Bernd Stegemann

Lob des Realismus

Bernd Stegemann

Lob des Realismus

© 2015 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
| Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de

Lektorat: Nicole Gronemeyer
Titelbild und Gestaltung: Kerstin Bigalke

ISBN 978-3-95749-019-3 (print)
ISBN 978-3-95749-027-8 (eBook)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Die Debatte um den Realismus

Maxim Gorki – Die Fantasie als Produktivkraft und ihre Eigentümer

Georg Lukács – Eigentümer erzählen vom Eigentum anders als alle anderen

Bertolt Brecht – Realismus ist die Antwort der Kunst auf eine Welt, die von Widersprüchen zerrissen ist

Markus Gabriel – Realität ist dasjenige, was nicht verschwindet, wenn du ihm die Zustimmung entziehst

Postmoderne Klassiker – Unterbrechung, Re-entry und Selbstreferenz

Slavoj Žižek – Der Einbruch des Realen ist nicht realistisch

II. Realismus der bürgerlichen Klasse

Wahr ist, was sich gut anfühlt

Der authentische Bürger

Gefühlsökonomie und Political Correctness

III. Realismus der Situation

Dialektik und tragische Kollision

Die dramatische Situation des Theaters der frühen Neuzeit

Die dramatische Situation des bürgerlichen Theaters

Die dramatische Situation des epischen Theaters und der Postmoderne

IV. Berichte aus der Arbeitswelt

Henrik Ibsen „Ein Volksfeind“

Peter Hacks „Die Sorgen und die Macht“

Kathrin Röggla „wir schlafen nicht“

Elfriede Jelinek „Die Kontrakte des Kaufmanns“

René Pollesch „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“

Schluss

Anmerkungen

Über den Autor

Einleitung

„Der realistische Wert eines Werkes ist vollkommen unabhängig von allen imitativen Eigenschaften.“

Fernand Léger1

I.

Die Realität meldet sich seit einigen Jahren mit Gewalt zurück. Das Ende der Geschichte scheint vorbei zu sein und es werden wieder Fragen gestellt, die ein realistisches Bild der Gesellschaft hervorbringen wollen. Die leninsche Frage: „Wer wen?“ gehört heute ebenso dazu wie die Frage nach den Interessen der Macht und ihrer Legitimation. Die wattierten Zeiten, in denen man mit einer Aussage wie: „Der Golfkrieg findet nicht statt“ als großer Philosoph galt, enttarnen sich langsam als das, was sie schon immer waren: die geschwätzige Seite der neoliberalen Ideologie.

Das neu erwachte Interesse an der Realität hat viele Ursachen. Die Vehemenz, mit der der Alltag von angeblich unregierbaren Kräften beeinflusst wird, lässt immer mehr Menschen an den Dogmen der Kontingenz zweifeln. Die Schockstrategien des Kapitals, die Naturkatastrophen aufgrund der Klimaveränderungen, die Kriege um Rohstoffe und Nahrung, sie alle werden offiziell noch als kontingente Ereignisse einer globalisierten Welt dargestellt. Doch immer weniger Menschen wollen ihr Leben vom Ohnmachtsgefühl bestimmen lassen, in einem Spielcasino oder einer Naturkatastrophe gefangen zu sein. Und immer weniger Menschen wollen die Epoche, in der sie notwendigerweise dieses eine Leben führen müssen, als ein kompliziertes Spiel akzeptieren, dessen Regeln sie nicht durchschauen dürfen.

Und so erinnert man sich daran, dass die Kunst in früheren Zeiten nicht nur an der Verrätselung der Welt gearbeitet hat, sondern mindestens in gleichem Maße auch an ihrer Sichtbarkeit und Verstehbarkeit. Alle künstlerischen Realismen waren sich in zwei Punkten einig: Es gibt eine Realität, und wir können versuchen, sie zu verstehen. Und es gibt eine künstlerische Erfahrung, die den Menschen ein gemeinsames Erleben ermöglicht, das sie momentweise davon befreit, ihr eigenes Leben als unverständliche Folge von Zufällen zu erleiden. Eine realistische Darstellung hilft, die Welt begreifen und sich ihre Veränderbarkeit vorstellen zu können.

Heute wagt der Realismus an verschiedenen Stellen in der Gesellschaft einen neuen Anfang, und es ist spannend, dabei mitzuhelfen, dass im Zentrum einer postmodernen Kultur der Glaube an Erkennbarkeit und Veränderbarkeit neu entsteht. Die gegenwärtigen Versuche, sich aus dem zähen Nebel des Relativismus und der Kontingenz zu befreien, sind so vielfältig und ihre Formen so divergent, dass es an der Zeit ist, an einige Traditionen des Realismus zu erinnern.

II.

Bei der gegenwärtigen Wiederentdeckung des Realismus fällt als Erstes auf, dass er zu einem Containerbegriff umgebaut worden ist. Eine hyperkomplexe Realität und eine Kunst, die die Schule der Wahrnehmung in eine totale Ambivalenz gesteigert hat, bilden bei jedem Wahrnehmungsakt eine Gleichung mit Unbekannten auf beiden Seiten. Es lässt sich nicht mehr bestimmen, was realistische Kunst ist und was gerade nicht, denn es lässt sich nicht mehr beurteilen, ob etwas dargestellt wird oder die Darstellung ihr eigener Inhalt geworden ist. Alles kann Ausdruck von Realität sein, wenn es der Kontext und die Rezeption so wahrnehmen wollen.

Gerade die Verweigerung, etwas darstellen zu wollen, die z. B. den abstrakten Expressionismus der 1940er und -50er Jahre auszeichnet, kann eine radikale Erfahrung von Ambivalenz provozieren. In einer Epoche, die das Individuum stärken und die gesellschaftlichen Zusammenhänge entwerten will, kann die Darstellungsvermeidung als realistischer Ausdruck der Zeit verstanden werden. Hat man den Realismus von einer Kunst der Wiedererkennung zu einer der Selbsterfahrung verschoben, so kann ein solcher Realismus unverhofft neue Bedeutungen bekommen. Denn plötzlich taugt er als realistischer Ausdruck in einem Kampf der Weltanschauungen. Der abstrakte Realismus wird zur Waffe im Kalten Krieg.

Eine Kunst, die nichts darstellen will und damit den Protest der konservativen Bürger erregt, eignet sich hervorragend als Beweis für die Freiheit der westlichen Gesellschaften. Hier zählt das freie Individuum mehr als jede gesellschaftliche Verabredung. Der abstrakte Expressionismus ist die passgenaue Entgegnung auf die Naivität des sozialistischen Realismus. Wird hier am Bild einer besseren Welt gearbeitet, wird dort der befreite Ausdruck des Künstlers zur kräftigen Erfahrung für den Betrachter. Das abstrakte Bild wird zum realistischen Ausdruck des freien und selbstbestimmten Subjekts.

Plötzlich erscheint es wenig überraschend, dass die CIA über viele Jahre und mit sehr viel Geld den abstrakten Expressionismus als Kunst der freien Welt durchzusetzen half.2 Die Feier des sich befreit ausdrückenden Subjekts, das gerade keine Darstellung einer wie auch immer gearteten Realität anstrebt, bildet das künstlerische Pendant zur Ideologie des Kapitalismus, in der der Einzelne im Wettbewerb steht, ohne jemals das Ganze begreifen oder verändern zu können.

Was folgt aus dieser Verdrehung, die abstrakte Kunst zu Realismus macht, in der eine Ideologie sich als menschliche Natur darstellen und zugleich jede Verantwortung für die Tendenz der Darstellung verstecken kann? Die Antwort liegt in der neuen Form des abstrakten Expressionismus: Hier wird nicht ein freies Subjekt dargestellt, sondern das Subjekt drückt sich als freies aus. Das Bild ist kein Bild mehr von etwas, sondern es selbst ist der Ausdruck eines Subjekts. Die Action Paintings von Jackson Pollock waren in ihrer monumentalen Kraft und dekorativen Flächigkeit die herausragenden Kunstwerke dieses Stils. Indem das Bild von der Last der Darstellung befreit wird, gilt es als Beweis dafür, dass sich sein Urheber keinerlei Zwängen unterwirft. Der abstrakte Künstler ist der freieste Künstler.

Der verdrehte Realismus dieser Kunst wird noch mal dadurch verstärkt, dass er als politische Haltung in einem Kampf der Weltanschauungen taugt. Er erfüllt damit die gleiche Funktion wie der sozialistische Realismus: Er hat einen Klassenstandpunkt und vertritt diesen mit den Mitteln der Kunst, die diesen Standpunkt zu einem ästhetischen Ereignis machen. Der Blick eines solchen Realismus wendet sich jedoch, im Unterschied zum sozialistischen Realismus, vom Subjekt, das seine Umwelt begreifen will, ins Subjekt zurück, wo es seine Unbegreiflichkeit als Antrieb für den künstlerischen Ausdruck stärkt. Dieser kapitalistische Realismus, wie wir ihn hier nennen wollen, hat weitreichende Konsequenzen für die Realität und das Verhältnis, das der Einzelne zu ihr einzugehen vermag. Eingeübt wird hier, und das wurde von der Propaganda der CIA intelligent erkannt, das isolierte Subjekt, das in einem Wettbewerb aller gegen alle auf sich selbst gestellt ist. Indem der Betrachter vor dem abstrakten Bild mit sich selbst und seinem Nichtverstehen konfrontiert wird, erlernt er, in seiner Umwelt immer zuerst den Blick auf sich selbst zu richten.

Ob Stalin von den Anstrengungen der CIA wusste, als er sagte, abstrakte Kunst sei Kunst für die Wall Street, ist unbekannt.3 Auf jeden Fall haben beide Seiten des Propagandakriegs eine künstlerische Sensibilität bewiesen, als sie die entgegengesetzten Konzepte von Realismus förderten, um sie gegeneinanderzustellen. Indem sie den weltanschaulichen Gehalt der künstlerischen Formen erkannten, waren sie die kenntnisreicheren Betrachter als viele Kunstwissenschaftler in ihrer Begeisterung für das Neue in der Abstraktion.

III.

Am Ende des langen Jahrhunderts der Avantgarden ist der Begriff des Realismus so weit aufgelöst, dass mit ihm entweder das polemische Feindbild einer naiven Abbildung gemeint wird, oder eben alles, was irgendwie in der Realität vorkommt. Die eine Richtung wollen wir als Commercial Realism bezeichnen und das große Feld der performativen Künste, mit der Realität des Materials, der Realness der Anmutung, der Liveness des Geschehens etc., als postmodernen Realismus. Der Commercial Realism ist leicht zu beschreiben und seine Wirkung wird uns fast nur in ihrer Funktion, ein vereinfachtes Bild der Realität zu geben, interessieren. Der postmoderne Realismus hingegen ist ein komplexes Feld, das immer wieder das Nachdenken über den Realismus heute bestimmt. Manchmal ist die Beeinflussung belebend und manches Mal auch einengend. Die Beengung liegt vor allem in der Dominanz der Ambivalenz, die die ästhetische Entsprechung zum Relativismus der Postmoderne ist. Die Befruchtung hingegen liegt vor allem in der besonderen Art der Widersprüche, die, werden sie nicht nur als formales Spiel begriffen, den Widersprüchen der komplexen Gegenwart zu entsprechen suchen. Die schwierige Unterscheidung zwischen einer folgenlosen, da nur formalen Ambivalenz, und den Widersprüchen, die konkret und komplex zugleich sind, wird unser Nachdenken über den Realismus begleiten.

Mit dieser Arbeit an der Unterscheidung von Relativismus und Realismus soll der Umbau einer ästhetischen Grundrichtung zu einem ungenauen Label aufgehalten werden. Die Wiederholung einer komplexen Welt mit komplexen Mitteln erliegt allzu leicht der Tendenz, das schlechte Ganze als ambivalentes Dazwischen erscheinen zu lassen. Denn wie bei all den anderen Vereinnahmungen von Begriffen in den Zitateschatz der Postmoderne ist auch hier der Relativismus der wahre Gewinner. Realismus heißt nun nicht mehr die Kunst, die die Behauptung aufstellt, dass die Realität eine von Menschen gemachte ist und sie darum auch von Menschen dargestellt, verstanden und verändert werden kann, sondern nunmehr sind alle Realitätseffekte damit gemeint, die ein einzelner Betrachter als realistisch empfinden kann.

Will man aber auch heute noch die wesentliche Bestimmung realistischer Kunst ernst nehmen, so muss der Begriff zuerst aus seiner postmodernen Gefangenschaft befreit werden. Realismus soll hier nicht all das heißen, was irgendwie eine eigene Realität hervorbringt oder den Effekt einer solchen hervorzurufen vermag. Mit Realismus ist hier immer eine dialektische Kunst gemeint, die eine gemeinsame Erfahrung von Realität provoziert. Wenn etwas Gegenständliches wiederzuerkennen ist, ist es dadurch noch keine realistische Kunst. Es bedarf immer noch der zweiten Begegnung, durch die das Erkennen eine Weitung erfährt, sodass dasjenige, was wiedererkannt wird, zugleich als etwas angeschaut werden kann, das so noch nicht erfahren wurde. In dieser realistischen Erfahrung liegt die hoffnungsvolle Einsicht, dass man nicht allein ist mit seinen Ängsten und seiner Abhängigkeit. Die Widersprüche des Lebens sind nicht nur das Problem des Individuums, sondern sie sind immer auch der Ausdruck für die gesellschaftlichen Widersprüche, in denen man zu leben gezwungen ist. Realismus soll hier also die ästhetische Methode heißen, mit der man einer immer widersprüchlicheren Welt noch beikommen kann.

In einer realistischen Kunst werden die Widersprüche der Gesellschaft und der Mensch anders anschaubar gemacht, als es die Realität von sich aus gestattet. Nur wenn das Kunstwerk, seine Umwelt und ihre Betrachter in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, dass aufgrund der künstlerischen Formung die Umwelt neu verstehbar wird, handelt es sich um Realismus. Die pure Widerspiegelung ist ebenso wenig realistisch wie die formale Verfremdung. Die eine bestätigt das naive Verständnis der Welt, während die andere die postmoderne Zersplitterung wiederholt. Erst wenn die Details erkannt werden und zugleich einen Zusammenhang begreifen lassen, der mehr ist als die Details, wird die Realität wieder realistisch gesehen.

IV.

Wer mit diesem Verständnis heute von Realismus sprechen möchte, provoziert unmittelbar eine vehemente und zugleich chaotische Reaktion. Nach über hundert Jahren Avantgarde, fünfzig Jahren Postmoderne, Dekonstruktion und Repräsentationskritik ist wohl kein Begriff so fest im Giftschrank der Ästhetik verschlossen wie der des Realismus. Das Stigma des Unkünstlerischen und bloß Gefälligen haftet ihm seit seiner Geburt im 19. Jahrhundert an. Dabei war der malerische Realismus seinerzeit als Reaktion auf die Romantik und ihren verklärenden Blick auf die sozialen Verhältnisse entstanden. Die Bilder sollten nicht länger innige Gefühlsszenen oder Heldentaten Einzelner zeigen, sondern endlich die wachsende Ungleichheit der Menschen als gesellschaftliche Realität anschaubar machen. Und um diese Aufschlüsselung leisten zu können, findet sich schon bei Gustave Courbet in der konkreten Darstellung das überzeitliche Moment des Realismus. Der Realismus produziert seit seinen Anfängen nicht nur eine wiederkennbare Abbildung, sondern der Inhalt einer solchen Darstellung ist gerade nicht leicht zu betrachten, denn er wendet sich gegen den bürgerlichen Idealismus und seine Instrumentalisierung der Kunst zum schönen Schein. Realistische Kunst erzeugt einen Inhalt in einer konkreten Gestalt, die anderes zeigt als nur ein gut gemaltes Stückchen Welt. Die konkrete Darstellung macht das gezeigte Detail zu einem Ausschnitt der Realität, in dem die Gesetze seines so Gewordenseins betrachtet werden können, weil die Realität der Abbildung mit anderen Formen operiert, als es die Konvention erwartet.

In den realistischen Kunstwerken des 19. Jahrhunderts sind beide Entwicklungen von realistischer Kunst angelegt: Es gibt ein Bekenntnis dazu, die sozialen Bewegungen und Widersprüche zur Grundlage für die Beobachtung von Realität zu machen und darum nach dem immer neuen, passenden künstlerischen Ausdruck zu suchen. Und es gibt die realistischen Techniken der Repräsentation, die darin bestehen, den Autor des Werkes unsichtbar zu machen, um die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem möglichst glaubhaft zu gestalten. Die drei wichtigsten Erfindungen bürgerlich realistischer Kunst werden in dieser Epoche gemacht: Im Roman ist das der allwissende Erzähler, der mit dem Stilmittel der erlebten Rede die Gedanken und Gefühle seiner Figuren als objektive Tatsachen erscheinen lassen kann. In der bildenden Kunst führt die politische Entscheidung für neue Sujets dazu, dass sowohl die Maltechnik als auch die Darstellung realistisch werden. Die Bauern, die Courbet malt, sind nicht mehr in einer idealisierten Schäferszene gebannt, sondern sie geben durch die Wahl von Sujet, Malweise und Arrangement das realistische Bild eines von Arbeit gezeichneten Lebens. Und in Theater und Drama wird das psychologische Theater der Vierten Wand erfunden, hinter der die Realität des Theaters für die Zuschauenden ebenso verschwindet wie die Anwesenheit des Publikums für die Figuren im Drama. All diese realistischen Mittel können dazu verwendet werden, die Widersprüche in ihrer Umwelt sichtbar zu machen, oder sie können als gefällige Mittel die Betrachter in den schönen Schein einer unrealistischen Illusion hüllen. Zwischen diesen beiden Richtungen verläuft die Grenze von künstlerischem Realismus und naivem Illusionismus, der zur bevorzugten Form des kommerziellen Realismus wird.

Die avantgardistische Kritik an den Repräsentationsmitteln des Realismus formulierte sich vor allem gegen die Strategien der Illusionserzeugung. Ihr Einwand ist von der Doppelgesichtigkeit, die die moderne Kunst auszeichnet. Ihr missfällt, dass die Kunst eine Aussage über die Welt trifft, und ihr missfällt, in welche Position die Betrachtenden dabei versetzt werden. Sie begreift die Arbeit der illusionistischen Repräsentation als Herrschaftsgeste, die das Gezeigte als unbefragbare Wahrheit inszeniert. Indem die Position des Künstlers hinter der Darstellung der Realität verschwindet, wird der Vorgang der Repräsentation zur Behauptung einer objektiven Gültigkeit. Es gibt im Kunstwerk keine sichtbare Instanz mehr, die die Wahrheitsbehauptung zu verantworten hätte und an der die Kritik des Betrachters sich festmachen ließe. Damit gerät nach Auffassung der Avantgarden die Stilistik der realistischen Darstellung immer mehr in einen Widerspruch zu ihrer politischen Überzeugung, die Realität als Kämpfe von Widersprüchen anschaubar machen zu wollen. Ihr Inhalt mag noch die Ungerechtigkeit sein, ihre Form unterliegt der Tendenz, diese als naturhaft erscheinen zu lassen. Die folgerichtige Reaktion auf die Erstarrung des Realismus zu einer affirmativen Kunst der bürgerlichen Klasse ist die Explosion der Formen, die mit dem Symbolismus und Naturalismus zum Ende des 19. Jahrhunderts beginnt.

Die Geschichte der Avantgarden im 20. Jahrhundert zeigt, wie die zwei treibenden Kräfte realistischer Kunst – Wiedererkennbarkeit und Kritik – immer weiter ausdifferenziert werden, bis sie schließlich in den Strudel des Relativismus geraten, wo sie zusammen mit allen anderen Aussagen über die Realität entsorgt werden. Die Frage nach der Erkennbarkeit von Realität einerseits und nach der Haltung, mit der die Erkenntnis kritisiert werden kann, andererseits wird in der Kunst wie in allen anderen Bereichen des Lebens zum fundamentalen Problem. Das neue Glaubensbekenntnis, das im 20. Jahrhundert von Natur- wie Geisteswissenschaften verkündet wird, lautet nun, dass jede Beobachtung ihren Beobachtungsgegenstand beeinflusst. Damit sind Realität und Subjekt in eine unentscheidbare Relation gebracht. Die Konsequenzen bestehen in der Auflösung aller Bindungen, die zum größten Modernisierungsschub der Weltgeschichte führen. Die permanente Revolution des Kapitalismus geht mit der allgemeinen Kontingenz des Lebens einher, die sich in allen Bereichen niederschlägt.

Die Avantgarden haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Beobachterrelativismus als ästhetische Erfahrung immer weiter auszuformulieren. Inhalt und Form gerinnen zum Ausdruck der Unentscheidbarkeit. Die politischen Systeme haben auf die Relation von Beobachtung und Wahrheit am einen Ende des politischen Spektrums mit dem Totalitarismus und am anderen mit dem demokratischen Paradox reagiert. So könnte man sagen, dass in geschlossenen Gesellschaften eine Kunst, die die Kontingenz der Verhältnisse fühlbar macht, eine kritische Geste bedeutet, während in offenen Gesellschaften dieselbe Kraft zur Relativierung die Forderungen einer kapitalistischen Wirtschaft erfüllt. Avantgarde ist revolutionär, wenn sie Traditionen und totalitäre Strukturen irritiert. Genau dieselben Irritationen sind aber affirmativ zum postmodernen Kapitalismus, dessen Aufgabe darin besteht, die mikropolitischen Verhältnisse permanent zu revolutionieren, um sie effizienter ausbeuten zu können.

V.

Die Unentscheidbarkeit bildet also das Fundament der politischen Entscheidung. Doch ist Unentscheidbarkeit nicht gleichzusetzen mit Kontingenz. Allein der Umgang mit dem, was unentscheidbar ist und darum entschieden werden muss, unterscheidet die politischen Systeme. Eine Entscheidung aufgrund von wissenschaftlicher Objektivität oder religiösem Fundamentalismus ist keine politische Entscheidung. Allein die Entscheidung, für die es keine objektiv zwingenden Gründe gibt, eröffnet das Feld der politischen Antagonismen. Die Demokratie basiert auf diesen Antagonismen, die erst durch Debatte und Abstimmung zu Entscheidungen kommen, die dann nicht wahr sein müssen, aber dennoch kollektiv bindend sind. Wird Politik hingegen als Vollzug von Wahrheiten verstanden, ist das Ende der Demokratie erreicht und der ökonomische oder religiöse Gottesstaat beginnt. Egal ob er dann mit der TINA-Doktrin die neoliberalen Schockstrategien vollzieht oder die göttlichen Gesetze vollstreckt, eine demokratische Öffentlichkeit wird für solche Entscheidungen nicht mehr gebraucht.

Der Relativismus der Beobachtung ist also ein kategorischer Freiheitsgewinn für die Demokratie und zugleich der Weg, auf dem sie ihrer eigenen Entscheidungsunfähigkeit entgegengeht. Das Paradox moderner Demokratien besteht darin, trotz der Ausdifferenzierung aller Lebensbereiche noch zu Entscheidungen zu kommen, die für alle gleichermaßen bindend sind. Je weiter sich die Lebensbereiche ausdifferenzieren, desto unwahrscheinlicher werden solche bindenden Entscheidungen. Die Gesellschaft erstarrt in ihrer eigenen Komplexität oder sie verliert die Kraft zur demokratischen Entscheidung an eine fundamentalistische Kraft. An dieser Wegscheide befinden sich die Demokratien in Europa. Damit erreichen sie eine neue kritische Phase, der die bürgerliche Kultur durch die Radikalisierung der Kontingenz immer ohnmächtiger gegenübersteht. Die Kontingenz entsteht, wenn die Unentscheidbarkeit mit Beliebigkeit und Relativismus verwechselt wird. Denn dann wird aus dem Antrieb zur öffentlichen Auseinandersetzung ein Gefühl der Lähmung, das zum Rückzug in private Sonderwelten führt. Die einlullende Wirkung der Kontingenz ist besonders bei den Menschen zu beobachten, die im Angesicht der Unentscheidbarkeit auf eine magische Lösung hoffen und so lange im Zustand des Vielleicht verharren, bis sie davon erlöst werden. Was hierbei übersehen wird, ist die Aufforderung, die von der notwendigen Unentscheidbarkeit ausgeht, sich an die Arbeit zu machen, um für sich und seine Zeit nach Wegen der Entscheidung zu suchen. Das postmoderne Lebensgefühl, in dem die Kontingenz allgegenwärtig ist, ist daher der entlarvende Ausdruck für eine Gesellschaft von Unmündigen: Man ist davon gelähmt, wie kompliziert alles ist, und hofft auf eine einfache Lösung, und bis dahin macht man so weiter wie bisher.

Um die Radikalität der Kontingenz, die unsere Gegenwart auszeichnet, besser ermessen zu können, hilft eine Erinnerung daran, welche andere Konsequenz der Sozialismus aus dem Beobachterparadox gezogen hat. In der bürgerlichen Kultur wird die Relativität von Wahrnehmung und Wirklichkeit zur willkommenen Begründung dafür, dass jeder seine eigene Wahrheit hat. Die notwendige Folge ist die Stärkung des Bourgeois, der sich in einem permanenten Wettkampf um das Eigentum befindet, und die Lähmung des Citoyens, der keine Kraft und kein Vertrauen mehr in die gemeinsame Öffentlichkeit hat. Der Sozialismus kommt hingegen zu einer gegenteiligen Schlussfolgerung. Wenn der Standpunkt, von dem aus die Realität erkannt werden kann, die Erkenntnis beeinflusst, dann provoziert die Frage nach dem Standpunkt die politisch wahre Aussage über die Realität. Der konkrete Standpunkt des Citoyens ist eben etwas anderes als der abstrakte Standpunkt des Eigentümers. Der Standpunkt wird konkret, wenn er das eigene Dasein als verknüpft denkt mit den gesellschaftlichen Kräften, die es zu dem gemacht haben, was es jetzt ist. Der isolierte Standpunkt des Bourgeois denkt sich hingegen als Herr seines eigenen Lebens und ignoriert, dass diese gewinnträchtige Position der Vereinzelung unendlich viele Verbindungen zu seiner Umgebung hat. Der Bourgeois vergisst, dass das Leben anders aussieht, je nachdem, ob ich aus den Augen eines Eigentümers schaue oder eines Enteigneten, die Grenze sieht anders aus, ob ich sie passieren kann oder von ihr abgewiesen werde, die Arbeit sieht anders aus, ob ich gezwungen bin, sie für mein Überleben auszuüben, oder ob ich sie freiwillig gewählt habe. Die sozialistische Antwort auf die beobachterabhängige Erkenntnis über die Realität ist die Beantwortung der Frage nach dem Klassenstandpunkt. Dieser führt gerade nicht zu einer Steigerung von individuellen Sonderperspektiven, sondern zu Einsichten, die die Bruchlinien dadurch sichtbar machen, dass der eigene Standpunkt als einer begriffen wird, der von der einen Seite des Widerspruchs aus schaut. Eine solche Perspektive ist nie nur individuell, sondern trifft immer schon auf viele zu.

Das Bild der Realität ist subjektiv, aber gerade darin wird es zu einer politischen Wahrheit, wenn sich die Subjektivität als Teil eines geschichtlichen Zusammenhangs begreift. Die bürgerliche Subjektivität lehnt diese Aufhebung ihrer Individualität in die Geschichte der sozialen Widersprüche ab. Ihre Einzigartigkeit entstammt der Familie und der Bildung. Psychologie und Bildungsroman sind die beiden leitenden Kulturtechniken der Selbstbestimmung. Der Sozialismus begreift den Einzelnen als durch tausend Fäden mit seiner Umwelt verbunden. Diese Fäden anschauen zu können, um nicht als Marionette darin zappeln zu müssen, ist die Aufgabe des Realismus. Die bürgerliche Kultur verklärt das Zappeln in den Fäden zum individuellen Ausdruck, da sie die Realität der Abhängigkeiten ignorieren will. Der Sozialismus will die Fäden begreifen, um sie ihres naturhaften Zwangs zu berauben. Die Avantgarden schließlich finden in den Abhängigkeiten ihren liebsten Feind und bilden zugleich die größte Bestätigung für das Einzigartigkeitskonzept der Marionetten. Die Erfahrungen des individuellen Subjekts werden zum Motor des künstlerischen Ausdrucks, der Subjektivität aus den komplizierten Erlebnissen der Vereinzelung schöpft. Das Kunstwerk stiftet keinen Zusammenhang mehr zwischen seiner Arbeit an der Darstellung und einer hierin zur Erscheinung kommenden Realität, sondern es stiftet eine Kommunikation zwischen sich und dem Rezipienten. Aus dem Dreiecksverhältnis realistischer Kunst, wo die Selbstreferenz des Werkes die Fremdreferenz seiner Umwelt in ein Verhältnis bringt, das vom Betrachter als Spiel von Kunst und Realität erlebt werden kann, wird das duale Verhältnis der Avantgarden, wo das Werk dem Betrachter eine Erfahrung ermöglicht, die er mit sich selbst mithilfe der Kunst machen kann. Die Avantgarde begibt sich immer weiter in eine undialektische Opposition zur Realität, indem sie sich selbst zur Realität zweiter Ordnung erklärt. Sie wird zur Geisel ihres Zwangs, die eigenen Erzeugnisse immer wieder überbieten zu müssen, und bleibt damit in dem gleichen Wettkampf gefangen, wie die Arbeiter im kapitalistischen Markt.

VI.

Einhundert Jahre, nachdem die Ikonen der Avantgarde – das Urinal von Marcel Duchamp und das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch – alles Nachdenken über Kunst revolutioniert haben, werden heute die Rufe nach einer neuerlichen Revolution laut. „Putting the Urinal back in the Restroom“4 lautet einer der neuen Kampfrufe für eine postavantgardistische Kunst.

Was ist passiert? Mit dem Ready-made endete die Geschichte der Kunst als Wahrheitsgeschehen und es begann die Kunst als subjektive Erfahrung. Es endete die Kunst des Realismus und es begann die einer Kunst als Konzept. Doch wie kann das sein, wo doch nichts realer zu sein scheint als das echte Objekt? Um diese Frage zu beantworten, benötigt die Kunst das gesamte 20. Jahrhundert. Im Grunde dreht sich diese Frage darum, welches Verhältnis zwischen einem materiellen Gegenstand, seiner Bedeutung und der Wahrnehmung erfahrbar wird. Am Beginn dieser Neuordnung des Ästhetischen steht die Erfindung der Fotografie, denn mit ihr beginnt die massenhafte Verbreitung von Abbildungen und damit die Inflation des neuen Phänomens indexikalischer Zeichen. Hiermit sind Zeichen gemeint, die aus einer Mischung von menschlicher Zeichenbildung und natürlichem Geschehen entstehen. Ein Handabdruck in einer Tonmasse ist ein ebensolches Mischkunstwerk wie die Fotografie. Die Fotoplatte wird aufgrund der Lichtstrahlen mit einer naturwissenschaftlichen Zuverlässigkeit belichtet. Welche Lichtstrahlen hingegen auf die Platte gebannt werden, hängt von der Arbeit des Fotografen ab, von der Wahl des Bildausschnitts, des Objektivs, der Beleuchtung etc.

Die Fotografie eignet sich als indexikalische Kunst hervorragend, um alle Diskurse des Realismus wie des Formalismus in Verwirrung zu stürzen. Ihre objektive Dimension – die Natur selbst belichtet den Bildträger – scheint aus ihr die realistischste aller Künste zu machen. Die Malerei gerät hierdurch in ihre größte Krise der Abbildung. Kubismus, Impressionismus, Symbolismus und viele andere Schulen suchen nach einem Ausweg aus der Darstellungskrise und finden ihn meistens in einer Stärkung des Ausdrucks. Doch diese Auswege geraten selbst schnell wieder in die nächste Krise. Die ungegenständliche Malerei, die als Protest gegen den Zwang zur Darstellung und in Konkurrenz zur Fotografie entstanden ist, feiert zusehends den individuellen Ausdruck des Künstlers. Damit beraubt sie die Kunst des einst dialektischen Verhältnisses von Darstellung und Dargestelltem. Am Ende stellt sich die Frage, was den abstrakten Ausdruck von dem Dekor einer Tapete unterscheidet.

Marcel Duchamps Reaktion auf die drohende Beliebigkeit einer immer abstrakter werdenden Kunst ist eine rasante Überholung. Das Ungegenständliche wird mit einem realen Gegenstand übertrumpft. Das Ready-made ist eine Übertreibung des indexikalischen Zeichens, da es nicht mehr die Abbildung anschaubar machen will, sondern die Ursache für die Abbildung selbst ausstellt. Damit wird die Realität als mögliches Objekt der Abbildung zum Abbild ihrer selbst. Das Urinal stellt kein Urinal dar, es trifft keine Aussage über Toiletten und es will auch keine verborgene Wahrheit darüber veröffentlichen. Das Ready-made ist insofern kein indexikalisches Zeichen mehr, da seine Zeichenfunktion nur noch darin besteht, alle Zeichenfunktionen zu beenden. Das Ready-made ist kein autonomes Kunstwerk, sondern ein Konzept, das die grundsätzliche Frage der Avantgarde stellt: Unter welchen Bedingungen wird etwas zur Kunst und welche ästhetischen Erfahrungen werden dadurch möglich?

Mit dieser Frage endet die Kunst des Realismus, wie sie das 19. Jahrhundert praktizieren konnte. Die realistische Kunst hatte bis dahin zwar auch artifizielle Mittel benötigt – die Zentralperspektive und figürliche Darstellung in der Malerei, die Techniken der Narration in Epos und Roman, die Entwicklung der dramatischen Situationen im Drama, sie alle sind komplexe künstlerische Mittel, doch unterscheiden sie sich in einem Punkt fundamental von den Mitteln der Avantgarden. Ihre artifizielle Qualität besteht darin, ein Verhältnis zwischen der künstlerischen Form und einer darin erscheinenden anderen Realität ins Werk zu setzen. Die Selbstreferenzen der künstlerischen Mittel ermöglichen eine Fremdreferenz, die als Inhalt erscheint, der nicht identisch ist mit dem Material oder der Form des Kunstwerks.

Mit dem Konzept des Ready-made wird diese Dialektik zerschlagen und zur Erfahrung der ästhetischen Oszillation gemacht. Der Gegenstand ist real, aber er bekommt durch den anderen Kontext eine neue Bedeutung und damit einen anderen Charakter von Realität. Der damit eröffnete Prozess ist unendlich und muss von jedem Betrachter selbst durchlaufen werden. Die möglichen Erfahrungen sind komplex und einzigartig, sie sind aber in keinem Fall mehr die des Realismus. Denn sie ermöglichen gerade nicht mehr die Gemeinschaft derjenigen, die aufgrund eines ästhetischen Erlebens die reale Umwelt mit anderen Augen sehen.

I. Die Debatte um den Realismus

Maxim Gorki – Die Fantasie als Produktivkraft und ihre Eigentümer

Über sowjetische Literatur, 1934

„Das Hauptthema der europäischen und der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts ist die Persönlichkeit in ihrem Gegensatz zur Gesellschaft, zum Staat und zur Natur. Der Hauptgrund, der die Persönlichkeit veranlaßte, sich gegen die bürgerliche Gesellschaft aufzulehnen, ist eine eigenartige, den Klassenideen und Lebenstraditionen widersprechende Konzentration an negativen Eindrücken. Die Persönlichkeit spürte sehr wohl, daß diese Eindrücke einen Druck auf sie ausüben und ihre Entfaltung hemmen, aber sie begriff nur unklar die eigene Verantwortung für ihre Banalität, die Gemeinheit und den verbrecherischen Charakter der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Jonathan Swift steht für ganz Europa, doch die europäische Bourgeoisie glaubte, seine Satire richte sich nur gegen England. Überhaupt war sich die rebellierende Persönlichkeit bei der Kritik am Leben ihrer Gesellschaft selten und nur sehr mangelhaft ihrer eigenen Verantwortung für die schändliche Praxis der Gesellschaft bewußt. Und noch seltener war ein tiefes und richtiges Verständnis für die Bedeutung der sozialökonomischen Ursachen das Grundmotiv ihrer Kritik an der bestehenden Ordnung; meistens basierte die Kritik entweder auf einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit der eigenen Existenz in dem engen, eisernen Käfig des Kapitalismus oder auf dem Bestreben, sich für die Mißerfolge des Lebens, für alle Demütigungen zu rächen. Und wenn sich die Persönlichkeit dem arbeitenden Volke zuwandte, so tat sie das gewiß nicht den Interessen der Masse zuliebe, sondern in der Hoffnung, daß die Arbeiterklasse ihr nach der Zerschlagung der bürgerlichen Gesellschaft Gedanken- und Handlungsfreiheit garantieren würde. Ich wiederhole: Das grundlegende und wichtigste Thema der vorrevolutionären Literatur ist das Drama des Menschen, dem das Leben zu eng erscheint, der sich überflüssig in der Gesellschaft fühlt, einen bequemen Platz sucht, ihn jedoch nicht findet und infolgedessen leidet und zugrunde geht, indem er sich entweder mit der ihm feindlichen Gesellschaft aussöhnt oder aber mit Trunksucht oder Selbstmord endet. […]

Der kritische Realismus – das müssen wir wissen – entstand als individuelles Schaffen ‚überflüssiger Menschen‘, die zum Lebenskampf unfähig waren, keinen Platz im Leben fanden, mehr oder weniger deutlich die Ziellosigkeit ihres persönlichen Lebens erkannten, aber diese Ziellosigkeit nur als Sinnlosigkeit aller sozialen Erscheinungen des gesamten historischen Prozesses auffaßten.

Ohne die gewaltige Leistung des kritischen Realismus leugnen zu wollen und bei aller Wertschätzung seiner formalen Errungenschaften in der Kunst der Wortmalerei, müssen wir doch begreifen, daß wir diesen Realismus nur brauchen, um die Überreste der Vergangenheit darzustellen, um sie zu bekämpfen und auszumerzen.

Aber diese Form des Realismus hat der Erziehung einer sozialistischen Individualität nicht gedient und kann ihr nicht dienen, denn sie kritisierte alles und bejahte nichts, oder aber sie kehrte schlimmstenfalls zur Bejahung dessen zurück, was sie bereits negiert hatte. […]

Der sozialistische Realismus bejaht das Dasein als Handeln, als schöpferische Tätigkeit, deren Ziel die ständige Entwicklung der wertvollsten individuellen Fähigkeiten des Menschen für den Sieg über die Naturkräfte ist.“5

Wie eine Nachricht aus einer sehr fernen Welt liest sich dieser kurze Ausschnitt aus der Rede von Maxim Gorki, die er auf dem „1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller“ 1934 in Moskau gehalten hat. Im Zentrum des Kongresses stand die Untersuchung der Frage, welche Funktionen Schriftsteller und Literatur beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft haben können. Die Teilnehmer kamen aus allen Teilen der Sowjetunion, aber auch aus dem westlichen Europa. Louis Aragon, Klaus Mann, Ernst Toller, André Malraux und Wieland Herzfelde, um nur einige zu nennen, waren ebenso vertreten, wie Fjodor Gladkow, Ilja Ehrenburg, Isaak Babel oder Wiktor Schklowski. In 26 Sitzungen wurden in teilweise sehr langen Vorträgen sowohl eine Bestandsaufnahme der aktuellen Literatur als auch konkrete Forderungen an die Schriftsteller formuliert. Bestimmend für alle Beiträge war die Frage nach dem Realismus, bei dem zum ersten Mal zwischen einem bürgerlichen und einem sozialistischen Realismus unterschieden wurde.

Am Beginn einer solchen materialistischen Ästhetik steht ein kurzer Kommentar von Friedrich Engels, den er in einem Brief an Margarete Harkness formuliert hat. Realismus hat nicht nur die Wahrheit der Details zu schildern, sondern eine „wahrheitsgemäße“ Reproduktion typischer Charaktere unter typischen Umständen zu sein. Dabei sollten folgende Themen behandelt werden: „rebellische Auflehnung der Arbeiterklasse gegen das Milieu der Unterdrückung, das sie umgibt, ihre Versuche – konvulsivisch, halbbewußt oder bewußt –, ihre Stellung als menschliche Wesen wiederzuerlangen.“6 Damit ist die doppelte Aufforderung eines sozialistischen Realismus bestimmt: Das Detail soll nicht in einer Kette schöner und wahrheitsgetreuer Realismen erscheinen, sondern im Detail soll der Zusammenhang sichtbar werden. Das Detail ist konkret, da in seinen Abhängigkeiten erkannt, und nicht das Abstrakte des isolierten Faktischen einer unverstandenen Realität. Und zum Zweiten sollen nicht irgendwelche Fakten des Lebens geschildert werden, die dem Autor oder seinem Publikum gerade als unterhaltsam erscheinen, sondern die Auswahl wird bestimmt durch die prägenden Widersprüche der Gesellschaft. Pointiert gesagt, bedeutet Realismus hier die Darstellung der konkreten Widersprüche in einer Klassengesellschaft.

Der bürgerliche oder kritische Realismus ist von diesen Forderungen weit entfernt und doch wird ihm von den Rednern eine wichtige Rolle beim Kampf der bürgerlichen Klasse gegen den Adel zuerkannt. Zugleich wird aber auch bemerkt, dass mit dem Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Klasse im Kapitalismus dessen kritischer Realismus in die Phase der Reaktion eintritt. Der bürgerliche Realismus erstarrt in der Konvention, die nur noch als schöner Schein für eine zynische Realpolitik taugt. Kunst verklärt nun, wie schon zuvor im Feudalismus, die schlechte Wirklichkeit. Gegen diesen affirmativen Realismus wenden sich innerhalb der bürgerlichen Kultur die Avantgarden. In fast allen Beiträgen wird auf die Vor- und Nachteile dieser Rettungsversuche einer kritischen Kunst innerhalb des weiterbestehenden Systems des Kapitalismus eingegangen.

Dabei sind sich die Analysen weitestgehend einig, dass der Kampf der Kunst, der im real existierenden Kapitalismus geführt werden muss, immenser Anstrengungen bedarf, um die ästhetischen Methoden und Formen entwickeln zu können. Zugleich wird jedoch die Tendenz dieser Rettungsversuche bemerkt. Sie geraten aufgrund der einseitigen Betonung der formalen Mittel und der Abwertung der inhaltlichen Seite allzu oft in die Sackgassen des Formalismus oder der Dekadenz. Die formalen Experimente der Avantgarden erscheinen den Vertretern des neuen, sozialistischen Realismus wie ein Rückzug aus der Realität. Die Überbetonung der Formfrage ist für sie der paradoxe Versuch, im Inneren der bürgerlichen Seele eine Revolution anzetteln zu wollen, die in den realen Produktions- und Eigentumsverhältnissen niemand zu denken wagt. Das Urteil fällt entsprechend scharf aus: Die künstlerischen Versuche, die sich mit Formfragen beschäftigen, ohne die Frage des Klassenbewusstseins zu stellen, sind dazu verurteilt, formale Spielereien zu bleiben. Als solche sind sie, auch wenn sie die bürgerlichen Kunstgewohnheiten provozieren, affirmativ zur kapitalistischen Gesellschaft. Avantgardekunst vertritt gerade in ihren gelungensten Experimenten zwangsläufig die Klasseninteressen der Besitzenden, denn an die Stelle der Aufklärung, die zu einem revolutionären Denken führt, tritt die Verschleierung der Interessen durch komplexe ästhetische Ereignisse, und an die Stelle der Emanzipation tritt die Feier des unternehmerischen Egoismus durch die Affirmation seines verfeinerten Kognitionsvermögens. Die Provokation des individuellen Geschmacks ist die stärkste Bestätigung des Systems, das solche Provokationen erlaubt.

In dieser Kritik formuliert sich schon 1934 eine Beobachtung, die erst heute wieder als ein Problem erkannt wird. Unter dem Namen der Künstlerkritik werden seit einigen Jahren die Versuche aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zusammengefasst, die aus dem Inneren der kapitalistischen Wirtschaft eine Kritik an deren zwangsläufiger Entfremdung üben wollten. Genau diese Bewegung führt dann in der Postmoderne dazu, dass das Konzept der Künstlerkritik erlahmt, weil es Entfremdung nicht als Folge falscher ökonomischer Verhältnisse denkt, sondern als individuelles Problem darstellt. Entfremdung wird von einem Begriff der Ausbeutung zu einer Einschränkung des bürgerlichen Gefühls. Die Künstlerkritik erlahmt daher automatisch, als die Produktionsverhältnisse gerade die bürgerliche Sehnsucht nach Selbstverwirklichung zum Motor der Produktivität machen. Das künstlerische Experiment, das die private Not zum Anlass nimmt, bleibt im Kosmos der Idiosynkrasien gefangen und bestätigt damit zwangsläufig die bürgerliche Ideologie des Einzelnen. Aber nur, wenn die Not des Einzelnen als notwendige Folge eines falschen Systems erkannt wird, kann sie über die Begrenzung des bürgerlichen Fühlens hinauskommen.

Beim Kongress von 1934 entzündet sich die Debatte immer wieder an der Beurteilung des Werkes von James Joyce. Seine formalen Neuerungen werden bewundert, doch zugleich wird gerade hierin der Umschlag der avanciertesten Formen von einer kritischen Position in die Affirmation der Klassengesellschaft bemerkt. Vor allem diese Kritik an Joyce hat die westliche Wahrnehmung des Kongresses überschattet. Dabei ist aus heutiger Sicht, wo Joyce unwidersprochen als Weltliteratur durchgesetzt ist, eine Erinnerung hieran erhellend, um dem gegenwärtigen Erlahmen der Künstlerkritik, deren lebendigste Impulse zum Treibmittel der Creative Industries geworden sind, nicht ohnmächtig gegenüberzustehen.

Karl Radek analysiert Folgendes: „Worin liegt das Eigentümliche von Joyces Methode? Er versucht, einen Tag im Leben seiner Personen Regung für Regung zu schildern – die Regungen des Körpers, die Regungen des Verstandes, die Regungen des Gefühls in all ihren Schattierungen, von bewußten Gefühlen bis hin zu solchen, die wie ein Krampf über einen kommen. Er filmt das Leben seiner Figuren mit der denkbar größten Genauigkeit ab und läßt nichts, aber auch gar nichts aus. […] Wir wollen uns nur mit den wesentlichen Elementen dieser ‚neuen Methode‘ befassen, mittels derer der Naturalismus auf klinische Beobachtung und die Romantik und der Symbolismus auf deliriöse Wahnzustände reduziert werden. Was ist das Bemerkenswerte an Joyce? Das Bemerkenswerte an ihm ist die Überzeugung, daß es im Leben nichts Großes gibt – keine großen Ereignisse, keine großen Menschen, keine großen Ideen. […] Man braucht sich aber nur das Bild anzusehen, das er auf diese Weise erhält, um zu erkennen, daß es nicht einmal den trivialen Helden [Leopold Bloom in „Ulysses“] mit dem trivialen Leben gerecht wird, die er darstellen möchte. […] Joyce, der angeblich ein unparteiisches Bild vom Kleinbürger entwirft, der angeblich seinem Helden auf Schritt und Tritt folgt, ist in Wahrheit natürlich nicht einfach ein objektiver Chronist des Lebens. Er trifft eine Auswahl, und dieser Auswahl ist anzumerken, daß für ihn die ganze Welt aus einem Schrank voll mittelalterlicher Bücher, einem Bordell und einer Kneipe besteht. Für ihn existiert die nationale revolutionäre Bewegung des irischen Kleinbürgertums überhaupt nicht, und darum ist das Bild, das er zeichnet, trotz aller vorgeblicher Objektivität unwahr.“7

Die erst in jüngster Vergangenheit erkannten Probleme der Auflösung der Sozialkritik und der Vereinnahmung der Künstlerkritik durch den postmodernen Kapitalismus sind hier als immanente Tendenz in der Literatur der Avantgarde beschrieben. Luc Boltanski, der zusammen mit Ève Chiapello das Verhältnis der beiden Kritikmodi und ihre Funktionen in der Postmoderne untersucht hat, verweist immer wieder auf diese Tendenz: „Während die Sozialkritik primär auf die Lösung sozioökonomischer Probleme durch Verstaatlichung und Umverteilung zielte, kreiste die Künstlerkritik um ein Ideal der individuellen Autonomie, der Selbstverwirklichung und der Kreativität, das im Widerspruch zu allen Formen hierarchischer Machtverhältnisse und sozialer Kontrolle steht. Aus Sicht der Verteidiger des Kapitalismus bot diese zweite Form der Kritik allerdings den Vorteil, durch gewisse Umdeutungen und Glättungen mit einem liberal gemäßigten Kapitalismus durchaus vereinbar zu sein.“8