Die Autorin
Dr. Elinor Greenberg ist international bekannte Gestalttherapeutin mit eigener Praxis in New York und auf Persönlichkeitsstörungen spezialisiert. Sie ist Vizepräsidentin des New York Institute for Gestalt Therapy (NYIGT), Lehrbeauftragte am Gestalt Center for Psychotherapy and Training und Mitherausgeberin der Zeitschrift Gestalt Review. Sie zählt zu den meistgelesenen Autor*innen auf der Internetplattform Quora, auf der Experten Antworten zu relevanten Themen liefern.
Das Buch
Dr. Elinor Greenberg zeigt mit diesem leicht verständlichen Praxisbuch, wie Borderline-, narzisstische und schizoide Persönlichkeitsanpassungen erkannt werden und wie Therapeut*innen, Psycholog*innen und Ärzt*innen erfolgreich mit betroffenen Patienten arbeiten können. Im Gegensatz zu vielen anderen Therapeuten hält Greenberg narzisstische Persönlichkeitsstörungen für behandelbar: »Muster können verändert werden. Jeder, der die notwendige Therapiearbeit macht, kann Bewältigungsstrategien entwickeln und Kindheitswunden heilen.«
Die Autorin präsentiert Diagnosen und erfolgversprechende Behandlungsmöglichkeiten und veranschaulicht diese mit vielen Beispielen aus ihrer langjährigen Praxis. Deutlich wird dabei: Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sehnen sich vor allem nach Liebe, Narzissten streben nach Bewunderung und schizoid geprägte Persönlichkeiten suchen zentral nach Sicherheit – im Vergleich zu anderen Menschen jeweils in extremer bis pathologischer Ausprägung. Genau hier kann in der Therapie angesetzt werden.
Elinor Greenberg
Borderline
und
Narzissmus
Wie Menschen
nach Liebe und
Bewunderung
streben
Ein Praxisbuch
Aus dem Amerikanischen von Silvia Autenrieth
Kösel
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Borderline, Narcissistic, and Schizoid Adaptations: The Pursuit of Love, Admiration, and Safety« bei Greenbrooke Press, New York.
Copyright © 2016, 2021 by Elinor Greenberg
Copyright © 2021 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München
Umschlagmotiv: © Isaeka 11/Shutterstock.com
Redaktion: Dr. Diane Zilliges, Murnau
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-26473-4
V001
www.koesel.de
Inhalt
Teil I: Anpassungen der Persönlichkeit im Überblick
Einleitung
Liebe, Bewunderung oder Sicherheit? Die Gestalt als Weg zur Diagnose von Borderline-, narzisstischen und schizoiden Anpassungen
Ein kurzer Abriss zu Borderline-, narzisstischen und schizoiden Persönlichkeitsanpassungen
Platsch! Wenn Probleme von Klienten andere in Mitleidenschaft ziehen
Teil II: Borderline-Anpassungen
Heilung von Borderlinern
Borderline-Klienten und Ziele: Ein gestalttherapeutischer Ansatz
Gegenübertragung: Wie wir das Netz entwirren
Teil III: Narzisstische Anpassungen
Im Fokus: Diagnose und Behandlung narzisstischer Anpassungen
Die Schamspirale zurückdrehen: Therapeutische Arbeit mit narzisstischen Klienten, die in einer von Selbsthass geprägten Depression gefangen sind
Wenn Erkenntnis schmerzt: Gestalttherapie und narzisstisch verletzliche Klienten
»Scheiße«, Scham und Narzissmus
Teil IV: Schizoide Anpassungen
Träume und Kontaktangst bei schizoiden Anpassungen
Anhang
Greenbergs Glossar psychologischer Fachbegriffe
Danksagung für die deutsche Ausgabe
Anmerkungen
Literatur
Die Autorin
Teil I
Anpassungen der Persönlichkeit im Überblick
Einleitung
Niemand ist Borderliner. Niemand ist Narzisst. Niemand ist ein Schizoider. Dies am Anfang eines Buches zu Diagnosen mag zwar seltsam wirken, aber es muss gesagt werden. Wenn wir eine Diagnose stellen, beschreiben wir ein Muster, eine bestimmte Gestalt, nie eine Person. Jeder Mensch ist einzigartig. Jede Einordnung in eine Schublade, auch wenn sie in bester Absicht geschieht, kann der menschlichen Komplexität nie gerecht werden. Die Muster, die ich in diesem Buch beschreibe, lassen sich mit Melodien vergleichen, die auf einem Instrument gespielt werden. Das Instrument kann die unterschiedlichsten Stücke spielen, doch die Person, die auf ihm musiziert, wählt, welche sie einstudiert und wiedergibt.
Die meisten, die eine der Diagnosen erhalten haben, um die es in diesem Buch gehen soll, haben die Wahl getroffen, immer wieder eine ganz bestimmte Melodie zu spielen. In der Regel sind sie sich gar nicht gewahr, dass sie sich auch anders entscheiden könnten. Psychologisch ausgedrückt, sind ihre Entscheidungsmuster »ich-synton«: Sie nehmen sie als natürlichen Teil von sich selbst wahr, vergleichbar mit einem Arm oder Bein. Nicht wie ein Kleidungsstück, das man mit ein wenig Anstrengung ablegen, wechseln oder ändern kann. Sie setzen ihr »Instrument« – ihre Wahrnehmung und ihre kognitiven, emotionalen und körperlichen Fähigkeiten – hochgradig selektiv, begrenzt und monoton ein, da sie noch nicht wissen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt.
Dieses Buch soll therapeutisch Tätigen helfen, diese Klientinnen und Klienten dabei zu begleiten, sich eine umfangreichere Palette an Optionen zu erschließen, indem sie ihren Blickwinkel erweitern und sehen, was sonst noch alles möglich ist. Um nicht ständig langatmige Erklärungen wie die zuvor erwähnte wiederholen zu müssen, werde ich in diesem Buch jedes Mal, wenn ich von ihnen spreche, Kürzel wie »Borderline-Klienten« und »Borderline-Anpassungen« sowie »schizoide Klienten« und »schizoide (Persönlichkeits-)Anpassungen« verwenden. Ich möchte jedoch klarstellen, dass ich dabei wirklich von Mustern spreche, nicht von Menschen.
Wenn Ihnen diese Bezeichnungen nicht zusagen, fragen Sie sich vielleicht, was es bringen soll, sie überhaupt zu verwenden? Wozu diagnostizieren? Warum meinen Klienten Etiketten anheften, die derart belastet sind?
Wozu eine Diagnose?
Als ich anfing, über Persönlichkeitsanpassungen zu referieren und zu schreiben, kam immer wieder die etwas provozierende Frage, warum ich mich überhaupt mit dem Diagnostizieren befasste. Widersprach es nicht den Ideen der Gestalttherapie? In einer meiner unveröffentlichten Arbeiten, »Diagnosis: Map or Territory« (1998), argumentiere ich, dass sämtliche Diagnosen letztlich nur Orientierungshilfen sind. Sie haben nicht den Charakter von etwas Realem, das quasi in Stein gemeißelt ist. Vielmehr bieten sie für therapeutisch Tätige temporäre Möglichkeiten, eine Struktur im »interpersonellen Feld« nachzuvollziehen. Dabei geht es darum, bestimmte Details und Muster der Beziehung zwischen Klient und Therapeut als Figur hervortreten zu lassen und andere in den nicht gesehenen Hintergrund zu stellen. (Mit dem »interpersonellen Feld« meine ich den Klienten oder die Klientin, mich sowie das, was wir gerade tun und was sich potenziell dafür anbietet, von uns wahrgenommen zu werden.) Wenn ich also jemandem eine Diagnose stelle, ordne ich mein interpersonelles Feld aktiv auf eine Weise, die sich – so meine Hoffnung – als nützlich erweisen wird. Wenn meine Diagnose einigermaßen »korrekt« ausfällt, hat sie einen gewissen Vorhersagewert, hilft mir bei der Wahl passender Interventionen und erlaubt mir außerdem, mir aus Büchern und sonstigen Quellen weitere Informationen zu beschaffen, um meinen Klienten oder meine Klientin besser verstehen und besser mit ihm oder ihr arbeiten zu können.
Wozu eine Beibehaltung der Kategorien »Borderline«, »narzisstisch« und »schizoid«?
Ich glaube, dass Gestalttherapeuten gut beraten sind, die psychotherapeutische Basisterminologie sowie die diagnostischen Kategorien zu kennen, die in theoretischen Diskursen, Lehrbüchern, Fachzeitschriften und Diagnosehandbüchern gang und gäbe sind – auch wenn wir sie in der Gestalttherapie nicht benutzen. Diejenigen, bei denen ich mich in den 1970er- und 1980er-Jahren in Gestalttherapie ausbilden ließ, glaubten, Klienten zu diagnostizieren sei: (1) unnötig, (2) pathologisierend und (3) bevormundend. Stieß ich jedoch bei bestimmten Klienten auf Schwierigkeiten, so konnte ich in der Fachliteratur nicht nach Informationen zu dem Problem suchen, ohne die entsprechenden Fachbegriffe zu kennen. In meinen Lehrveranstaltungen wie auch in diesem Buch habe ich mich bewusst dafür entschieden, die gängigen diagnostischen Kategorien Borderline, narzisstisch und schizoid beizubehalten, damit diejenigen, die dieses Buch lesen, einfacher zu diesen Themen recherchieren können. Aus diesem Grund sage ich mitunter »Persönlichkeitsstörung« statt »Persönlichkeitsanpassung«, da in der Fachliteratur eher von »Störungen« als von »Anpassungen« die Rede ist.
Wozu die Mühe?
Als ich beschloss, mit Klienten zu arbeiten, bei denen man Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert hatte, sagte mir alle Welt, ich müsse »verrückt« sein, und dass ich das noch bereuen würde. Die Reaktionen reichten von »Diese Klienten sind nicht therapierbar« bis hin zu »Mach dich darauf gefasst, verklagt zu werden«. Der allgemeine Konsens schien darauf hinauszulaufen, sich mit diesem Thema zu befassen, sei reine Zeitverschwendung und dürfte mir Probleme bescheren, die sich jeder Therapeut, der halbwegs bei Verstand ist, ersparen will.
Ich war überrascht, wie negativ diese Reaktionen ausfielen. Mich überkam durchaus keine Hoffnungslosigkeit, wenn es um Möglichkeiten ging, diesen Klienten zu helfen, und ich mochte viele von ihnen. Einige kamen mir nicht viel anders vor als die Leute aus meinem Freundes- und Kollegenkreis und meiner Familie – oder eigentlich auch nicht viel anders als ich selbst, bevor ich mich vor vielen Jahren erstmals in Therapie begab. Das war der Punkt, der mich am meisten stutzig machte: Warum reagierte diese Personengruppe auf Gestalttherapie und meine Interventionen so anders als ein Großteil meiner sonstigen Klienten? Wie kam es, dass ihre Gefühle manchmal derart schnell kippten – von Liebe zu Hass und wieder zurück? Außerdem überraschten mich immer wieder ihre heftigen Reaktionen auf in meinen Augen relativ nichtige Anlässe. Für mein Empfinden waren diese Begebenheiten nichts, was von uns gemeinsam geschaffen wurde. Eher fühlte es sich so an, als würde irgendetwas an mir – oder der Situation – diese Reaktionen triggern und als wären diese ein Teil eines umfassenderen Musters, das ich einfach nicht begriff. Diese und andere Fragen gaben mir Rätsel auf, und ich wusste: Wenn ich erfolgreich mit diesen Klienten arbeiten wollte, müsste ich mehr über ihre speziellen Bedürfnisse herausfinden und entdecken, wie ich sie da abholen konnte, wo sie waren. Allerdings konnte ich in der Fachliteratur oder meiner Ausbildung zur Gestalttherapie so gut wie nichts finden, das klare Antworten auf meine Fragen bot.
Ich machte mich also daran, meine Wissenslücken zu schließen, indem ich an jedem Seminar über Persönlichkeitsstörungen teilnahm, das sich mir anbot. Bald fand ich heraus, dass viele dieser Kurse für mich nutzlos waren. Die meisten waren sehr theorielastig, ergingen sich in obskurem Fachchinesisch und sagten herzlich wenig zum konkreten Vorgehen in Therapiesitzungen. Kaum einmal wurde darauf eingegangen, wie man mit den tatsächlichen Situationen umgehen kann, die bei der therapeutischen Arbeit mit diesen Klienten immer wieder auftauchen.
Ich wollte, dass mir jemand einen sinnvollen Weg aufzeigen würde, mit den übersteigerten Forderungen meiner Borderline-Klienten nach Fürsorge meinerseits umzugehen. Mit ihrer Neigung, ihre selbstgesteckten Behandlungsziele zu »vergessen«. Und ihrer Wut auf mich und ihrer Enttäuschung, wenn ich ihre Erwartungen nicht erfüllte. Ich brauchte Rat, wie ich meinen narzisstischen Klienten helfen könnte, die unter auf Scham basierenden, von Selbsthass angeheizten Depressionen litten. Und ich wollte wissen, was es zu tun galt, wenn meine Klienten mich herabsetzten. Ich musste wissen, wie ich reagieren konnte, wenn meine schizoiden Klienten mir sagten, dass sie sich von ihrem Körper abgeschnitten fühlten und dass eine unsichtbare Wand zwischen ihnen und anderen herunterkam, wenn sie sich verletzlich fühlten. Ach ja, und dann brauchte ich noch eine zuverlässige Möglichkeit, Borderline-Klienten von narzisstischen Klienten abzugrenzen und beide wiederum von schizoiden Klienten. Und da wir schon gerade dabei waren: Könnte mir jemand einmal bitte in ganz normalem Englisch erklären, woran ich merken kann, dass jemand für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung infrage kommt? Wo genau verlief die Trennlinie zwischen Neurose, Persönlichkeitsstörung und Psychose?
Ich verbrachte die nächsten fünfundzwanzig Jahre mit der Suche nach Antworten auf diese Fragen. Ich befasste mich mit einer erstaunlichen Bandbreite von Menschen, die jeweils eine andere Herangehensweise an Persönlichkeitsstörungen vorschlugen. Zu meinen Lehrern gehörten die Ich-Psychologen Gertrude und Ruben Blanck, die Selbstpsychologen Anna und Paul Ornstein, der Entwicklungspsychologe Daniel Stern, die Objektbeziehungstheoretiker James F. Masterson und Ralph Klein und der iranische Psychiater Habib Davenloo. Zwischen 1983 und 1992 nahm ich an Workshops und Kursen teil, die von so unterschiedlichen Seiten wie dem William Alanson White Institute, dem Psychoanalytischen Postgraduiertenprogramm der New York University, dem Masterson Institute, der Harvard University Medical School und dem Massachusetts General Hospital, dem New England Educational Institute, dem American Healthcare Institute und dem Cape Cod Symposium angeboten wurden. All diese unterschiedlichen Ansätze halfen mir zu verstehen, warum so wenige Therapeuten optimistisch an die Behandlung von Klienten herangingen, bei denen Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert worden waren. Es existierten kaum klare und brauchbare Leitlinien, über die sich alle Experten einig waren.
Einer der Höhepunkte meiner Auseinandersetzung mit dem besagten Thema kam, als sich mir die Gelegenheit bot, im Rahmen eines von der Harvard University ausgerichteten Forums Otto Kernberg zu hören, der sich eine Debatte mit Alfred Adler über die angemessene Behandlung von Borderline-Klienten lieferte. Soweit ich mich erinnere, sagte Kernberg Adler, er sei in seinem Umgang mit den – um Kernberg zu zitieren – »primitiven, sadistischen und zornerfüllten Borderline-Patienten« viel zu nachgiebig. Adler gab seelenruhig zurück: »Vielleicht waren sie ja gar nicht so sadistisch und zornerfüllt, bevor sie von Ihnen behandelt wurden.«
Schließlich beschloss ich, mich an James F. Mastersons Ansatz zu halten. Er schien mir am ehesten praxistauglich und sein System unterschied zudem eindeutig zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen. Die meisten anderen Theoretiker, mit denen ich mich befasst hatte, schienen nur jeweils eine der Persönlichkeitsstörungen in den Blick zu nehmen oder wendeten bei allen im Grunde denselben Ansatz an, ob er funktionierte oder nicht. Mastersons Lehren und seine Bücher legten eine in sich schlüssige Theorie dar, die genau das aufgriff, was mein Anliegen war: Was tun? Warum mache ich es? Wie mache ich es? Was, wenn es nicht funktioniert? Ich konnte auch sehen, wie ich seine grundlegenden diagnostischen und seine Behandlungsprinzpien in der Gestalttherapie als Orientierungs-»Feld« benutzen könnte. Viele (wenn auch nicht alle) von Mastersons tatsächlichen klinischen Prinzipien deckten sich mit denen der Gestalttherapie. Masterson konzentrierte sich sehr auf die Gegenwart. Man sagte uns, wir sollten Klienten nichts beibringen, und ebenso wenig sollten wir versuchen, die Eltern für sie zu sein, die sie nicht gehabt hatten. Auch sollten wir ihnen keine Ratschläge geben. Masterson pflegte zu sagen, unsere Klienten hätten schon genug Leute, die ihnen durchaus passable Ratschläge gäben. Die spannende Frage laute: »Warum machen sie von den verfügbaren Informationen keinen besseren Gebrauch?« Wir sollten in der Therapiesitzung also stattdessen Voraussetzungen schaffen, die Klienten anspornen, zu lernen, Erkenntnisse zu gewinnen und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Ich verbrachte drei Jahre in einer von Ralph Klein geleiteten Studiengruppe des Masterson Institute, gefolgt von nochmals drei Jahren, in denen ich das formale Weiterbildungsprogramm des Masterson Institute zu Borderline-, narzisstischen und schizoiden Störungen absolvierte. Im Anschluss durchlief ich noch ein Jahr Supervision bei Masterson höchstpersönlich, um dann Mitglied des Lehrkörpers am Masterson Institute zu werden, wo ich Kurse zu Persönlichkeitsstörungen (oder in der Terminologie des Masterson Institute: »Störungen des Selbst«) konzipierte und unterrichtete. Leider war Mastersons System, so nützlich und in sich schlüssig es war, auch sehr starr, voll von Objektbeziehungs-Jargon, und ließ nicht viel Freiraum für Kreativität oder Experimentieren. Ich wusste, dass ich mich davon lösen musste.
Die interpersonelle Gestalt
Eines Tages kam mir eine Erkenntnis, mit der sich alles veränderte. Mir wurde klar, dass sich fast alles, was ich von den psychoanalytischen Theoretikern gelernt hatte, eigentlich ganz einfach und elegant anhand der Theorie des Figur-Grund-Geschehens, einem elementaren Grundprinzip der Gestalttherapie, erklären ließ. Kurz zusammengefasst postuliert diese Theorie, dass unser Wahrnehmungssystem, um aus den ganzen Informationen, die von überallher auf uns einprasseln, einen Sinn abzuleiten, automatisch das zur Figur macht, was sich für uns gerade am überzeugendsten in den Vordergrund drängt. In interpersonellen Situationen bedeutet das, das wir Figuren (Gestalten) aus jenen interpersonellen Informationen bilden dürften, die mit unseren unwiderstehlichsten zwischenmenschlichen Bedürfnissen und Ängsten in Verbindung stehen. Ich habe diese Figuren »interpersonelle Gestalten« genannt. Liegen ferner wichtige unerfüllte interpersonelle Bedürfnisse aus der Vergangenheit vor, so werden diese im gegenwärtigen Moment immer wieder auf Erfüllung drängen. Das wiederum bringt uns dazu, jene Details der aktuellen interpersonellen Situation wahrzunehmen, die eine Erfüllung dieser Bedürfnisse zu versprechen scheinen, selbst wenn eine realistische Einschätzung der Situation ergeben dürfte, dass dies unwahrscheinlich ist. Mit anderen Worten: Die Chancen stehen gut, dass wir das sehen, hören, beachten und erinnern, was uns interessiert. Und dass wir andere potenzielle Möglichkeiten, das interpersonelle Feld zu organisieren, ignorieren oder in den Hintergrund treten lassen.
Auf Persönlichkeitsstörungen übertragen hieße das, dass Therapeuten in der Lage wären, relativ schnell und einfach zwischen Klienten mit Borderline-, narzisstischen und schizoiden Anpassungen zu unterscheiden, wenn sie wahrnehmen, welche Aspekte des interpersonellen Felds ihre Klienten immer wieder besonders beachten. Auf den einfachsten Nenner gebracht: Borderline-Klienten beschäftigten sich tendenziell am ehesten mit Einzelheiten des interpersonellen Feldes, die mit Gelegenheiten zusammenhängen, Liebe und Nährendes zu erfahren – oder umgekehrt mit Aspekten, die mit einem möglichen Verlassenwerden oder damit in Verbindung stehen, von den emotionalen Bedürfnissen des Gegenübers »aufgefressen« zu werden. Narzisstische Klienten neigen dazu, interpersonelle Details wahrzunehmen, die dazu beitragen könnten, ihr Selbstwertgefühl zu heben, oder die die Möglichkeit in sich bergen, in aller Öffentlichkeit gedemütigt und als »minderwertig« entlarvt zu werden. Schizoide Klienten reagieren eher hochgradig sensibel auf interpersonelle Hinweise, die mit Vertrauen und ihrem subjektiven Sicherheitsgefühl im Miteinander zusammenhängen (etwa Signale, die ihre Angst vor Übergriffigkeit anderer wecken). Oder aber auf solche, die existenzielle Ängste wecken, dass sie so viel Abstand zu anderen bekommen könnten, dass sie es nie wieder schaffen, den Kontakt zu ihnen wiederherzustellen.
1997 legte ich in einem Artikel mit dem Titel »Love, Admiration, or Safety: A Gestalt Therapy System for the Diagnosis of Borderline, Narcissistic and Schizoid Adaptations« (»Liebe, Bewunderung oder Sicherheit: Ein System der Gestalttherapie zur Diagnose von Borderline-, narzisstischen und schizoiden Anpassungen«) meine Ideen zur interpersonellen Gestalt dar. Eine abgewandelte Fassung dieser Arbeit wurde in dieses Buch aufgenommen, sie findet sich im folgenden Kapitel.
Meine therapeutische Mission
Mit das Befriedigendste, das bei meinem ganzen Ringen mit der obskuren Terminologie der Objektbeziehungstheoretiker und den (in meinen Augen) unzureichend ausgearbeiteten Ideen der Gestalttherapie herauskam, die Perls, Hefferline und Goodman (1997) geäußert hatten, ist, dass es mir half, das zu ermitteln, was ich für die zentralen Säulen meiner therapeutischen Mission und meines Arbeitsstils halte:
1. Klarheit
Als ich die unterschiedlichen Punkte zu assimilieren begann, die ich über Borderline-, narzisstische und schizoide Anpassungen gelernt hatte, wurde mir klar, dass die meisten Fachleute auf diesem Gebiet, Masterson inbegriffen, auf eine Art und Weise zu diesem Thema lehrten und schrieben, die es unnötig schwer – und, wenn ich das sagen darf, langweilig – machte, sich damit zu beschäftigen. In mir wuchs die Überzeugung, dass ich das besser hinbekommen könnte. Ich gelobte mir, in meinen Texten ein simples Englisch zu gebrauchen, eventuell verwendete Fachbegriffe zu definieren und viele interessante klinische Beispiele anzuführen, die veranschaulichen würden, worum es mir ging. Vor allem würde ich nicht den Humor verlieren. Ich will, dass es Freude macht, das von mir Geschriebene zu lesen, und ich will, dass mir das Schreiben Spaß macht.
Mein Ziel ist, dass mich jede Therapeutin, jeder Therapeut versteht. Natürlich möchte ich, dass entsprechend vorgebildete Theoretiker mit einem Hintergrund im Thema Persönlichkeitsstörungen meinen Beitrag hierzu lesen und nutzen können. Allerdings will ich auch, dass die typischen schlecht bezahlten Therapeutinnen und Therapeuten von Kliniken, die möglichst kostengünstige Behandlungen anbieten sollen, mit ihrem Abschlussdiplom und ein wenig therapeutischer Aus- und Weiterbildung die zentralen Punkte, auf die es mir ankommt, schnell erfassen und meine Behandlungsvorschläge umsetzen können. Viele therapeutisch Tätige haben weder die Mittel noch die Zeit oder den Ehrgeiz, jahrelang spezialisierte Verfahrensweisen zu erlernen, bevor sie anfangen, Klienten zu betreuen. Einige sind noch damit beschäftigt, ihr Studiendarlehen abzuzahlen, und müssen erst einmal Geld verdienen, bevor sie an ein Aufbaustudium denken können. Genau diese Personengruppe braucht am dringendsten eine für sie zugängliche Form der Orientierung.
Hinzu kommt die ungünstige Tatsache, dass ein Großteil der Fachliteratur zu Persönlichkeitsstörungen in einer hochgradig spezialisierten und potenziell einschüchternden Fachsprache verfasst ist. Ich habe mich daran gemacht, etwas zusammenzustellen, das ich »Greenbergs Glossar« nenne und das sich als Abschlusskapitel hier in diesem Buch findet. Es ist ein Projekt, an dem ich kontinuierlich weiterarbeite. In diesem Glossar definiere ich kurz viele der Fachausdrücke, die ich in meinen Texten verwende. Ich bin mir durchaus bewusst, dass andere Theoretiker die einzelnen Begriffe vielleicht anders definieren und dass meine kurzen Definitionen der Komplexität dieser Themen nicht gerecht werden. Mein Ziel besteht jedoch darin, auf simple Weise zu definieren, wie ich diese Bezeichnungen verwende, sodass meine Leserinnen und Leser die grundlegenden Punkte verstehen können, um die es mir geht und bei Bedarf später eigene Recherchen dazu anstellen können. Jeder und jede muss irgendwo anfangen, und ich biete einen Einstiegspunkt.
2. Handouts
Nachdem ich beschlossen hatte, dass von mir vorgestellte, gegebenenfalls neue Konzepte leicht verstanden sowie schnell begriffen und genutzt werden sollen, wurde mir klar, dass der effizienteste Weg dorthin darüber laufen würde, meine eigenen Handouts zu erstellen anstatt mich darauf zu verlassen, dass die Teilnehmer die Inhalte richtig mitschreiben oder sich merken, was ich gesagt habe. Ich weiß, dass einige in meinem Kollegenkreis die Sorge haben, damit Introjektion zu befördern, aber ich mache mir eher Gedanken darüber, dass Teilnehmer nach Hause gehen, ohne meine grundlegenden Punkte richtig verstanden zu haben. Ich weiß noch, wie wenig ich aus den vielen Seminaren gelernt habe, an denen ich teilnahm. Wenn ich mit einer einzigen klaren Idee aus einem solchen Seminar herauskam, war das schon eine Menge. Auch bezogen darauf dachte ich mir, dass ich da Besseres anbieten könnte. Eines meiner Lieblingskapitel in diesem Buch, »Ein kurzer Abriss zu Borderline-, narzisstischen und schizoide Persönlichkeitsanpassungen«, begann als achtunddreißigseitiges Handout, das ich als Begleitmaterial für eine Vortragsreihe von mir in Großbritannien verfasst hatte.
3. Konkrete Handlungsanweisungen
Ein Großteil der psychotherapeutischen Fachliteratur scheint sich ausführlich über die Theorie auszulassen und nur kurz darüber, wie sich die Theorie in der Sitzung mit einem Klienten in der Praxis anwenden lässt. Ich beschloss, hier Abhilfe zu schaffen, indem ich eine Reihe von Artikeln verfasste, in denen ich ausführlich konkrete klinische Interventionen darlegte, die sich für mich als besonders nützlich erwiesen haben. Zwei meiner Lieblingsartikel wurden für die Aufnahme in dieses Buch entsprechend überarbeitet und adaptiert: »Undoing the Shame Spiral: Working with a Narcissistic Client Trapped in a Self-Hating Depression« (2010) (in diesem Buch unter der Überschrift: »Die Schamspirale zurückdrehen: Therapeutische Arbeit mit narzisstischen Klienten, die in einer von Selbsthass geprägten Depression gefangen sind«) sowie »Goals and the Borderline Client« (2014) (in diesem Buch unter »Borderline-Klienten und Ziele«).
4. Entstigmatisierung
Eines meiner Ziele, wenn ich über Borderline-, narzisstische und schizoide Anpassungen der Persönlichkeit schreibe, ist eine Entstigmatisierung dieser Diagnosen durch breiteres Streuen von Wissen. Die meisten Therapeuten sind nicht dafür ausgebildet, diese Klienten zu diagnostizieren oder zu behandeln. Mangelndes Fachwissen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie nicht anschlägt, was wiederum den generellen Eindruck verstärkt, dass man davon ausgehen müsse, dass diese Gruppe wohl eher nicht von Psychotherapie profitiere und dass sie schwer zu behandeln sei. Hinzu kommt, dass in der Regel nur bei den funktionell am meisten eingeschränkten Klienten, die ihre Störung auf offenkundige und unangenehme Weisen ausagieren, je eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird. All das zusammen bringt viele Therapeuten dazu, zu glauben, dass alle Klienten mit Borderline-, narzisstischen oder schizoiden Persönlichkeitsanpassungen schwer zu therapieren sein dürften. Das trifft schlichtweg nicht zu. Mit dem entsprechenden Wissen und dem passenden therapeutischen Instrumentarium können die meisten Therapeuten Wege erlernen, diesen Klienten zu helfen.
Ein weiterer Punkt ist der, dass funktionell besser aufgestellte Klienten, die unter genau denselben Kernproblemen leiden wie niederfunktionale, selten die richtige Diagnose erhalten. So zum Beispiel ist es unwahrscheinlich, dass bei einer in einem qualifizierten Beruf tätigen Frau, die im Alltag gut funktioniert und Sinn für Humor hat, jemals eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, da sie nicht zu dem stereotypen Profil passt – selbst wenn ihr ganzes Leben darum kreist, Liebe und Nachbeelterung zu suchen und ein Verlassenwerden zu vermeiden (klassische Borderline-Themen). Das bedeutet, dass die Kernproblematiken der Klientin in der Therapie vermutlich übersehen werden, und es ist unwahrscheinlich, dass der Therapeut oder die Therapeutin wirklich versteht, inwiefern die meisten Ängste und Schwierigkeiten im Leben der Person damit zusammenhängen, dass sie eine Borderline-Persönlichkeitsanpassung vollzogen hat.
Zum Ziel dieses Buches
Das Ziel dieses Buches ist leicht umrissen: an einem Ort klare und praxistaugliche Informationen dazu zusammenzutragen, Klienten zu erkennen und mit Klienten zu arbeiten, bei denen Borderline-, narzisstische oder schizoide Anpassungen der Persönlichkeit stattgefunden haben. Es ist das Buch, das ich zu Beginn meiner therapeutischen Laufbahn liebend gern zur Hand gehabt hätte und nie finden konnte. In diesem Buch lasse ich Sie an meinen Antworten auf Fragen teilhaben, die vielen Psychotherapeuten Rätsel aufgeben – Fragen, die mir von Workshop-Teilnehmern oft gestellt werden: Was sind Persönlichkeits-»Störungen«? Woran erkenne ich sie? Worin unterscheiden sich Borderline-, narzisstische und schizoide Störungen? Kann ein und dieselbe Person mehr als eine dieser Störungen haben? Sind die Betroffenen psychotherapeutisch behandelbar? Wenn ja, wie?
Obwohl ich in diesem Buch auch Theorien aufstelle, geht es hier nicht um Theorie. Der Schwerpunkt liegt für mich konsequent darauf, auf welche Weise die Theorie in sinnvolle Interventionen in einer Sitzung einfließt. Mein Ziel war, die Fragen zu beantworten, die ich in der Einleitung zu diesem Buch gestellt habe: Was mache ich? Warum mache ich es? Wie mache ich es? Was, wenn es nicht funktioniert?