© Aaron Gang
AUTORIN
RONNI DAVIS lebt in Chicago, wo sie tagsüber von Fernsehspots bis Plakatwerbung alles Mögliche redigiert und nachts dann realistische Liebesromane für Jugendliche schreibt.
ÜBERSETZERIN
CATRIN FRISCHER, im Herzen Schleswig-Holsteins geboren, hat viele Jahre in Hamburg gelernt, gelebt, gelacht und viel gearbeitet. Nun haust sie mit mehrbeinigen Gefährten auf einem Deich, guckt in den Himmel und über die Wiesen, spinnt Wolle und Wörter, backt eigenes Brot – oder steigt in die Buchstabenminen, um dort Geschichten aus einer fremden in die eigene Sprache zu übertragen.
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RONNI DAVIS
Dein Herz,
meinem so nah
Aus dem Amerikanischen
von Catrin Frischer
TRIGGERWARNUNG:
In diesem Buch werden Themen wie Depression und Suizidgedanken angesprochen.
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Erstmals als cbt Taschenbuch Juni 2021
© 2019 Ronni Davis
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»When the Stars Lead to You« bei Little Brown and Company,
einem Verlag der Verlagsgruppe Hachette, New York
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Catrin Frischer
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft
unter Verwendung des Originalcoverdesigns von Marcie Lawrence
und eines Fotos von © Stocksy (Guille Faingold)
MP · Herstellung: BB
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26812-1
V001
www.cbj-verlag.de
Für Mom,
weil ich von ihr gelernt habe,
Bücher zu lieben,
und für Mrs Wheeler,
die mich ermutigt hat,
welche zu schreiben
Vorher
JEMAND, DER SICH DEM STUDIUM DER STERNE WIDMEN will, wird wohl kaum auf die Idee kommen, sich etwas zu wünschen, wenn am Himmel eine Sternschnuppe fällt. Es gibt keinen logischen Grund, seine Hoffnungen in verglimmende Kugeln aus Wasserstoff und Helium zu setzen, ganz abgesehen davon, dass die Sternschnuppen schon seit Ewigkeiten erloschen sind, bis wir sie sehen. Aber nichtsdestoweniger hob ich Nacht für Nacht das Gesicht himmelwärts, schloss die Augen und träumte.
Auch während der Sommersonnenwende saß ich am Strand und beobachtete Arcturus, der gerade aufging. Ein roter Riese, fünfundzwanzig Mal größer als die Sonne, heller als irgendein anderer Stern in der nördlichen Hemisphäre, der ebenso beeindruckend wie Furcht einflößend ist. Aber irgendwie hatte er auch was Tröstliches. Er gab mir das Gefühl von Geborgenheit. Also richtete ich nur einen einfachen Wunsch an ihn, und zwar, den besten Sommer aller Zeiten zu erleben.
Meine Cousine Stephanie lebt mit ihrer Familie das ganze Jahr über an jenem Strand. Ihre Eltern führen einen Andenkenladen und ein Restaurant. Der Ort liegt nur ein paar Autostunden nördlich von meiner Heimatstadt, deshalb komme ich jedes Jahr hierher zu Besuch, während meine Eltern kirchenunabhängige (gaanz wichtig, diesen Aspekt zu erwähnen!) Missionarsarbeit in Honduras leisten. Hätten sie gewusst, was Stephanie und ich so trieben (Jungs! Partys! Knutschen!), wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, mich jeden Sommer bei ihr verbringen zu lassen.
Ich liebte diese stillen Nächte, ehe die Touristen das Kommando übernahmen. Die Flut kam, die kühlen Atlantikwellen umspülten meine Füße, und ich fröstelte. Schon bald würde das meine Knie erreichen und dann die Schenkel. Ich bohrte meine Zehen in den Sand. Dieses Kitzeln, wenn die Brandung den Sand unter meinen Füßen wegsaugte, mochte ich sehr. Und ich liebte die Sterne, die sich wie Diamanten auf blauem Samt über den ganzen Himmel verteilten.
Ein traumhaftes Leben war das.
»He, Devon«, rief Stephanie. »Komm her. Ich will dir jemanden vorstellen.«
Na klar willst du das!
Meine Cousine hielt sich für die geborene Kupplerin, aber sie hatte keinen Schimmer, welche Typen mir gefielen. Kein Wunder, schließlich wusste ich das selber ja auch nicht so genau. Ich fühlte mich immer zu völlig unterschiedlichen Jungs hingezogen. Große, dünne mit heller Haut, dunklen Haaren und haselnussbraunen Augen. Dunkelbraune Haut, tiefbraune Augen und Dreads. Sonnengebräunte Jungs mit Grübchen, blauen Augen und blonden Haaren.
Zwei Dinge wusste ich aber genau. Nett musste er sein und ein Gentleman.
Denn, mal ehrlich? Ich hatte es komplett satt, ständig Jungs zu küssen, die nach zehn Sekunden meine Hand runter zu ihrem Hosenschlitz schoben.
Der Schein des Lagerfeuers spielte auf Stephanies silbrig blondem Haar, sie wirkte wie von einer anderen Welt. Zwei Jungs standen bei ihr, beide nur als dunkle Silhouetten sichtbar, lediglich die Plastikbecher in ihren Händen schimmerten rötlich.
»Devon! Schwing deinen Hintern hier rüber«, kommandierte Stephanie.
Ich stöhnte, lief aber brav zu ihr rüber. »Hey, Steph.«
»Wurde langsam Zeit.« Sie drückte auch mir einen roten Becher in die Hand und legte grinsend den Arm um mich. Ihre Wangen waren schon gerötet, ihr Atem war warm und roch nach Alkohol. »Das sind Todd und sein Cousin Ashton.«
»Schön, dich kennenzulernen«, sagte Todd. Höflich, doch eindeutig eher an Stephanie interessiert. Das konnte ich ihm nicht verdenken. Sie war hinreißend: klein und kurvenreich, dunkelgrüne Augen und ein winziges Näschen. Der perfekte Gegensatz zu Todd, dem Inbegriff des großen Gutaussehenden mit durchdringend blauen Augen und pechschwarzem Haar. Sie gaben ein schönes Bild ab, die beiden, so wie sie da nebeneinanderstanden.
Dann drehte ich mich zu Ashton um.
Mannomann!
Ashton.
War.
Umwerfend.
Aber so was von.
Noch nie hatte ich leibhaftig vor so einem Typen gestanden. Gerade Nase, schöner Mund, volle Lippen, so ein ganz klein bisschen verschmollt. Unerhört reine Haut mit einem ganz leichten Anflug von Sonnenbrand auf den Wangen. Seine kurzen, bronzefarbenen Haare waren dick und wellig – und meine Finger kribbelten vor Verlangen, sich in diese Pracht zu wühlen. Alles an seinem Gesicht war gut proportioniert und doch war er nicht strahlend perfekt. Seine Ohren standen ein wenig ab und er war einen Tick zu mager. Aber das war okay. Dünne Jungs mochte ich. Außerdem hatte dieser Ashton etwas Besonderes an sich. So eine Ruhe – der absolute Kontrast zu dem Johlen und Juchzen um uns herum. Und seine Augen! Intensiv. Geheimnisvoll. Ein tief tiefes Braun, das einlud, darin einzutauchen und sich darin zu verlieren.
Und genau das tat ich.
Ich fiel und fiel und wirbelte irgendwohin, wo ich noch nie gewesen war, doch an diesem Ort wollte ich sein. Das wusste ich. Ich versuchte Ashton nicht anzustarren, aber auch er ließ mich nicht aus den Augen. Die Welt zerschmolz und es gab nur noch mich und ihn und die tosende Brandung.
»Hey«, sagte er mit einem sanften Lächeln. So perfekte gerade weiße Zähne! Das konnte nur fantastischen Genen oder kieferorthopädischer Arbeit im Wert von Tausenden von Dollar geschuldet sein. Nach allem, was ich bisher von ihm gesehen hatte, setzte ich auf Ersteres.
»Hi«, sagte ich atemlos. Atemlos. Ich war atemlos. Was passierte hier?
»Also … Devon?«
»Ja«, konnte ich so gerade eben hervorbringen. Echt jetzt? Seine Stimme war sanft, mit einem leicht angerauten Touch. So würde es klingen, wenn man seine Handfläche gegen den Strich über Samt gleiten ließ. Oh mein Gott. Gänsehaut. Überall.
»Ich bin Ashton. Schön, dich kennenzulernen.«
Ich hatte eine Schwäche für den perfekten Händedruck, Ashtons war gerade richtig. Nicht so fest, dass mir die Hand zerquetscht wurde, aber auch nicht im Entferntesten makkaroniweich.
»Todd und ich holen uns Nachschub«, sagte Stephanie und holte mich auf die Erde zurück. »Wollt ihr auch was?«
»Ich bin versorgt.« Ashton hob seinen Becher, der noch fast voll war.
Er schaute noch immer mich an.
»Ich auch«, sagte ich.
Ich schaute noch immer ihn an.
»Dann lassen wir euch mal allein«, sagte Stephanie, und weg waren sie und Todd.
Ashton kippte sein Bier in den Sand. Ich zog eine Augenbraue hoch. Er blinzelte mich an und wurde rot.
»Ich trinke nicht«, erklärte er. »Deine Cousine hat mir das eingeschenkt und ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Kein Problem.« Mit einem Achselzucken schüttete ich mein eigenes Bier neben seines. »Ich trinke auch nicht viel. Daran denkt sie nie.«
Er scannte mich von Kopf bis Fuß, dann trafen sich unsere Blicke. Dieser Junge checkte mich so was von ab … und ich merkte, dass ihm gefiel, was er sah. Bestimmt guckte ich ihn genauso an wie er mich. Denn, oh ja, was ich sah, gefiel mir – eindeutig. Wahrscheinlich hatte er übel riechende Füße oder sonst was in der Richtung, denn es konnte überhaupt nicht angehen, dass ein Typ derart perfekt war.
»Also, Devon«, sagte er wieder. »Hi.«
Ich grinste. »Hi.«
Er schlug sich die Hand vor die Augen und zog die Nase kraus. »Oh mein Gott. Das hatten wir schon.« Durch die Finger linste er mich an. »Sorry.«
Zum Niederknien. »Bist du zum ersten Mal hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Mit fünf war ich mal mit meiner Familie hier, aber daran erinnere ich mich kaum. Ich hab keine Ahnung, was die Leute hier so machen. Abgesehen vom Offensichtlichen, meine ich.«
»Nicht viel, ehrlich gesagt. Ich geh gern an der Promenade spazieren oder zum Baden. Es gibt jede Menge Partys, wenn du auf so was stehst.«
»Ich steh mehr auf Videospiele und aufs Fotografieren«, sagte er. »Manchmal gehe ich reiten.«
»Du hast ein Pferd?«
»Leander heißt er. Ich habe ihn mit elf bekommen. Also vor fünf Jahren.«
Ashton war sechzehn. Wie ich.
Er holte sein Handy raus und fing an zu scrollen. Echt jetzt? Zehn Minuspunkte! Ich hasse es, wenn Leute keine zehn verdammten Minuten die Pfoten von ihren Handys lassen können. Ich dachte, wir unterhalten uns gerade …
Aber dann sagte er: »Das ist er«, und hielt mir sein Handy hin. Sofort bekam ich Schuldgefühle, weil ich innerlich ausgeflippt war.
»Er ist unglaublich. Ist er ein Araber?«
Ashton lächelte sein Handy an. »Ja. Er ist toll. Hast du ein Pferd?«
»Ich mag Pferde. Aber ich habe keins.«
»Oh. Wie schade.« Er ließ das Handy in eine Tasche seiner Cargo-Shorts fallen.
»Vielleicht besser so, meine Cousine behauptet ohnehin schon, ich würde mich zu sehr absondern«, sagte ich. »Wenn ich ein Pferd hätte, würde ich nie mit anderen Leute abhängen.« Ich schob meine pinkfarbenen Zehennägel in den Sand. »Allerdings zieht sie mich auch gern auf.«
Er guckte verblüfft. »Warum?«
»Warum ich für mich bleibe oder warum Steph mich aufzieht?«
»Beides.«
»Beides, weil ich ein Nerd bin. Deshalb stellt sie mir ständig Leute vor.«
Sein Blick wich nicht von mir. »Ich bin froh, dass sie uns vorgestellt hat.«
Ich zitterte am ganzen Körper. »Ich auch.«
Er musterte kurz den Sand zwischen seinen Füßen, dann trafen sich unsere Blicke wieder. »Wollen wir uns ein Eis holen? Magst du mitkommen?«
In mir breitete sich ein plüschig-warmes Gefühl aus. »Nichts lieber als das.«
Ein Lächeln ging über sein Gesicht, am liebsten wäre ich auf der Stelle geschmolzen. Dann grinste ich. Also standen wir da und grinsten einander an wie die Blöden, bis mein Magen knurrte.
Lachend streckte er die Hand aus. »Komm, um dieses Monster müssen wir uns kümmern.«
Ich schob meine Hand in seine.
Mein Sommer sah plötzlich total vielversprechend aus.
DAS ERSTE WOCHENENDE DER SAISON – WENN DIE TOURISTEN sich richtig eingelebt hatten – war immer super. Man musste keine zehn Meter laufen, um auf einer fetten Party zu landen. Die falsche Party konnte einem allerdings den ganzen Sommer kaputtmachen. Zu viel Bier, Leute, die einem vor die Füße kotzen, Rummachen mit dem falschen Typen, Geschlechtskrankheiten. Nichts als grauenhafte Entscheidungen, wohin man auch guckte.
Zum Glück schaffte Stephanie es immer, die richtigen Partys für uns auszusuchen. Die an Privatstränden, mit einer richtigen Bar, nicht bloß einem Fass Bier. Die mit Profi-DJs, nicht irgendeiner zufälligen Playlist, auf der aus unerfindlichen Gründen immer ein Chicago-Song lief. Die, bei denen die Gastgeber tatsächlich so was zu essen auftischten wie Salate und Hamburger, statt Fritten … oder gar nichts.
Und so schlenderten wir eines Abends – spät wie die Promis – in ein riesiges Strandhaus, durch das die Musik so laut dröhnte, dass die Rattanmöbel im Takt hüpften. Überall waren Leute, allerdings kaum zu erkennen, denn die Beleuchtung bestand nur aus Lichterketten, LED-Kerzen und einer tollen Lichtshow vom DJ-Pult.
»Da seid ihr ja!« Groß, Dunkel und Gutaussehend war wieder da und zog Stephanie und mich in seine Arme. Er war feucht und roch nach Chlor. Aus seinen Haaren tropfte es kalt auf meinen Rücken. Ich fröstelte.
»Wir haben es geschafft«, sagte Stephanie, dann wandte sie sich an mich. »Du erinnerst dich an Todd?«
»Selbstverständlich erinnere ich mich«, sagte ich. Aber an seinen Cousin erinnerte ich mich noch intensiver. Hatten wir uns wirklich erst gestern Abend kennengelernt?
»Das hier ist das Haus meines Kumpels Justin, aber ich bin der offizielle Gastgeber. Justin ist nämlich ein verpennter Penner, der nicht mal einen gefälschten Schülerausweis hat.« Zu mir sagte Todd: »Fühl dich wie zu Hause, nimm dir, was du magst.« Zu Stephanie sagte er: »Du kommst mit mir.«
Na toll. Jetzt war ich allein.
Das Beste und das Schlechteste an der Touristensaison war, dass ständig überall andere Gesichter auftauchten. Es war immer cool, neue Leute zu treffen. Und wenn irgendein Typ beim Rummachen enttäuschend gewesen war, standen die Chancen nicht schlecht, dass man ihm nie wieder über den Weg lief. Und schlecht, weil … wenn man wirklich mal jemanden fand, mit dem man gern zusammen war, würde der wahrscheinlich eine Woche später weg sein. Und dann konnte man wieder von vorn anfangen.
Aber alles in allem liebte ich die Möglichkeiten. Was auch immer passierte, konnte das ganze Leben verändern. Und heute Abend waren alle neu.
Ich holte mir also eine Cola und wanderte herum, ließ mir den Beat bis ins Mark dringen und meinen Körper zum Schwingen bringen. Schweiß rieselte mir den Nacken runter, als die warmen Körper, die von der Musik mitgerissen wurden, das Haus aufheizten.
Ich drängelte mich raus zum Pool, dort war die Luft nur wenig kühler. Am Morgen war eine Hitzewelle angerollt und die Feuchtigkeit drang in meine Haare und ließ die Locken zu festen kleinen Spiralen schrumpfen. Ich raffte die Haare zu einem großen Dutt auf dem Kopf zusammen, damit die leichte Meeresbrise mir den Rücken kühlen konnte.
Ich verfolgte gerade die Vorbereitungen zur ersten Runde Bier-Pong, als hinter mir eine Stimme zu hören war. »Du bist ja doch hier.« Mein Herz schlug schneller bei diesen tiefen, etwas rauen Tönen, die in meinem Kopf nun schon seit vierundzwanzig Stunden in Dauerschleife liefen.
Ich wirbelte herum und da war er. Eine Oase inmitten von Lärm, Schweiß und Zigarettenqualm. »Hi.«
Ashton lächelte, mit Fältchen in den Augenwinkeln. »Ich dachte, Todd wollte mich verarschen. Du hattest ja geschrieben, dass du heute Abend was vorhast … war es das hier?«
»Ich hab überhaupt nichts geschrieben. Steph hat mein Handy entführt und irgendwas davon gefaselt, dass ich dich drei Tage warten lassen sollte.« Obwohl sie Todd nicht gezwungen hatte, drei Tage zu warten. Aber, egal. Auf keinen Fall würde ich zugeben, dass ich irgendwie gehofft hatte, Ashton hier über den Weg zu laufen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kapiere diese Regel nicht. Warum kann man sich nicht einfach mit jemandem treffen, wenn man ihn wiedersehen möchte?«
Mir wurden die Knie weich. »Du wolltest mich wiedersehen?«
Er guckte ernst. »War das nicht klar?«
»Ashton!« Ein Mädchen tauchte neben ihm auf und warf die langen blonden Haare zurück. »Nicht zu fassen, du bist tatsächlich hier!«
Er schenkte ihr ein sparsames Lächeln. »Ja, bin ich.«
»Du solltest dich zu mir setzen.« Sie leckte sich die pink schimmernden Lippen. »Da drüben.«
Meine Anwesenheit war offenbar nicht von Belang.
»Nein, danke.« Ashton berührte leicht meine Hand und mir lief ein Schauer den ganzen Arm hinauf.
Mit stählernem Blick musterte mich die Blonde von oben bis unten, die Gänsehaut von Ashtons Berührung verschwand fast unter ihrem Blick. »Nächstes Mal.«
Meine Haut kribbelte, als sie abzockelte. Dann sah ich Ashton an. »Wer ist sie?«
»Ich hab sie gestern kennengelernt. Ich glaube, sie wohnt ein paar Häuser weiter.«
»Ist das deine übliche Wirkung auf Mädchen?«
»Du wolltest mich drei Tage warten lassen.«
Ich legte den Kopf schräg. »Hättest du gewartet?«
Er ließ seinen Blick über mich gleiten, dann schaute er mir direkt in die Augen. »Ohne Frage.«
Holy shit.
Wir setzten uns auf eine Zweierbank auf der Terrasse und sahen zu, wie Jungs Mädchen in den Pool schmissen. Mit roten Bechern voll wer-weiß-was in der Hand stolperten Leute in den Whirlpool und wieder raus.
»Dieses Leute-Gucken.« Ashton schüttelte den Kopf.
»Ich weiß.«
Er lehnte sich zurück und streckte sich, dabei legte er mir den Arm um die Schultern. Ich musste so lachen, dass ich fast meine Limo fallen gelassen hätte.
»Im Ernst?«
Sein Lächeln war wie eine Seelenmassage. »Du bist nicht weggerückt.«
Ich kuschelte mich an seine Schulter. Mmm, wie gut er roch … frisch und sauber – wie ein Wasserfall. »Bin ich wohl nicht.«
Wir beobachteten eine Mädchengruppe, die vor dem Pool Selfies machte. Ein Typ bot uns einen Zug aus seiner Bong an. Ashton lehnte ab. Dann wurde er unruhig. »Ich fühl mich immer so fehl am Platz bei diesen Sachen.«
Ich nickte. »Dabei sind Partys so toll. Aber trotzdem, wenn ich dann da bin, denke ich oft: Immer her mit Netflix und Junkfood.«
»Find ich auch. Wenn wir jetzt gerade Netflix gucken würden, was würde denn dann laufen?«
»Kommt drauf an. Ist das eine Netflix-zum-Chillen-Situation, oder gucken wir tatsächlich was, das wir sehen wollen?«
»Eine echte Binge-Session.«
»Hm.« Beim Überlegen zwirbelte ich eine verirrte Haarsträhne. »Was guckst du mit deinen Freunden?«
»Mein bester Freund und ich stehen auf völlig verschiedene Sachen«, sagte er. »Er guckt gern Leute, die total abgefahrenen Scheiß essen. Ich schau Sitcoms. Und du? Was guckst du mit deinen Freundinnen?«
»Romantische Komödien«, antwortete ich ohne Zögern. »Aber was würde ich wohl mit dir schauen?« Ich überlegte kurz, dann sagte ich: »Da wir uns noch nicht so gut kennen, würde ich sagen, was Witziges, vielleicht so was wie Stand-up. Aber nichts Derbes. Das könnte peinlich werden.«
»Guter Punkt. Gefällt mir. Und dazu gibt es Popcorn und M&Ms und Chocolate-Chip-Cookies.«
»Ja! Perfekt!« Ich rückte dichter an ihn heran und legte meine Hand in seine. »Ich wünsche …«
Ich konnte die Minze in seinem Atem riechen, konnte das Salz seiner Haut praktisch schmecken. »Was wünschst du?«, flüsterte er.
Aber es kam nicht dazu, dass ich meinen Gedanken zu Ende führte. Ein lautes Krachen drang aus dem Haus, gefolgt von ziemlich viel Gebrüll. Dann wurde das Bier-Pong-Match lauter und das Geplansche im Pool wilder …
»… und jemand hat eben in den Whirlpool gekotzt.« Ashtons Gesicht nahm eine leicht grünliche Färbung an.
»Ich glaube, das ist unser Stichwort.«
Er drückte meine Hand. »Nichts wie weg hier.«
Wir verließen die Party und gingen runter an den Strand. Der war leer und dunkel, bis auf ein paar rote Lichter, die weiter unten an der Küste flackerten. Wir suchten uns einen ruhigen Platz in den Dünen und ich schüttelte meine Sandalen von den Füßen. Acturus war längst untergegangen, aber es standen immer noch unendlich viele andere Sterne am Himmel.
Die kühle Seeluft fühlte sich gut an auf der warmen Haut. Mein ganzer Körper war erhitzt, weil Ashton und ich endlich allein waren. Selbst wenn der Abend heute nichts weiter brachte, ich wollte ihn küssen. So sehr.
»Ich muss alles über dich wissen«, sagte er.
»Frag mich, was du willst.«
»Ich fang mal klein an: Lieblingsfarbe?«
»Lila. Aber nicht irgendein Lila. Eher so eine Mischung aus Flieder und Lavendel, die so zart ist, als würde die Sonne hindurchscheinen.«
Er zog die Nase kraus. »Das ist aber sehr präzise …«
»Und was ist deine?«
»Hängt von meiner Stimmung ab, würde ich sagen. Grün oder blau, wenn ich ruhig bin. Rot, wenn ich richtig sauer bin.«
»Wenn ich dich also was Rotes tragen sehe, sollte ich lieber Abstand halten?«
Er lachte, das brachte seine perfekten Zähne zur Geltung. »Ich weiß nicht, ob es so weit geht. Was für Musik hörst du?«
Mit den Zehen malte ich Schnörkel in den Sand. »Meine beste Freundin hat mich auf klassische Musik gebracht, aber ich mag auch R&B und Pop. Manchmal höre ich auch Film- oder Musicalmusik.«
Ein Leuchten ging über sein Gesicht. »So was wie Broadway?«
»Mein Dad spielt die Alben der Hauptdarsteller hoch und runter. Rent ist mein Lieblingsstück.«
»Meins ist Hamilton. Das ist echt gut. Aber Rent mag ich auch.« Er fing an die Melodie von »One Song Glory« zu summen.
»Du hast eine gute Summstimme«, sagte ich. »Singst du auch?«
»Immerzu.« Ein vielsagender Blick. »Wenn ich allein bin.«
»Eines Tages wirst du für mich singen«, behauptete ich ganz frech, »und du wirst es gern tun.«
Er gab mir einen Stupser auf die Nase. »Mal sehen.«
»Und was für Musik magst du sonst noch?«, fragte ich.
»Hip-Hop.«
»Was haben Weiße Jungs nur immer mit Hip-Hop? Du bist doch kein Rapper, oder?«
»Gott, nein. Rappen ist nicht mein Ding. Ich lausche nur und lerne.«
Ich nickte anerkennend. »Okay.«
Er sah mich immer noch an, doch jetzt wurde er ernst. »Erzähl mir mehr.«
Nun kamen mir die Worte leichter über die Lippen. Ich erzählte ihm, dass ich meine Cousine jedes Jahr hier am Strand besuchte. Ich erzählte ihm von meinen Lieblingsessen (Sushi und Sub-Sandwiches), dass ich Räucherstäbchen liebte und die Kaugeräusche von anderen Leuten eklig fand. Dass ich mir das Geld für mein erstes Teleskop mit kleinen Jobs bei den Nachbarn verdient hatte und ausgesprochen gern Einzelkind war. Ich erzählte ihm, dass ich in der ersten Woche im Kindergarten jeden Morgen geweint hatte und mir in der zweiten Klasse in die Hose gemacht hatte, weil die fiese, alte Miss Bradley mir nicht erlaubt hatte, aufs Klo zu gehen.
»Die Hälfte von diesen Sachen habe ich noch nie irgendjemandem erzählt«, gestand ich.
Wie Schmetterlinge flatterten die Worte aus mir raus, sogar wenn ich über die peinlichsten Momente meines Lebens redete, und das war albern und komisch und ein bisschen unheimlich. Dass er mehr daran interessiert war, mich kennenzulernen, statt einfach nur abzuhauen, aber auch.
»Eines will ich dich noch fragen«, sagte er.
»Dann mal los.«
»Nehmen wir an, wir guckten Netflix, aber wir würden uns nun schon viel besser kennen. Was würdest du dir dann mit mir reinziehen?«
»Dokus.«
Er zögerte. »Ernsthaft?«
»Die über das Universum und den Weltraum.«
Er nickte langsam. »Na klar. Das ist cool.«
Ich ließ Sand durch meine Finger rieseln. »Findest du? Ich will dir nämlich noch was anderes über mich erzählen.«
Asthon stützte sich auf seine Ellenbogen. Total entspannt. »Dann mal los.«
Ich holte tief Luft. »Ich liebe Sterne.«
Er setzte sich wieder auf und schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. Also redete ich weiter. »Ich lebe für die Sterne. Und eines Tages werde ich Astrophysikerin sein.«
Er lächelte voll Staunen. »Wow. Du strahlst. Wie toll. Ist Astrophysik eigentlich so was wie Astronomie?«
»Es ist ein Teil davon. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Wesen von Himmelskörpern. Damit, woraus Galaxien, Rote Riesen und schwarze Löcher bestehen zum Beispiel. Wie lange sie schon da draußen sind und welche Bedeutung sie für uns als Menschen haben. Ich kann aber auch ganz theoretisch werden und mich auf Sachen wie Zeitreisen konzentrieren.« Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. »Ich möchte die Rätsel der Tiefen des Alls lösen. Und ich will neue Welten entdecken.«
Seine Lippen bildeten ein stummes O. »Das ist wohl das Coolste, was ich je gehört habe.«
»Ich kann ewig so weitererzählen«, warnte ich ihn. »Das findest du dann vielleicht nicht mehr so cool«
»Probier’s aus.«
Das machte ich. Ich redete über die Sterne, Physik und das All. Ich redete von all den Dingen, die ich lernen musste, wie Geometrie, Infinitesimalrechnung und Physik. »Ich will meinen Doktor machen«, sagte ich.
Ashton brachte das nicht aus der Fassung. Ganz so, als würde ihm das nicht total an den Ohren vorbeigehen. Die meisten Leute bekamen einen glasigen Blick, wenn ich so richtig loslegte. Aber er hörte zu.
Er nickte, dabei sah er mich immer noch an. »Dr. Devon.«
»Kearney. Dr. Devon Kearney«, sagte ich.
»Devon Kearney, PhD«, sagte er lächelnd. »Klingt doch perfekt. Ich kann es kaum erwarten, dass du so weit kommst.«
»Wenn ich je so weit komme.«
»Das wirst du. Ich glaube an dich.«
Und da wurde aus der physischen Anziehungskraft, die ich für ihn empfand, etwas anderes: Ich wollte seine Freundin sein.
Ich stupste seine Schulter an. »Wenn ich hier alle meine Geheimnisse vor dir ausbreite, solltest du mir fairerweise auch all deine erzählen.«
»Weißt du, dazu würden wir mehr Zeit miteinander verbringen müssen«, sagte er. Dann wurde er ganz still. »Das würde mir gefallen. Sehr sogar. Und dir?«
Ich zögerte nicht. »Auf jeden Fall.«
WAHRSCHEINLICH HALTEN ES DIE MEISTEN LEUTE FÜR Blödsinn, in den Sommerferien im Morgengrauen aufzustehen, aber ich kann mir nichts Besseres vorstellen. Jeden Morgen lasse ich meine Lider vom heller werdenden Himmel küssen, bis sie sich öffnen, dann hüpfe ich aus dem Bett, bereit, den Tag zu begrüßen.
Am Tag nach der Party hielt ich es ebenso.
In der Küche war es still, als ich heißen Tee in einen Thermosbecher füllte. Dann schnappte ich mir meine Strandtasche und machte mich auf den Weg. Der Seewind blies mir die Locken ins Gesicht, die aufgehende Sonne wärmte meine Haut und malte pastellfarbene Wirbel an den Himmel.
Morgenyoga ist meiner Meinung nach das Allerbeste. Und für mein Leben gern übe ich den Sonnengruß, während der Schein der aufgehenden Sonne den Himmel erstrahlen lässt.
Gleich nach dem Ende meiner Übungen, grummelte mein Magen jeden Tag wie verrückt, ich ging also zurück zum Frühstücken. Inzwischen waren alle im Haus aufgestanden. Onkel Steven war schon weg, um das Restaurant auf den morgendlichen Ansturm vorzubereiten. Tante Susan war mit ihrem Rad zu einem neuen Tag im Andenkenladen aufgebrochen. Stephanie briet Bacon und Rühreier, meistens muffelig, weil sie so früh aufstehen musste, wenn sie ihrer Mutter im Laden half.
Aber an dem Tag grinste sie süffisant, als ich zur Tür reinkam. »Da ist jemand für dich.«
»Was? Oh!«
»Hi«, sagte Ashton. Er saß am Küchentisch und spielte mit einer Gabel herum. »Entschuldige, dass ich hier einfach so auftauche. Ich konnte nicht schlafen, da habe ich einen Spaziergang gemacht und …«
»Du bist ganz zufällig hier gelandet?« Aus Stephanies Augen sprühte die Belustigung.
»So was in der Art«, murmelte er, dann wandte er sich an mich. »Willst du was unternehmen?«
Mein Puls legte sofort an Tempo zu, und ich fühlte mich, als sprudelte Kohlensäure durch meinen Körper.
»Ich muss nur schnell duschen, wenn es dir nichts ausmacht, solange zu warten«, erwiderte ich etwas atemlos.
Stephanie stellte einen Teller vor ihn hin. »Damit sollte er eine Weile beschäftigt sein.«
Blitzdusche. Zähneputzen. Pferdeschwanz binden. Badeanzug anziehen, Sommerkleid drüber. Bequeme Sandalen. Und … los jetzt.
Ashton hatte gerade seinen sauberen Teller aufs Abtropfgestell gepackt, als ich wiederkam. Ich schnappte mir einen Muffin. »Fertig?«, sagte ich zu ihm.
Er nahm meine Hand. »Lass uns gehen.«
»Eben fällt mir auf«, sagte ich, als wir die Promenade entlangschlenderten, »dass ich von dir nur weiß, was deine Lieblingsfarbe ist, dass du ein Pferd hast und Hamilton magst.«
Ashton guckte nachdenklich. »Viel mehr ist da nicht, ehrlich. Ich bin nicht besonders faszinierend.«
»Das glaube ich nicht. Außerdem ist es nur gerecht.
Er blieb stehen. »Wie meinst du das jetzt?«
»Du hattest Gelegenheit, was über mich zu erfahren. Und jetzt bin ich dran.«
Er nickte bedächtig. »Was willst du wissen?«
Wir setzten uns auf eine Bank. Ich packte meinen Muffin aus und holte tief Luft. »Mmmm, Erdbeer. »Erzähl mir die üblen Sachen. Hast du eine furchtbare Handschrift? Frisst du Popel? Solche Sachen.«
Er legte die Stirn in Falten. »Was?«
»Ist wichtig.«
»Ist eklig.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Beantwortest du die Frage nun?«
»Ich fresse keine Popel, Devon. Wie kommst du bloß auf so was?«
»Solche Sachen frage ich mich manchmal. Da zum Beispiel.« Ich zeigte auf eine blonde Frau, die ein pausbäckiges blondes Baby auf ihrem Schoß hüpfen ließ. »Glaubst du, dass sie schnarcht? Oder Zwiebeln isst?«
Er legte den Kopf schräg. »Ich würde sagen, sie schnarcht, wenn sie erkältet ist, und sie isst nur Vidalia-Zwiebeln.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen guckte ich ihn an. »Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass du so gut darin bist.«
»Na ja, okay, das macht schon Spaß«, sagte er. »Und was ist mit dem Typen da drüben. Glaubst du, dass der schon mal auf einer Bananenschale ausgerutscht ist?«
»Auf jeden Fall. Das ist einer von der Sorte, die furzt und dem Hund dafür die Schuld gibt. Aber. Wir kommen vom Thema ab. Schnarchst du? Und isst du Zwiebeln?«
»Ich esse so gut wie alles, was man mir vorsetzt. Und ich schnarche nicht. Ich bin schon über meine Schuhbändel gestolpert, aber noch nie auf einer Bananenschale ausgerutscht.«
»Woher weißt du, dass du nicht schnarchst?«
»Hab ich so im Gefühl«, sagte er mit frechem Grinsen.
Und hier ist noch was, das ich an diesem Tag über Ashton erfuhr: Er hatte irgendwie was Musikalisches. Immerzu klimperten beim Gehen Münzen oder Schlüssel in seiner Tasche. Sein Kopf wippte beständig im Takt irgendeiner Melodie, die nur er vernehmen konnte. Wenn er sich konzentrierte, trommelte er mit den Fingern auf den Schenkeln herum. Manchmal auch auf mir – beziehungsweise meinem Arm, wenn er mir etwas zeigen wollte. Oder einfach so, wenn er mich anschaute, bevor ein Lächeln über sein Gesicht ging.
Er konnte seine Hände nicht still halten. Entweder trommelte er oder er fummelte mit einem Stift, einem Zahnstocher oder einem Strohhalm herum. Das hatte fast was Meditatives.
Denn er driftete dabei ab. Ziemlich oft. Sein Blick war dabei auf irgendwas gerichtet, das nur er sehen konnte. So wie bei jenem Mittagessen etliche Dates später. Ich beobachtete ihn, wie er da saß, während zahllose nachdenkliche Ausdrücke über sein Gesicht zogen.
»Einen Dollar für deine Gedanken«, sagte ich.
Die braunen Augen richteten sich auf mich. »Einen Dollar? Du weißt, dass es »einen Penny« heißt, oder? Und nicht mal so viel sind sie wert.«
Ich berührte seine Hand. »Das glaube ich nicht.«
Er sah mich irgendwie verwundert an, aber mir blieb keine Zeit, zu ergründen, warum, denn in diesem Moment brachte der Kellner unser Essen.
»Okay. Hier etwas Seltsames über mich«, sagte Ashton, als wir aßen. Wir saßen nebeneinander in einer Nische des Diners, denn wir waren schon im Begriff, ein Paar zu werden. »Ich höre es gern, wenn Papier zerknüllt wird. Direkt an meinem Ohr. Das entspannt mich.«
Ohne nachzudenken, streichelte ich sein Ohrläppchen. »Was tust du sonst noch, um zu entspannen.«
Er seufzte und schmiegte den Kopf an meine Hand. »Ich spiele Videospiele. Ein total gewalttätiges, wenn ich wütend bin. Manchmal spiele ich auch eines, in dem ich virtuelle Personen kontrolliere, aber das ist der totale Zeitfresser.« Er atmete tief aus. »Im Moment ist mein Lieblingsspiel eines, über das ich nicht rede, weil es so nett ist – und für meine Kumpels und mich sind nette Spiele ein No-Go.«
»Was? Das ist doch albern. Man mag, was man mag.«
»Ja, aber ganz so läuft das nicht. Dann wurde er ziemlich still.
Die Minuten vergingen, während er in seinem Hühnchen rumstocherte.
»Wo gehst du hin?«, fragte ich ihn.
»Was meinst du damit?«
»Wenn du so still wirst.«
»Oh.« Er klaute sich eine Kartoffelspalte von mir und steckte sie in den Mund. »Ich bin hier, bei dir. Nur da will ich sein.«
NACH VIER WOCHEN WAR UNSER TAGESABLAUF ZU ETWAS Vertrautem geworden, und ich fragte mich, wie ich meine Sommertage verbracht hatte, ehe Ashton dahergekommen war. Morgens tauchte er meistens zum Frühstück auf, danach schlenderten wir Hand in Hand die Promenade entlang. Oder wir liefen runter an den Strand und schwammen stundenlang im Meer. Inzwischen hatte die Sonne seine Haare gebleicht und meiner Haut einen intensiveren Braunton verschafft.
An manchen Tagen war Ashton ziemlich aufgedreht und redete wie ein Wasserfall über alles Mögliche, zum Beispiel über sein Lieblingsvideospiel, das er jetzt ohne irgendwelche Scham vor mir auf seinem Handy spielte. Die letzten Katastrophen auf Twitter. Irgendwelchen Scheiß, den Todd zu ihm gesagt hatte oder in den der ihn mit hineinziehen wollte. An unseren besten Tagen sangen wir uns gegenseitig Passagen aus Rent vor.
Aber manchmal war er still. Verhalten. Zufrieden damit, der Brandung zu lauschen, wenn die Flut kam, und die frische, salzige Luft in tiefen Zügen einzuatmen. Dann zwickte ich ihn in die Nase und er drehte sich mit dem sanftesten Lächeln zu mir um und drückte mir einen kleinen Kuss auf die Schläfe.
So war er auch an jenem Tag, als er später kam, weil er etwas anderes zu tun gehabt hatte. Irgendwas mit seiner Familie, über das er offenbar keine Lust hatte zu reden. Als er mich abholte, war er nachdenklich, aber als er mir die Hand hinhielt, schien er nicht allzu weit weg zu sein. »Komm, wir gehen ein Stück.«
Kurz vor Sonnenuntergang schlenderten wir runter zu einem ruhigen Teil des Strandes. Wir fanden ein ruhiges Plätzchen, weit weg von der Brandung. Ich holte eine Decke aus meiner Strandtasche, dann kuschelte ich mich an Ashton, und wir schauten zu, wie die feurige Dämmerung sich über den Horizont legte und der Vollmond aufging.
Die Temperatur war gefallen, und ich fröstelte, als der Seewind durch meinen Schal drang.
Er legte die Arme um mich und mit einem glücklichen Seufzer lehnte ich mich an ihn. Ich fand es herrlich! Wie seine Fingerspitzen meine Schulter streichelten. Wie seine Brust sich beim Atmen hob und senkte. Wie nah ich ihm war.
Ich hätte bis in alle Ewigkeit so daliegen können. Bei ihm.
Vor vier Wochen hatten wir uns zum ersten Mal gesehen, und ich war dabei, ihm vollkommen zu verfallen.
Ich hätte vorsichtig sein können. Aber das wollte ich nicht. Weil ich dabei war, ihm vollkommen zu verfallen.
»Hey, De?«
Ich lächelte. Komisch, bis jetzt hatte noch nie jemand meinen Namen auf diese Weise abgekürzt. Es gefiel mir, wenn er das machte. In seiner Stimme lag so eine Zärtlichkeit, die Schauer über meinen ganzen Körper rieseln ließ.
»Was meinst du, was würden wir jetzt auf Netflix gucken?«, fragte er.
»Back-Shows.«
Ungläubig starrte er mich an. »Was?«
Ich nickte. »Ja. Wir würden zugucken, wie Leute tolle Torten herstellen und versuchen, sie nicht fallen zu lassen. Oder wir würden uns diese Sendung angucken, in der Leute versuchen Sachen zu machen und grandios scheitern. Oder House Hunters. Warum? Was würdest du aussuchen?«
Er blinzelte ein paar Mal. »Du würdest House Hunters gucken?«
»Ohne zu zögern.«
»Aber das gibt es doch gar nicht auf Netflix.«
Ich zeigte mit dem Finger auf ihn. »Aha! So was weiß nur jemand, der schon mal danach gesucht hat.«
»Hör mal, ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich es genieße, wenn Leute wegen albernem Scheiß wie Waschbeckensäulen oder Partykellern völlig aus dem Häuschen geraten.«
Und auf einmal tauchte aus dem Nichts ein Bild in meinem Kopf auf, von Ashton und mir, auf der Suche nach unserem eigenen Haus. Über welche albernen Sachen wir uns wohl kabbeln würden? Welche unverrückbaren Entscheidungen würde einer von uns – oder wir beide – wohl treffen müssen, damit es zum Drama kam?
Warum nur dachte ich überhaupt über so was nach?
Um nicht über die Antwort nachdenken zu müssen, schnappt ich mir sein Handy. »Wie spielt man eigentlich dieses Spiel, das du so liebst?«
»Man trifft Nachbarn, sichert sich Baumaterial, baut Sachen an, erledigt nette kleine Aufgaben.«
Blinzelnd schaute ich aufs Display. »Ist das FarmVille?«
Er guckte mich an, als wären mir zwei Köpfe gewachsen. »Das ist Harvest Dreams«
»Oh«, sagte ich. »Das ist wirklich süß.«
»Ich richte ein Profil für dich ein.«
Während er damit beschäftigt war, starrte ich in den Himmel. Immer mehr Wolken bildeten sich und das Meer wurde unruhig. Ein Sturm zog auf.
Nach zwei Aufgaben, an denen ich scheiterte, hatte ich genug gespielt. Ich gab ihm sein Handy zurück, das er in seine Hosentasche steckte. »Du bist ja noch neu«, sagte er. »Wir versuchen es morgen wieder.«
»Nein danke. Es ist meine besondere Gabe, an jedem Videospiel zu scheitern, das je erschaffen wurde.«
»Nur, weil du dich auf bessere Sachen konzentrierst. Wie etwa Dr. Devon Kearney zu werden.«
»Gott. Das ist noch so weit weg.«
»Wirst du an einem Strand wie diesem sitzen und deine Sterne studieren?«
»Ja. Oder vielleicht auch in einem Observatorium. Hoffentlich in Paris.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum Paris?«
»Da gibt es eines der weltbesten Observatorien.«
»Wenn du da bist, werde ich dich Docteur Devon Kearney nennen müssen.«
Ich fand es wunderbar, wenn er redete, als wäre er in so vielen Jahren noch Teil meines Lebens. Ich pikte ihn in die Schulter. »Erzähl mir von deinen Träumen.«
»Meine Träume.« Er dachte nach, während der auffrischende Wind unsere Haare verwirbelte. Dann sah er mich auf seine besondere sanfte Art an. »Ich hab das Gefühl, ich lebe sie gerade.«
»Ach ja?«
»Es ist Sommer. Ich bin am Strand.« Er machte eine Pause. »Ich bin hier mit dir.«
»Mir?« Ich guckte an mir runter. »Ich hätte nie gedacht, dass ich zu den Träumen von irgendwem gehören könnte.«
»Nun ja, ich weiß nicht, ob dir das aufgefallen ist, aber wir verbringen ziemlich viel Zeit miteinander.« Sein Ton war leicht, aber mein beschleunigter Herzschlag verriet mir, dass unter dem Scherzhaften etwas Ernstes liegen könnte.
In der Ferne grollte Donner. »Ja. Das tun wir.«
»Ich will meine Zeit nur mit dir verbringen«, sagte er.
Ich setzte mich auf und schaute ihn an. »Du meinst also …«
Sein Blick lag immer noch auf mir. Ruhig. Sicher. »Ich will, dass was draus wird. Aus mir und dir.«
»Uns.« Atemlos. Dieser Junge raubte mir andauernd die Luft.
»Ja.« Seine Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben. »Uns. Ich will offiziell mit dir Netflix gucken.«
Ich prustete los. »Was?«
Er strich mir eine Locke aus der Stirn. »Ich möchte dich zur Freundin.«
Das Gewitter kam näher. Und ich hätte vorsichtig sein können.
Aber das hatte ich mir schon längst abgeschminkt.
»Ich bin dabei.«
»ICH HAB WAS FÜR DICH.«
»Echt?« Ich grinste Ashton an und klatschte in die Hände. Geschenke fand ich toll.
»Mach die Augen zu.«
Den Nachthimmel immer noch vor Augen, schloss ich meine Lider. In manchen Nächten waren die Sterne scheu und versteckten sich hinter bauschigen Wolken. In jener Nacht aber sorgten sie für großes Kino. Es waren unendlich viele, an einigen Stellen waren sie so dicht zusammengedrängt, dass sie wie Rauchwolken aussahen.
Absolut atemberaubend.
Ich merkte, dass Ashton hinter mich trat, dann hob er meine Haare an.
Ein Schauer lief mir über den ganzen Körper. »Das kitzelt.«
Er lachte mir leise ins Ohr. »Steh still. Ich bin gleich fertig.«
Ein tiefer Atemzug. »Okay.«
Mit zitternden Fingern nestelte er an der Schließe in meinem Nacken. Gleichzeitig spürte ich das Gewicht eines Anhängers an meiner Brust. »Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen.«
Ich schnappte nach Luft, als ich den silbernen Schlüssel in die Hand nahm. Glatt und glänzend. Der obere Teil hatte die Form eines Herzens, der Schaft war ein dünner Stab mit einer T-förmigen Spitze.
»Oh mein Gott, Ashton.«
»Ich weiß, das mit uns ist erst seit gestern offiziell«, sagte er. »Aber ich wollte dir was schenken, das dir zeigt, wie sehr ich dich mag. Der Schlüssel zu meinem Herzen.«
Stille. Dann prusteten wir los. »Tut mir leid – das war total schmalzig«, sagte er.
»Absolut schmalzig.«
»Aber wahr«, sagte er und wurde ernst. »Es gehört dir, Dev. Ich gehöre dir.«
»Romantiker.«
»Nur bei dir. Und mir ist auch ganz egal, ob das schmalzig ist.«
»Er ist wunderbar, Ash.« Ich streichelte seine Wange. »Ich werde ihn niemals abnehmen.«
DIE LETZTEN TAGE DES SOMMERS WÜHLTEN MEINE GEFÜHLE immer auf. Ich fand es wunderbar, im Meer zu planschen, die Füße im Sand zu vergraben und jede Nacht in den Himmel zu schauen. Aber irgendwann machten die langen, faulen Tage mich fertig, und ich war ganz versessen darauf, mein normales Leben wieder aufzunehmen, zur Schule zu gehen, mit meiner besten Freundin abzuhängen und in meinem eigenen Bett zu schlafen.
Das morgendliche Yoga am Strand würde mir allerdings fehlen, bei dem ich mit jedem tiefen Atemzug die salzige Seeluft einatmete. Und der Meerblick von meinem Schlafzimmerfenster aus. Auch Stephanie und ihre Strategien, mich aus meinem Schneckenhaus zu locken.
Aber am allermeisten würde mir der anbetungswürdige Junge fehlen, der es diesen Sommer geschafft hatte, sich mit meinem Herzen davonzustehlen. Zum Glück hatte ich noch diesen einen letzten Tag mit ihm.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Hitze war schon drückend. Im leichten rosa Sommerkleid und mit Strohhut setzte ich mich auf die Veranda und starrte auf den Gehweg, der zu Stephanies Haus führte. Dort lauschte ich auf das Klimpern von Schlüsseln oder Münzen, das Ashtons Erscheinen ankündigte. Eigentlich hätte er schon vor fünfzehn Minuten hier sein sollen. Es sah ihm gar nicht ähnlich, sich zu verspäten. Die Sonne würde bald aufgehen und das wollte ich mir nicht ohne ihn ansehen. Den ganzen Sommer hatten wir davon gesprochen, den Sonnenaufgang mal gemeinsam zu erleben. Da wir beide morgen abreisen würden, war dies unsere letzte Gelegenheit.
Wir hatten buchstäblich Pläne vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung – und darüber hinaus. Ich konnte es gar nicht erwarten, dass unser Tag begann, obwohl ich es hassen würde, dass er irgendwann zu Ende ging.
Wo blieb er denn nur?
DIE SONNE GING AUF ZWISCHEN ZUCKERWATTEWÖLKCHEN in Rosa und Gelb.
Ich sah es mir allein an.
ICH SCHRIEB IHM EINE SMS
Ich rief an.
Ich hinterließ Nachrichten.
Dann fing ich damit wieder von vorn an.
MEINE HAUT WURDE HEISS UND ROT. MÜCKEN UMSCHWIRRTEN meine Stirn, aber mir fehlte die Kraft, sie zu verscheuchen.
Er und ich sollten jetzt beim Mittagessen sitzen. Stattdessen starrte ich auf mein Telefon. Auf dem meine Nachrichten ungelesen blieben.
JEDES MAL, WENN MEIN TELEFON SUMMTE, ZUCKTE ICH zusammen. Aber es war immer irgendwas anderes. Eine E-Mail meiner Schule. Eine Erinnerung, Wasser zu trinken. Eine SMS von meiner Mom mit Angaben zu meiner Heimreise.
Er war es nie.
ICH HINTERLIESS NACHRICHTEN AUF DER MAILBOX, BIS SIE voll war.
Ich schickte noch mehr Textnachrichten.
Sie blieben ungelesen.
Was sollte das?
MÜCKEN LABTEN SICH AN MEINEN KNÖCHELN, TROTZDEM konnte … wollte ich nicht weg von der Veranda. Ich blieb einfach sitzen. Sogar als der Mond aufging und die Sterne zu scheinen begannen und blinkten, als wäre das alles bloß zum Lachen. Unter diesen Sternen hätten wir uns küssen sollen. Und uns von der Nacht davontragen lassen.
»Oh mein Gott, Devon. Was hast du denn?«, fragte Stephanie.
Ich blinzelte mir den Kummer aus den Augen. »Mir geht’s gut. Geh nur, hab Spaß mit deinen Freunden.«
»Devon …«
Ich verbarg mein Gesicht, damit sie nicht merkte, dass ich gleich losheulen würde. »Nein. Wirklich!«
Sie zögerte immer noch. »Soll ich nicht lieber bei dir bleiben?«
»Deine Freunde warten. Hau jetzt ab.«
Da ging sie endlich.
Warum war ich noch immer hier?
Ich musste los. Sofort.
Ich schnappte mir ein Rad und fuhr zu seinem Strandhaus.
DA STAND KEIN AUTO IN DER AUFFAHRT.
Da brannte kein Licht im riesigen Esszimmer.
Da war überhaupt nichts, das auf Leben hindeutete.
Er war weg.
Ohne Auf Wiedersehen.
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