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Jeder kennt das: Wir sitzen etwa am Gate im Flughafen und plötzlich setzt sich jemand direkt neben uns, obwohl auch noch andere Plätze frei sind. Uns stört dieses Verhalten. Warum rückt uns jemand so nah? Der Grillgeruch aus Nachbars Garten dringt über den Zaun oder der Nachbar beobachtet uns hinter dem Vorhang. Auch das empfinden wir als Überschreiten einer Grenze. Wir fühlen uns unwohl, vielleicht ärgern wir uns sogar. Jeder Raum, den wir als unseren eigenen Bereich ansehen, wird für uns zu einem Territorium, das wir verteidigen. Übertritt ein anderer die Grenze dazu, ist ein Konflikt vorprogrammiert. Das betrifft übrigens nicht nur räumlich sichtbare, physische Territorien, sondern auch unsichtbare, geistige Territorien: Wenn ein anderer zum Beispiel unsere Fachkenntnisse anzweifelt oder unsere Kultur und unsere Sitten verletzt, sind das Grenzüberschreitungen geistiger Natur, die wir ebenso wenig dulden können wie das Überschreiten physischer Grenzen.

Samy Molcho macht uns bewusst, wie zentral der Begriff Territorium für uns Menschen ist und wie sehr wir uns damit – oft ganz unbewusst – identifi¬zieren. Er gibt uns mit diesem Wissen ein faszinierendes Mittel an die Hand, sowohl das Verhalten Einzelner als auch ganzer Gemeinschaften und Gesellschaften besser zu verstehen. Territorium ist überall – im privatesten Umfeld wie auch beim globalen Kräftemessen. Samy Molcho, 1936 in Tel Aviv geboren, widmete sich nach seiner internationalen Karriere als Pantomime zunächst der Bewegungslehre und der Regiearbeit. Damit vertiefte sich seine Affinität zum Körper und dessen Ausdruck. Bekannt für seine Analyse der Körpersprache, wecken seine Vorträge, Seminare und Bücher zum Thema (u.a. Körpersprache der Kinder, Körpersprache des Erfolgs, Alles über Körpersprache) nach wie vor allgemein großes Interesse und rücken Körpersprache ins Bewusstsein vieler Menschen. 2007 erschien seine Autobiographie ... und ein Tropfen Ewigkeit. Mein bewegtes Leben. Samy Molcho ist emeritierter Professor an der Universität für Musik und darstellende Kunst am Max Reinhardt Seminar in Wien.

Samy Molcho

Territorium ist überall

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

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© 2021 Ariston Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Maria Koettnitz

Umschlaggestaltung: Martina Eisele Grafikdesign, München,

unter Verwendung eines Fotos von © Nuriel Molcho

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27005-6
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Vorwort oder warum ich die Idee zu diesem Buch hatte

Während ich als Pantomime tätig war, war ich den größten Teil meiner Zeit auf der ganzen Welt unterwegs. Auf meinen unzähligen Tourneen habe ich viele territoriale Grenzen überquert. Ich war auf fast allen Kontinenten der Welt, bin von Land zu Land und von Stadt zu Stadt gereist.

Dabei war es in den Sechzigerjahren nicht so einfach wie heute, Grenzen zu überqueren. Für viele Länder war ein Visum nötig, auf das man oft wochenlang warten musste, oder man hatte bei der Einreise unzählige Formulare auszufüllen. Jedenfalls musste man den Zweck seiner Reise sehr genau definieren und begründen. Tourismus war damals – wohl auch deswegen – nicht so populär wie heute. Heute reisen wir ganz selbstverständlich privat wie geschäftlich von Land zu Land und überqueren Grenzen – oft ohne uns ausweisen zu müssen oder überhaupt zu realisieren, dass wir eine Staatsgrenze überschreiten. Für viele Staaten ist Tourismus zur Haupteinnahmequelle geworden. Es ist völlig normal geworden, sich kreuz und quer durch die Welt zu bewegen.

Aber zurück zu meiner Zeit, als ich auf Welttournee war. Bei jeder Überquerung einer Grenze war mir klar, dass ich nicht nur physische territoriale Gebiete bereise, sondern mich auch von einem kulturellen Territorium zum anderen bewege. Wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch von Territorium sprechen, meinen wir üblicherweise politisch definierte Gebiete wie Staaten, Städte oder Ortschaften. Auch wenn wir im Lexikon nachschauen – oder heute eher Suchmaschinen im Internet befragen –, bezieht sich die Definition von Territorium überwiegend auf politisch definierte Gebiete.

Aber ist wirklich nur das Territorium?

In meinem Lebensalltag habe ich so viele Situationen erlebt, in denen Menschen ein territoriales Verhalten zeigten, und zwar so, wie wir es in Zusammenhang mit politisch festgelegten Gebieten kennen. Doch es ging und geht dabei oft gar nicht um physische Gebiete.

Mit diesem Buch möchte ich Sie auf eine kleine Reise mitnehmen. Ich lade Sie ein, mich und meine Gedanken zu begleiten, so, wie ich meinen Gedankenfluss erlebe, so, wie ich den Alltag ohne Filter sehe. Es ist weder meine Absicht, für alle angesprochenen Themen Lösungen anzubieten, noch soll dies eine akademische, wissenschaftlich untermauerte Arbeit sein.

Folgen Sie mir einfach in meine Gedankenwelt. Da ist vieles spontan, oft sprunghaft und fast immer assoziativ. Das erklärt sich am besten so: Wenn ich spazieren gehe, kann es passieren, dass meine Gedanken sich mit einem Thema beschäftigen, meine Augen aber etwas registrieren, was in meiner Umgebung passiert und mich von meinen ursprünglichen Gedanken ablenkt. Ich nehme beispielsweise ein Kind wahr, das gerade durch Schreien versucht, seine Eltern zu überzeugen, ihm Eiscreme zu kaufen. Schon wandern meine Gedanken zu meiner Großmutter, die mir immer ein Eis gekauft hat – auch ohne, dass ich schreien musste. So ist auch dieses Buch verfasst. Ein Gedanke bringt mich zum nächsten, und schon bin ich wieder bei einem anderen Thema. Ich hoffe, Sie verzeihen es mir, wenn Ihnen das manchmal sprunghaft erscheint.

Gedankensplitter und Beobachtungen, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe, regten mich letztendlich zu diesem Buch an. Es ist ein Mosaik geworden, mit dem ich hoffe, Ihnen am Ende eine neue Sichtweise zu vermitteln – über das, was uns im Alltag überall begegnet und uns nicht immer bewusst ist. Vielleicht gewinnen Sie eine neue Perspektive, die Ihnen einen anderen Blick auf unser Verhalten und unser soziales Leben ermöglicht.

Meine Gedanken und Beobachtungen bewegen sich immer weiter vorwärts. Das erinnert mich an ein Gedicht des großen libanesisch-US-amerikanischen Malers, Philosophen und Dichters Khalil Gibran über die Sorge und Angst der Flüsse. Sie können nur in eine Richtung fließen, immer nur weiter nach vorne zum Meer hin. Jeder Fluss hat trotzdem seinen eigenen Charakter sowie seine eigene Art. Er wird weitergetrieben und kann nicht mehr zurückfließen. Am Ende bilden alle Flüsse zusammen ein neues großes Ganzes, einen Ozean. Genauso verhält es sich mit meinen Gedanken. Sie fließen weiter und weiter in eine Richtung und ergeben zum Schluss meinen Gedankenozean, das Gesamtbild dieses Buches – Territorium ist überall.«

Während ich dieses Buch geschrieben habe, hat ein Virus namens Corona unser Leben und unseren Alltag stark verändert. Neue Spielregeln im sozialen Umgang miteinander beeinflussen vorübergehend unser Leben. Wir halten mehr Distanz zueinander, tragen Masken und sind zum Teil von Angst getrieben. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist. Im Kern ändert aber dieses Virus nichts an dem, was unserem territorialen Verhalten zugrunde liegt. Daher werden Sie in diesem Buch auch keinen weiteren Hinweis dazu finden.

Teil I

Die physische Welt