Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Vom Schämen und Beschämtwerden
Bibliothek der Gefühle, Band 4
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© 2009 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Anette Lascho, Verena Eßmann
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt
unter Verwendung eines Fotos von © Klaus Schneider
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22445-3
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Wir danken Käthe Frick und Lore Remke für ihre Rückmeldungen zu den Manuskripten, Susanne Wolters für ihre Schreibarbeiten, Anette Lascho und Verena Eßmann für das Lektorat und unseren Kindern, Freundinnen und Freunden, Schülerinnen und Schülern sowie Klientinnen und Klienten, von denen wir lernen durften.
Scham ist unbeliebt. Schämt sich ein Mensch, hört er oft Sätze wie: »Das ist doch nicht nötig« – als ob Scham sich an Notwendigkeiten orientieren würde.
Schämt man sich, versucht man oft über die Scham hinwegzugehen, sie zu verdrängen und durch ein anderes, angenehmeres Gefühl zu ersetzen. In der Bewertungsskala der Gefühle liegt die Scham weit unten, in guter Nachbarschaft von Schuld, schlechtem Gewissen, Trotz, Eifersucht, Neid, Ekel und ähnlichen »unbeliebten« Gefühlen.
Oft ist die Scham diffus, schwer benennbar und schwer greifbar. Viele Menschen kennen ein »komisches Gefühl« – es hält sie davon ab, etwas zu sagen oder zu zeigen, es lässt sie sich zurückhalten: »Ich weiß nicht, was los ist, irgendetwas bremst mich. Ich habe keine Angst, aber irgendetwas ist da … Vielleicht ist es mir peinlich, darüber zu reden.« Wenn wir in der Literatur suchen, wer über die Scham schreibt, finden wir zuallererst Poeten von Shakespeare bis Dostojewskij. Sehr viel später und seltener ist die Scham Thema in der Fachliteratur der Therapeutinnen und Therapeuten.
Beide Gruppen beschäftigen sich mit Menschen, mit ihren Leiden, mit ihren Gefühlen, ihren Freuden, ihren Verstrickungen, ihren Veränderungen. Es gibt wohl kaum einen guten Roman und keine Therapie, in der man nicht der Scham begegnet und – wie wir sehen werden – begegnen muss, wenn Menschen sich verändern.
Was ist nun Scham? Sammeln wir einige Formen, in denen sie auftritt:
Ein 12-jähriges Mädchen liegt in der Badewanne, die Tür ist nicht abgeschlossen, ein Familienmitglied betritt das Badezimmer, ohne anzuklopfen. Das Mädchen schämt sich.
Ein Mann vergisst den Geburtstag seiner Frau. Er schämt sich.
Eine Frau bekommt von ihrer Freundin auf einer Geburtstagsparty ein Kompliment für ihr Aussehen. Die Umstehenden hören es. Die Frau schämt sich.
Ein Künstler hat ein neues Bild gemalt. Er zeigt es einer Person, der er vertraut und deren Meinung er schätzt. Er ist aufgeregt, erwartungsvoll – und schämt sich.
Jemand schimpft im Kollegenkreis über Bayern München. Ein Kollege gibt sich als Bayern-Fan zu erkennen. Der Schimpfende fühlt sich ertappt und schämt sich.
Eine Frau sagt vor Gericht über ihre Vergewaltigung aus – und schämt sich.
Ein Mädchen bereitet sich freudig darauf vor, auf einer Schulfeier ein Musikstück mit der Flöte zu spielen. Als es so weit ist, schämt es sich so, dass es nicht mehr vorspielen mag.
Ein Mann weint und schämt sich.
Ein Kind spielt mit den Eltern Karten. Es verliert und ärgert sich darüber. Die Eltern belächeln das Kind. Es fängt an zu weinen, schämt sich, ärgert sich darüber, dass es sich schämt, und schämt sich, dass es sich ärgert.
Ein 7-jähriges Mädchen steckt immer dann den Kopf in die Kissen und singt vor sich hin, wenn es in einem Kinderfilm eine Liebesszene sieht oder diese sich andeutet – es schämt sich.
Eine jetzt erwachsene Frau musste als 5-jähriges Mädchen jeden Sonntagmorgen am Kiosk nebenan für seine Mutter leere Bierflaschen in volle umtauschen – und schämt sich heute noch in der Erinnerung an die Scham von damals.
Eine Frau schämt sich, wenn ihr Mann sich schlecht benimmt; ein Mann schämt sich, wenn seine Frau sich schlecht benimmt. Eltern schämen sich für ihre Kinder, Kinder für ihre Eltern, für ihr Benehmen, ihr Aussehen, ihre Meinungen ...
Eine Frau schämt sich, wenn sie daran denkt, dass sie einer Bekannten ihre Probleme mit ihrem Mann erzählt hat, dass »mein Elend aus mir rausgebrochen ist«.
Eine Frau schämt sich für Peinlichkeiten, die sich ihr eigentlich wildfremde, aber öffentliche Personen im Fernsehen erlauben.
Viele Säuglinge und Kleinkinder haben Neurodermitis. Im Straßenbild zu sehen sind sie selten. Viele Eltern gehen gar nicht bzw. nur nachts mit ihnen aus dem Haus zum Spazierengehen – sie schämen sich der Krankheit ihrer Kinder bzw. deren sichtbarer Symptome.
Scham hat viele Gesichter und viele Qualitäten. Ein gemeinsames Merkmal können wir hier schon feststellen: Scham ist ein Gefühl, das auftreten kann, wenn Menschen sich oder Aspekte von sich zeigen. Insofern ist es ein soziales Gefühl. Zu Scham gehört die Öffentlichkeit anderer Menschen, zumindest die gedachte oder vermutete Öffentlichkeit anderer Menschen. »Das ist die Struktur der Scham, … sich selbst mit den Augen anderer zu sehen« (Palmen 1999, S. 175). Im Schamgefühl äußert sich der Wunsch, etwas unsichtbar zu machen, das sichtbar war oder sichtbar werden könnte. Das Wort Scham stammt aus dem Altdeutschen scama bzw. Angelsächsischen scamu und geht zurück auf die indogermanische Wurzel kamkem: »zudecken, verschleiern, verbergen«. Durch das vorangestellte »s« (skam) wird aus dem »Zudecken« das »Sichzudecken«, »Sichverbergen«. Scham ist also ein Interaktionsgefühl, ein Gefühl, das aus der Wechselwirkung zwischen Menschen entsteht und sich in ihr konstituiert, und es hat immer etwas damit zu tun, dass Menschen etwas von sich verbergen wollen. Doch das reicht noch nicht, um Scham zu verstehen. Es gilt unterschiedliche Qualitäten der Scham herauszuarbeiten. Zwei Qualitäten sind besonders wichtig: die Unterscheidung zwischen natürlicher Scham und Beschämung.
Mit natürlicher Scham meinen wir die Scham, die auftreten kann, wenn der Mensch etwas Intimes von sich zeigt. Eine Frau erzählt: »Als ich – nach langem Anlauf – meinem Freund endlich gesagt habe, dass ich ihn liebe, war ich in einem eigenartigen Zustand. Ich war sehr gespannt, hatte auch Angst vor seiner Reaktion und habe mich geschämt. Vielleicht, weil ich mich so weit vorgewagt habe, so weit geöffnet habe.« Diese natürliche Scham kann auftreten, wenn Menschen etwas von sich zeigen, nicht etwas Beiläufiges oder Belangloses, sondern etwas, das ihnen am Herzen liegt, das ihnen wichtig ist, das intim ist.
Ein Freund erzählte, er habe Gedichte an einen Schriftsteller geschickt, den er sehr schätzt, mit der Bitte, ihm zu seinen Gedichten eine Rückmeldung zu geben. Als dann endlich ein Brief von diesem Schriftsteller eintraf, freute und schämte er sich zugleich. Er traute sich kaum, den Brief zu öffnen … Diese Scham ist oft verbunden mit Angst oder Vorfreude vor der Reaktion der anderen. Sie beinhaltet die Frage: »Hätte ich mich nicht doch lieber verbergen sollen? War es richtig, mich so zu zeigen?« Die andere Scham wird ausgelöst durch den Satz bzw. die Aufforderung und Botschaft: »Schäm dich!« Bei diesen zwei Wörtern sehen wir sofort den ausgestreckten Zeigefinger, hören wir Stimmen, vielleicht die der Eltern oder anderer Verwandter, der Lehrer oder Lehrerinnen: »Schäm dich, du hast schon wieder schmutzige Finger am Mittagstisch!«, »Schäm dich, du hast deine Geschlechtsteile berührt!«, »Schäm dich, du hast schon wieder eine schlechte Note!«, »Schäm dich, du hast deine Hausaufgaben vergessen!«, »Schäm dich! Schäm dich! Schäm dich! …« Diese Scham heißt Beschämung. Sie kommt von außen. Wer ihr ausgesetzt ist, fühlt sich im Innersten getroffen, in seiner Persönlichkeit missachtet oder sogar verachtet. Wir kennen kaum Menschen in unserer therapeutischen Arbeit, die in ihrer Geschichte nicht massive Erfahrungen damit haben, lächerlich gemacht worden zu sein und immer wieder lächerlich gemacht zu werden.
Lächerlich gemacht werden Menschen, weil sie anders sind – oft gemessen an Normen und Maßstäben, die als »normal« oder »richtig« definiert werden, im Grunde aber diese Orientierung vermissen lassen und willkürlich und unberechenbar sind: »Schäm dich, weil du Jude bist!«, »Schäm dich, weil du eine zu große Nase hast!«, »Schäm dich, weil du humpelst!«, »Schäm dich, weil du blond bist!«, »Schäm dich, weil du schwarz bist!«, »Schäm dich, weil du Ausländer bist!«, »Schäm dich, weil du ein Mädchen bist!«, »Schäm dich, weil du ein Junge bist!« Es gibt kaum etwas, weshalb Menschen nicht ausgegrenzt werden können. Anscheinend brauchen viele Menschen es, andere auszugrenzen, indem sie sie beschämen, um mit der Welt klarzukommen, um ihre eigene Identität dadurch aufrechtzuerhalten und nicht unterzugehen. Sie wollen ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit nicht spüren, zum Beispiel in der Erziehung von Kindern, bei der Wahl der Erziehungsmethoden. Die Folge ist, dass viele Menschen massiv unter den Erfahrungen des Beschämtwerdens leiden. Nicht zu vergessen ist, dass wir selbst oft ungewollt Täter oder Täterinnen im Beschämen werden, weil bestimmte Bemerkungen von uns bei anderen Menschen auf einen Erfahrungsboden von Beschämung treffen und sie dadurch in diese Erfahrungen »eingebaut«, »eingepasst« werden. Wenn wir Kindern in der Grundschule auf dem Schulhof zuhören, so ist bereits dort das Ausmaß der Beschämung in der Kommunikation erschreckend hoch.
In uns Menschen sind die beiden Qualitäten der Scham, die natürliche Scham und das Beschämtwerden, miteinander verknüpft. Andere Qualitäten der Scham kommen hinzu. Wenn wir Scham verspüren, ist dies ein Gefühl. Wir können nicht sofort gefühlsmäßig unterscheiden, ob wir uns auf Grund einer natürlichen Scham oder eines Beschämtwerdens oder anderer Aspekte schämen. Diese Verknüpfung und Vermischung schafft die Notwendigkeit zu differenzieren, wenn wir uns auf die Spur des Gefühls Scham machen wollen. Deswegen werden wir uns in diesem Buch besonders mit den unterschiedlichen Aspekten der Scham beschäftigen.
Viele Menschen wehren ihre Scham ab, bekämpfen sie oder schämen sich ihrer Scham oder leiden an ihrer körpergrenzverletzten Scham, ihrer Schamlosigkeit. Uns liegt es am Herzen, zu betonen und lebendig werden zu lassen, dass die Scham verschiedene Qualitäten hat, solche, die nützlich und sinnvoll für unser Leben sind, und andere, die nicht zu uns gehören, die eher wie geschluckte Fremdkörper oder giftige Nahrung wirken. Die verschiedenen Aspekte der Scham zu unterscheiden, ist eine Voraussetzung dafür, dass Menschen lernen können, mit ihrer Scham besser umzugehen, um nicht mehr unter ihr zu leiden.
Ein junger Mann war mit seiner Freundin aus. Am nächsten Morgen beim Frühstück fragt ihn die Mutter: »Na, habt ihr schön rumgeknutscht?« Der junge Mann wird rot, schämt sich und verlässt wortlos den Raum. Eine Frau sitzt in einem Zugabteil. Sie wird wiederholt und andauernd von einer anderen Frau angeschaut. Ihr ist es peinlich. »Wenn mich ein Mann angeschaut hätte – das würde ich ja noch kennen. Aber so?!« Eine Schülerin wird von einem Lehrer – vielleicht sogar lediglich gedankenlos – getätschelt. Sie zuckt zurück und schämt sich.
Was haben diese drei Beispiele gemeinsam? Hier hat die Scham die Funktion, dass die betreffenden Menschen sich vor etwas schützen wollen. Der junge Mann möchte sich schützen vor den indiskreten Fragen der Mutter, die Frau im Zugabteil vor den Blicken der anderen Frau und die Schülerin vor den Berührungen des Lehrers. Was soll geschützt werden? Offenkundig etwas Besonderes, etwas Schützenswertes. Wir nennen dieses Etwas den Intimen Raum. Räume haben für Menschen unterschiedliche Bedeutungen. Diese Bedeutungen sind wichtig für das Zusammenleben der Menschen (wissenschaftlich untersucht von der Ökologischen Psychologie). Wir reden deshalb von Bedeutungsräumen (Baer, Frick-Baer 2002).
Ein Bedeutungsraum ist der »Öffentliche Raum«. Im Öffentlichen Raum begegnen sich einander bekannte und fremde Menschen, tauschen sich aus, handeln mit Waren oder Informationen. Öffentliche Räume können die Stammkneipe oder der Marktplatz sein, die Imbisshalle oder der Kopierer am Arbeitsplatz, an dem man sich trifft und unterhält. Im Öffentlichen Raum zeigen sich Menschen, sprechen miteinander oder erwerben Zuordnungen. Von Bedeutung ist dieser Raum besonders für Status und soziale Identität, für Zugehörigkeit und Heimat.
Der »Persönliche Raum« umfasst bei den meisten Menschen in etwa den Radius, den die ausgestreckten Arme um den Körper ziehen können. Er wird manchmal auch als Raum der Reichweite oder Kinesphäre bezeichnet. In den Persönlichen Raum lässt ein Mensch freiwillig nur ausgewählte andere Menschen hinein: Wenn man sich einen Sitzplatz in Bus oder Bahn sucht, wird man sich mit großer Wahrscheinlichkeit dort hinsetzen, wo rechts und links noch Plätze frei sind. Wenn es im Fahrstuhl oder in einer vollbesetzten Straßenbahn nicht anders geht, stellt oder setzt man sich auch enger zusammen. Die meisten Menschen haben dann aber ein unbehagliches Gefühl.
Der Persönliche Raum wird begrenzt durch die Entfernung, mit der die oder der Einzelne andere Menschen »außer Reichweite«, in Sicherheitsabstand, hält. Wird der Persönliche Raum von Menschen betreten, denen wir das Betreten nicht erlaubt haben oder nicht erlauben wollen, reagieren wir mit Unbehagen, Angst, Erstarren oder Aggression. Ausgewählte Menschen dürfen in diesen Raum hinein: Freundinnen und Freunde, Familienmitglieder, Menschen, denen man vertraut. An der Grenze bzw. in der Grenzzone dieses Persönlichen Raums finden Begegnungen statt. Wenn sich zwei Menschen treffen und sich unterhalten, dann wird der Abstand in den meisten Fällen zwischen diesen beiden Menschen etwas mehr als eine Armlänge weit sein. Würde einer von ihnen einen Arm ausstrecken, würde er bis kurz vor die Schulter des anderen reichen; der Sicherheitsabstand ist gewahrt.
Der »Intime Raum«, um den es bei der Beschäftigung mit Scham in erster Linie geht, umfasst den Körperraum. »Alles, was wir innerhalb des Körpers empfinden, gehört zum Körperraum, alles, was außerhalb ist, gehört nicht zu ihm. Die Grenze des Körperraums ist weitgehend identisch mit der Oberfläche unserer Haut. Der Körperraum ist das Eigenste, was der Mensch hat, der Körperraum ist der Mensch. Geht das Gewahrsam des Körperraums verloren, nimmt der Mensch sich selbst nicht mehr wahr, wird der Körperraum verletzt, wird der Mensch in seinem Intimsten verletzt, in seiner existenziellen Intimität« (Baer 1994).
Der Intime Raum ist Körperraum, aber nicht nur. Körperraum ist immer auch emotionaler Raum und geistiger Raum. Im Körperraum wohnt all das, was für einen Menschen als existenziell schützenswert gilt. Dazu zählt für die meisten Menschen – nicht für alle – die Sexualität ebenso wie bestimmte Gefühlsäußerungen, bestimmte Töne, bestimmte Blicke. Schon beim Persönlichen Raum haben wir gesehen, wie wichtig es ist, dass Menschen die Wahl haben, wen sie in ihn hineinlassen und wen nicht. Für den Intimen Raum gilt dies umso mehr: Berührungen des Körpers können kostbare Nähe, Verschmelzung, Sinnlichkeit und Glück, aber auch Verletzungen, Missachtung und Gewalt beinhalten. Für uns Menschen ist das Recht auf die Entscheidung, wer uns berühren darf und wer nicht, von zentraler Bedeutung. Wer an den Intimen Raum herantritt und herantreten darf und wer nicht, wollen wir selbst bestimmen. Es gibt ein Gefühl, das uns Menschen darauf hinweist, dass eine solche Entscheidung ansteht oder überfällig ist: die Scham.
Scham ist die Wächterin der Grenzen des Intimen Raums. Wo genau die Grenzen des Intimen Raums erlebt werden, wann und in welcher Intensität Scham auftritt, ist individuell verschieden. Das Bewusstsein des Intimen Raums und seiner Grenzen ist nicht statisch und festgelegt, sondern ein labiles Gebilde. Auch wenn die Grenzen des Intimen Raums von Geburt an existieren, so sind sie nicht ab einem bestimmten Alter »fertig«. Sie sind bei den meisten Menschen flexibel und verändern sich zumindest in Nuancen je nach Lebenserfahrung und Lebensumständen. Menschen haben fast immer zwei Gefühle, die die Grenzen ihres Intimen Raums betreffen: Auf der einen Seite sehnen sie sich danach, dass diese Grenzen durchlässig und flexibel sein mögen, dass andere Menschen sexuelle Begegnung und liebevolle Nähe mit dem Intimen Raum wollen, ihn berühren und in ihn hineingelassen werden wollen. Auf der anderen Seite fürchten und ängstigen sie sich, dass Menschen den Intimen Raum verletzen. Daraus erwächst dann das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit, manchmal bis dahin, dass Menschen sich undurchlässig machen. Wie diese beiden Aspekte in jedem Menschen im Verhältnis zueinander stehen, ob einer überwiegt oder gar sich so sehr verselbständigt, dass der andere verloren geht, hängt von der persönlichen Lebenserfahrung der Menschen ab und der Art und Weise, wie diese Lebenserfahrung in die persönlichen Muster integriert worden ist.
Kommen wir zurück zur Scham. Die natürliche Scham ist eine Funktion des Intimen Raums, eine Wächterin der Grenze des Intimen Raums. Die Beispiele am Anfang des Kapitels zeigen dies. Die Schülerin, die von ihrem Lehrer berührt wird, verspürt mit ihrer Scham den Impuls, ihren Körperraum zu schützen. Die Frau im Zugabteil versucht sich mit der Scham vor Blicken zu schützen, die – ihrem Erleben nach – in ihren Intimen Raum eindringen oder eindringen könnten. Der junge Mann verteidigt die Intimität der Erfahrungen mit seiner Freundin vor der Öffentlichkeit der Mutter. Die Scham ist hier kostbar, weil sie etwas Kostbares schützt bzw. den Impuls auslöst, etwas Kostbares zu schützen.