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Gehen – Sprechen – Denken: Das sind die wichtigsten Entwicklungsschritte, die Babys in ihren ersten drei Lebensjahren durchlaufen. Die erfahrene Erziehungsbegleiterin Natalie Rehm gibt Eltern in diesem grundlegenden Buch einen fundierten Einblick in neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Bedingungen kindlicher Entwicklung. Mit vielen Ratschlägen und konkreten Tipps hilft sie Eltern, ihre Kinder bei der vollen Entfaltung ihrer angeborenen Potenziale zu unterstützen. Dafür beruft sie sich unter anderem auf die Erkenntnisse der Pädagogik Emmi Piklers. Entscheidend ist, dass sich Babys aus eigener Kraft entwickeln dürfen. Schaffen Eltern die richtigen Voraussetzungen dafür, werden Babys in ihrem eigenen Rhythmus zu genau den Persönlichkeiten, die sie in Übereinstimmung mit ihren individuellen Anlagen werden wollen.

• Für zufriedene, selbstständige Babys

• Praxisnaher Leitfaden zur natürlichen Entwicklung

• Mit einer detaillierten Darstellung der wichtigsten Entwicklungsschritte

Natalie Rehm

GEHEN
SPRECHEN
DENKEN

Wie sich Babys aus
eigener Kraft entwickeln

Kösel

Wichtiger Hinweis
Alle Hinweise und Ratschläge in diesem Buch sind von der Autorin sorgfältig geprüft worden. Sie ersetzen im Zweifelsfall jedoch nicht die persönliche Begleitung und Abklärung durch medizinisches Fachpersonal. Eine Haftung vonseiten der Autorin oder des Verlags wird ausdrücklich ausgeschlossen.

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Moritz Binder: Kinderfotos
klaus mauz fotodesign: Spielzeugfotos

Julia Riedel: Styling der Spielzeugfotos

»Luftlautformen sichtbar gemacht« von Johanna Zinke,
© 2003 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

Copyright © 2021 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © rubberball / Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26584-7
V001

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

EINFÜHRUNG

1 Welche Hilfe Babys wirklich brauchen

Die Fähigkeit der Babys zur Selbstbildung

Bindung und Beziehung als Aufgabe der Eltern

2 Vom ersten Schrei bis zum Ich-Sagen

Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich

Begleiterscheinungen der Ich-Entwicklung

Abreißen der Erinnerungsfähigkeit

Ich-Bewusstsein als Wendepunkt in der Entwicklung

Warum die frühe Kindheit unbewusst verläuft

Neuroplastizität und Lernfähigkeit

3 Die drei Entwicklungsetappen Gehen – Sprechen – Denken im Überblick

1 GEHEN LERNEN

1 Von der Gleichgewichtslosigkeit zur stabilen Balance

Selbst erworbene Bewegungsmuster: Wie Kinder laufen lernen

Entwicklung nach äußeren Vorgaben

Die Würde des Kindes

Entwicklung von innen heraus: Die Arbeit von Emmi Pikler

2 Die zehn Stufen der selbstständigen Bewegungsentwicklung nach Emmi Pikler

Die natürliche Ausgangsposition

Passiv erworbene Bauchlage bei Neugeborenen meiden

Vorteile der Rückenlage

Was tun bei Hüftgelenksdysplasie, nicht fixierter Asymmetrie, Schiefhals?

Die Auge-Hand-Koordination

Das Greifen

Erste Stufe: Das Baby dreht sich vom Rücken auf die Seite

Die bevorzugte Körperseite

Zweite Stufe: Das Baby dreht sich auf den Bauch

Dritte Stufe: Das Baby dreht sich zurück auf den Rücken

Vierte Stufe: Das Baby kriecht auf dem Bauch

Fünfte Stufe: Das Baby krabbelt auf Knien und Händen

Die Krabbelkiste

Mit dem Kopf voran!

Die Treppe

Sechste Stufe: Das Baby setzt sich auf

Aktives Sitzen

Passives Sitzen

Siebte Stufe: Das Baby richtet sich zum Kniestand auf

Achte Stufe: Das Baby steht auf

Neunte Stufe: Das Baby fängt an, freihändig zu gehen

Sicher ohne Lauflernhilfen!

Zehnte Stufe: Das Baby geht frei und sicher

Vorteile der selbstständigen Bewegungsentwicklung

Universelles Ziel – individueller Weg

Fortschritt und Stillstand

3 Welche Bedingungen brauchen Babys, um gehen zu lernen?

Vorbild Mensch

So wenig wie möglich eingreifen

Volle Bewegungsfreiheit

Babys und Kleinkinder transportieren

4 Beziehung aufbauen

Kooperation von Anfang an. Zum Pflegeansatz Emmi Piklers

Der Wickeltisch

Das Baby auf jeden Situationswechsel vorbereiten

Die kindliche Reaktion abwarten

Das Baby an- und ausziehen

Um Mithilfe bitten

Kindlicher Spieltrieb bei der Pflege

Vorteile der kooperativen Pflege

5 Wenn Babys weinen

Was tun, wenn das Baby weint?

Kleines Angebot zuerst

2 SPRECHEN LERNEN

1 Von der Sprachlosigkeit zur Sprechfähigkeit

Die drei Phasen der Sprachvorbereitung

Erste Phase: 0 bis 3 Monate

Zweite Phase: 3 bis 6 Monate

Dritte Phase: 6 bis 9 Monate

Der Beginn des aktiven Spracherwerbs

2 Welche Bedingungen brauchen Babys, um sprechen zu lernen?

Vorbild Mensch

Angemessene Sprachvorbilder

Mehrsprachigkeit

3 Was die Sprachentwicklung fördert

Lieder, Reime und Berührungsspiele

4 Live gesprochene versus mediale Sprache für Babys und Kleinkinder

Empfehlungen zum Medienkonsum für Kleinkinder

Von der Wirkung lebendiger Sprache

3 DENKEN LERNEN

1 Der lange Weg zum bewussten Denken

Voraussetzungen für das Denkenlernen

Anfänge des kindlichen Denkens

Viel können und wenig wissen

2 Welche Bedingungen brauchen Babys, um denken zu lernen?

Vorbild Mensch

Körper und Denken

3 Was die Denkentwicklung fördert

Sinneserfahrungen

4 Die Qual der Wahl. Geeignete Spielmaterialien

Ab wann brauchen Babys Spielzeug?

Ursache und Wirkung

Zur Qualität des Spielmaterials

Aktive Kinder – passives Spielzeug

5 Warum Spielen für Kinder so wichtig ist

Spielentwicklung

Funktions- oder Objektspiel

Symbol- oder Als-Ob-Spiel

Rollenspiel

Freies Spiel. Der beste Weg zur Selbstbildung

Was Kinder brauchen, um frei spielen zu können

Bitte nicht stören!

Spielen statt Frühförderung

6 Soziales Lernen von Anfang an

Regeln im Umgang mit Lebewesen

Regeln im Umgang mit Gegenständen

7 Alltagsgestaltung

Rhythmus und Rituale

Wie Babys und Haushalt unter einen Hut passen

Lernen durch Vorbild und Nachahmung

Vom Nebeneinander zum Miteinander

Was Alltagshandlungen mit Kognition zu tun haben

Schlusswort: Selbstbildung der Babys – Selbsterziehung der Erwachsenen

Anhang

Zur Person Emmi Pikler (1902–1984)

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Über die Autorin

Vorwort

Eltern wünschen sich glückliche Kinder. Doch was benötigen die Kleinen alles zu ihrem Glück? Darüber ist schon vieles gedacht, gesagt und geschrieben worden. Sicher ist eines: Sie brauchen Mama und Papa, Großeltern, Spielgefährten, andere Menschen um sich herum, kurz ein von Liebe getragenes Beziehungsgefüge, um sich wohl und geborgen zu fühlen. Nicht weniger sehnen sich schon die Jüngsten aber auch danach, selbstwirksam zu sein. Glück bedeutet für Kinder – und nicht nur für sie –, das, was in ihnen liegt, aus sich herauszuholen. Kleine Menschen wollen ihre Potenziale so umfassend und frei wie nur möglich entfalten, und zwar selbst – aus eigener Kraft.

Anlass für das vorliegende Buch waren persönliche Erfahrungen. Während der Kindergarten- und Grundschulzeit meiner beiden Töchter in der Schweiz wurde ich hellhörig, als Pädagogen auf Elternabenden wiederholt die Schwierigkeiten erwähnten, die Kinder heute mit einfachen Fertigkeiten haben. Beispielsweise sah sich die erfahrene Kindergärtnerin kaum mehr in der Lage, mit ihren 25 Schützlingen zwischen fünf und sieben Jahren täglich an die frische Luft zu gehen, da sich viele Kinder nicht selbstständig anziehen, geschweige denn anderen dabei helfen können. Das überraschte mich, wissen sich doch kleine Leute in der Regel selbst zu helfen, wenn Eltern von Anfang an darauf achten, dass sie sich grundlegende Fähigkeiten selbstständig aneignen. Beziehen sie ihren Nachwuchs von klein auf aktiv in sämtliche pflegerische Tätigkeiten wie An- und Ausziehen ein und geben Kindern genügend Zeit und Raum, ihre Kompetenzen Schritt für Schritt aus eigener Initiative zu erweitern, bewältigen diese alltägliche Aufgaben ohne größere Probleme und mit Freude.

Eine wichtige Inspirationsquelle, die uns Eltern zu dieser Art der Begleitung unserer Kinder bewogen hat, war die Arbeit der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902–1984). Ihr Elternratgeber Friedliche Kinder – zufriedene Mütter. Pädagogische Ratschläge einer Kinderärztin, der 1982 erstmals auf Deutsch erschienen und mir Anfang der 1990er Jahre in die Hände gefallen ist, hat mich auf Anhieb angesprochen. Emmi Pikler schildert darin, wie sich Kinder von Geburt an motorische Fertigkeiten aus eigener Kraft erwerben, vorausgesetzt, sie treffen auf entsprechende materiale und emotionale Rahmenbedingungen, für deren Bereitstellung die Erwachsenen zuständig sind. Bestätigt fand ich ihre Darlegungen durch die selbstständige Bewegungsentwicklung mehrerer Kinder in meinem persönlichen Umfeld, deren Eltern sich an der Pikler-Pädagogik orientierten. Die Geschmeidigkeit, Geschicklichkeit und Sicherheit, mit der sich jene Kleinen bewegten, sowie ihre generelle Zufriedenheit waren ausschlaggebend dafür, dass wir als Eltern unseren eigenen Kindern ebenfalls ermöglichten, eigenständig laufen zu lernen. Dass unsere Töchter aus eigener Kraft und selbstbestimmt gehen lernten, überzeugte mich vollends von der Pikler-Pädagogik. Nach Emmi Pikler bewegen sich alle (gesunden) Kinder im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten geschickt, harmonisch und sicher, sofern sie Gelegenheit haben, motorische Fähigkeiten aus eigenem Vermögen zu erwerben. Natürlich spielt Veranlagung eine Rolle, aber grundsätzlich ist motorische Leistungsfähigkeit nicht, wie häufig angenommen, reine Begabungssache.

Erneut horchte ich auf, als die Lehrkräfte auf einem Elternabend unserer Zweitklässlerin die routinemäßige Überprüfung des Entwicklungsstands aller Schüler ankündigten. Unter anderem sollte die Auge-Hand-Koordination der rund Achtjährigen getestet werden. Sei diese unzureichend ausgebildet, so hieß es, resultiere daraus möglicherweise eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Betroffene tun sich dann mit dem Schreibenlernen schwerer. Der Hinweis auf etwaige Entwicklungsdefizite machte mich stutzig, da die Auge-Hand-Koordination die erste feinmotorische Fertigkeit ist, die sich Babys im Alter von rund drei Monaten aneignen. Das war mir durch die Arbeit Emmi Piklers bekannt. Neu war mir allerdings, dass es offensichtlich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Fähigkeiten gibt.

Ich fragte mich, ob es sich bei derlei Problemen um zufällige Einzelerscheinungen in meinem Umfeld handelte. Meine Recherchen zu Entwicklungsauffälligkeiten junger Heranwachsender führten mir vor Augen, dass motorische, sprachliche und kognitive Schwierigkeiten sowie Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen keine zu vernachlässigenden Randphänomene sind. Zu entsprechenden Ergebnissen kommen etwa Datenanalysen von Einschulungsuntersuchungen in Deutschland, die den Entwicklungsstand von Schulanwärtern ab fünf Jahren unter anderem in den Bereichen Motorik, Sprache und Kognition evaluieren. Beispielsweise ergab die Grundauswertung der Einschulungsdaten in Berlin 2017, dass rund ein Drittel der circa 31 000 ABC-Schützen des kompletten Jahrgangs entwicklungsauffällig war.1

Wissenschaftliche Studien belegen, dass die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zwischen 1975 und 2002 im Durchschnitt um mehr als zehn Prozent abgenommen hat.2 Zwar hat die körperliche Fitness junger Heranwachsender in den Jahren 2003 bis 2012 leicht zugenommen. Doch der geringfügig positive Trend konnte sich bis 2017 nicht weiter fortsetzen.3 Die motorische Leistungsfähigkeit stagniert nach wie vor auf niedrigem Niveau mit abnehmender Tendenz.4 Viele Schulkinder beherrschen heute komplexere Bewegungen wie etwa den Seiltänzergang rückwärts nicht mehr. Das exakte Hintereinandersetzen der Beine beim Rückwärtsgehen sollten Kinder normalerweise im Alter von vier bis fünf Jahren problemlos bewältigen können.5

Um ausreichend Bewegung ist es bei Kindern und Jugendlichen seit längerem schlecht bestellt. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist Bewegungsmangel ein grassierendes Problem in westlichen Ländern.6 Rund 80 Prozent der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen bewegen sich zu wenig.7 Der rückläufige Trend macht auch vor den Jüngsten nicht halt. Offensichtlich sind schon Babys und Kleinkinder von einem Mangel an Bewegung betroffen. Die Weltgesundheitsorganisation sah sich 2019 dazu veranlasst, erstmals Empfehlungen zu geben, wie viel sich Kinder im Alter von null bis fünf Jahren bewegen sollten: mindestens drei Stunden täglich ab dem zweiten Lebensjahr.8 Laut Expertenmeinung erhöht Bewegungsarmut in der Kindheit die Wahrscheinlichkeit, eine mangelhafte Motorik auszubilden, an Übergewicht, fehlerhaften Körperhaltungen, psychosozialen und Verhaltensauffälligkeiten sowie einem geringen Selbstwertgefühl zu leiden.9

Auch im Bereich der Sprache werden zunehmend Defizite festgestellt.10 Beispielsweise geben Querschnittanalysen von Routinedaten gesetzlicher Krankenkassen Aufschluss über den Gesundheitszustand der nachwachsenden Generation in Deutschland, die aktuell auf rund 13,5 Millionen Minderjährige beziffert wird.11 Dem Heilmittelbericht 2020 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ist zu entnehmen, dass 410 000 der bei der AOK versicherten Kinder und Jugendlichen bis 14 Jahre mindestens eine Heilmittelverordnung im Jahr 2019 beansprucht haben. Für 58 Prozent von ihnen waren Entwicklungsstörungen der Grund für die Verordnung einer Heilmitteltherapie. Spitzenreiter der Diagnosegruppe waren »Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache«, die bei 41,4 Prozent der jungen Patienten festgestellt worden sind.12 Rund zwanzig Prozent der Vierjährigen fallen heute durch einen markanten Sprachrückstand auf. Sie verwenden nur Zwei-Wort-Sätze, sprechen undeutlich und begreifen nicht alle Aufforderungen, obwohl sie keinerlei Schwierigkeiten mit dem Gehör haben oder sonstige neuronal bedingte Sprachprobleme aufweisen.13 Eine gestörte Sprachentwicklung kann nach Einschätzung der Wissenschaftler Lese- und Rechtschreibprobleme sowie psychosoziale Auffälligkeiten nach sich ziehen.14

Seit dem Pisa-Schock von 2001 sind die Leistungen der in Deutschland lebenden Schüler im internationalen Vergleichstest zwar stetig angestiegen, doch seit 2016 verlieren sie wieder an Punkten. Gemäß der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) von 2016, die die Lesefähigkeit von Viertklässlern im Vergleich mit anderen Ländern testet, hat fast jeder fünfte Schüler der vierten Jahrgangsstufe hierzulande Probleme mit dem Lesen. Die Zahl der Grundschüler, die mit massiven Leseschwierigkeiten kämpft, ist seit der Ersterhebung im Wesentlichen stabil geblieben. Doch während 2001 lediglich vier andere Länder durchschnittlich bessere Leseleistungen als deutsche Grundschüler aufwiesen, waren es 2016 bereits zwanzig.15

Seit den 1990er Jahren ist in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Deutschland, Österreich, Großbritannien, Frankreich, Australien und in der Schweiz zu beobachten, dass der seit den 1930er Jahren kontinuierlich zunehmende IQ hauptsächlich in bessergestellten Gesellschaftsschichten wieder abnimmt.16 Offensichtlich verlieren wir »Stück für Stück, IQ-Punkt für IQ-Punkt etwas von unserem Verstand«, heißt es im Dossier der Wochenzeitung Die Zeit vom 28. März 2019.17 Dieser sogenannte umgekehrte Flynn-Effekt bezieht sich auf verschiedene Bereiche der Intelligenz, wie ein sicheres Sprachgefühl und logisches Denken. Eine Forschergruppe kommt zu dem Schluss, dass es immer weniger Menschen geben wird, »die in der Lage sind, Ungedachtes zu denken«.18

Auch der funktionale Analphabetismus ist ein Phänomen, das hauptsächlich bei Erwachsenen in hochentwickelten Industriestaaten anzutreffen ist. Gemäß der von der Universität Hamburg durchgeführten Studie LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität können rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. Knapp mehr als die Hälfte von ihnen spricht Deutsch als Muttersprache. Obwohl Betroffene trotz schwacher Lese- und Schreibleistungen einzelne Sätze entziffern und zu Papier bringen können, sind sie nicht in der Lage, Textzusammenhänge zu verstehen. Darüber hinaus gibt es 10,6 Millionen Erwachsene, die zwar fähig sind, zusammenhängende Texte zu erfassen, aber im Lesen nicht besonders gut abschneiden und viele Schreibfehler machen.19

Meine Erfahrungen als Betreuerin einer Gruppe sehr junger Säuglinge in einem Schweizer Krankenhaus weckten in mir den Wunsch, frisch gebackene Eltern frühzeitig über die gesunde Entwicklung ihres Nachwuchses im Sinne von Prävention zu informieren. Auf der Grundlage einer interdisziplinären Weiterbildung zur Erziehungsbegleiterin Frühe Kindheit (0–3 Jahre) in Zürich 2010 bis 2012 sowie der SAFE®-Mentorenausbildung (Sichere Ausbildung für Eltern) bei Prof. Karl Heinz Brisch in München entwickelte ich ein eigenes Kursprogramm für Eltern und Säuglinge, das ich seitdem in der Schweiz und in Deutschland anbiete. Die Frage nach der Qualität motorischer Fähigkeiten stellt sich Müttern und Vätern gewöhnlich nicht, solange ihre Kinder klein sind. Dass sich früh erworbene Mängel im Bereich der Motorik später nicht unbedingt auswachsen, sondern unter Umständen ungünstige Auswirkungen auf kognitive Fähigkeiten haben können, ist vielen nicht bewusst. Was schlichtweg fehlt, ist das Wissen um derartige Zusammenhänge. Auf Wunsch der Kursteilnehmer dehnte ich mein Angebot auf das zweite Lebensjahr in Form fortlaufender Eltern-Kind-Gruppen aus. Als Mitarbeiterin einer Waldorfspielgruppe 2014 bis 2020 in Deutschland bot sich mir schließlich Gelegenheit, auch Kinder im Alter von circa zwei bis drei Jahren zu betreuen. Während dieser Zeit beschäftigte ich mich mit der Waldorfpädagogik. Der österreichische Philosoph und Anthroposoph Rudolf Steiner (1861–1925) charakterisiert die frühkindliche Entwicklung als eine Art Stufenmodell in der Reihenfolge Gehen – Sprechen – Denken. Der Erwerb einer Fähigkeit bildet jeweils die Voraussetzung für die nächstfolgende. Damit stellt er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den meist getrennt voneinander oder in anderer Chronologie behandelten Entwicklungsbereichen Gehen – Sprechen – Denken her. Die stufenweise Abfolge der frühkindlichen Entwicklung entsprach dem, was ich an Kindern zwischen null und drei Jahren in meinem beruflichen Alltag beobachten konnte. Die Erkenntnisse Emmi Piklers fügen sich meines Erachtens in diese Abfolge ein. Seitdem ich die frühkindliche Entwicklung anhand der Reihenfolge von Gehen – Sprechen – Denken in meinen Kursen, Seminaren, Vorträgen und Fortbildungen im In- und Ausland für Eltern, Hebammen, Ärzte, Pädagogen sowie andere Berufsgruppen, die mit Kindern unter drei Jahren zu tun haben, darstelle, erscheint die Pädagogik Emmi Piklers in einem neuen Licht. Steiners Ausführungen zu den drei Fähigkeiten Gehen – Sprechen – Denken waren für mich der »missing link«, um die allgemeine Relevanz der Arbeit Piklers in ihrer Tragweite sichtbarer machen zu können.

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einen Überblick über die Entwicklung der drei Fähigkeiten Gehen – Sprechen – Denken zu geben. Ziel ist es, vorhandenes Wissen unterschiedlicher Disziplinen und Standpunkte sowie erprobte Erfahrungen für den praktischen Alltag mit Babys und Kleinkindern fruchtbar zu machen. Neuere Forschungserkenntnisse etwa der Neurowissenschaften bestätigen und ergänzen ältere Arbeiten, die an entsprechender Stelle in den Text eingeflossen sind. Zahlreiche Erfahrungsberichte von Eltern mögen Leserinnen und Leser dazu ermutigen und einladen, für sie möglicherweise unbekannte und ungewohnte Wege in der Begleitung kleiner Kinder zu gehen. In vielem werden sie ihre elterlichen Intuitionen auch bestätigt finden. Nachfolgende Ausführungen sind dem Wunsch von Eltern und Kursteilnehmern geschuldet und wollen Begleitpersonen junger Kinder eine Orientierungshilfe für einen guten Start ins Leben geben. Das Buch versteht sich als ein Bericht aus der Praxis für die Praxis. Möge es auf neugierige, unvoreingenommene und kreative Menschen stoßen, denen das Wohl der Jüngsten am Herzen liegt, und dazu beitragen, das Wunder der kindlichen Entwicklung zu Beginn des Lebens bewusst und voller Freude mitzuerleben sowie liebevoll zu begleiten.

EIN-
FÜHRUNG

1
Welche Hilfe Babys wirklich brauchen

Damit Säuglinge nach der Geburt überleben können, benötigen sie unsere Hilfe – darüber sind sich alle einig. Eltern wollen stets nur das Beste für ihre Schützlinge. Was sie dabei antreibt, ist einerseits Zuneigung zu den Kleinen, andererseits der Wunsch, sie mögen den Anschluss an die moderne Wettbewerbsgesellschaft nicht verpassen.

Die Mehrheit der Erwachsenen geht davon aus, Säuglinge müssten durch direkte Hilfeleistungen etwa in ihrer motorischen Entwicklung sowie durch spielerische Anregungen gefördert werden. Die Kehrseite der Medaille ist, dass Eltern auf diese Weise in den individuellen Entwicklungsverlauf der Kinder eingreifen. Das wirkt sich aber nicht unbedingt positiv aus. Im Gegenteil: Je nachdem, wie intensiv die vermeintliche Hilfestellung ist, kann sie auf die gesunde Persönlichkeitsentfaltung der Kleinen eher hinderlich wirken, als sie zu begünstigen. Immer dann, wenn Erwachsene unnötig eingreifen, stören sie »oft in der besten Absicht« die Entwicklung ihrer Kinder im Säuglingsalter, beobachtet die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler (1902–1984).1

Wo und wann brauchen Babys und Kleinkinder unsere Hilfe wirklich? Wo und wann benötigen sie diese – aus Liebe – auch einmal eher nicht? Ohne sich dessen bewusst zu sein, behandeln Erwachsene kleine Menschen oft nicht wie ein Subjekt, das genauso mit Würde ausgestattet ist wie die Großen, sondern eher wie ein Objekt. Vor den negativen Folgen auch noch so gut gemeinter Interventionen warnt auch der Neurobiologe Gerald Hüther. Geraten Kinder zu einem Objekt elterlicher Bemühungen, verlieren sie möglicherweise ihre angeborene Lust, sich aus sich selbst heraus zu entfalten, zu lernen und etwas auszuprobieren.2

Die Winzigkeit der Körper lässt uns allzu oft vergessen, dass jeder Mensch, und sei er auch noch so klein und hilfsbedürftig, ein unverwechselbares Individuum ist, das seinen eigenen Entwicklungsplan hat. Mama und Papa sollten sich stets vor Augen führen, dass sie ein Wesen ins Leben begleiten, dessen Persönlichkeit es vom ersten Lebenstag an zu respektieren gilt. Kinder setzen außerdem alles daran, ihren Eltern zu gefallen. Stellen Erwachsene unangemessene Anforderungen an die Kleinen, leidet darunter die psychische Gesundheit der nachfolgenden Generation.3

Die Fähigkeit der Babys zur Selbstbildung

Neuere Erkenntnisse der Entwicklungsneurobiologie, Entwicklungspsychologie, Genetik, Neurowissenschaft, Bindungs- und Säuglingsforschung stellen sich der verbreiteten Vorstellung entgegen, die kindliche Persönlichkeitsentfaltung werde im Wesentlichen von der genetischen Ausstattung bestimmt.4 An ihre Stelle ist das Bild vom Kind getreten, das von Geburt an über die Fähigkeit zur Selbstbildung verfügt. Von klein auf sind Kinder mit gewissen Kompetenzen ausgestattet, die es ihnen ermöglichen, ihre Entwicklungsprozesse aktiv mitzugestalten.5

Persönlichkeitsentwicklung ist demnach »ein faszinierender Prozess der Selbstorganisation«.6 Der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo (1943–2020) formuliert im Zusammenhang mit der kindlichen Selbstentfaltung: »Die Fähigkeiten sind bei der Geburt bereits angelegt, bilden sich aber erst dann wirklich aus, wenn das Kind die dafür notwendigen entwicklungsspezifischen Erfahrungen machen kann.«7 Selbst unter optimalen Bedingungen entwickeln sich Kinder jedoch nicht über ihre individuellen Begabungspotenziale hinaus.8

Lernen kann jeder nur selbst. Das Laufen etwa können wir unseren Kindern nicht wirklich beibringen. Jeder muss selbst laufen und sprechen lernen wie überhaupt alles andere auch.9 Der Kindheitspädagoge Gerd Schäfer weist zudem darauf hin, dass Selbstbildung nur im Rahmen sozialer Beziehungen stattfinden könne.10

Die moderne Wissenschaft bestätigt damit, was Emmi Pikler bereits Jahrzehnte zuvor erkannt hat. Die ungarische Kinderärztin betrachtet schon das Neugeborene als einen »Akteur seiner Entwicklung«.11 Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung »verläuft die Entwicklung des Säuglings für uns nicht in jeder Hinsicht von totaler Hilflosigkeit und Unselbständigkeit zu Selbständigkeit«, sagt Kinderpsychologin Anna Tardos, Tochter und Mitarbeiterin Emmi Piklers. »Wir haben vielmehr die Erfahrung gemacht, dass er [der Säugling] von Anfang an auch zu autonomem, kompetentem Verhalten fähig ist.«12 Pikler legte größten Wert auf die räumliche und soziale Umgebungsgestaltung der Säuglinge und Kleinkinder, damit sie ihre Kompetenzen frei entfalten können.13

Wie aber kann es Eltern im praktischen Alltag gelingen, ihre Kinder so ins Leben zu begleiten, dass sie ihre Selbstbildungspotenziale optimal entfalten können? Schon Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der in Genf geborene Schriftsteller, Pädagoge und Philosoph der Aufklärung, geht in seinem pädagogischen Hauptwerk Émile der Frage nach: »Was muss man tun, um diesen seltenen Menschen heranzubilden?« Er kommt zu dem Schluss: »Zweifellos viel: nämlich verhindern, dass etwas getan wird.«14 Obgleich der Wunsch zu helfen oft groß ist – unter bestimmten Voraussetzungen fördern Eltern ihren Nachwuchs nach den Erkenntnissen der Pikler-Pädagogik gerade dadurch am nachhaltigsten, dass sie ihm eben nicht alles abnehmen oder versuchen, beizubringen. Vielmehr ist zu empfehlen, dass sie sich da, wo es angebracht ist, zurücknehmen, damit Babys aus eigener Kraft in Übereinstimmung mit ihrem individuellen Masterplan zu genau den Menschen heranwachsen, die sie tatsächlich auch werden wollen.

Den Kleinsten in ihrer Entwicklung ihr Tempo zu lassen, bedeutet keineswegs, fahrlässig oder lieblos zu handeln. Ebenso wenig ist ein permissiver Erziehungsstil gemeint, der Kindern viele Freiheiten gewährt. Eltern haben die wichtige Aufgabe, ihren Kindern die notwendigen materialen und emotionalen Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen.

Bindung und Beziehung als Aufgabe der Eltern

Dass Babys auf elterliche Fürsorge angewiesen sind, versteht sich von selbst – zumindest was die Befriedigung ihrer körperlichen Belange angeht: genügend Nahrung und Schlaf, Körperpflege, passende Kleidung, frische Atemluft sowie ein sicheres Zuhause. Ohne die Erfüllung ihrer physiologischen Grundbedürfnisse können Säuglinge nicht lange überleben. Genauso bedeutsam ist aber, die psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen.15 Eine verlässliche Beziehung aufzubauen, zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Eltern, da dies ein »absolut notwendiges und ganz stabiles Fundament für die Persönlichkeit von Kindern« ist.16

Kleine Menschen bringen das Potenzial mit, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Um eine innige Beziehung zu mindestens einem Erwachsenen, besser jedoch zu mehreren aufzubauen, sind sie aber auf Unterstützung vonseiten der Eltern angewiesen. Zwar kommen sie mit der Bereitschaft auf die Welt, sich emotional an ihre Bezugspersonen zu binden. Doch das Gefühl wohligen Geborgenseins können sie nicht alleine herstellen. Dazu benötigen sie ein menschliches Gegenüber, das auf angemessene Weise in Resonanz mit ihnen geht. Die Architekten dieses Beziehungsgefüges sind die Großen.17

Babys entscheiden aufgrund der körperlichen und emotionalen Erfahrungen im Zusammensein mit den Erwachsenen, an wen sie sich sicher binden. Das sind in der Regel Mama und Papa, müssen es aber nicht sein. Denn für den Aufbau einer liebevollen Verbindung ist das Verwandtschaftsverhältnis weniger ausschlaggebend als vielmehr die Art und Weise, wie die Großen etwa pflegerische Tätigkeiten ausüben.18

Die Qualität der Berührung, des Blickkontakts, der persönlichen Ansprache sowie das Berücksichtigen der kindlichen Eigeninitiative tragen entscheidend zu einem positiven Selbsterleben kleiner Menschen bei. Kinder, die sich von Anfang an um ihrer selbst willen geliebt fühlen, die spüren, dass sie ihren Eltern wichtig sind und ihnen Freude machen, haben optimale Voraussetzungen für eine gelungene Persönlichkeitsentwicklung.19

2
Vom ersten Schrei bis zum Ich-Sagen

Mit der Geburt beginnt die frühe Kindheit. Die ersten drei Lebensjahre, allen voran die ersten Monate, sind nach Emmi Pikler von entscheidender Bedeutung für die spätere Entwicklung des Individuums: »Ist diese Basis fest, kann der Bau stärkere Erschütterungen ertragen.«20 Die frühe Lebensphase verdient größte Aufmerksamkeit, denn in dieser Zeit erwerben Kinder basale Fähigkeiten, die für das weitere Leben von entscheidender Bedeutung sind. Nun werden die Weichen für die physische und psychische Gesundheit gestellt.

Was die ersten Lebensjahre so besonders macht, sind nicht nur die enormen Entwicklungsschritte, die Kinder leisten, sondern auch die weniger bekannte Tatsache, dass sie die ersten zweieinhalb bis drei Jahre sich ihres eigenen Ichs überhaupt nicht bewusst sind. Säuglingen fehlt zunächst jegliche Orientierung sowohl über die äußere Welt als auch über ihre eigene Person. Weder wissen sie, was sich um sie herum ereignet, noch wer sie überhaupt sind. Sie haben kein Bewusstsein ihres eigenen Selbst.21 Was ihnen fehlt, ist »ein Ich-Sinn, ein Selbst und dessen neuronale Grundlage, die Selbst-Systeme«, sagt Joachim Bauer.22 Gemeint ist damit jenes Selbst-System, »in dem das bewusste Denken eine wichtige Rolle spielt«.23 Umso erstaunlicher ist es, dass die Kleinen in dieser vor-bewussten Phase so viel, komplex und schnell wie kaum je wieder im späteren Leben lernen.

Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich

Die vor-bewusste Phase endet mit dem Auftreten des Ich-Bewusstseins. Eltern erkennen diesen herausragenden Entwicklungsschritt daran, dass ihre Nachkömmlinge plötzlich »Ich« zu sich sagen. Ein »echtes Ich-Bewusstsein« beginnt sich im Alter von zwei oder drei Jahren zu entwickeln.24 In der Folgezeit nehmen Eltern oft eine Wesensveränderung an ihren Kindern wahr. Sie erscheinen ihnen viel reifer geworden zu sein. Die kindliche Persönlichkeit kommt jetzt deutlicher zum Vorschein.

Das Ich-Sagen kennzeichnet die neue Fähigkeit der Kinder, sich als ein von der Umgebung getrenntes Individuum zu begreifen, das von anderen Personen und Objekten abgegrenzt ist. Zu Beginn des Lebens können sie noch keinen Unterschied zwischen sich und der Welt da draußen machen. Erst ab dem Moment des sich entwickelnden Eigenbewusstseins erleben sie den Gegensatz von Ich und Welt.25 Wie Spitzer und Herschkowitz vermuten, gehört zu den wichtigsten Dingen, die Kindergartenkinder lernen, »das Bewusstsein, dass sie eine eigene Person sind, eine eigene Persönlichkeit haben«. In dieser sehen die beiden Ärzte »nichts weiter als das noch nicht entwickelte Negativ. Das heißt: Sie ist im Prinzip da, aber eher virtuell vorhanden, als eine Eventualität, noch nicht als Wirklichkeit.«26

Der Gebrauch der Ich-Form ist etwas Besonderes. Niemand anderer als man selbst kann das Wort »Ich« auf die eigene Person anwenden. Solange die Kleinen noch nicht gelernt haben, sich als ein Ich zu begreifen, benutzen sie andere Wörter zur Umschreibung ihrer Person. Häufig nennen sie ihren eigenen Vornamen oder eine Variante desselben, um auszudrücken, dass sie sich selbst meinen. Es gibt aber auch Kleinkinder, die in der vor-bewussten Phase »du« zu sich sagen, obwohl sie sich eindeutig selbst meinen. Beispielsweise sagen rund Zweijährige »du auch!«, wenn sie mitteilen wollen, dass sie das Gleiche haben oder machen wollen wie andere.27 In beiden Fällen verfügen sie noch nicht über ein echtes Selbst-Bewusstsein, die Fähigkeit, sich als ein in sich konsistentes Ich in Raum und Zeit bewusst zu erleben.

Ein literarisches Bild vom ersten Aufleuchten des Ich-Bewusstseins gibt der deutsche Schriftsteller Jean Paul (1763–1825) in seiner Autobiografie: »Nie vergeß’ ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ›ich bin ein Ich‹ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen.«28

Begleiterscheinungen der Ich-Entwicklung

Das früher oder später einsetzende Eigenbewusstsein geht mit dem frühkindlichen Streben nach Autonomie einher. Manche Kinder beginnen bereits Ende des ersten, Anfang des zweiten Lebensjahres ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit zur Geltung zu bringen. Mehr oder weniger vehement grenzen sie sich von ihren Mitmenschen ab und verteidigen ihren Willen gegen den der Erwachsenen oder anderer Kinder. Sie wollen testen, welche Wirkung das Nein-Sagen hat. Sie suchen geradezu den Widerstand, um sich ihres eigenen Selbst stets aufs Neue zu vergewissern. Dadurch festigen sie ihre Eigenwahrnehmung als ein von der Umgebung getrenntes Individuum.29 Es ist also nicht ungewöhnlich, dass Kinder zwischen zwei und vier Jahren »ihre neuen Spielräume austesten wollen«.30

Wie stark der kindliche Eigenwille sich zeigt, ist auch eine Frage des Temperaments. Es gibt Kinder, die sich regelmäßig und heftig zur Wehr setzen, aber auch solche, bei denen diese Phase weitaus glimpflicher verläuft. Dazwischen gibt es sämtliche Variationen. Auf welche Weise die Großen dem Eigensinn begegnen, wirkt sich darauf aus, wie häufig die Kleinen Gegenwehr leisten.31

Frühkindliches Autonomiestreben ist eine notwendige Begleiterscheinung der Persönlichkeitsentwicklung und sollte keinesfalls unterdrückt werden. Auch wenn die kindliche Eigenwilligkeit für Begleitpersonen sehr anstrengend und aufreibend sein kann, ist das »Nein« der kleinen Freiheitskämpfer niemals persönlich zu nehmen. Schließlich wollen sie niemanden absichtlich ärgern. Starke Gefühle sind auch für kleine Leute unangenehm. Vielmehr geht es ihnen um die wichtige Erfahrung der Abgrenzung vom Du, die einem Abnabelungsprozess gleichkommt.32

Auf neurobiologischer Ebene spiegelt sich dieser Entwicklungsprozess in der Herausbildung von Netzwerken wider, »die ein vom Du getrenntes Ich repräsentieren«, erklärt Joachim Bauer.33 Wurde die kindliche Autonomieentwicklung erstickt oder hat sie keine Grenzen erfahren, tun sich viele Erwachsene später schwer, eine »gute Balance zwischen Abhängigkeit und Autonomie« zu finden.34 Was Kinder in dieser schwierigen Phase brauchen, ist einfühlsame Orientierung von den Bezugspersonen.35

Wutausbrüche lassen Eltern einfach geschehen und warten geduldig ab, bis sich der Sturm wieder gelegt hat. Am besten lassen sie die Kleinen in Ruhe, bleiben aber in unmittelbarer Nähe, um ihnen zu signalisieren, dass sie nicht verlassen sind. Wichtig ist, dass Eltern dem kindlichen Wunsch nicht aufgrund von Tobsuchtsanfällen nachgeben. Vielmehr suchen sie zu ergründen, was den Unwillen der Kleinen tatsächlich erregt hat. Die wahre Ursache steht oft nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Auslöser. Kinder, die von klein auf genügend Gelegenheit erhalten, Selbstwirksamkeit zu erleben, haben weitaus weniger Anlass, sich in diesem Entwicklungsstadium gegen ihr soziales Umfeld derart zur Wehr zu setzen.36

Die neuartige Erfahrung, ein autonomes Wesen zu sein, kann auch verunsichernd auf kleine Menschen wirken. Nur langsam wachsen sie in ihre Rolle als unabhängiges Individuum hinein. Wie aus heiterem Himmel reagieren nicht wenige Zweieinhalb- bis Dreijährige mit unerklärlichen Ängsten und verstärkter Anhänglichkeit. Mama und Papa erkennen ihre Kinder oft nicht wieder, da sie entsprechende Verhaltensweisen vorher kaum an ihnen beobachtet haben. Das ist kein Grund zur Sorge. Die gute Nachricht lautet, dass es sich um eine vorübergehende Begleiterscheinung der Ich-Entwicklung handelt. Geduld und warme, verständnisvolle Anteilnahme sowie liebevolle und Halt gebende Begleitung sind in diesem Entwicklungsstadium gefragt.

Ein Erfahrungsbericht

»Noemi ist jetzt knapp drei Jahre alt und schon ein richtiges Gegenüber. Vor einigen Monaten konnte ich da eine Veränderung bei ihr bemerken, als ob ein Stück mehr von ihrer Persönlichkeit hervorgekommen sei. Seitdem sagt sie immer mal wieder einfach zum Spaß ›Nein‹. Wenn ich zum Beispiel sage: ›Noemi, wir gehen jetzt rein‹, dann sagt sie: ›Nein‹. Ich merke dann richtig, dass es ihr gar nicht um die Sache an sich geht, sondern einfach nur darum, auszuprobieren, wie es ist, anderer Meinung zu sein. Ich finde das richtig amüsant. Gemeinsam finden wir dann heraus, was sie gerne möchte.«

(Mila mit Noemi)

Abreißen der Erinnerungsfähigkeit

Erwachsene können sich normalerweise nicht bis zu ihrer Geburt zurückerinnern. Ihr Gedächtnis reicht maximal bis zu dem Moment in ihrer Biografie zurück, in dem sie ein Bewusstsein ihres eigenen Selbst erlangt haben. Vergleichbar einem Filmriss endet der Faden der aktiven Rückerinnerung mit dem Auftauchen des Selbst-Bewusstseins. Das kann bei den einen früher, bei den anderen später der Fall sein. Oder anders gesagt: Mit dem Auftreten des Eigenbewusstseins setzt das Erinnerungsvermögen erst ein.37 Früheste Kindheitserinnerungen lassen sich deshalb gewöhnlich nicht über das dritte oder vierte Lebensjahr hinaus ausmachen. Dann beginnt das autobiografische Gedächtnis.38

Ins Gedächtnis prägen sich vornehmlich Ereignisse ein, die einen starken Eindruck hinterlassen haben. Sowohl positive als auch negative Erlebnisse kommen dafür in Betracht. Frühe Erinnerungen sind etwa das erste Dreirad, die Geburt eines Geschwisterkindes oder aber die ersten Trennungen von Mama und Papa: das schwierige Ablösen von den Eltern im Kindergarten, das Verlorengehen in einer großen Menschenmenge sowie lebensbedrohliche Situationen wie das Beinahe-Ertrinken. Damit nicht zu verwechseln sind Gedächtnisspuren, die sich aufgrund von Erzählungen anderer, über Fotos oder Filme eingegraben haben.

Diese vor-bewusste Lebensphase ist gemeint, wenn hier von der frühen Kindheit die Rede ist.39

Ich-Bewusstsein als Wendepunkt in der Entwicklung

Sowohl die Entwicklung des Ich-Bewusstseins als auch das daran geknüpfte Abreißen der aktiven Erinnerungsfähigkeit bilden eine markante biografische Zäsur. Wenn junge Menschen im Lauf des dritten Lebensjahres ihre eigene Persönlichkeit erfassen, ändern sich ihre Entwicklungsbedingungen grundlegend. Vor diesem einschneidenden Ereignis gleicht das Bewusstsein der Kleinen einem traumähnlichen Zustand, in dem sie sich Fähigkeiten vollkommen unbewusst aneignen.40 Bei unbewusst ablaufenden Lernprozessen, auch implizites Lernen genannt, wird einfach so gelernt, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Beispielsweise kann man »Laufen oder Sprechen lernen, ohne etwas verstanden zu haben«.41

Mit dem sich entwickelnden Eigenbewusstsein ändern sich auch die Bedingungen, unter denen Kinder lernen.42 Der Boden für explizites Lernen, also bewusstes Verstehen und Aneignen, ist geschaffen. Während sich implizites Können Schritt für Schritt und kontinuierlich entwickelt, wie am Beispiel des Laufen- und Sprechenlernens deutlich wird, setzt explizites Wissen sprunghaft ein. Damit sind Aha-Effekte gemeint, die sich plötzlich einstellen.43

Die unterschiedlichen Lernbedingungen vor und nach der Wahrnehmung des Eigenbewusstseins legen nahe, die kindliche Entwicklung von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr als zusammengehörige Phase aufzufassen. Nicht ohne Grund werden Null- bis Dreijährige in pädagogischen Einrichtungen gewöhnlich getrennt von älteren Kindern betreut, benötigen sie doch andere Entwicklungs- und Lernbedingungen in der Krippe oder Kindertagesstätte als drei- bis sechsjährige Kindergartenkinder.44

Warum die frühe Kindheit unbewusst verläuft

Im Vergleich zu seiner späteren Struktur ist das menschliche Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt noch recht unfertig. Nur diejenigen Verschaltungen und Nervensysteme sind bereits ausgebildet, die zum Überleben unbedingt notwendig sind.45 Trotz der üppigen Ausstattung des Hirns mit Abermilliarden Nervenzellen ist es nicht von Anfang an in der Lage, bewusste Gedankenoperationen zu vollziehen. Erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe erlangen wir Bewusstsein.46

Die biologische Unreife der Menschen im Vergleich zu höheren Säugetieren veranlasste den Schweizer Biologen, Zoologen und Anthropologen Adolf Portmann (1892–1982) dazu, menschliche Neugeborene generell als physiologische Frühgeburten zu bezeichnen, also auch jene, die termingerecht geboren worden sind.47 Die Unausgereiftheit ist insbesondere auf das Gehirn gemünzt. Sie ist jedoch »kein Mangel, sondern eine notwendige Bedingung höherer geistiger Leistungen«, sagt Manfred Spitzer.48

Bevor das komplizierteste Organ des menschlichen Körpers als Denkapparat in Gebrauch genommen werden kann, bedarf es umfassender Aufbauprozesse. Beispielsweise müssen die vorhandenen spärlichen Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen, den verschiedenen Nervensystemen und Hirnbereichen in den ersten Lebensmonaten und -jahren zu einem dichten Netzwerk ausgebaut werden. Unzählige Verknüpfungen sorgen schließlich dafür, dass einzelne Nervenzellen und Gehirnareale miteinander kommunizieren können.49 Ohne diese Verdrahtung des Gehirns könnten wir nicht lernen. Beispielsweise setzt das Sprechenlernen einwandfreie Verknüpfungen unterschiedlichster Bereiche des Gehirns voraus. Auch das Lesen klappt nur dann richtig gut, wenn die Faserverbindungen zwischen den für die Sprache zuständigen Gehirnarealen optimal ausgereift sind.50

Ab der Geburt nimmt die neuronale Vernetzungstätigkeit in den verschiedenen Hirnbereichen, die zeitlich gestaffelt von hinten nach vorne heranreifen, rasant zu. Außerdem werden Nervenfasern immer dicker. In der Folge wächst das Volumen des Großhirns im ersten Lebensjahr auf das Dreifache an. Im Alter von zwei Jahren haben Kleinkinder bereits Billionen neuronaler Verknüpfungen produziert. Damit verfügen Zweijährige in etwa über dieselbe Anzahl an Nervenzellverbindungen wie ein erwachsenes Denkorgan. Bis zum Alter von ungefähr drei Jahren bilden sich weiterhin Unmengen an Synapsen aus, also Kontaktstellen zwischen einzelnen Nervenzellen, so dass schließlich ein enormer Überschuss an Nervenzellverbindungen und -kontakten existiert. Damit übertrifft das Gehirn eines dreijährigen Kindes jenes eines Erwachsenen hinsichtlich der schieren Menge an neuronalen Verknüpfungen um das Doppelte. Ungefähr im sechsten Lebensjahr ist das Hirn mit so vielen Nervenzellkontakten ausgestattet wie nie wieder im späteren Leben. Langfristig erhalten bleiben davon nur jene Kontakte, die regelmäßig gebraucht werden. Während sich bei wiederholter Aktivierung derselben Reize die Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen und Hirnarealen verändern und stabilisieren, indem sie dicker und größer werden, baut sich Ungenutztes wieder ab.51

Nach Erkenntnissen der Hirnforschung werden die Verschaltungen des Gehirns nicht durch genetische Programme, sondern durch eigene Erfahrungen herausgeformt.52 Daraus folgt, dass jedes Kind sein Denkorgan nur selbst ausbilden kann. Mithin gibt es keine zwei gleichen Gehirne, da sich Kinder in Abhängigkeit ihrer individuellen Anlagen entwickeln, mit denen sie ausgestattet sind.53 Ob und in welcher Weise es den Kleinen gelingt, ihre Potenziale voll zu entfalten und ein möglichst komplexes, intensiv vernetztes Gehirn auszubilden, hängt entscheidend von den Entwicklungsbedingungen ab, die ihnen nach der Geburt zur Verfügung stehen, sowie von den Erfahrungen, die sie während der prägenden Phase der Hirnentwicklung sammeln.54 Je komplexer die Hirnstruktur in den ersten Lebensjahren angelegt wird, desto mehr Möglichkeiten haben Kinder später, Verbindungen und Beziehungen zwischen den Wahrnehmungen herzustellen und Probleme umsichtig und kreativ zu lösen.55

Neuroplastizität und Lernfähigkeit

Die gewaltige Zunahme an Nervenzellverbindungen und -kontakten ist nur möglich, weil das menschliche Gehirn besonders in der ersten Lebensphase enorm formbar ist, wie die Neurowissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten herausgefunden hat. Bei keiner anderen Spezies ist das so.56 Das erklärt die ungeheure Lernfähigkeit der Lebensanfänger, die im Erwachsenenalter ihresgleichen sucht. Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist Voraussetzung dafür, dass Erziehung, Sozialisation, Bildung und Kultur überhaupt möglich sind.57

Bereits Rousseau merkt an: »Teilt man das gesamte Wissen der Menschen in zwei Teile: in einen, der allen gemeinsam, und in einen anderen, der nur den Gelehrten eigen ist, so wäre der zweite sehr klein im Vergleich mit dem ersten. Wir denken aber kaum an die allgemeinen Erkenntnisse, weil man sie unbewusst und vor dem Erwachen der Vernunft erwirbt.«58 Zwar ist das menschliche Gehirn lebenslang plastisch und somit lernfähig. Doch in der frühen Entwicklungsphase ist die Neuroplastizität am größten. Nie wieder im Leben sind wir so aufnahmebereit für Neues, so voller Erkundungsdrang, Lernfreude und Gestaltungslust wie in der frühen Kindheit.59