sache abgeben. Mit der Veröffentlichung meiner Rechercheergebnisse habe ich durchaus nicht die Absicht, Ex-Kollegen vorzuführen. Vielmehr möchte ich auf Widersprüche in den beschriebenen Fällen aufmerksam machen und auf das Leid der Opfer sowie der möglicherweise zu Unrecht verurteilten Täter und ihrer Angehörigen. Schließlich besitzt niemand die absolute Wahrheit. Auch ich nicht. Es geht vielmehr darum, die Suche nach der Wahrheit so lange nicht ruhen zu lassen, wie noch Zweifel bestehen.

Das heißt auch, wir müssen alle bereit sein, über unseren eigenen Schatten zu springen und eventuell gemachte Fehler einzugestehen. Eine Stärke, die ich leider in heutigen Zeiten bei vielen Menschen vermisse – nicht nur bei Ermittlern, den forensischen Wissenschaften und in der Justiz.

Aus rund 35 Jahren Arbeit als Mordermittler und Fallanalytiker weiß ich natürlich auch, dass viele Faktoren ein Ermittlungsergebnis negativ beeinflussen können: menschliche Schwächen, kollektive Scheuklappen, Vorgaben und Erwartungshaltungen von Vorgesetzten, hoher Arbeitsdruck, mangelnde Ressourcen, aber auch ein dysfunktionales System von Ermittlern, Gutachtern, Staatsanwälten und Richtern. All dies kann Einfluss nehmen auf die Arbeit eines einzelnen Ermittlers. Äußere Umstände, die er nicht zu verantworten hat, die ihn aber unter Umständen dazu bringen, einen Fall abzuschließen, obwohl noch nicht alle möglichen Untersuchungen veranlasst wurden.

Mir ist aber auch bewusst, dass manche Ermittler – gerade, wenn es um die Würdigung ihrer eigenen Arbeit geht – meine Recherchen und Ergebnisse argwöhnisch beäugt haben. So war ich beispielsweise bereits bei der Vorbereitung dieses Buches persönlichen Anfeindungen ausgesetzt. Sie werden mich jedoch nicht davon abbringen, auch zukünftig einen anderen, unabhängigen Blick auf das Böse und die Wahrheit werfen zu können.

Axel Petermann im Juni 2021