Krisen gehören zum Leben. Das weiß keiner so genau wie Oliver Schneider. Seit über 20 Jahren arbeitet er als Risikoexperte – zunächst beim KSK, später in seinem eigenen auf Krisenbewältigung spezialisierten Unternehmen. Erstmals vermittelt er in diesem Buch sein Insiderwissen und gibt uns Einblicke in reale Szenarien, die wir sonst nur aus Krimis oder Thrillern kennen. Die Methoden und Taktiken, die bei Spezialkräften zum Einsatz kommen, sind auch in unserem Alltag anwendbar. Der Autor verrät wirksame Tipps und Tricks und zeigt, wie wir in Verhandlungssituationen unseren Gesprächspartner analysieren und lesen lernen, unsere Kommunikations- und Verhandlungsstrategie verbessern und mit Androhungen und Einschüchterungen umgehen, um unsere Ziele zu erreichen.Anhand eines hochspannenden Entführungsfalls und einiger seiner spektakulärsten Einsätze lässt Oliver Schneider seine Leser auch in die Abgründe der menschlichen Seele blicken. Sie zu kennen ist eine Voraussetzung, um Menschen für sich zu gewinnen, Vertrauen aufzubauen und sich aus Krisensituationen zu befreien. Ein Buch für alle, die ihre Entscheidungen schnell und zielgerichtet treffen wollen und sich für die Psychologie in extremen Stresssituationen interessieren!
Oliver Schneider ist Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter der RiskWorkers GmbH in München. Er startete seine berufliche Laufbahn als Offizier bei der Bundeswehr und diente u.a. bei den Fallschirmjägern, bevor er zum Kommando Spezialkräfte (KSK) wechselte. Hier war er an mehreren Spezialoperationen im Ausland beteiligt. Seit dem Jahr 2006 ist Schneider als Sicherheits-, Risiko- und Krisenmanagementberater tätig und hat als sogenannter »Kidnap for Ransom Consultant« mehrere Entführungsfälle erfolgreich gemanagt. Auslandserfahrung als Risk Consultant sammelte er u.a. in Afghanistan, Algerien, Brasilien, Irak, Iran, Jemen, Kolumbien, Mexiko, Pakistan und Russland (Kaukasus).
www.oliver-schneider-speaker.de
OLIVER SCHNEIDER
SHIRLEY MICHAELA SEUL
DER
WILLE
ENTSCHEIDET
Dieses Buch beruht auf wahren Begebenheiten. Einige Schilderungen von Ereignissen und Personen wurden jedoch aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verfremdet.
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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© 2021 Ariston Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: Hauptmann Kompanie Werbeagentur Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von @Kay Blaschke
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-26087-3
V001
Gewidmet all denen, die treu dienen und uns schützen
Mein besonderer Dank geht an Shirley
und die Penguin Random House Verlagsgruppe,
ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre.
Inhalt
Informationsgewinnung und Aufklärung: die Basis des KSK-Prinzips
50 Zentimeter Luftlinie
Schräglage
Risikofaktoren
Der Wille entscheidet
Das Drehbuch einer Entführung
Einsatzvorbereitung
Der Konvoi
Operation Krise
Dogmen detonieren
Das strategische Ziel
Der Sprecher
Entscheiden in der Zwickmühle
Gegen den Instinkt
Geheimwaffe Charisma
Der Krisenstab
Spezialoperationen
Der Funker
Truppenteil Vertrauen
Das Wording
Das Skript
Die Kontaktaufnahme
Die Verhandlung
Im Camp der Entführer
Die sichere Basis
Hell Week
Proof of Life
Gefechtsfeldprosa
Im Stand-by
Die Taktik der Entführer
Das Spiel geht weiter
Die Gefahr der Routine
Risikofaktor Mensch
Der Händedruck
Die Krise in der Krise
Ausweichen
Rückzug
Der Deal
Das KSK-Prinzip – Ihr persönlicher Krisennavigator
Informationsgewinnung und Aufklärung: die Basis des KSK-Prinzips
Flughafen München, 23. Oktober, 10:23 Uhr
Die Schlange am Security Check war eigentlich zu lang für die 48 Minuten, die mir bis zum Start noch blieben. Dass ich mich heute am Flughafen befand, war für mich selbst ein wenig überraschend. Geplant war eigentlich ein Sicherheitstraining bei einem bayerischen Automobilzulieferer. Erst vor knapp drei Stunden hatte ich von der Entführung erfahren: Vor der Küste Nigerias war ein Tanker angegriffen und mindestens die Hälfte der Besatzung entführt worden. Mehr wusste die Reederei in Bremen selbst noch nicht. Aber es hatte einen Schusswechsel gegeben.
»Tote? Verletzte?«, hatte ich mich erkundigt.
»Das steht zu befürchten. Wir sind um fünf Uhr morgens über den Vorfall informiert worden. Sie wurden uns empfohlen. Können Sie sofort nach Bremen kommen?«
»Ich krieg die Krise«, stöhnte eine füllige blonde Frau in der Schlange vor mir, während sie in ihrer Tasche wühlte, ihrem Tanker sozusagen. In einer Krise, ob klein oder groß, international oder privat, herrscht Chaos wie in mancher Handtasche. Jeder Mensch erlebt Krisen, auch durch persönliche Schicksalsschläge und die Geschichte seiner Zeit – Finanz-, Unternehmens-, Klimakrise. Was den einen vor große Herausforderungen stellen kann, mag für den anderen nicht einmal der Rede wert sein. Während in meinem Kopf ganz automatisch ein Plan des Flughafengebäudes mit allen sichtbaren Notausgängen, Fluchtwegen und Besonderheiten entstand, beschäftigte sich die Dame vor mir ebenfalls mit Orientierung, allerdings im kleineren Rahmen. Sie kippte den Inhalt der Tasche in eine der grauen Wannen am Security Check. Eine kluge Entscheidung! Erst mal ein klares Bild der Lage verschaffen. Das war auch der Grund meiner Reise nach Bremen.
Man erhöht seine Chance, erfolgreich aus einer Krise herauszukommen, indem man möglichst viele Informationen einholt, um ein besseres Lagebild zu erhalten, wobei das Bild immer unvollständig bleibt. Das gilt für jede Krise. Als Offizier der Elitetruppe Kommando Spezialkräfte KSK war ich oft genug in riskanten und unübersichtlichen Situationen, vor allem im Einsatz. Wir sind mit heiler Haut aus jeder Mission herausgekommen – weil wir im Vorfeld hart für die Krise trainierten. Gewiss, eine Krise kann einen aus heiterem Himmel treffen, und manche Menschen lähmt sie geradezu, doch es gibt immer einen Ausweg. Überall. So wie links vor mir an der Glastür ein Fluchtweg ins Freie führte. Doch man muss sein Auge schulen, um diese manchmal versteckten Pfade aus der Krise zu entdecken. Genau das möchte ich mit Ihnen in den folgenden Kapiteln trainieren. Ich selbst habe früher Erfahrung in Extrem- und Krisensituationen beim KSK gesammelt. Heute bin ich unter anderem bei Entführungen in der Verhandlung mit Erpressern, Piraten, Kriminellen und Terroristen im Einsatz.
Eine Krise ist ein Angriff auf den Alltag: ein neuer, ungewohnter Zustand, für den man zunächst mal keinen Plan hat. Deshalb weiß man anfangs nicht, wie man sich verhalten soll – und macht womöglich fatale Fehler beim hektischen Ausprobieren von Flucht- und Lösungswegen, was dazu führen kann, dass man sich immer mehr verstrickt, sich selbst fesselt, Handlungsspielraum einbüßt. Man hat keine Erfahrungen für diesen Ernstfall, auf die man zurückgreifen könnte. Und so wird aus einer privaten, finanziellen oder beruflichen Krise manchmal eine Lebenskrise.
Allen Krisen ist ein bestimmter Ablauf gemein, egal, um welche Art von Krise es sich handelt, ob viele Menschen daran beteiligt sind oder wenige, ob es ein ganzes Land betrifft oder eine Familie, eine Beziehung, die Gesundheit oder die finanzielle Sicherheit. Die Zukunft ist in Gefahr. Man weiß nicht, wie es weitergeht. Was gestern noch Gültigkeit hatte, ist heute fraglich. Was tun? Wie verhält man sich richtig, ja hat man überhaupt Einfluss auf den Lauf der Dinge? Durchaus – und mit einem klugen Vorgehen können Sie die Krise zu Ihren Gunsten gestalten. Wie das funktioniert, werde ich auf den folgenden Seiten Schritt für Schritt darlegen, und Sie werden das nötige Rüstzeug mit auf den Weg bekommen. Ich möchte Sie krisenfest machen, egal, was jetzt gerade oder irgendwann auf Sie zukommen könnte. Wenn momentan alles im grünen Bereich ist – umso besser, dann können wir etwaige Risiken überprüfen. Meistens hat eine Krise eine wenn auch unauffällige Vorgeschichte. Doch die entgeht uns, wir übersehen Sicherheitslücken, sind unaufmerksam, überhören Warnsignale. »Weak Signals«, wie der Brite schwache, kaum vernehmbare Hinweise nennt. Wer sie thematisiert, wird oft nicht für voll genommen. Wir kommen meist trotzdem irgendwie durch. Doch beim Eintritt von Gefahren oder Risiken empfiehlt es sich, auf einen erfolgreichen Plan zur Krisenbewältigung zurückzugreifen: das KSK-Prinzip.
Gern nehme ich Sie auf den folgenden Missionen unter meinen persönlichen Schutz. Sie können sich ganz sicher fühlen: Ich hol Sie aus jeder Falle raus. Und am Ende sind Sie selbst so gut trainiert, dass Sie zukünftigen Krisen vielleicht nicht die kalte Schulter zeigen, doch Sie werden wissen, wie Sie sie meistern. Keine Sorge, Sie können schön gemütlich im Warmen bleiben, brauchen nicht ins Unterholz oder ins eiskalte Wasser, so wie ich in meiner Einzelkämpferausbildung, die alles andere als komfortabel war: Schlaf- und Essensentzug, lange Gepäckläufe, Überleben in der Wildnis, Orientierungsmärsche, Durchschwimmen von reißenden Flüssen, Abseilen, Nahkampf, Töten und Zubereiten von Wild. Der Ton rau, jeder Tag eine Tortur. Übernachtungen im Freien auch bei 20 Grad minus. Dagegen war meine Fallschirmspringerausbildung ein flauschiges Kissen. Diverse Manöver führten mich an den Polarkreis in Norwegen und in den Südosten der Türkei, an die syrische Grenze. Im Zuge eines Soldatenaustauschs war ich auch in der 101. Airborne Division in den USA tätig und schließlich Offizier des Kommandos Spezialkräfte, der härtesten Elitetruppe der Bundeswehr. Allein der Aufnahmetest war berüchtigt und sagenumwoben, da vieles der Geheimhaltung unterliegt. Die Bewerber werden nicht nur körperlich, sondern auch vom Geheimdienst der Bundeswehr, dem MAD, durchleuchtet. Ein ehemaliger Kommandeur des KSK sagte einmal, das Aufnahmeverfahren sei das Härteste, was man Menschen in einer Demokratie antun könne. Nur wer sich hier bewährte, durfte an den nächsten, noch anspruchsvolleren Lehrgängen teilnehmen. Die wenigen, die durchkamen, wurden mit der Aufnahme zur Ausbildung beim KSK belohnt. Und dann wurde es noch härter, es gab spezielle Kurse im Schießen, Abseilen aus Hubschraubern, Sprenglehrgänge, Kampf im Gebäude, Aufsprengen von Türen, Fenstern, Stürmen von Bussen und Flugzeugen. Zur Erholung lockte ein spezielles Überlebenstraining inklusive einer mehrtägigen Verhörphase durch NATO-Spezialisten. Alles ein bisschen wie im Kino, aber eben in echt, vor allem später bei meinen Auslandseinsätzen.
Ich will mich damit nicht brüsten, wenngleich ich seinerzeit zugegebenermaßen stolz darauf war, zu dieser Elitetruppe zu gehören. Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie Gewissheit haben, dass Sie an meiner Seite gut aufgehoben sind, auch wenn ich die Truppe verlassen habe und heute mit einem starken Team in meinem eigenen Unternehmen tätig bin, als Sicherheits-, Risiko- und Krisenmanagementberater. Ich unterstütze Unternehmen, aber auch Familien und Einzelpersonen darin, Krisensituationen erfolgreich zu meistern. Zudem bin ich als Kidnap Response Consultant für verschiedene Versicherungen tätig. Da sich Unternehmen und Familien gegen Entführung und Erpressung versichern können und die Versicherungen an einer professionellen Abwicklung interessiert sind, holen sie sich speziell geschulte Krisenberater ins Boot. Dieses Business habe ich nach meiner Zeit als Offizier im Kommando Spezialkräfte von der Pike auf gelernt. Ich studierte an der FH der Polizei in Kiel, und an der University of Leicester/UK wurde ich ein echter Master of Disaster. Bei einem DAX-Konzern in der Abteilung Unternehmenssicherheit sammelte ich Berufserfahrung im zivilen Sektor, wo ich später auch verantwortlich für den Bereich Early Warning Signals war. So tauschte ich die Schulterklappen gegen den Master of Science (M. Sc.) Degree in Risk, Crisis and Disaster Management und sammelte Erfahrungen unter anderem in Afghanistan, Algerien, Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Pakistan, Russland, im Irak, Iran, Jemen.
Ich habe mit Kriegsverbrechern, Entführern, Piraten und Erpressern verhandelt, die damit drohten, andere zu foltern und zu töten. Von meiner Strategie, von meinem Verhandlungsgeschick hängt manchmal das Leben der Entführten ab. Diesem psychischen Druck – zumal, wenn ich mit den Sorgen und dem Schmerz der Familienangehörigen der Opfer konfrontiert bin – kann ich nur standhalten, weil mir die Bewältigungsstrategien in Fleisch und Blut übergegangen sind. Das ist der Zweck und Vorteil des extremen Drills in einer Elitetruppe. Auch hier bewährt sich das KSK-Prinzip – im Ernstfall sichert es das Überleben, denn eine Krise ist immer auch ein Angriff auf das gewohnte Leben, und bei Entführungsfällen auf das der Geiseln.
Die Mehrheit der Deutschen geht davon aus, niemals entführt zu werden. Und damit hat sie recht. Doch im Ausland sind Entführungen an der Tagesordnung. Die meisten Entführungen werden derzeit in Mexiko verzeichnet. Die sogenannten Express-Kidnapper begleiten die Angehörigen der Geiseln serviceorientiert gleich zum nächsten Geldautomaten. Es kann jeden treffen, auch ärmere Menschen. In vielen Ländern kommt es zu politisch motivierten Entführungen – es wird sozusagen ein Statement gesetzt. Das Lösegeld kassiert man trotzdem. Sogar wenn die Entführung gefakt ist: Auch virtuelle Kidnaps, vorgegaukelte Entführungen, nehmen zu. In Brasilien funktioniert dieses Geschäft mit der Angst sehr gut, vorausgesetzt, jemand ist gerade nicht erreichbar, was die Entführer wissen. Klassische Entführungen, bei denen Kriminelle Lösegeld fordern, kommen derzeit vor allem in Westafrika vor. Cybererpressungen können weltweit jeden treffen – auch das gehört zu meinem Tagesgeschäft.
Wenn ich mir ein Bild der Lage gemacht habe – wie auch die Frau in der Schlange vor mir, die den Inhalt ihrer Tasche sortierte –, steige ich in die Verhandlungen ein. »Da ist er ja!«, rief sie triumphierend und hielt einen Gegenstand, dessen Funktion sich mir nicht erschloss, in die Höhe. Ich tippte auf eine Wunderwaffe im Segment Kosmetik. Zwei Security-Mitarbeiter grinsten sich an. Frauen und ihre Handtaschen, las ich in ihrem Blick. Blitzschnell schaufelte die Frau alles aus der Wanne zurück in die Tasche und programmierte damit ihre nächste Krise. Wie gesagt, viele Krisen kündigen sich an. Die Ehekrise fällt nicht mit der Tür ins Haus, auch Finanzkrisen, politische Krisen, Krankheiten haben eine Vorgeschichte. Im Nachhinein sagt man dann vielleicht: Hätte ich doch! Hat man aber nicht. Meistens aus Bequemlichkeit, Angst vor der klaren Ansprache eines Risikos und weil man Kosten sparen wollte.
Wie die Reederei in Bremen, zu der ich unterwegs war, vorgesorgt hatte, wusste ich noch nicht. Ich rief mir alle Informationen über Entführungen in Nigeria ins Gedächtnis. Der Staat Nigeria, von vielen Konflikten gebeutelt, ist operativ nicht in der Lage, die Handelsschifffahrt adäquat zu schützen. So hat sich die Piraterie in den letzten Jahren von der Küste Somalias in den Golf von Guinea verlagert, wo aktuell knapp 60 Prozent aller weltweit registrierten Vorfälle gemeldet werden, jährlich über einhundert. Die Region gilt als Hotspot der Piraterie. Betroffen sind sowohl Massengutfrachter wie Containerschiffe als auch Kühlfrachter, Tanker und Hochseefischer.
Vor Somalia gibt es kaum noch Piraterie-Attacken, da die internationale Gemeinschaft die Handelsschifffahrt gut schützt. Außerdem sorgen auf vielen Schiffen private Sicherheitskräfte für eine ruhige Fahrt. Während bei einem meiner letzten Fälle in Somalia die Besatzung mitsamt dem Schiff entführt wurde, werden die Schiffe in Nigeria weit vor der Küste mit Speedbooten angegriffen. Teile der Besatzung werden dann in das unübersichtliche Niger-Delta verschleppt. Ihr Leben hängt nun am seidenen Faden des Verhandlungsgeschicks – und der läuft durch meine Hände.
Die »Psychospiele« und Mechanismen in Verhandlungen mit Entführern und Erpressern unterscheiden sich im Prinzip nicht von denen bei alltäglichen Deals. Die Gesetzmäßigkeiten sind immer die gleichen. Egal, ob Sie es mit Erpressern oder Ihrem Lebenspartner zu tun haben: Es geht darum, einen Konflikt in einen Deal zu verwandeln. Solange beide Seiten daran interessiert sind, diesen Konflikt aufzulösen, wird das gelingen. Kompliziert wird es, wenn Sie auf einen Verhandlungspartner stoßen, der unbedingt gewinnen will und dabei im wahrsten Sinne des Wortes bereit ist, »über Leichen« zu gehen – was bei Terroristen eher der Fall ist als bei Kriminellen. Kriminelle sind nur an Lösegeld interessiert, Terroristen haben eine Botschaft und wollen diese möglichst medienwirksam verbreiten. Wer kauft Produkte, wenn die Gefahr besteht, sie seien vergiftet? Oder welche Firma will, dass man sie mit einer öffentlichen Hinrichtung in Verbindung bringt – weil sie nicht gezahlt hat? Terroristen sind gefährlicher, aber wie Kriminelle kommen sie nicht pünktlich zu einem Meeting und bedanken sich artig für ein Glas Wasser, ehe man sich zivilisiert unterhält. Es werden weder freundlich Vorschläge unterbreitet noch Positionen dargelegt, und was am Verhandlungstisch eines Unternehmens ein Bluff sein mag, kann hier schnell blutig enden. Die einzige Gemeinsamkeit – Englisch als Geschäftssprache: Every hour one finger. Diese Brutalität kennzeichnet den Unterschied zu harmlosen Deals wie beispielsweise bei einer Gehaltsverhandlung, wenngleich die Kontrahenten sich auch da innerlich gegenseitig verfluchen mögen, während sie sich freundlich Türen aufhalten und Kaffee aus Porzellankannen eingießen.
Unterschiedliche Positionen zu verhandeln ist nichts Außergewöhnliches. Als Menschen dealen wir ständig, ob mit unseren Partnern, Kindern, Kollegen, Chefs, Vertragspartnern, Vermietern, Banken, Institutionen und so weiter. Viele Menschen fühlen sich trotzdem unwohl in Verhandlungssituationen. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass ihnen ein Konzept fehlt. Eine Guideline, an der sie sich entlanghangeln können. Mit dem KSK-Prinzip brauchen Sie kein Muffensausen vor schwierigen Gesprächen zu haben. Ich verrate Ihnen auf den folgenden Seiten ein paar Kniffe, die garantiert zum Erfolg führen – und womöglich machen Ihnen manche Deals dann sogar Spaß. Es kann durchaus sein, dass Sie sich selbst von einer ganz neuen Seite kennenlernen. Vielleicht haben Sie Lust darauf, diese Neuentdeckungen als Ressourcen in einem Krisentagebuch zu verewigen. Das wird auch bei Verhandlungen mit Entführern angelegt – man muss ja wissen, welche Zusagen man getroffen hat, falls die Gegenseite vorgibt, sie vergessen zu haben. Diese Aufzeichnungen können später sogar als Beweise vor Gericht gelten. Ich gebe Ihnen jeweils am Kapitelende Einblick in mein persönliches Krisenhandbuch.
Auch ich bin mir in Krisen ein Stück weit neu begegnet und habe Eigenschaften entdeckt, die mir in einem Fall sogar das Leben retteten. Seither bezeichne ich Krisen gern als Minenfelder. Es besteht die Gefahr, schwer verletzt zu werden, auch getötet – als Mensch, als Beziehung oder als Unternehmen. Doch wer aufmerksam bleibt, kann Minen frühzeitig erkennen – und sie entschärfen.
50 Zentimeter Luftlinie
Kosovo, Juni 1999
Am vierten Tag nach unserem Einmarsch waren wir mit zwei ungepanzerten Geländewagen unterwegs. Schon damals hinkte die Ausrüstung der Truppe den Anforderungen hinterher. Wir mussten verdammt gut aufpassen, um in keine Sprengfalle zu geraten. Das Kommando Spezialkräfte fungierte diesmal als Vorhut, um nachfolgende Einheiten über die Lage zu informieren. Wir hatten einen Aufklärungs- und Informationsbeschaffungsauftrag. Schlüsselinformationen für die Truppe sollten durch das KSK gesammelt werden. Wie stand es um die Beschaffenheit von Brücken und Straßen, waren sie überall befahrbar, fanden trotz des Waffenstillstands Gefechte zwischen serbischer Armee und albanischen Kämpfern statt? Und wenn ja, wo? Wie viele Kämpfer auf der jeweiligen Seite? Welche Bewaffnung? Waffenstillstand klingt in der Theorie immer gut; in der Praxis wird er nicht eingehalten.
Ein besonderes Augenmerk sollten wir zudem auf Minenfelder legen. Für den Ernstfall hatten wir mehrere Wochen in Nordmazedonien trainiert, zahlreiche Schießübungen durchgeführt, Notfallverfahren geübt und unsere Erste-Hilfe-Kenntnisse aufgefrischt. Bei einer schweren Schussverletzung oder einem Minenunfall sind die ersten Minuten entscheidend, um einen Verletzten zu stabilisieren, bevor er nach 10 bis 15 Minuten der Rettungskette auf dem Gefechtsfeld übergeben wird, zum Beispiel mit dem Hubschrauber in ein Feldlazarett geflogen wird. In Nordmazedonien hatten wir unsere Ausrüstung gewissenhaft überprüft und aufmunitioniert. So saßen wir nun mit Handgranaten, Granatpistole, Nebelkörpern, Panzerfaust und Maschinengewehr in unseren schweren staubigen Uniformen im »Wolf«, dem Bundeswehrgeländefahrzeug. Um die 30 Kilo trug jeder von uns am Leib, und in den meisten Gesichtern prangte eine rote Nasenspitze unter dem Helm hervor; bei manchen hatte der Sonnenbrand das ganze Gesicht erfasst.
Ich war sehr angespannt, denn der deutsche Sektor war uns noch vollständig fremd – wie die ganze Situation. Wir hatten natürlich Kartenmaterial sowie Luftbildaufnahmen und Satellitenbilder. Aber die Realität sah anders aus. Vor allem, wenn man nach einer Straßenbiegung auf einmal in die Mündung eines T-72, Kampfpanzer der Serben, blickt. Wir begegneten auch besoffenen und in die Luft ballernden Serben, Tschetniks in völlig überladenen Zivilfahrzeugen wie ihre ebenso überladenen Fahrer und Mitfahrer – zugedröhnt mit Sliwowitz.
Hinter jeder Kurve konnte ein Hinterhalt lauern. Die Gefahr, von kriminellen Banden, die die Bevölkerung terrorisierten, ins Feuer genommen zu werden, war ebenso hoch wie die, auf eine Mine zu fahren – oder einfach Pech zu haben, wenn wir in einen Schusswechsel zwischen Albanern und Serben gerieten, die sich dann womöglich gegen uns verbünden würden. In dieser unüberschaubaren Gemengelage sollte das KSK einen genau definierten Bereich im Süden des Kosovo nahe der albanischen Grenze erkunden. Patrouillierten hier Banditen oder Milizen? Wie verhielt sich das serbische Militär? Wie die serbischen irregulären Kräfte, die berüchtigten Tschetniks? Wir hatten von deren angeblichen Gräueltaten gehört. Alles Propaganda, oder war da was dran? Welche Schäden hatten die Bombardements der NATO an der Infrastruktur angerichtet? Wie viele Panzer und andere Gefechtsfahrzeuge waren vernichtet worden?
Wir hatten von den Serben zwar Hinweise erhalten, wo Minenfelder lagen, doch sie waren mit höchster Vorsicht zu beurteilen und sicher nicht vollständig. Die Straßen in diesem Gebiet waren unbefestigt, staubig und extrem gefährlich. In dieser Situation mit ungepanzerten Fahrzeugen unterwegs zu sein, sorgte für ein gewisses Prickeln. Und wir alle fragten uns: Wann würden wir dem Tod begegnen? Hoffentlich nicht am eigenen Leib.
Der Tod war allgegenwärtig. Über dem gesamten Land lag wie ein Schleier der Geruch von Verwesung. Zu Beginn des Einsatzes war uns dieser süßlich-modrige Geruch noch fremd. Später kamen wir uns manchmal vor wie Leichenspürhunde: Wir konnten die Toten im Gelände durch Riechen finden. Und dann hing der Gestank in unseren Uniformen, und manchmal setzte er sich in der Nase fest und ging nicht mehr weg.
Als militärischer Führer meiner Männer saß ich an diesem vierten Tag nach unserem Einmarsch neben dem Fahrer im ersten Fahrzeug. Langsam fuhren wir auf einem Feldweg einen Hügel hinauf, alle hatten die Augen zusammengekniffen. Schritttempo, wir scannten die Umgebung, so gut es ging. Immer wieder legten wir einen Beobachtungshalt ein, suchten das Gelände mit dem Doppelfernrohr ab. Gefechtsfeldfahrzeuge der Serben? Hat sich die UÇK irgendwo eingenistet? Wo sind die albanischen Banden, die die Bevölkerung drangsalieren? Gibt es Hinweise auf Sprengfallen?
»Vorne halt«, befahl ich.
Als ich mich später fragte, was mich zu diesem Befehl veranlasst hatte, fand ich keine Antwort. Ich weiß es bis heute nicht, doch es sollte meinen Männern und mir das Leben retten. Ich griff zum Funkgerät und teilte allen mit: »Anhalten. Fahrer bleiben an den Fahrzeugen. MG-Schütze überwacht Vorgehen. Wir sitzen ab und klären zu Fuß auf.«
Mit drei Mann, die Waffen im Anschlag, rückten wir Richtung Höhenkamm vor. Nach etwa 15 Metern sagte eine gepresste Stimme hinter mir: »Olli, ich glaube, wir stehen in einem Minenfeld.« Ich hatte es im selben Augenblick gesehen. Tatsächlich, wir liefen über ein gemischtes Minenfeld: Schützenabwehrminen, die Menschen schwer verwunden, Gliedmaßen abreißen und töten, und Panzerabwehrminen, die Fahrzeuge und Panzer zerstören können. Unser Wolf wäre senkrecht in den Orbit geschossen.
»Heilige Scheiße«, entfuhr es meinem Stellvertreter, einem erfahrenen Hauptfeldwebel. Dann sprach lange niemand. Alle waren damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten, was plötzlich nicht mehr selbstverständlich war. Wir wussten bis ins kleinste Detail, was geschehen würde, wenn wir fehltraten, wir hatten genug Minenopfer gesehen.
»In den Fußspuren zurück zu den Fahrzeugen«, ordnete ich von Adrenalin geflutet an. Wie meinen Kameraden rann mir der Schweiß in Strömen über das Gesicht und über den Rücken, direkt in den Hintern. Mein Großvater sagte oft: »Da kocht das Arschwasser«, wenn er vom Krieg erzählte. Jetzt wusste ich, was er damit gemeint hatte.
Als wir alle sicher bei den Fahrzeugen standen, entdeckte ich eine Panzerabwehrmine, die 50 Zentimeter vor meinem Wolf teilverdeckt verlegt war. Allein die Druckplatte lugte durch den Sand. Russische Bauart. 50 Zentimeter Luftlinie zum Tod.
Wir meldeten das Minenfeld der militärischen Führung, und es wurde in den NATO-Karten als No-go-Area gekennzeichnet. Die Minenräumung würde allerdings noch sehr lange dauern, es gab zu viele Einsätze. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass in einem anderen Sektor, der von den Engländern übernommen worden war, zwei Elitesoldaten der Gurkhas durch eine Panzerabwehrmine ums Leben gekommen waren, die ebenfalls in keiner Karte verzeichnet war. Sie hatten nur eine zerstörte Brücke umgehen wollen.
Meine Männer und ich hatten das Glück, dass wir in unseren eigenen Fußspuren zurückgehen konnten, um wieder halbwegs in Sicherheit zu gelangen. Und wir wussten, dass wir in einem verminten Gebiet unterwegs waren, und hielten aktiv Ausschau nach Risiken. Normalerweise kann man nicht zurückgehen, und wer beschäftigt sich schon gern mit Eventualitäten? Denn das sind Risikofaktoren doch! Für mich sind Risikofaktoren wie Fußabdrücke, und sie führen unweigerlich in eine Krise, wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit widmet – so wie es der Reederei in Bremen passiert war …