Das Buch
Jahrhundertelang gehörte Magie zum Alltag der Menschen. Ganz selbstverständlich wurde sie von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Als mit Michael Hopkins ein neuer US-Präsident an die Macht kommt, ändert sich das politische Klima – statt als Heilerinnen verehrt, werden Hexen nun misstrauisch beäugt. Dann kommt es beim Zusammentreffen eines Hexenzirkels in Stonehenge zur Katastrophe: Die Magie gerät außer Kontrolle, zahllose Menschen sterben. Für Präsident Hopkins und seine konservative Partei ist dies ein willkommener Anlass, um eine neue Hexenjagd anzuzetteln. Weltweit werden magiebegabte Frauen von nun an verfolgt und eingesperrt. Eine von ihnen ist die junge Ärztin Adelita, die bis zu ihrer Verhaftung gar nichts von ihrer Gabe wusste und nun ihre Tage in einem texanischen Gefängnis fristet. Bis ihr eines Tages mithilfe des abtrünnigen Hexenjägers Ethan die Flucht gelingt. Zur gleichen Zeit entdeckt die britische Studentin Chloe Su ihre Macht und gerät prompt ins Visier der Behörden. Sowohl Chloe als auch Adelita kennen nur ein Ziel: den geheimen Hexenzirkel in Boscastle, England. Denn dort darf Magie noch praktiziert werden. Und dort beginnt der große Kampf um die Freiheit …
Die Autorin
Lizzie Fry ist das Pseudonym einer international erfolgreichen Schriftstellerin und Drehbuchautorin.
Aus dem Englischen
übersetzt von Beate Brammertz
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe: THE COVEN
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Deutsche Erstausgabe 09/2021
Redaktion: Lisa Scheiber
Copyright © 2020 by Lizzie Fry
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,
unter Verwendung des Originalentwurfs von Charlotte Stroomer
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-26678-3
V001
www.heyne.de
Für Laura,
Du bist die Eine.
Deine Tante L
Die Verkündigung der Elementaren
Wir sind alle Körner in der Erde.
Wir wurden vom Feuer getauft, vom Wasser des Lebens genährt, von der Luft gespeist.
Gemeinsam rufen wir die Eine an: Verbinde uns durch die Kette des Seins, und erlöse uns von den Fesseln, die uns knebeln.
ERSTER TEIL
PROLOG
Grünes Licht drang unter der Schlafzimmertür hervor.
Der Anblick ließ Li erst mitten in der Bewegung erstarren und dann zurückweichen, bevor der Wäschekorb, den sie in Händen hielt, auf den Boden polterte. Mit aller Macht wehrte sich ihr Verstand gegen die Erkenntnis. Sie hatte zu den Drei Göttinnen gebetet, dass dies niemals passieren durfte. Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren, Panik stieg in ihr auf.
Der Tag, vor dem Li die Augen verschlossen hatte, war gekommen.
Bis zu diesem Moment war es ein völlig normaler Freitag im März gewesen. Li hatte die Betten abgezogen, wie immer am Ende der Woche, wenn Chloe gegen Mittag nach den letzten Vorlesungen vom College zurückgekehrt war. Wie üblich hatte Li ihre Tochter gefragt, wie ihr Tag gewesen sei, wie üblich hatte Chloe sie mit ihrer spöttischen Art abblitzen lassen. Li versuchte, über solchen Dingen zu stehen. Seit Chloes Pubertät etwa im Alter von vierzehn eingesetzt hatte, hatte das Mädchen unmissverständlich klargestellt, dass es keine Zeit für seine Eltern hatte. Mit neunzehn, nun fast zwanzig Jahren hätte sie solchen kindischen Machtspielchen entwachsen sein müssen, aber Li wusste, dass es nicht gänzlich die Schuld ihres einzigen Kindes war.
Als Li das grüne Licht sah, das sich auf dem Boden wie eine Flüssigkeit sammelte, wusste sie, dass es allein ihre war.
Angst krallte sich in ihr fest, gefolgt von Schuldgefühlen. Wie in einem Albtraum fühlten sich ihre Knochen betonschwer an. Sie zögerte, nicht in der Lage, den Arm zu heben, um die Tür aufzustoßen und das Zimmer zu betreten. Tränen zurückblinzelnd, die an ihren Lidern brannten, zog sie ihr Handy aus der Jeanstasche und drückte auf ihre Anrufliste. DANIEL war der erste Name, der dort erschien. Li traf im Alltag eigentlich nur zwei Menschen: Daniel und Chloe. Abgesehen von einem Dutzend Facebook- und Twitter-Followern, mit denen sie sich regelmäßig online austauschte, hatte sie im realen Leben kaum Freundschaften und arbeitete von zu Hause. Ihre Liebe fürs Reisen und ein Abschluss an einer britischen Universität vor zwanzig Jahren hatten dazu geführt, dass sie sich auf der anderen Seite der Welt ein Leben aufgebaut hatte. Zu spät erkannte sie, dass sie, wo es nun wirklich darauf ankam, isoliert und allein war.
Endlich gelang es Li, auf die Nummer ihres Mannes zu tippen und ihn anzurufen.
»Hi.« Daniels raue Stimme dröhnte in der Leitung.
»Du musst …«
Die Mailbox hatte sich eingeschaltet. Er hatte überhaupt nicht geantwortet. Die Nummer wegdrückend fluchte Li auf Mandarin, der Klang ihrer Muttersprache in ihren eigenen Ohren misstönend. Ihre Hände zitterten so stark, dass ihr fast das Handy entglitten wäre. Umständlich wählte sie erneut, während in ihrem Innern Wut und Angst aufeinanderprallten. Diesmal musste Daniel drangehen. Unbedingt. Allein konnte sie nicht damit fertigwerden. Nicht mehr. Sie würde ihm alles erklären.
Chloe hatte nie zu der Sorte Teenager gehört, die sich betrank oder Drogen nahm, deswegen hatte Li sich nie Sorgen gemacht, ihre Tochter könnte eines Tages schwanger nach Hause kommen. Gelegentlich hatte sie sich gewünscht, es könnte so einfach sein. Zumindest wären sie auf diese Weise gezwungen, ihren Problemen als Familie die Stirn zu bieten und gemeinsam eine Lösung zu finden. Doch Chloes ständig schwelender Zorn flammte scheinbar ohne Grund oder Ziel auf.
Im Lauf der Jahre hatte Li gesehen, wie Chloe immer und immer wieder buchstäblich vor Wut platzte. Bei diesen Tobsuchtsanfällen schrie Chloe vor unbeherrschter Frustration und schlug sich mit den Fäusten gegen den Kopf, als wollte sie sich das Gehirn aus dem Schädel prügeln. Ihre Hände verwandelten sich in Waffen, mit denen sie sich Gesicht und Arme zerkratzte. Li musste dann gewaltsam Chloes Hände wegreißen und sie ihrer Tochter an die Seiten pressen, bis sie beide in entsetztem Schweigen auf dem Boden zusammenbrachen und Chloe verstört gegen die Wand starrte, unfähig, ein Wort zu sagen. Das Mädchen blieb normalerweise mindestens eine Stunde in dieser Position liegen, manchmal sogar länger, wenn der Anfall besonders heftig war.
Jedes Mal, wenn Chloe tief in ihrem Innersten verschwand, fragte sich Li, ob sie jemals wieder den Weg zurückfinden würde. Li sah dann die Angst und Verwirrung in den Augen ihrer Tochter, fühlte sich jedoch außerstande, ihr zu helfen. Sie und Daniel hatten Chloe zu Psychiatern, Therapeuten und Neurowissenschaftlern geschickt. Die hatten sich Zweit-, Dritt-, Viertmeinungen eingeholt – bevor das Geld knapp geworden war. Sämtliche Spezialisten hatten Chloe gründlichen Tests unterzogen. Alle hatten Chloe einen einwandfreien Gesundheitszustand attestiert und ihre Zustände lediglich als »Wachstumsschmerzen« oder »Verhaltensauffälligkeiten« bezeichnet.
Li hatte diese Diagnosen mit Erleichterung aufgenommen, aber nicht, weil mit ihrem Kind alles in Ordnung war. Sie hatte immer gewusst, dass Chloe anders als andere war, und das von dem Moment an, als die Hebamme sie ihr auf die Brust gelegt hatte. Sie hatte gefühlt, wie sich etwas in den winzigen Muskeln ihrer Tochter rührte, so offensichtlich wie das Blut, das durch ihre Adern pulsierte.
Das Telefon klingelte und klingelte. Selbst durch den schmalen Spalt unter der Tür erkannte Li, dass das grüne Licht stärker wurde, spürte seine zunehmende Macht. Ihre panischen Gedanken blitzten durch ihren Verstand wie die unzähligen Reflexionen in einem Spiegelkabinett. Hatte sie wirklich geglaubt, dieser Tag würde nie kommen? Dass sie ihn auf ewig hinauszögern könnte?
Erneut sprang die Mailbox an. Während Li wartete, bis die Ansage endete, wurde sie sich eines dröhnenden Summens hinter Chloes Schlafzimmertür bewusst. Das Brummen hatte die Intensität eines Flugzeugtriebwerks, dessen Lautstärke mit jeder Sekunde exponentiell zunahm. Li konnte es bis in ihr Innerstes spüren, es ging ihr durch Mark und Bein.
Schließlich, am anderen Ende der Leitung: Piep.
»Daniel? Oh, Daniel. Du musst sofort nach Hause kommen!«
Mit einem jähen Anflug von Mut, beflügelt von Fatalismus oder vielleicht dem fernen Trost, mit Daniels Anrufbeantworter verbunden zu sein, schob Li die Tür auf, um sich dem entgegenzustellen, was sie auf der anderen Seite erwartete. Bei dem folgenden Anblick fiel ihr das Handy aus der Hand.
Chloe hockte auf ihrem Bett, das Gesicht nach oben gewandt, die Augen glasig vor Konzentration. Sie saß im Schneidersitz da, die Handflächen wie erstarrt vor sich ausgestreckt, als wollte sie einen Ball auffangen. Grünes Licht schoss in einem Strudel aus ihren Händen. Sobald es die Decke berührte, kroch es wie ein lebendiges Wesen über den Verputz. Die Fensterscheibe ratterte in ihrem Rahmen, Bücher in den Regalen fielen um, ein Glas auf Chloes Nachttisch explodierte, spritzte Wasser und Glasscherben gegen die Wand. Li spürte, wie pure Macht, die ihre Zähne zum Klappern brachte, über den Boden auf sie zuströmte. Während sie entsetzt zu ihrer Tochter starrte, machte sich – neunzehn Jahre zu spät – eine Erkenntnis in Lis Gehirn breit.
Sie hatte auf ganzer Linie versagt, ihr kostbares Kind zu beschützen.
»Chloe! Chloe, sieh mich an!«
Lis Stimme wurde vom Lärm übertönt, der Chloe umhüllte. Die Luft wirbelte herum, wie direkt am Anfang eines Sturms. Obwohl die Entfernung von der Tür bis zu Chloes Bett nur einen guten Meter betrug, schwankte Li, als würde sie gegen Orkanböen ankämpfen, ihre Tochter kilometerweit entfernt. Der Geruch von Ozon, stark wie Chlor, griff Lis Nasenlöcher und Kehle an, während sie redete, ließ sie würgen und ihre Augen tränen. Trotzdem zwang sie sich, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Sie musste es schaffen. Sie musste versuchen, Chloe zu erreichen, sowohl physisch als auch psychisch, musste an das Mädchen herankommen, das jetzt tief in seinem Innern verloren war.
Li schaffte es zum Bett. Sie streckte den Arm aus, packte Chloe an der Schulter. »Chloe, Liebling, nicht! Ich werde dir alles erklären …«
Lis Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihre Tochter den Kopf von dem Strudel aus grünem Licht wegdrehte. Entsetzt und starr vor Schock ließ Li ihre Hand von Chloes Schulter sinken. Die Augen ihrer Tochter waren schwarz und schimmerten wie der Panzer eines Käfers. Ohne Pupillen, ohne den kleinsten Fleck Weiß war der Blick, den Chloe ihrer Mutter zuwarf, bar jeder Menschlichkeit.
»Was hast du mir angetan, Mutter?«, zischte Chloe.
Das grüne Licht rollte wie eine Flutwelle auf Li zu.
1
Texas, USA
Das Bewusstsein kehrte wie ein Schnellzug zu Adelita zurück. In der einen Sekunde war sie ohnmächtig, in der nächsten wieder klar. Es gab nichts dazwischen.
Ihre Augen öffneten sich jäh, und die Realität überschwemmte ihre Sinne. Bis sie ihre Umwelt scharf sehen konnte, dauerte es etwas länger. Polyestervorhänge flatterten vor den Fenstern, dahinter huschte eine Silhouette vorbei. Draußen konnte Adelita das Summen eines Cola-Automaten hören und das Geräusch des Eisspenders. Sie lag auf einem Doppelbett mit fleckigem Laken, ein billiger Sperrholznachttisch daneben. Ohne nachzusehen, wusste sie, dass eine Bibel in der obersten Schublade liegen würde. Sie befand sich in einem billigen Hotel, irgendwo in einer Seitenstraße. Wie war sie hierhergekommen?
Adelita konnte nicht annähernd so schnell aufstehen, wie sie zu sich gekommen war. Bleierne Müdigkeit hatte sich um ihre Knochen gekrallt, ihre Beine waren unsäglich schwer. Ganz die Ärztin, untersuchte sie sich selbst. Ihre Arme und Beine waren zerkratzt und mit blauen Flecken übersät, mehrere Fingernägel waren blutig. Ein Zittern hatte ihre Hände und Schultern gepackt. Ihr Herz trommelte gegen ihren Brustkorb.
Sie drückte zwei Finger auf die Innenseite ihres Handgelenks: Ihr Puls war definitiv über hundert. Helle Punkte wirbelten vor ihren Augen, trotz der Düsternis im Zimmer. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie angenommen, eine zweitägige Sauftour hinter sich und jetzt einen gewaltigen Kater zu haben. Doch selbst trotz der blinden Flecken in ihrem Gedächtnis wusste Adelita, dass sie seit sehr langer Zeit keinen Schluck Alkohol mehr getrunken hatte. Was zum Teufel war ihr nur widerfahren?
»Verdammte Scheiße noch mal!«
Wer war das? Ihr Herz vollführte einen schmerzhaften, erschrockenen Salto in ihrer Brust. Die Stimme war männlich, ein tiefes Knurren, und kam aus dem angrenzenden Bad. Vom Bett aus konnte sie weder um die angelehnte Badezimmertür spähen, um den Besitzer der Stimme in Erfahrung zu bringen, noch erraten, zu wem sie womöglich gehörte. Mehrere Gesichter, hauptsächlich weiblich, blitzten in ihrem Kopf auf. Namen drifteten an die Oberfläche ihres Bewusstseins: Elinor … Maddie … Claire … Yukio. Sie war bei diesen Frauen gewesen, hatte sie gekannt. Aber woher? Wo? Gedanken schwirrten kreischend durch ihr Gehirn, während sie versuchte, sich zu konzentrieren, doch sie war zu erschöpft, um klar zu denken.
Adelita schwang die nackten Füße über den Rand des Betts und machte unbeholfen zwei, drei schwankende Schritte wie ein neugeborenes Fohlen. Hastig blickte sie sich im Zimmer nach etwas um, das sie als Waffe benutzen konnte. Sie musste nicht lange suchen, ein 1873er Colt Single Action Army lag auf dem billig aussehenden Sideboard, sein kalter Stahl glitzerte im matten Licht der Lampe. Adelita schnappte ihn sich und fühlte sich mit seinem Gewicht in ihren Händen gleich etwas besser. Ihr Vater hatte Colts bevorzugt, einen immer zusammen mit einer Schrotflinte unter der Theke seiner Bodega aufbewahrt. Ernesto Garcia hatte Adelita und ihren Schwestern eingebläut, dass Waffen in jedem zivilisierten Land verboten gehörten. Allerdings merkte er auch an, dass die Vereinigten Staaten kein bisschen zivilisiert waren. Es war Ernesto ein echtes Anliegen gewesen, dass alle seine Mädchen das Schießen erlernten.
Adelita überprüfte, dass die Waffe geladen war, und taumelte weiter zum Bad, um zu versuchen, einen flüchtigen Blick auf den Fremden dort drinnen zu erhaschen, bevor sie sich zu erkennen gab. Als sie verstohlen durch den Türspalt lugte, sah sie eine weitere Handfeuerwaffe, abgelegt im Waschbecken wie eine Dose Rasierschaum. Neben dem Wasserhahn, wo eigentlich die Seife hingehörte, stand eine geöffnete Flasche Jack Daniel’s, die zur Hälfte geleert war.
Ein weißer Mann saß auf dem Rand der Badewanne.
Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, aber selbst im Sitzen wusste Adelita, dass er nicht besonders groß war, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig, nur fünf Zentimeter größer als sie selbst. Der Mann trug kein T-Shirt, war schlank, aber breitschultrig. Sie konnte seine Rippen und die Muskeln zählen, die sich unter seiner Haut spannten. Was auch immer ihm an Größe fehlte, machte er mit seiner Stärke und Jugend wett. Knapp dreißig – gute zehn Jahre jünger als sie. Seine schwarze Hose war so tief nach unten gezogen, dass sein Hintern fast herausschaute. Ein schwarzes Hemd, reich bestückt mit goldenen Rangabzeichen an den Schultern, lag achtlos weggeworfen am Boden. Seine Stiefel, die neben der Toilette gelandet waren, glänzten wie frisch poliert. Seine blonden Haare waren kurz geschoren. Auch wenn er nur halb bekleidet war, haftete Blondie die unverwechselbare Aura des Militärs an.
Er war ein Sentinel.
Da drehte er sich weg, um die Verletzung an seiner Seite, oberhalb der Hüfte zu versorgen. Es sah wie eine Schusswunde aus, ein glatter Durchschuss. Er wollte sie selbst nähen, doch die Lage erschwerte es ihm. Dank all der Jahre, in denen Adelita sich in der Notaufnahme um Opfer von Schießereien gekümmert hatte, wusste sie, dass er Riesenglück gehabt hatte, auch wenn es ihm wahrscheinlich nicht so vorkam. Selbst kleinere Schusswunden taten verdammt weh. Nach einem weiteren Stöhnen schnappte er sich die Flasche Jack Daniel’s vom Waschbecken und nahm, eine Grimasse ziehend, einen großen Schluck.
Adelita stieß die Tür mit ihrem nackten Fuß auf. »Wer zum Teufel sind Sie?«
Sie hob genau in dem Moment die Waffe, als er sich zu ihr umdrehte. Beim Anblick seines Gesichts stieg unwillkürlich eine Flut von Erinnerungen in ihr hoch und hämmerte auf ihre Sinne ein.
Der blonde Sentinel rannte direkt auf sie zu.
Sie ließ die Waffe sinken, während sie schwankend nach dem Türrahmen des Badezimmers griff, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Das Gefühl, im Schnellvorlauf zu stecken, als würde sie sich in Überschallgeschwindigkeit zwischen zwei Daseinsebenen hin- und herbewegen.
Im Badezimmer trat Blondie einen Schritt vor.
»Nicht!«
Adelita stieß die Warnung zu spät aus, obwohl der Mann sich nicht auf die Waffe stürzte. Seine rauen Hände packten sie an der Hüfte, hielten sie aufrecht. Bildblitze peitschten durch ihr Gehirn:
Ihre Faust, die wie ein Leuchtturm glühte.
Blondie, der von einem Strahl weißen Lichts in die Brust getroffen wurde und niedersank, als wäre er ein Rammbock.
Adelita stieß den Mann von sich weg und hob wieder die Waffe, den Finger auf dem Abzug. Da bemerkte sie die Rinnsale von getrocknetem Blut aus Blondies Ohr, seine aufgeplatzte Lippe. Adelita taumelte leicht, als eine Erkenntnis sich in ihrem Bewusstsein breitmachte.
»Das habe ich Ihnen angetan.«
Blondie nickte.
»… Ich war im Gefängnis.«
»Genau. Our Lady of Nazareth, Texas.«
Adelita lachte über sich selbst, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. »Das ist ein Gefängnisausbruch. Ich bin nicht Ihre Geisel, Sie sind meine!«
Blondie verzog das Gesicht. »Nicht ganz.«
»Was soll das heißen?«
»Wäre ich wirklich Ihre Geisel, glauben Sie nicht, ich hätte mich nicht einfach aus dem Staub gemacht, als Sie geschlafen haben, und wäre mit einem Haufen Sentinels zurückgekommen?«
Adelitas übermüdeter Verstand zählte zwei und zwei zusammen. Er hatte recht.
»Ich bin also geflohen … und Sie sind mitgekommen.«
»Yep.«
Blondie ging einen Schritt von ihr weg, schwankte – ob vom Bourbon oder vor Schmerz, das konnte Adelita nicht sagen. Sichtlich erschöpft stützte er sich mit beiden Händen am Waschbecken ab. Warum sollte ein Sentinel zusammen mit einer Hexe aus einem Hochsicherheitsgefängnis fliehen? Er war ein freier Mensch. Am Ende seiner Schicht hätte er einfach aus dem Gefängnis spazieren können. Er müsste nicht hier sein, bei ihr.
»Keine Bewegung.« Adelita zwang einen drohenden Unterton in ihre Stimme.
Doch Blondie fing ihren Blick im Badezimmerspiegel auf. »Sie und ich wissen beide, dass Sie mich nicht erschießen werden. Apropos, vielen Dank.«
Adelita starrte zurück, überrumpelt. »Äh … keine Ursache?«
Sie beobachtete im Spiegel, wie sie die Pistole sinken ließ, und bemerkte jäh, dass sie nur in Unterwäsche dastand, so gut wie nackt war. Ihn schien es nicht zu stören, selbst nur halb bekleidet zu sein. Sie hätten ein Ehepaar auf einem Low-Budget-Roadtrip sein können. Einem, bei dem sie das Bewusstsein verloren hatte und er angeschossen worden war. Zwischen ihnen beiden war eine Vertrautheit, die Adelita nicht erklären konnte. Doch es gab eine Sache, die sie unbedingt wissen musste.
»Wo verdammt noch mal ist meine Kleidung?«
Der Sentinel hob beide Hände, diesmal in gespielter Kapitulation. »Dafür kann ich nichts. Sie haben Ihre Gefängnissachen auf dem Beifahrersitz ausgezogen und aus dem Fenster geworfen.«
Adelita ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Es klang tatsächlich wie etwas, das sie womöglich getan hatte. Sie hatte das kratzige Material ihrer Uniform gehasst, ebenso den Umstand, dass ihre purpurne Farbe sie als eine Hexe von den Frauen in Orange abhob, den »Goodys«. Abgeleitet von der altertümlichen Ansprache »goodwife« war dies nun die Bezeichnung für Nichthexen. Wie auch immer man es drehte und wendete, war das Wort ein völlig unzutreffender Name für die Gefangenen, mit denen sie zusammen eingesperrt gewesen war. In Our Lady hatte sie Seite an Seite mit Mörderinnen und brutalen Gangmitgliedern gelebt. Adelitas einziges Verbrechen war ihr starker magischer Stammbaum, ihre Existenz an sich gewesen.
»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?«
Blondie schnallte sich den Gürtel wieder zu und setzte sich zurück auf den Badewannenrand. Bevor Adelita eine Antwort geben konnte, löste ihr Gehirn das Rätsel. Unzusammenhängende Geräusch- und Bilderfetzen blitzten vor ihrem geistigen Auge auf. Im Staub des Gefängnishofs, unter der gnadenlosen Sonne von Texas: ein Kieselstein, in dem eine Schicht Quarz durchschimmerte. Adelita, die nicht glauben konnte, was sie da sah, denn immerhin wurde das Gefängnis täglich nach Kristallen abgesucht, nur für alle Fälle. Verstohlen hatte sie ihn aufgehoben.
»Para ti, Madre«, hatte Adelita in ihre geschlossene Hand geflüstert.
Für dich, Mutter.
Dann barst weißes Licht von der Kraft eines Blitzes aus ihrer Faust.
Ihr Blick begegnete dem des Sentinel. »Sie haben den Kristall absichtlich für mich im Gefängnishof versteckt?«
Er nickte wieder. Schuldig im Sinne der Anklage.
»Woher wussten Sie, dass es funktionieren würde?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wusste ich nicht. Ich hatte es nur gehofft.«
»Ich hätte es auch allein geschafft, irgendwann von dort auszubrechen. Irgendwie.«
»Ich weiß.« Er grinste sie an. »Ich wollte den Prozess nur ein wenig beschleunigen … Irgendwie gefällt mir Ihr Temperament.«
Adelitas Stirn zog sich argwöhnisch zusammen. »Warum? Was versprechen Sie sich von alldem?«
Blondie nahm einen weiteren Schluck von seinem Jack Daniel’s und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich habe es satt, auf der falschen Seite zu stehen.«
Adelita ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen, während sie auf seiner nackten Brust die Sentinel-Tätowierung musterte, eine Abbildung der Erde als Pupille in einem Auge, kreisförmig eingeschlossen von dem lateinischen Wahlspruch Si vis pacem, para bellum. Wer den Frieden sucht, bereite den Krieg vor. Und genau so sahen Leute wie er die Welt: schwarz und weiß, gut und böse, gewinnen und verlieren. Er hatte auf der Gewinnerseite gestanden. Irgendwann im Lauf der Zeit hatte er wohl seine Meinung geändert.
»Wir sollten unsere Sachen packen.«
»Wohin gehen wir?«
»Lassen Sie das fürs Erste meine Sorge sein.«
Adelitas Verstand schwirrte durch alles, was geschehen war, suchte nach Erklärungen. Was könnte sie jetzt tun? An wen könnte sie sich wenden? Ihr fiel nichts ein. Sie besaß kein Geld. Keine Kleidung. Ihr Gesicht wäre längst auf allen Fernsehkanälen, höchstwahrscheinlich gab es einen Tötungsbefehl für sie. Würde sie zurück nach Our Lady gebracht werden, wäre ihr nächstes Ziel Hof B, wo sie die lästigen Hexen wegsperrten. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um: Sie konnte nicht zurück. Sie würde niemals zurückkehren; etwas in ihr wusste, dass sie eher sterben würde. Es war eigenartig – und irritierend –, dass dieser Kerl ihr allem Anschein nach helfen wollte. Sie konnte sich keinen Grund ausmalen, warum ein Sentinel in einer Strafvollzugsanstalt vorsätzlich eine Hexe aus dem Gefängnis befreien sollte. Ihr blieb nichts weiter übrig, als ihn beim Wort zu nehmen. Zumindest vorerst.
»So geht das nicht.« Adelita zeigte auf die ausgefransten Stiche an seiner Seite. »Lassen Sie mich mal. Ich bin Ärztin – oder war es zumindest mal.«
Blondie grinste sie an. »Echt?«
Adelita spürte, wie Verärgerung durch sie hindurchpeitschte. »Warum überrascht Sie das so?«
»Sie sind ganz schön ausgekocht für eine Studierte. Ich habe Sie auf den Überwachungskameras im Gefängnis beobachtet. Sie haben sich dort drinnen von niemandem rumschubsen lassen.«
»Weil Frauen nur das Eine sein dürfen, ja?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Blondie blieb auf dem Rand der Badewanne sitzen, während Adelita sich neben ihn kniete. Jedes Mal, wenn sie einen seiner dilettantischen Stiche auftrennte, verzog er schmerzgepeinigt das Gesicht. Es war eine Weile her, seit sie als Assistenzärztin in einem der hektischsten Krankenhäuser New Yorks gearbeitet hatte – zwei Jahre lang, bis sie als fertig ausgebildete Ärztin praktiziert hatte –, doch es kam alles zu ihr zurück, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ohne Vorwarnung schnappte sie sich die Bourbonflasche und goss einen Schwall Alkohol auf die Wunde. Blondie jaulte wie ein Chihuahua auf und rammte mit zusammengebissenen Zähnen die Faust gegen das Waschbecken.
»So viel zum Thema, ein harter Kerl zu sein.«
»Ich habe nie behauptet, ein harter Kerl zu sein.«
Adelita grinste, während sie den Faden wieder in die Nadel fädelte. »Ich werde kleine, saubere Stiche machen, also wird es ein wenig dauern. Vielleicht wollen Sie lieber auf ein Stück Holz oder sonst was beißen, Debilucho.«
Sein Gesicht im Spiegel war blass und ausgezehrt. »Ich halte nicht viel von der Art, wie Sie mit Kranken umgehen.«
»Und ich halte nicht viel von Ihrer Erste-Hilfe-Ausrüstung. Sie wissen schon, dass Jod viel billiger als Bourbon ist, oder?«
Grinsend fing sie seinen Blick im Spiegel über dem Waschbecken auf, doch die Ungezwungenheit zwischen ihnen verpuffte jäh, als sie sich ihre Lage vor Augen hielt. Dieser Fremde war ein Sentinel – oder war es zumindest früher einmal gewesen –, also einer der Männer, die für die Wendung verantwortlich waren, die ihr Leben genommen hatte.
Als würde er ihre plötzliche Anspannung spüren, warf Blondie ihr ein gepresstes Lächeln zu. »Übrigens, ich heiße Ethan.«
»Adelita.«
Sie wusste nicht, was hier gespielt wurde. Ihre Mutter hatte ihr und ihren Schwestern von klein auf eingeschärft, bei weißen Männern Vorsicht walten zu lassen, und aus eigener Erfahrung wusste Adelita, dass es stimmte. Ihre Gefälligkeiten hatten stets ihren Preis.
Sie konzentrierte sich wieder aufs Nähen.
2
Exeter, Devon, UK
Daniel Su musste nach Hause. Sofort.
Er funktionierte wie auf Autopilot, sein Körper reagierte automatisch. Als er Lis Nachricht abhörte, hatte es ihm die Kehle zugeschnürt. Li wäre sicher außer sich vor Wut, wenn er endlich als Back-up auftauchte, um sich gemeinsam mit ihr um ihr launisches Kind zu kümmern. Daniels übliche Methode war, sich so gut wie möglich aus der Schusslinie zwischen seiner Frau und seiner Tochter zu halten, aber es klang, als würde ihm das heute um die Ohren fliegen.
Während Daniel zu seinem Auto auf dem Universitätsparkplatz hastete, fragte er sich, was Chloe diesmal gesagt oder getan hatte, dass Li am Telefon so aufgelöst klang. Er wusste nur, dass es etwas wirklich Schlimmes gewesen sein musste. Wie viel Zeit war vergangen, seit Li ihn angerufen hatte? Fünf Minuten? Zehn? Zwanzig? Daniel hatte keine Ahnung. Panik hatte sein Zeitgefühl völlig durcheinandergebracht.
Schließlich fand Daniel sich neben seinem Wagen wieder. In seiner nervösen Art klopfte er sich mit der Handfläche die Taschen ab, suchte durch den Stoff nach den Autoschlüsseln. Sie waren da. Gott sei Dank! Obwohl er Professor für Theologie war (oder vielleicht gerade deshalb), glaubte Daniel an keinen Gott, das hatte er noch nie. Es war nur etwas, das er sagte. Die Sentinels bestanden darauf, dass allein ihre puritanische Version von Jesus Christus der einzig wahre Gott war. Das Triumvirat – die Drei Göttinnen – waren verboten.
Als er in sein Auto stieg, glitten Daniels Augen zur Uhr auf dem Armaturenbrett. Es war fast Viertel vor sechs. Chloe hatte freitags nur bis mittags Vorlesungen, und Li arbeitete von zu Hause. Sie mussten beide daheim sein. Das war schon mal etwas. Daniel war ein äußerst introvertierter Mensch, und Chloes öffentliche Zusammenbrüche empfand er als das Schwierigste. Er ertrug die urteilenden Blicke der Fremden nicht oder, noch schlimmer, ihre mitleidvollen, abgewandten Mienen. Glücklicherweise war das im Lauf der Jahre nur wenige Male vorgekommen.
Mit beiden Händen am Lenkrad, die Knöchel weiß vor Anspannung, raste Daniel in seinem kleinen Auto den Hügel hinab, der über Exeter thronte. Während er am Wald vorbeirauschte, der zum Universitätsgelände gehörte, blaffte er seinem Handy den Befehl »Li anrufen« zu, bevor ihm dämmerte, dass er das Telefon nicht bei sich hatte. In seiner Panik hatte er es im Büro vergessen – zusammen mit seiner Geldbörse und den Notizen für das Sachbuch, an dem er schrieb. Als er sich dem Checkpoint näherte, der die Straße in Richtung der Großen Aula abriegelte, stieg er auf die Bremse.
Die Schranke war nie unten, aber jeder verlangsamte das Tempo und blieb stehen, bevor er die Erlaubnis zum Weiterfahren bekam. Es war die feine, britische Art. Normalerweise hatte am Checkpoint der Universität von Exeter nur ein Sentinel Dienst, aber heute waren es zwei. Der erste war Mitte fünfzig und offensichtlich kein Berufssoldat. Sein Gesicht war mit den Jahren schlaff und desinteressiert geworden, eine ausladende Wampe hing über seiner schwarzen Uniformhose. Der andere war viel jünger, kaum dreißig. Er war dünn und wirkte brutal, mit weit aufgerissenen Augen, die wie die einer Katze aufmerksam hin und her huschten. Daniel fiel die rote Binde an seinem Oberarm auf: ein angehender Sergeant, höchstwahrscheinlich darauf bedacht, sich zu profilieren.
Daniel kurbelte sein Fenster herunter und wollte schon sein Umhängeband mit dem Ausweis zücken, um von dort wegzukommen und nach Hause zu düsen. Es war ihm endlich gelungen, einen Teil der Panik zu besänftigen, die in seiner Brust hämmerte. Doch von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus starrten beide Sentinels auf einen Punkt in der Ferne, jenseits der Stadt. Nicht mehr nur verärgert und genervt, sondern nun außerdem verängstigt, drehte Daniel sich auf seinem Sitz zur Seite, um aus dem Beifahrerfenster in Richtung Exeter weiter unten zu blicken.
Inmitten der Stadt erhob sich eine schwarze Rauchsäule senkrecht in die Höhe. Eine Bombe? Gewiss nicht im verschlafenen Exeter. Aber dort war sie, überlebensgroß, ein dunkles Kräuseln gen Himmel.
Genau dort, wo Daniel und seine Familie wohnten.
»O nein«, hauchte er.
Daniel hatte sein ganzes Leben in der akademischen Welt verbracht, war noch nie auch nur ansatzweise in einer Situation gewesen, in der es um Leben und Tod gegangen wäre. Doch in diesem Moment wusste er instinktiv, dass seine Familie in größter Gefahr schwebte. Er drückte das Gaspedal durch.
Das Kreischen der Reifen und der Puls, der in seinem Kopf hämmerte, überdeckten alles. Daniel bekam die Rufe des Sentinel hinter sich nicht mit, genauso wenig wie den jüngeren Soldaten, der sein Vergehen über Funk weiterleitete. Seine Konzentration war zum Reißen gespannt. Das Fenster auf der Fahrerseite war noch offen. Er hörte keine Sirenen. Was auch immer geschehen war, konnte nicht vor allzu langer Zeit passiert sein. Oder vielleicht bedeuteten die Haushaltskürzungen in den Provinzen, dass der Rettungsdienst einfach ewig brauchte. Daniel hoffte inständig, dass die erste der beiden Möglichkeiten stimmte.
Er raste durch Exeter, nahm Abkürzungen und Nebenstraßen, um die Staus während des Feierabendverkehrs zu umfahren. Als er der Quelle des schwarzen Rauchs immer näher kam, beeinträchtigten der zunehmende Verkehr und die wachsende Anzahl an Gaffern sein Vorwärtskommen. In letzter Sekunde wich er in der Nähe des Gefängnisses von Exeter mehreren Fußgängern aus, dann wiederum vor der Moschee. Eine Gruppe älterer Männer in langen Thoben drohte ihm wütend mit den Fäusten, als er sich gezwungen sah, scharf auf die Bremse zu steigen. Daniel winkte ihnen nicht entschuldigend zu, sondern bog einfach in die nächste Straße ein, in Richtung des Odeon-Kinos.
Zeit war zu einem dehnbaren Begriff geworden, zog sich in die Länge und schnalzte dann ohne Vorwarnung zurück. Obwohl sich jede Sekunde wie eine ganze Stunde anfühlte, musste Daniel nur einmal blinzeln und war schon an seinem Ziel angekommen. Sein Verstand bäumte sich auf, als er in die kurze Sackgasse bog, in der Li, Chloe und er wohnten, seit Chloe zwei Jahre alt war. Ihr Haus war das letzte in der Straße, das begehrteste in einem Halbkreis aus neu gebauten Bilderbuch-Backsteinhäusern mit Fenstereinfassungen aus hellem Sandstein.
Die Szenerie vor ihm wirkte jetzt nicht mehr so idyllisch. Als Daniel um die Ecke bog, war das Erste, was ihm auffiel, dass jedes Fenster in unmittelbarer Umgebung geborsten war. Überall lagen Glasscherben herum: auf dem Asphalt der Fahrbahn, der Betondecke des Bürgersteigs, dem Rasen in den Gärten. Im Licht der späten Nachmittagssonne funkelten die Splitter wie tödliches Konfetti. War eine Bombe hochgegangen? O nein. O Gott, nein! Daniel hörte das Jaulen mehrerer Autoalarmanlagen. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, doch kein Besitzer kam herbeigerannt.
Stattdessen standen sie wie erstarrt vor ihren Häusern, mitten auf der Straße, die Augen starr nach vorne gerichtet.
Es gab weder zerbrochene Ziegel noch sonstigen Bauschutt. Dennoch weigerte sich Daniels Gehirn, das zu verarbeiten, was er gerade sah, genau wie alle anderen, die um ihn herum standen.
Ein Wirbel aus schwarzen Wolken wurde von der Stelle ausgespuckt, an der Daniels Einfamilienhaus gestanden hatte. Der Strudel drehte sich wie ein Korkenzieher um die eigene Achse, immer und immer weiter; es ergab keinen Sinn. Unter dem dunklen Rauch war von Daniels Zuhause nichts mehr übrig. Sein Haus war einfach … weg.
Daniels Nasenlöcher blähten sich, als er den starken Geruch von Magie wahrnahm. Grünes Licht umhüllte sein Grundstück wie eine tödliche Kugel. Er konnte ihre Macht mehr spüren als hören: Sie donnerte durch seinen Körper wie ein Düsentriebwerk. Ihre Energie drängte nach oben, riss den blauen Himmel entzwei. In der Nähe seiner früheren Küche brodelte der Asphalt, und kochender Teer ließ Dampffontänen in die Höhe schießen. Ein unvereinbares Bild von Li an der Spüle stieg in Daniels Bewusstsein an die Oberfläche. Seine Frau beobachtete Kühe und Schafe, die hinter dem Haus auf den saftig grünen, englischen Feldern grasten, und erfreute sich an dem blühenden, frischen Land, das sich so eklatant von der heißen, schwülen Riesenmetropole Peking unterschied, wo sie aufgewachsen war.
Daniels Körper drohte aufzugeben und in sich zusammenzusacken, während sein Bewusstsein weiterhin seinen katastrophalen Verlust einzuordnen versuchte. Wo war Chloe? War sie wie üblich in ihrem Zimmer gewesen? Die Einfahrt war geborsten, als hätte ein Erdbeben sie geteilt. War seine Tochter in dem Schlund verschwunden? In seiner Mitte, tief in dem Spalt, hatte sich Stein verflüssigt, glühend wie Lava. Daniel wimmerte bei dem Gedanken, dass sein Mädchen verbrannt sein könnte. Schmerz durchbohrte seinen Solarplexus wie Elektrizität.
Ein weiteres Grollen kam von dem qualmenden Wirbelwind, der sämtliche Umstehende nach hinten taumeln ließ, endlich wurden sie aus ihrer Starre gerissen.
»Zurück!«, schrie jemand.
Während alle anderen rückwärts stolperten, ertappte Daniel sich dabei, wie er in Richtung Haus stürmte. Es war ein aussichtsloses Unterfangen: Er war kein unverwundbarer Superheld. Seine heißgeliebte Familie war im Innern des Hauses zu Asche verkohlt. Er spürte einen Schwall intensiver Hitze auf seinem Gesicht, der drohte, seine Augenbrauen zu versengen, und seine verräterischen Füße stoppten die Bewegungen seines Körpers, scheinbar gegen seinen Willen. Er konnte keinen Zentimeter näher gehen.
Dann, ohne Vorwarnung, erstarb der donnernde Zyklon aus Hitze und Rauch. Er blies sich nicht selbst aus. Stattdessen schien er rückwärts zu laufen wie eine alte VHS-Kassette, die zurückgespult wurde. Die Stelle, an der Daniels Haus gestanden hatte, klärte sich unaufhaltsam, während das Chaos aus Qualm und Macht immer kleiner wurde. Schließlich verschwand es gänzlich.
Direkt in den Körper eines jungen Mädchens.
Die Menschenmenge reckte die Hälse: mitten in der Luft schwebend, eine Silhouette. Das Phänomen trotzte jedem physikalischen Gesetz, aber nicht mehr als das, was sie zuvor bereits gesehen hatten. Die Gestalt zeichnete sich dunkel gegen die untergehende Sonne ab, doch Daniel erkannte sie sofort. Er kannte sie, seit er die Hand auf den sich wölbenden Bauch seiner Frau gelegt und die winzigen Bewegungen von Armen und Beinen im Innern gespürt hatte.
»Chloe!«
Fassungslosigkeit platzte aus Daniel wie der Zyklon der Zerstörung, der bis eben hier gewütet hatte. Der Professor raste auf seine Tochter zu und umrundete geschickt den Spalt in der Einfahrt, die jäh abgekühlt war.
Falls Chloe ihren Vater hörte, gab sie es nicht preis. Sie sah nicht mehr wie seine Tochter aus. Wie vielen Teenagern war Chloe ihr Äußeres sehr wichtig: Sie schaute täglich Make-up- und Haar-Tutorials. Jetzt waren ihre Haare völlig zerzaust, ihr Gesicht starrte vor Dreck. Aber mehr als alles andere waren es ihre Augen: Sie blickten Daniel an, als wäre er ein Fremder. Seine Tochter wirkte so bedrohlich, ihr Gesicht dunkel vor Wut. Daniels Schritte wurden langsamer, zögerlicher, eingeschüchtert von der Gestalt, die vor ihm schwebte.
»… Chloe?«
Seine Tochter sank wie eine Seifenblase nach unten. Als ihre Füße auf festen Boden trafen, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Mimik sackte in sich zusammen, ihre Augen verdrehten sich. Ihr Körper erschlaffte, und sie fiel wie eine viktorianische Lady nach einem hysterischen Anfall in Ohnmacht. Daniel fing sie gerade noch rechtzeitig auf und sank mit ihr in den Armen auf die Knie. Eine Erinnerung an Li, die den Sturz ihrer Tochter gebremst hatte, als Chloe nach einem ihrer früheren Wutausbrüche das Bewusstsein verloren hatte, stieg in ihm auf. Da sprang unvermittelt sein Selbsterhaltungstrieb an und stoppte den Gedanken. Über Li durfte er nicht nachdenken.
Noch nicht.
Stattdessen zog Daniel seine Tochter an seine Brust und wiegte sie sanft, als wäre sie ein Baby. Er konnte kaum reden oder auch nur verarbeiten, was gerade geschehen war. Sein geschocktes Gehirn wunderte sich über den kalten Boden unter ihnen, der Sekunden zuvor noch gekocht hatte. Er war noch nicht bereit, die Verbindung zu ziehen, was dies bedeutete.
Die zuschauende Menschenmenge hingegen war ihm um Längen voraus, und die Erkenntnis breitete sich rasend schnell in der Gruppe aus, die sich um Daniel und Chloe geschart hatte. Selbst wenn das verbotene Wort nicht ausgesprochen wurde, so war Sprache hier nicht notwendig. Daniel sah, wie sich die Wahrheit in ihren Augen widerspiegelte, während sie einander ansahen, und ihr Blick dann zurück zu dem katatonischen Mädchen in seinen Armen glitt. Sie alle hatten das Haus gesehen, mit der Kugel aus grünem Licht: Erdmagie.
Hexe.
Chloe war eine Elementare.